Prof. Dr. Marco Frenschkowski, geboren 1960, Religionswissenschaftler und ev. Theologe, ist Professor für Neues Testament an der Universität Leipzig. Neben der Erforschung antiker Religionen ist er seit vielen Jahren für seine Arbeiten auf dem Gebiet magischer und esoterischer Diskurse bekannt. Im marixverlag sind von ihm erschienen u.a. Heilige Schriften, Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse und Mysterien des Urchristentums. Eine kritische Sichtung spekulativer Theorien zum frühen Christentum.
Zum Buch
In wenigen Gebieten der Geschichts- und Kulturwissenschaften hat sich in den letzten Jahren so viel bewegt und verändert wie in der Hexenforschung. Das Bild ist vor allem zeitlich und räumlich viel differenzierter geworden. Warum waren bestimmte Gebiete verfolgungsintensiv, während andere verfolgungsfrei blieben? Wie ist das Verhältnis Frauen und Männer unter den Opfern? Waren „Hexen“ Trägerinnen eines vorchristlichen Kultes? Gingen die Verfolgungen von „oben“ oder von „unten“ in der Gesellschaft aus? Wie kam es zur Überwindung des Hexenglaubens? Die außereuropäische Ethnologie hat erkennen müssen, in wie hohem Umfang das Thema der Hexereiverdächtigungen auch in anderen Kulturen und bis in die unmittelbare Gegenwart präsent ist. Einige der massivsten Hexenverfolgungen haben weitab des abendländischen Kulturraumes stattgefunden. Der vorliegende Band trägt diesen neuesten Forschungsergebnissen Rechnung und widerlegt viele Klischees. Dabei kommen nicht nur die grausigen und schmerzvollen Details der Verfolgungsgeschichte und das schwüle und üppige Bild gesellschaftlicher Hexensabbatfantasien, sondern auch das Umkippen des Hexenpradigmas im 20. und 21. Jhdt. zur Sprache.
Die Hexen
In respektvoller Erinnerung an Henry Charles Lea (1825-1909)
Eine kulturgeschichtliche Analyse
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Alle Rechte vorbehalten
Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Paulus Enke, Leipzig
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Hexensabbath, Gemälde von Luis Recardo Falero
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0276-5
www.marixverlag.de
VORWORT
1. HEXEN: EINE ERSTE PROBLEMANZEIGE
Das Hexenklischee
Ein Beispiel: „9 Millionen Frauen“
Heutige Schätzungen von Opferzahlen
Einiges zu Wert und Grenzen der älteren Hexenforschung
Neuere Entwicklungen der Hexenforschung
2. MALEFICA: DIE HEXE IN DER ANTIKE
Hexen in griechischen und lateinischen Überlieferungen
Magiefurcht – Magieprozesse
Hexen in der biblisch-alttestamentlichen und jüdischen Überlieferung
Hexenwesen und antike Magietheorien
Antike Magie und die konstituierenden Elemente des Hexenimaginariums
3. HAGAZUSSA: DIE FRÜHE GESCHICHTE DES MITTELALTERLICH-EUROPÄISCHEN HEXENBILDES
Einiges zur Wortgeschichte
Rechtsentwicklungen zwischen Antike und Mittelalter
Rahmenbedingungen des früh- und hochmittelalterlichen Hexenbildes
Canon episcopi und Dianakult
Die Hexe als Fremde
4. DIE „ALTE RELIGION“: EIN GESPRÄCH MIT MARGARET MURRAY
Der Teufel als Mann mit einer Maske?
Der Zusammenbruch einer Theorie
Margaret Murray zwischen alten und neuen Heiden
5. SYNAGOGA SATANAE: FIKTIONEN EINER ANTI-RELIGION IM UNTERGRUND DES ABENDLANDES UND DAS HEXENIMAGINARIUM DER FRÜHEN NEUZEIT
Die Hexe als Häretikerin
Die Entwicklung zur „Hexensekte“
Die Merkmale der Hexe
Der Hexensabbat als Gesamtimaginarium einer Anti-Religion
Der Teufel: biblische, altkirchliche etc. Vorgeschichte
Der Teufel: christliches Mittelalter und Neuzeit
Der Teufelspakt
6. „MALEFICOS NON PATIERIS VIVERE“: DIE EPIDEMISCHEN VERFOLGUNGEN (14.–17. JHDT.)
Sukzession der Projektionsflächen: Juden, Aussätzige, Hexen, Vampire – und wieder Juden
Die Kleine Eiszeit
Chronologie der Verfolgungen
7. MALLEUS MALEFICARUM: HEXEREIVERDÄCHTIGUNGEN ALS INTELLEKTUELLES KONSTRUKT UND DIE ÜBERWINDUNG DES HEXENGLAUBENS
Der Malleus Maleficarum als Beispiel einer intellektuellen juristischen Konstruktion des Hexenglaubens
Der Hexenhammer: Aus dem Inhalt
Überwindungen des Hexenglaubens
Eine weitere verfehlte Theorie: die „Vernichtung der weisen Frauen“
Hilfsmittel der Hexenforschung
8. „MANGU“, „SOROKA“, „NGUA“: HEXEREIVERDÄCHTIGUNGEN UND HEXENBILDER IN AUßEREUROPÄISCHEN KULTUREN
Hexenverfolgung in der Gegenwart als „Sensation“: das Thema in den Medien
Evans-Pritchard und die Azande
Und der Teufel? Religionsgeschichtliches zum Herrn der Finsternis
9. SALEM: EIN REGIONALES BEISPIEL
Verleumdung
Anklage und Prozess
10. EUROPÄISCHE SCHAMANEN? EIN GESPRÄCH MIT CARLO GINZBURG
Der methodische Ansatz
Benandanti
Ginzburg und der Hexensabbat
Der Hexensabbat: was wir über seine Herkunft wissen
11. „THERE IS NO SUCH THING AS MAGIC“: HEXENBILDER IN LITERATUR UND FILM (19.–21. JHDT.)
12. WIE AUS BÖSEN HEXEN GUTE HEXEN WURDEN: EIN GESPRÄCH MIT CHARLES GODFREY LELAND
Hexen und Göttinnen
Michelet und Leland
13. WICCA UND DIE HEXE ALS IDENTIFIKATIONSFIGUR: DIE ENTSTEHUNG EINER RELIGION
ANHANG: TEXTE
a. Canidia und Erictho: zwei antike Hexen
b. Der Canon episcopi
c. Jean Bodin, Johan Fischart, „Vom ausgelasnen wütigen Teuffelsheer“ (1591) (Auszüge)
d. „Wenn alle mich für eine Hexe halten, warum sollte ich keine werden?“: „The Witch of Edmonton“ (1621) (Auszug)
e. Ch. G. Leland, „Aradia, or, The Gospel of the Witches“ (1899) (Auszüge)
Das Thema Hexen ist von einer vielfältigen, facettenreichen Faszination. Es ist ja nicht nur das grausige und schmerzvolle Faszinans der Verfolgungsgeschichte und das schwüle und üppige Bild ehemaliger gesellschaftlicher Hexensabbatfantasien, es ist mehr noch das Umkippen des Hexenparadigmas, das diese Faszination ausmacht. Wie wurde aus der „bösen Hexe“ der europäischen Tradition die „gute Hexe“ der ökofeministischen Esoterikszene und der Wiccabewegung? Es war vor allem diese Frage, die mich lange beschäftigt hat: 2008 war dazu meine Studie über Charles Godfrey Leland erschienen, und ein erstes Zwischenergebnis formuliert. In wie hohem Maße Wicca und angrenzende Bewegungen zu einem wichtigen Segment alternativer und esoterischer religiöser Kulturen geworden waren, habe ich vor allem in Großbritannien gelernt. Doch auch in Deutschland ist die Bedeutung des Themas ständig angewachsen.
Damit verändert sich auch der Blick auf den historischen Hexenglauben, und sei es in der Konfrontation stark divergierenden Hexenbilder. Hinzu kommt, dass Hexereiverdächtigungen und Hexenprozesse zu einem ausgesprochenen Modethema der Geschichts- und Kulturwissenschaften geworden sind. Abgesehen von den wichtigen und oft überraschenden Ergebnissen dieser jüngeren Forschung ist das Faktum dieses gesteigerten Interesses selbst erklärungsbedürftig. Warum wurden Hexen zu einem Thema nicht mehr an der Peripherie, sondern im Zentrum der kulturwissenschaftlichen Arbeit? (Es genügt ein Blick auf www.historicum.net, eines der Leitportale der deutschen Geschichtswissenschaft). All dies ist in den Blick zu nehmen, wenn wir das Thema Hexen zusammenfassend darstellen und in seinen gesellschaftlichen Funktionen verstehen wollen.
Einige persönliche Worte seien erlaubt. In den 1990er Jahren hatte ich für eine kirchengeschichtliche Zeitschrift viele damals neu erschienene Publikationen zum Thema rezensiert, ohne mich selbst als Forscher im engeren Sinn auf diesem Gebiet zu betrachten. Als nach 2000 immer mehr magische und esoterische Diskurse (vor allem die Magie der Antike) in einen Mittelpunkt meiner Arbeit rückten, eröffneten sich gleichzeitig neue Perspektiven auf das Hexenthema, und ich begann, systematisch die älteren und neueren Publikationen zum Thema zu lesen. Dabei wurde rasch klar, wie gewaltig die Fortschritte der letzten Jahre waren – aber auch, in wie hohem Maße durchaus legitime Fragen aus der älteren Forschung in der jüngeren ausgeblendet oder einfach nicht mehr gestellt wurden (oder nur noch im Teil „Forschungsgeschichte“). Das vorliegende Buch benennt daher auch einige aus der älteren Forschung „übriggebliebene“ Fragen, zu denen mir der Forschungsbedarf nach wie vor erheblich zu sein scheint, und die speziell in der territorialgeschichtlichen Hexenforschung m. E. leicht aus dem Blick geraten. Vieles gelernt habe ich aus kulturanthropologischen und ethnologischen Studien zur Sache. Hexereiverdächtigungen als soziales Ventil sind ja bis in die jüngste Zeit lebendige Wirklichkeit, etwa in vielen afrikanischen Staaten. Der eurozentrische Blickwinkel wird freilich nur langsam überwunden. Hilfreich waren mir hier vor allem Studien zur Religionsgeschichte der Karibik und Westafrikas. Zumindest exemplarisch sollte diese globale Perspektive nicht ausgeblendet werden, weil sie wohl den massivsten Paradigmenwechsel in der Hexenforschung mit sich bringt: Hexereiverdächtigungen und Hexenverfolgungen nicht mehr als europäisches, sondern als globales Phänomen. In einer knappen Darstellung wie der vorliegenden kann das natürlich nur skizziert werden, aber übergangen werden durfte es nicht.
Vor allem wurde rasch deutlich, dass auch im Blick auf die europäische Geschichte des Themas die Frage nach einer historischen „Wahrheit“ – so notwendig sie ist – doch nur ein Aspekt sein kann. Nicht nur „wie es wirklich gewesen ist“ kann Gegenstand der Geschichtsforschung sein, sondern auch, wie sich Klischees, Vorurteile und gesellschaftliche Imaginationen entwickelt haben, welchen Platz sie im Symbolkosmos der Menschen hatten und haben.
Mit etwas Zögern folge ich daher der freundlichen Einladung des Marixverlages, eine knappe Skizze des Themas „Hexen“ zu versuchen. Ist es nicht leichtsinnig, eine – noch dazu nicht für die Wissenschaft im engeren Sinn geschriebene – Darstellung zu wagen, wenn so vieles im Fluss ist, und sich die Forschung in so hohem Maße ausdifferenziert? Im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen vor allem aus den Geschichtswissenschaften habe ich jedoch begriffen, dass die religionswissenschaftliche Perspektive, die hier eingenommen wird, doch auch viel Eigenes zur Sache einzubringen hat. Im gelungenen Fall kann sie geradezu ein Korrektiv für den zwar präzisen, aber zuweilen auch eingeengten Blickwinkel sein, den v. a. die regional- und territorialgeschichtliche Hexenforschung notwendig einnehmen muss. Über einem geschärften Blick auf die einzelnen Fälle dürfen allgemeine kulturanthropologische Fragen nicht aus dem Fragehorizont verschwinden, wie es gelegentlich geschieht. Auch müssen die Facetten des kulturellen Umganges mit „Hexenbildern“ in der Gegenwart selbst Gegenstand der analytischen Betrachtung werden, und diese Fragestellung muss mit der im engeren Sinn historischen Beschreibung des Geschehenen interagieren. In einem schmalen Band wie diesem ist das natürlich nur in Ansätzen möglich, aber es sollte doch gezeigt werden, wo die Hexenforschung heute steht.
Dieses Buch kann selbstverständlich keine historische Synthese vorlegen (dazu wäre es wirklich zu früh), versucht aber doch ein facettenreiches Bild zu zeichnen, das vielleicht auch für die nicht ohne Interesse ist, die aus anderen Blickwinkeln mit dem Thema beschäftigt sind. Es liegen ja durchaus eine Reihe populärer Einführungen zur Sache vor (jüngst etwa Malcolm Gaskill, Witchcraft: A Very Short Introduction. Oxford 2010 oder, wenig älter, Wolfgang Behringer, Hexen. Glaube, Verfolgung, Vermarktung. München 2008), die aber alle aus deutlich anderen Perspektiven geschrieben sind.
Wesentlich ist natürlich auch hier immer die Faktenverifikation. Klischees und Stereotype haben unser Thema lange beherrscht. Ungeprüft kann aus der älteren Forschung kaum noch etwas übernommen werden. Andererseits hat die Wiederentdeckung der Hexen in neomagischen Bewegungen eine Aktualität geschaffen, an der nicht vorbeigegangen werden soll: unser Interesse ist kein einfach „archäologisches“. Die Schattenseite dieser Entwicklung ist allerdings, dass „invented traditions“ (Geschichtsmythen) gelegentlich auch scheinbar um Objektivität bemühte Forschung überlagern, und das zuweilen an sehr überraschenden Stellen. Mit Wolfgang Behringer – einem der bedeutendsten lebenden Forscher zur Sache – begreife ich das Thema der Hexereiverdächtigung als ein globales und durchaus auch eines der Moderne, nicht nur eines der europäischen Vergangenheit (vgl. etwa sein „Witches and Witch-Hunts. A Global History“. Cambridge 2004, ein wegweisendes Buch, dessen Bedeutung kaum überschätzt werden kann, und das mittlerweile sogar ins Chinesische übersetzt wurde).
Die Wiccabewegung, die den Hexenbegriff als Leitbild aufnimmt, kommt am Ende dieses Buches zur Sprache. Ihre Anhängerinnen und Anhänger habe ich als Vertreter einer respektablen neuen (nicht: alten) Religion kennengelernt, und Missverständnisse ihnen gegenüber auszuräumen ist mir ein wichtiges Anliegen – so wenig ich ihre religiöse Überzeugungswelt teile. Das kann hier freilich nur ganz knapp und ausblickartig geschehen; vielleicht komme ich auf das Thema andernorts noch einmal ausführlicher zurück.
„Schwesternprojekt“ dieses Bandes ist eine Studie über antike Magie und ihre Wechselwirkungen mit dem entstehenden Christentum, die etwas später in einem andern Verlag erscheinen soll. Meine früheren Bände in der Reihe „marixwissen“ haben allerlei Diskussionen ausgelöst, die ich meist mit Freude zur Kenntnis nehmen konnte. Freilich gab es neben Zustimmung und einiger berechtigter Kritik auch den einen oder anderen törichten Kommentar. (So beklagte sich ein Amazon-Leser darüber, dass meine „Heiligen Schriften“ – für ein im Umfang festdefiniertes Buchformat geschrieben – viel zu kurz seien und sich zudem nicht auf die „klassischen“ Religionen beschränkten. Nun ist der Blick über die „klassischen“ Religionen hinaus auf die Vielfalt der heute gelebten Religionen gerade ein wesentlicher Erkenntnisfortschritt der jüngeren Religionswissenschaft gegenüber ihrer älteren, primär den Philologien verbundenen Vorstufe. Die Forderung jenes Kommentators ging also eigentlich dahin, wieder in ein früheres Stadium der Religionswissenschaft zurückzusinken, das sich auf „klassische Texte“ beschränkt hatte. Dass ich in solchen Forderungen keine seriöse Möglichkeit sehen kann, versteht sich von selbst).
Die folgende Darstellung kann nur eine Skizze des Themas sein, keine umfassende Monographie. Ich habe wie in meinen anderen Bänden in dieser Reihe Literaturangaben beigefügt, in denen mehr Arbeit und Recherche steckt, als der Laie vielleicht vermuten würde; für Leserinnen und Leser „vom Fach“ wird in ihnen am ehesten weniger Bekanntes zu finden sein. Dankbar denke ich an hilfreiche Gespräche zur Sache mit Dr. Michael Siefener, Joachim Janz, Erika Haindl u. a. zurück. Mein Leipziger Mitarbeiter Paulus Enke hat dieses Buch lektoriert: seiner sorgfältigen und kritischen Lektüre gilt mein ganz besonderer Dank.
Leipzig, Juni 2012
Hexen, Hexenverfolgungen – wie immer bei einem historischen Thema gibt es manches, was sozusagen jeder zur Sache „weiß“, aus Filmen, historischen Romanen, allgemeinem kulturellem Erbe… Lassen wir einiges daraus Revue passieren!
– Hexenverfolgung war primär eine Sache des Mittelalters.
– Hexenverfolgung ist eine typisch europäische Erscheinung, in erster Linie ein düsteres Kapitel abendländischer Geschichte.
– Es wurden fast nur Frauen als Hexen hingerichtet.
– Christliche Kleriker haben ihre Hexenbilder einer unterdrückten Bevölkerung übergestülpt.
– Die Hexen waren Bewahrerinnen einer vorchristlichen Naturreligion.
– Der Glaube an Hexerei ist etwas Konservatives, etwas, das über Jahrhunderte mehr oder weniger unverändert tradiert wurde.
– Das Bild der „bösen“ Hexe ist vor allem ein Resultat der christlich-kirchlichen Frauen- und Leibfeindlichkeit.
– Vor allem Hebammen, „weise Frauen“, Kräutersammlerinnen und ähnliche wurden als Hexen verdächtigt.
– Hexenverfolgungen geschahen von oben nach unten, d. h. sie wurden der Bevölkerung von fanatisierten Machthabern und Klerikern aufgedrängt.
– Wer einmal in den Klauen der Verfolger war, hatte keine Chance auf Freilassung.
– Rothaarige und andere auffällige Frauen galten sofort als Hexen.
– Die Intensität der Hexenverfolgungen war da am größten, wo die Macht der Kirchen ungebrochen war.
– Hexen wurden lebend verbrannt, während eine gaffende Menge ihnen ins Angesicht schaute.
– Millionen von Frauen wurden hingerichtet.
– Im 18. Jhdt. waren die Hexenverfolgungen endgültig zu Ende.
Alle diese Sätze entsprechen gängigen Hexenklischees, die man – mehr oder weniger entfernt von der akademischen Geschichtswissenschaft – nach wie vor hören und gelegentlich lesen kann. Und jeder dieser Sätze ist zumindest in dieser schlichten Form nachweislich falsch, zum Teil sogar sehr weit ab von den geschichtlichen Realitäten. Obwohl manches umstritten ist, konnte die historische Forschung doch auch eine große Zahl an Fakten bereitstellen und dokumentieren, welche ältere Klischees und Stereotypen definitiv überholen, und für manche Fragestellung einen stabilen Boden bereiten. Vor allem wurde das Bild sehr viel differenzierter: Unterschiede überwiegen die Gemeinsamkeiten. Das macht die jüngere Hexenforschung so spannend: Ihre Ergebnisse haben unser Geschichtsbild wesentlich verändert. Manches ältere „Schulbuchwissen“ ist darunter zerbrochen. Sozialgeschichtliche und Gender-Forschungen haben ein überaus komplexes Szenario mit großen regionalen und chronologischen Unterschieden geschaffen, das allgemeine, sich auf große Geschichtsräume beziehende Aussagen immer schwieriger macht (denen die jüngere Geschichtswissenschaft gegenüber ohnehin notorisch skeptisch ist).
Um nur ein Beispiel zu nennen, wie sich populäre Vorstellungen völlig von den Fakten abgekoppelt haben: Zahlreiche Filme und Bücher visualisieren die Szene sich im Feuer windender lebender Frauen, denen eine gaffende Menge zuschaut. Tatsächlich hat es Lebend-Verbrennungen nur sehr selten gegeben; wo verbrannt wurde, war es die Regel, dass (männliche und weibliche) „Hexen“ vorher getötet (oft erwürgt) wurden und der Körper dann verbrannt wurde. Wie meist bei Hinrichtungen, war das Gesicht verhüllt (dazu gab es allerdings viele Ausnahmen). In vielen Regionen wurde gar nicht verbrannt: In England, auch in Neuengland (Salem) etwa wurden die Opfer gehängt. Solche Korrekturen nehmen den Ereignissen nichts von ihrem Schrecken. Sie warnen aber davor, sich die populären Hexenimaginationen allzu naiv als geschichtliche Wirklichkeit vorzustellen. Sie stammen zum Teil eben aus den Mittelalterfantasien, mit denen sich die aufgeklärte „Neuzeit“ abgrenzend gegenüber einer „dunklen“ Vergangenheit definieren wollte, um den eigenen Fortschrittsdiskurs aufrecht erhalten zu können. Wir werden diesen Aspekt der Sache im Laufe dieses Buches noch genauer profilieren.
Vor allem können wir in einem heutigen kulturwissenschaftlichen Kontext vielleicht ein wenig besser verstehen, wie es im Kontext gesellschaftlicher Imaginationen zu den genannten Klischees und Stereotypen kommen konnte. Wir können zumindest partiell begreifen, welche Interessen (etwa der Abgrenzung von einer vergangenen Epoche der Geschichte, oder von bestimmten Institutionen) das gesellschaftliche Hexenimaginarium geschaffen und bewegt haben. Dieses tritt uns nicht mehr als einheitliche und überwundene Größe der Vergangenheit, sondern als komplexes Überzeugungsgeflecht mit zum Teil beklemmenden Gegenwartsbezügen in den Blick. Die Forschung wird damit selbst zum Gegenstand der Ideologiekritik; Forschungsgeschichte wird zur Anfrage an unsere Gegenwart.
Das Thema „Hexen“ ist ein Gebiet voller Überraschungen. Plakativ gesagt kann aus der älteren Hexenforschung (etwa vor 1970) heute fast nichts mehr unbesehen übernommen werden. Es ist von daher nicht unproblematisch, dass ältere Darstellungen wie die ehemals sehr gute und materialreiche von Wilhelm Gottlieb Soldan (1803–1869) und Heinrich Ludwig Julius Heppe (1820–1879) nach wie vor immer wieder nachgedruckt werden. Das Werk dieser beiden studierten Theologen (Soldan arbeitete allerdings als Gymnasiallehrer) erschien zuerst 1843 in Soldans Erstfassung, wurde immer wieder bearbeitet, und hat lange das deutsche Hexenbild geprägt. Für Soldan war Hexerei schlicht ein Verbrechen, das es nicht gab. Alle Urteile gegen Hexen waren Justizmorde (ein Begriff, den August Ludwig Schlözer 1783 eingeführt hatte). Hexengeschichtsschreibung war hier eine Form der liberalen Kirchenkritik, die sich vor allem auf die katholische Kirche bezog. Die Hexenverfolgungen waren ein „Hexenwahn“, auf den man aus einem überlegenden geschichtlichen und aufgeklärten Abstand zurückblicken konnte. In dieser Hinsicht waren beide Autoren dem Historismus und Geschichtspositivismus des 19. Jhdts. verpflichtet, die in großer Zahl und in einer kritischen Perspektive zahlreiche Quellen benutzt haben. Kritische Reflexion des eigenen Blickwinkels war aber nicht eine Stärke dieser Forschung.
Es ist erst aus unserem forschungsgeschichtlichen Abstand so, dass wir die Grenzen ihrer Analyse sehen können. Vor allem Heppe – der Soldans Schwiegersohn und ein ausgesprochen liberaler Theologe war – hatte leider eine Tendenz zu allgemeinen und auch quantitativen Aussagen (Soldan selbst war hier sehr viel vorsichtiger), die von seinen Quellen nicht getragen werden. Es sind aber gerade diese generalisierenden Aussagen, Zahlen und „plausiblen Erklärungsmuster“, die einer kritischen Analyse in Hinsicht auf die ihnen zugrunde liegenden tatsächlichen Quellen und deren Aussagewert bedürfen. Quantitative Schätzungen, die nicht direkt aus klar definierten Aktencorpora erhoben werden können, sind praktisch wertlos. Die berüchtigten „9 Millionen Opfer“, eine erfundene und maßlos überhöhte Zahl, sind zwar weithin aus der Literatur verschwunden. Und „was unmittelbar einleuchtet“, muss noch lange nicht wahr sein. Was dem heutigen Menschen plausible Motive, etwa hinter befremdlichen Verhaltensmustern sind, müssen solche noch lange nicht unter anderen kulturellen Bedingungen gewesen sein. Gerade wenn es um unsere eigene europäische, nicht überaus weit entfernte Geschichte geht, setzt der Versuch des Verstehens oft viel zu früh ein: nämlich bevor wirklich die Fakten erhoben sind, die es zu verstehen gilt (um die Problematik einer Rede von historischen „Fakten“ hier noch außen vor zu lassen, die uns freilich später wieder einholen wird).
Als Beispiel für die Destruktion einer Behauptung aus dem Bereich der Hexenprozesse wenden wir uns für einen Augenblick der diesbezüglich sehr lehrreichen „Neun-Millionen-Opfer“-Theorie zu. Als im 18. Jhdt. im Zuge der Aufklärung erste Versuche einer Schätzung der Zahlen als Hexen und Zauberer getöteter Menschen formuliert wurden, sind Zahlen von 30 000 (Jakob Anton Kollmann) oder auch 100 000 Opfern (so Voltaire, für den Hexenglaube ein Kennzeichen des „Mittelalters“ war) für ganz Europa genannt worden. Doch wurde eine Quantifizierung des „Hexenwahns“ – in dem man nur einen finsteren Aberglauben sehen konnte – zum Mittel, die eigene Überlegenheit über das „Mittelalter“ und den Abstand diesem gegenüber zu veranschaulichen (das Folgende weitgehend nach der Darstellung von Wolfgang Behringer, die für weitere Details zu vergleichen ist). Eine Schlüsselrolle nimmt dazu der Quedlinburger Stadtsyndikus Gottfried Christian Voigt (1740–1791) ein, der über die Zeit der Verfolgungen schrieb, um sie mit einer umfassenden Aberglaubenskritik zu verbinden, die sich vor allem gegen die katholische Kirche richtete. Kirchenkritisches war im Fürstentum Quedlinburg – unter der Schutzvogtei Kurbrandenburg-Preußens – durchaus angesagt. 1783 schrieb Voigt einen Aufsatz „Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland“, in dem Hexenprozesse und Folter beispielhaft für die in Preußen nun Gott sei Dank überwundene Vergangenheit stehen. Doch bestehe nach wie vor „wahrlich die Gefahr, in die vorige Barbarei und Unwissenheit zurück zu fallen, und den Ruhm der Aufklärung zu verlieren, wenn wir nicht auf der Hut sind … Denn es herrscht noch überall, bei Gelehrten und Ungelehrten – bei Juristen und Theologen – nicht nur in katholischen Ländern allein, sondern selbst mitten in protestantischen Provinzen – nicht allein in finstern entlegenen Dörfern, sondern auch in den ansehnlichsten Städten – unter dem vornehmen und geringen Pöbel – der dickste, dümmste und schändlichste Aberglaube.“
Um diese Kritik zu stützen, stellt er nun eine eigene Bestimmung des Umfangs der Prozesse in Form einer Hochrechnung an. In Quedlinburg (dessen Akten ihm allein zur Hand waren) fanden zwischen 1569 und 1598 insgesamt 30 Hexenprozesse mit Todesurteil statt. Ohne weitere Begründung rechnet er nun mit einem Aktenverlust und rät auf 40 bis 60 Todesurteile in diesen Jahren. Ohne irgendeinen Beleg für Hexenprozesse außerhalb dieser speziellen Jahre nimmt er nun weiter an, diese Quote sei der Regelfall für die gesamte Existenzdauer des Fürstentums Quedlinburg, womit er für 650 Jahre auf „wenigstens 866 Menschen“ kommt (von denen, wir erinnern uns, nur 30 tatsächlich belegt sind). Diese krude und absurde Berechnung wird nun aber noch auf ganz Europa weitergerechnet: „In Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und England, und überhaupt in dem Theile Europens, welcher seit dem Ausgang des 6. Jahrhunderts sich zur christlichen Religion bekannt hat, sind wenigstens 71 Millionen Einwohner anzunehmen. Wenn nun in einem so kleinen Bezirk Deutschlandes, welcher kaum 11 bis 12000 Menschen fasset, in einem Jahrhunderte auf 133 Personen als Hexen hingerichtet sind; so beträgt dieses in der ganzen christlichen Kirche auf jedes Jahrhundert 858.454, und auf den von mir bezeichneten Zeitraum von elf Jahrhunderten 9 Millionen vierhundert zwei und vierzigtausend neunhundert vier und neunzig Menschen.“ Wie er auf den zugrunde gelegten Zeitraum kommt (1100 Jahre statt der zuvor angesetzten 650), begründet er nicht. „Wollte ich die unglücklichen Schlachtopfer mitzählen, welche theils vorher, nämlich vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert, theils nachher, nämlich noch in dem gegenwärtigen Jahrhunderte, theils im übrigen Europa, als Polen, Schweden, Dännemarck etc. auf eben diese Weise hingerichtet sind; so könnte ich diese Berechnung noch weit höher treiben.“ Voigts Aufsatz erschien im nächsten Jahr in der Berliner Monatsschrift, einem Zentralorgan preußischer Aufklärung. Es wird heute sofort einleuchten, dass dieser ganze Gedankengang völlig absurd ist. Weder berücksichtigt er die erheblichen regionalen Unterschiede (manche Staaten Europas waren völlig verfolgungsfrei) noch die zeitlichen Unterschiede. Eine willkürlich und zufällig definierte Prozesswelle wird zum Paradigma für die ganze europäische Geschichte (und selbstverständlich sind auch die Bevölkerungszahlen für die europäischen Länder nur geraten).
Das Allererstaunlichste aber ist nun, dass diese Berechnung, vermutlich ohne Lektüre der Argumentation, rasch sozusagen Karriere machte. Das liegt ohne Frage an ihrer antiklerikalen Instrumentalisierbarkeit. Voigts Aufsatz wurde selbst mehrfach nachgedruckt, vor allem aber verselbständigte sich die Zahl bald, nicht zuletzt in romantischen Geschichtsdarstellungen wie bei Jules Michelet, der ein einflussreiches sozialromantisches Hexenbild formulierte (zu ihm später in diesem Buch). Michelet spricht aber nur sehr allgemein von „Millionen von Opfern“ klerikaler Gewalt. Seriöse Forscher wie Jakob Grimm und Wilhelm Soldan wiederholten die Zahl selbstverständlich nicht. Als im Kontext von „Syllabus“, Kulturkampf und 2. Vaticanum ein konservativer Ruck durch die katholische Kirche ging, bot Voigts Zahl den Gegnern dieser Entwicklungen eine willkommene Waffe der Kirchenkritik. Der Wiener Theologieprofessor Georg Gustav Roskoff (1814–1889) übernahm sie in seine hochangesehene (leider in manchem fehlerhafte) „Geschichte des Teufels“ (2 Bände, Leipzig 1869), und steigerte sie sogar zu der unsinnigen Behauptung, in Quedlinburg seien 133 Hexen an einem Tag (!) verbrannt worden. Heinrich Heppe, der Überarbeiter des Werkes Soldans, erkannte die Unsolidität der Berechnung Voigts, sprach aber dennoch von „Millionen Opfern“. Protestantische Theologen zitierten die Zahl im Folgenden gerne, vor allem in antikatholischer Zuspitzung, obwohl auch damals schon Fachhistoriker widersprachen (z. B. Moritz Ritter und Joseph Hansen, oder der sächsische Lokalhistoriker Johannes Moser 1894, der die Quedlinburger Quellen studiert hatte).
Im 20. Jhdt. begegnet die Fantasiezahl „neun Millionen“ dann nach wie vor in außerwissenschaftlichen Kontexten, vor allem in der Esoterikszene, die sie als Mittel der Distanzierung von „Kirche“ gebraucht. (Kurioserweise wird sie nicht gegen die Institution „Staat“ gebraucht, obwohl Hinrichtungen immer Sache des Staates waren). Auch die feministische Bewegung hat die Zahl übernommen, u. a. durch ihre Rezeption in Matilda Joslyn Gage, „Woman, Church, and State“ (1893), einem Schlüsseltext der Frauenbewegung, der im Christentum das Haupthindernis der Frauenemanzipation sah. In den USA erfahren die „Millionen Opfer“ zudem noch eine europakritische Zuspitzung. So konnte man im Witchcraft Museum in Salem zumindest in den 1990ern noch hören, dass Amerika nur „ein Mal“ in den Aberglauben und Hexenwahn „gefallen“ sei (bei der Verfolgung 1692, die 20 Menschen den Tod brachte), in Europa – Inbegriff der Intoleranz und Unfreiheit – aber seien eben „Millionen“ dem Wahn zum Opfer gefallen.
Nur der Interesse halber sei ergänzt, dass in Quedlinburg vor 1569 gar keine Hexenprozesse nachweisbar sind, und es danach in den genannten Jahren offenbar etwa 35 Todesurteile bei etwa 60 Prozessen gegeben hat (darunter drei Männer). Im 17. Jhdt. gab es noch diverse Prozesse, es wurden aber keine Todesurteile mehr vollstreckt.
Literatur: Wolfgang Behringer, Neun Millionen Hexen. Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), 664–685 (auch in verbesserter Fassung im Internet unter www.historicum.net; dort auch Literatur zu den tatsächlich bezeugten Quedlinburger Prozessen) * Die Voigt-Zitate aus: Gottfried Christian Voigt, Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland, Berlinische Monatsschrift Dritter Band. Berlin 1784, 297–311 * Über Heppe: L. H. Zuck, Heinrich Heppe. A Melanchthonian Liberal in the Nineteenth-Century German Reformed Church, Church History 51 (1982), 419–433.
Zu den erstaunlichen Ergebnissen der Forschung gehört, dass mit zunehmender Erschließung des tatsächlichen Aktenmaterials die Zahlen in den letzten 50 Jahren immer weiter nach unten korrigiert werden mussten. Rossel Hope Robbins schätzte in den 1950er Jahren noch auf 200 000 Opfer, neuere deutsche Schätzungen sprechen von 60 000 Opfern (davon 20 000 im deutschen Sprachraum), eine besonders wohlinformierte neueste amerikanische Schätzung (Robin Briggs) spricht von maximal 50 000 Opfern für ganz Europa einschließlich Russland bei insgesamt etwa 100 000 Prozessen, für die gesamte Zeit zwischen etwa 1400 und 1780. Die weitaus größte Zahl dieser Verfahren gehört in den Zeitraum 1570–1630. Das nimmt den Ereignissen natürlich nicht ihren Schrecken. Es bedarf aber einer Erklärung, die offenbar darin liegt, dass die älteren Schätzungen eben auch von einer Interessenagenda geprägt waren, die zunehmend sichtbar wird. Diese Interessenagenda benutzt die Hexenprozesse, um die eigene Gegenwart von der Vergangenheit vorteilhaft zu unterscheiden.
Allerdings gibt es viele Unwägbarkeiten. Insbesondere wissen wir nicht, ob es im frühen und hohen Mittelalter nicht doch mehr Prozesse gegeben hat, als aus den Chroniken ersichtlich ist. Diese wären dann allerdings jeweils Einzelprozesse wegen Schadenzauber; das Bild einer „Hexensekte“ gab es noch nicht (dazu später). Akten sind hier nur in Ausnahmefällen überliefert. Erst im 15. Jhdt. nimmt die schriftliche Überlieferung eine Gestalt an, in der quantitative Aussagen in vielen Fällen möglich sind.
Einige Andeutungen zu den heute sichtbaren Zahlenverhältnissen müssen hier genügen. Die systematischen Verfolgungen in der Westschweiz im späten 14. und frühen 15. Jhdt. haben mehrere hundert Menschen das Leben gekostet. Die Zahlen steigern sich in den 1420er und 1430er Jahren, dann wieder in den 1480er und 1490er Jahren, nach wie vor primär im Alpenraum, allmählich aber darüber hinausgreifend, sowohl nach Süden wie nach Norden und Westen. In den 1540ern gab es eine Verfolgungswelle in Dänemark, aber die großen Wellen beginnen in den 1560er Jahren und erfassen nun große Teile Europas. In etwa 60 Jahren könnte es hier europaweit bis zu 40 000 Hinrichtungen gegeben haben. Das 17. Jhdt. sieht noch einige extreme Wellen, so die Verfolgungen in England und Schottland, in der Region um Vaduz (ab 1648 mit nur allmählichem Abflauen) und in Schweden (1668–1676, mit etwa 300 Hinrichtungen). In Schweden wurde den Hexen vor allem „Verführung der Jugend“ zur Teilnahme am Hexensabbat vorgeworfen; die „Hexensekte“ wird hier als eine Art „Jugendreligion“ imaginiert. Abgesehen von dieser Welle gab es nur wenige Hexenprozesse in Schweden (sowohl vor als auch nach diesen Jahren), die meist in Freisprüchen oder geringeren Bestrafungen resultierten. Die regionalen und zeitlichen Unterschiede der Präsenz des Themas sind eben erheblich, wie an solchen Beispielen sofort sichtbar wird.
Eine berüchtigte späte Welle fand im Salzburger Land statt: die „Zauberer Jackl“-Prozesse mit 138 Toten zwischen 1675 und 1690. Auch sie waren insofern untypisch, als sie sich in erster Linie gegen Landstreicher und vor allem jugendliches fahrendes Volk richteten. 198 Personen wurden angeklagt, viele gefoltert, 138 gestanden und wurden (meist mit dem Fallbeil) hingerichtet (38 kamen frei, andere wurden Pflegeeltern übergeben, des Landes verwiesen u. ä.). Der ominöse „Zauberer Jackl“ (eine nur wenig greifbare, aber doch reale Figur) erscheint hier als eine Art Bandenchef jugendlicher Krimineller, in denen man freilich auch die Ursache von Missernten, Unwetter u. ä. sah (das Ganze begann mit einer Diebstahlwelle in den kirchlichen Opferstöcken, die aufgebrochen wurden). Die vor allem bei Bauern verhassten Randgruppen der Gesellschaft wurden auf diese Weise unter dem Generalvorwurf der schwarzen Magie physisch vernichtet; etablierte Bürger waren nicht Gegenstand von Hinrichtungen. Vier Fünftel der Opfer waren Männer, zwei Drittel nicht älter als 21 (der jüngste war erst zehn Jahre alt). Dieser Fall ist wie gesagt keineswegs typisch: Der Hexereivorwurf diente aber eben auch ganz speziellen sozialen Ausgrenzungsagendas. Warum die Prozesse 1690 aufhörten, ist nicht deutlich; vielleicht überstiegen die Kosten allmählich den scheinbaren Nutzen.
Auch in Deutschland, wo zwischen 1560 und 1630 sehr viele Prozesse stattfanden, sind massive regionale und sonstige Unterschiede zwischen den Territorialstaaten zu bedenken. So war die Kurpfalz praktisch verfolgungsfrei, was vor allem auf die präzise Anwendung der gesetzlichen Grundlagen zurückzuführen ist, die eine Anwendung der Folter nur in wenigen genau definierten Fällen erlaubte. In den Nachbarterritorien, die hier den Wortlaut des Gesetzes freier auslegten, kam es dagegen zu sehr vielen Hinrichtungen nach unter der Folter erzwungenen Geständnissen. Entsetzliche, epidemische Hexenpaniken mündeten etwa im Trierer, Bamberger und Würzburger Raum in hunderte von Hinrichtungen in kurzer Zeit.
Will man vergleichende Statistiken für Europa definieren, stößt man auf das Problem, dass wir nicht überall die Bevölkerungszahlen und damit den Rahmen der Prozesse wirklich abschätzen können. Doch hat es vielerorts schon im Spätmittelalter (etwa in Italien) genaue Zählungen der Bevölkerung gegeben, und ab dem 16. Jhdt. besitzen wir für manche Regionen durchaus reiches und solides statistisches und demographisches Zahlenmaterial, nicht zuletzt zum Zweck der Steuererhebung (gezählt wurden lange oft „Feuerstellen“, d. h. Familien, nicht Personen). Nach einer jüngeren Übersicht hätte es demnach insgesamt während der Hochzeiten der Verfolgung in Luxemburg 5 Hinrichtungen auf 1000 Personen durchschnittliche Bevölkerungszahl, in der Schweiz 4, in Dänemark 1,75, in Deutschland durchschnittlich 1,5, in Schottland 1,4, in Ungarn 1,27, in Italien 0,2, in England 0,13, in Frankreich und Spanien um 0,04 auf 1000 Personen gegeben. Bestimmte Regionen stechen hervor (Köln hatte etwa 2000 Hinrichtungen auf etwa 200 000 Menschen), wobei man die zeitliche Erstreckung bedenken muss. Die Zahlen sind nicht immer wirklich vergleichbar. Sie geben aber eine Vorstellung von den divergierenden Größenordnungen. Vor dem Parlament von Paris, dem etwa die Hälfte Frankreichs jurisdiktionell unterstand, fanden im 16.–18. Jhdt. insgesamt 1300 Prozesse wegen Hexerei statt. Von diesen endeten etwas unter 10 % in einer Hinrichtung, doch mehrere hundert Menschen wurden ausgepeitscht oder sonst körperlich gezüchtigt. (Auch die Behauptung, alle Angeklagten wären mehr oder weniger automatisch abgeurteilt worden, ist nur in wenigen Regionen und Zeiträumen zutreffend). Die Verteilung der Fälle auf Einzelprozesse, Prozesscluster und Prozesswellen divergiert ebenfalls sehr stark. Weitere Beispiele werden uns begegnen. Die Hexenprozesse sind keine durchgehende, konstante Form von Staatsterror, sondern eine „Potentialis“, die immer wieder ausbrechen kann. Die genauen Bedingungen, unter denen dieses geschieht, sind dabei das eigentliche schwierige und komplexe Forschungsthema.
Literatur: Robin Briggs, Number of Witches. In: Richard M. Golden (Hrg.), Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition 3. Santa Barbara u. a. 2006, 839–841 * Über die schwedischen Prozesse: Birgitta Lagerlöf-Génetay, De svenska hexprocessernas utbrottskede 1668–1671: Bakgrund i Övre Dalarna – Social och ecklesiatik kontext. Stockholm 1990 (Resümee in Englisch); Per Sörlin, „Wicked Arts“: Witchcraft and Magic Trials in Southern Sweden, 1635–1754. Leiden 1999; Linda Oja (Hrg.), Varken Gud eller natur: Synen på magi i 1600- och 1700-talens Sverige. Stockholm u. a. 1999 (Resümees in Englisch) * Französische Prozessstatistik: Alfred Soman, Sorcellerie et Justice Criminelle: Le Parlement de Paris (16e-18e siècles). Basingstoke 1992 (gesammelte Aufsätze zum Thema) * Bevölkerungsstatistiken: Karl Julius Beloch, Bevölkerungsgeschichte Italiens. 3 Bände. Berlin 1937–1939. Reprint 1961 (ältere Quellen u. a. der spätmittelalterlichen Zeit); Josef Ehmer, Art. Bevölkerung. In: Enzyklopädie der Neuzeit 2 (2005), 94–119 (reiche Literaturangaben).
Dennoch darf und soll keine Überlegenheitsattitüde gegenüber der älteren Forschung eingenommen werden, als habe die Wissenschaft sozusagen mit unserer Generation begonnen. Davon kann gar keine Rede sein. Größten Wert behält die ältere Forschung nicht zuletzt durch ihre Quelleneditionen und ihren Sammelfleiß. Etwa die berühmte Textsammlung von Joseph Hansen (1862–1943), ehemals Direktor des Historischen Archivs der Stadt Köln (in dieser Tätigkeit 1891–1927), ist nach wie vor unverzichtbar („Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter“. Bonn 1901, mehrere Reprints) und eine grundlegende Anschaffung für jeden, der über das Thema seriös arbeiten will.