RAINER MARIA RILKE (1875–1926) war nur ein äußerst kurzes Leben vergönnt, denn er starb gerade einmal einundfünzigjährig an Leukämie. Umso beachtlicher ist der umfangreiche Nachlass, den er hinterließ und der neben zahlreichen Gedichtsammlungen auch dramatische Werke, Schriften zu Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts sowie einen umfangreichen Briefwechsel mit bedeutenden Denkern seiner Zeit umfasst.
Rainer Maria Rilke war der prägende Poet des ausgehenden 20. Jahrhunderts und einer der bedeutendsten deutschen Lyriker überhaupt. Unerreicht sind seine eigenwilligen und faszinierend schönen Sprachbilder, in denen er das Leben als eine Erfahrung preist, die uns jeden Tag aufs Neue zum Kind werden lässt. Diese Erfahrung gelingt, wenn wir bereit sind, uns auf die beiden großen Fragen des Menschseins – die Liebe und den Tod – ganz einzulassen.
Die vorliegende Anthologie versammelt in Auswahl Gedichte aus Mir zur Feier, Das Stundenbuch, Neue Gedichte, Der Neuen Gedichte anderer Teil u.a.
Gravitätszentrum von Rilkes Gedichten ist ein Ich, das auf der Suche nach sich selbst ist. Mithilfe der Sprache erschafft es eine Welt von außerordentlicher poetischer Kraft und subtiler Psychologie, in der eine Gazelle, ein Schwan oder ein Panther, ja sogar eine Treppe, ein Ball und ein Balkon zu symbolischen Spiegelungen der Innenwelt werden. Einer Welt, deren Reiz darin gründet, dass sie der Realität ganz nah bleibt und dabei doch unvermutete, utopische Räume von berückender sprachlicher Schönheit schafft.
Rainer Maria Rilke
Du musst das Leben nicht verstehen
Schöne Gedichte
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Gedichte, die keine Überschrift haben, wurden mit ihrer ersten Verszeile in das Inhaltsverzeichnis aufgenommen. Diese dient in einigen Fällen gleichfalls als Rubriktitel einzelner, thematisch zusammengehörender Gedichte. In allen anderen Fällen ist die Quelle an der entsprechenden Stelle angegeben.
I. Mir zur Feier. Eine Auswahl (1897–1898)
»Du musst das Leben nicht verstehen«
Ich bin so jung
Ich will ein Garten sein
Ich will nicht langen nach dem lauten Leben
Und einmal lös ich in der Dämmerung
Du musst das Leben nicht verstehen
Ich möchte werden wie die ganz Geheimen
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Träume, die in deinen Tiefen wallen
Engellieder
Ich ließ meinen Engel lange nicht los
Und ich ahne
Gehst du außen die Mauern entlang
Schau wie die Zypressen schwärzer werden
Erste Rosen erwachen
Im flachen Land war ein Erwarten
Lieder der Mädchen
Ihr Mädchen seid wie die Kähne
Eh der Garten ganz beginnt
Alle Straßen führen
Noch ahnst du nichts vom Herbst des Haines
Gebete der Mädchen zur Maria
Du wolltest wie die andern sein
Dein Garten wollt ich sein zuerst
Oh, dass wir so endlos werden mussten!
Mir wird mein helles Haar zur Last
Es ist noch Tag auf der Terrasse
Das sind die Stunden, da ich mich finde
Der Abend ist mein Buch
Oft fühl ich in scheuen Schauern
Und so ist unser erstes Schweigen
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?
Senke dich, du langsame Serale
II. Das Stundenbuch. Eine Auswahl (1899–1903)
Erstes Buch. Das Buch vom mönchischen Leben (1899)
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Wir dürfen dich nicht eigenmächtig malen
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden
Wenn es nur einmal so ganz stille wäre
Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht
Ich lese es heraus aus deinem Wort
Wer seines Lebens viele Widersinne versöhnt
Ich finde dich in allen diesen Dingen
Der Ast vom Baume Gott
Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?
Ich weiß: Du bist der Rätselhafte
Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht
Zweites Buch. Das Buch von der Pilgerschaft (1901)
Ich bin derselbe noch
Lösch mir die Augen aus
Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
Alle, welche dich suchen, versuchen dich
Jetzt reifen schon die roten Berberitzen
Drittes Buch. Das Buch von der Armut und vom Tode (1903)
Oh Herr, gib jedem seinen eignen Tod
Du, der du weißt
Betrachte sie und sieh, was ihnen gliche
Sie sind so still
Und wenn sie schlafen
Oh wo ist der, der aus Besitz und Zeit zu seiner großen Armut so erstarkte
III. Das Buch der Bilder.
Eine Auswahl (1902 und 1906)
Des Ersten Buches Erster Teil
Eingang
Aus einem April
Von den Mädchen
Das Lied der Bildsäule
Die Liebende
Die Braut
Die Stille
Musik
Die Engel
Kindheit
Aus einer Kindheit
Des Ersten Buches Zweiter Teil
Initiale
Zum Einschlafen zu sagen
Menschen bei Nacht
Der Nachbar
Der Einsame
Bangnis
Einsamkeit
Herbsttag
Erinnerung
Ende des Herbstes
Herbst
Am Rande der Nacht
Fortschritt
Vorgefühl
Abend in Skåne
Abend
Des Zweiten Buches Erster Teil
Initiale
Verkündigung
Des Zweiten Buches Zweiter Teil
Von den Fontänen
Der Lesende
Der Schauende
Schlussstück
IV. Neue Gedichte. Eine Auswahl (1906–1907)
»Beginn immer von Neuem die nie zu erreichende Preisung«
Früher Apollo
Der Dichter
Der Tod des Dichters
Buddha
Kindheit
Die Erwachsene
Die Genesende
Liebes-Lied
Todes-Erfahrung
»Warum wird dieses Finden nicht geringer?«
Vor dem Sommerregen
Blaue Hortensie
Die Fensterrose
In einem fremden Park
Der Panther
Die Gazelle
Das Einhorn
Der Schwan
»Nirgends wird Welt sein, als innen«
Sankt Sebastian
Römische Sarkophage
Das Karussell
Die Treppe der Orangerie
Buddha
Römische Fontäne
Die Rosenschale
V. Der Neuen Gedichte anderer Teil. Eine Auswahl (1907–1908)
»Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang«
Archaïscher Torso Apollos
Venezianischer Morgen
Spätherbst in Venedig
San Marco
»Erst war es immer, und dann war es nicht«
Adam
Eva
Fremde Familie
Schlaflied
Der Tod der Geliebten
Begegnung in der Kastanien-Allee
»Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene«
Papageien-Park
Die Flamingos
Leda
Rosa Hortensie
Das Rosen-Innere
Der Käferstein
»Was bin ich unter diese Unendlichkeit gelegt?«
Der Blinde
Das Kind
Dame auf einem Balkon
Dame vor dem Spiegel
Übung am Klavier
Die Liebende
Der Leser
»Denn Bleiben ist nirgends«
Die Sonnenuhr
Der Balkon
Der Ball
Buddha in der Glorie
VI. Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren (1906–1926)
»Wie hat uns der zu weite Raum verdünnt«. Liebesgedichte (1909–1924)
Liebesanfang
Vergiss
Gib mir Liebe
Wie hat uns der zu weite Raum verdünnt
Warst du’s, die ich im starken Traum umfing
Weißt du noch
Spiegelungen
Einmal nahm ich zwischen meine Hände dein Gesicht
Welt war in dem Antlitz der Geliebten
Heb mich aus meines Abfalls Finsternissen
Wie das Gestirn
Immer wieder
Lied
»Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte«. Wandlungsgedichte (1906–1924)
Indem das Leben nimmt und gibt und nimmt
Oh Leben Leben, wunderliche Zeit
… Und sagen sie das Leben sei ein Traum
Vorfrühling
Wilder Rosenbusch
Spaziergang
Oh sage, Dichter, was du tust?
Berühre ruhig mit dem Zauberstabe
Mein scheuer Mondschatten
Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen
Empfange nun von manchem Zweig ein Winken
Irgendwo blüht die Blume des Abschieds
Sei allem Abschied voran
Öfter, fühlend
Auch noch Verlieren ist unser
Nachwort
EINE AUSWAHL
(1897–1898)
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.
Ich bin so jung. Ich möchte jedem Klange,
der mir vorüberrauscht, mich schauernd schenken,
und willig in des Windes liebem Zwange,
wie Windendes über dem Gartengange,
will meine Sehnsucht ihre Ranken schwenken,
Und jeder Rüstung bar will ich mich brüsten,
solang ich fühle, wie die Brust sich breitet.
Denn es ist Zeit, sich reisig auszurüsten,
wenn aus der frühen Kühle dieser Küsten
der Tag mich in die Binnenlande leitet.
Ich will ein Garten sein, an dessen Bronnen
die vielen Träume neue Blumen brächen,
die einen abgesondert und versonnen,
und die geeint in schweigsamen Gesprächen.
Und wo sie schreiten, über ihren Häupten
will ich mit Worten wie mit Wipfeln rauschen,
und wo sie ruhen, will ich den Betäubten
mit meinem Schweigen in den Schlummer lauschen.
Ich will nicht langen nach dem lauten Leben
und keinen fragen nach dem fremden Tage:
Ich fühle, wie ich weiße Blüten trage,
die in der Kühle ihre Kelche heben.
Es drängen Viele aus den Frühlingserden,
darinnen ihre Wurzeln Tiefen trinken,
um nicht mehr könnend in die Knie zu sinken
vor Sommern, die sie niemals segnen werden.
Und einmal lös ich in der Dämmerung
der Pinien von Schulter und vom Schoß
mein dunkles Kleid wie eine Lüge los
und tauche in die Sonne bleich und bloß
und zeige meinem Meere: ich bin jung.
Dann wird die Brandung sein wie ein Empfang,
den mir die Wogen festlich vorbereiten.
Und eine jede zittert nach der zweiten, –
wie soll ich ganz allein entgegenschreiten:
das macht mich bang …
Ich weiß: die hellgesellten Wellen weben
mir einen Wind;
und wenn der erst beginnt,
so wird er wieder meine Arme heben –
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Ich möchte werden wie die ganz Geheimen:
Nicht auf der Stirne die Gedanken denken,
nur eine Sehnsucht reichen in den Reimen,
mit allen Blicken nur ein leises Keimen,
mit meinem Schweigen nur ein Schauern schenken.
Nicht mehr verraten und mich ganz verschanzen
und einsam bleiben; denn so tun die Ganzen:
Erst wenn, wie hingefällt von lichten Lanzen,
die laute Menge tief ins Knieen glitt,
dann heben sie die Herzen wie Monstranzen
aus ihrer Brust und segnen sie damit.
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh’ noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gib dich, gib nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Träume, die in deinen Tiefen wallen,
aus dem Dunkel lass sie alle los.
Wie Fontänen sind sie, und sie fallen
lichter und in Liederintervallen
ihren Schalen wieder in den Schoß.