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Über den Autor

DR. LENELOTTE MÖLLER

studierte Geschichte, Latein und evangelische Theologie in Saarbrücken, Basel und Mainz; die Promotion in Geschichte folgte im Jahr 2000; sie ist Studiendirektorin am Gymnasium Schifferstadt im Rhein-Pfalz-Kreis.

Im marixverlag sind von ihr u.a. folgende Übersetzungen erschienen: Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, die Cicero-Briefe, Titus Livius’ Römische Geschichte, Senecas Vom glücklichen Leben, Plutarchs Von Liebe, Freundschaft und Feindschaft, Polybios’ Der Aufstieg Roms, Lukians Vom beinahe vollkommenen Menschen, Tacitus’ Agricola und Germania und Sallusts Römische Geschichte. Sie ist außerdem Mitherausgeberin der 2-bändigen Plinius-Ausgabe.

Zum Buch

Die Ursprünge und Taten der Goten des römischen Gelehrten Jordanes aus dem 6. Jh. n. Chr. ist die wichtigste erhaltene schriftliche Quelle zur Geschichte der Goten, eines antiken-frühmittelalterlichen germanischen Stammes, der vom Schwarzen Meer nach Westen zog und mehrere Reiche gründete. Jordanes’ Darstellung fußt auf einer zwölfbändigen Geschichte der Goten des Staatsmannes und späteren Mönchs Cassiodor, die aber verloren gegangen ist. Die Gotengeschichte wird hier in deutscher Sprache mit ausführlichen Erläuterungen zum Verständnis vorgelegt. Auch wenn kein heutiges europäisches Volk die Goten im engeren Sinne als seine Vorfahren betrachten kann, bleibt dieses Volk ein wichtiges Stück europäischer Geschichte.

Dieser Attila nämlich … folgte mit seinem Bruder Bleda in das Königsamt der Hunnen und … suchte seine Anhängerzahl durch den Mord an seinem Verwandten zu vermehren. … Er schritt hochmütig umher, hierhin und dahin seine Augen rollend, damit die Macht des Stolzen auch in der Bewegung des Körpers sichtbar wurde. Er liebte die Kriege, mäßigte sich aber selbst und war überaus klug im Rat. Von demütig Bittenden ließ er sich erweichen, gnädig war er gegen die, die er einmal unter seine Befehlsgewalt aufgenommen hatte; von kleiner Gestalt, breiter Brust, ziemlich großem Kopf, winzigen Augen, schwachem Bartwuchs und grauem Haar, platter Nase, dunkler Hautfarbe – diese Zeichen seiner Abstammung, trug er.“ Jordanes’ Darstellung des berühmten Hunnenkönigs, den die Ostgoten unterstützten und die Westgoten bekämpften, prägte dessen Bild über Jahrhunderte. Aber auch für andere Ereignisse, von denen er berichtet, hat Jordanes eine der ganz wenigen Quellen hinterlassen.

Jordanes

Die Gotengeschichte

Jordanes

Die
Gotengeschichte

Übersetzt, eingeleitet und erläutert

von Lenelotte Möller

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0302-1

www.marixverlag.de

Vorwort

99 Jahre nach der ersten und bisher einzigen deutschen Übersetzung der Gotengeschichte des lateinischen Geschichtsschreibers Jordanes erscheint die zweite. Während der erste Übersetzer, Wilhelm Martens, 1913 nach eigenem Bekunden nicht wagte, die vorkommenden und zum Teil verderbten geographischen, Völker- und Personennamen zu erklären und auch nur einige wenige in seiner deutschen Ausgabe erläutert hat, kann die Übersetzerin des Jahres 2012 auf Forschungsliteratur und Lexika aus inzwischen fast 100 Jahren zurückgreifen, sodass in der vorliegenden Ausgabe die Mehrheit der Eigennamen sowie auch manche nicht für sich selbst sprechende Formulierungen fortlaufend erklärt werden und das Werk somit auch für nicht althistorisch oder germanistisch vorgebildete Leser, die sich mit Fug und Recht dennoch für Geschichte interessieren, erschlossen wird. Freilich bleiben einige, nur bei Jordanes vorkommende Namen, über die mehr, als er berichtet, auch heute nicht gesagt werden kann.

Das Werk ist mit einem Register der Eigennamen erschlossen, das durch die Angabe der Paragraphen bzw. Abschnittsnummern nicht nur für die vorliegende Ausgabe verwendet werden kann.

Dank ergeht an den marixverlag für die Anregung und die Veröffentlichung der neuen Übersetzung sowie meinen inzwischen langjährigen Lektor Dietmar Urmes für die sorgfältige Bearbeitung.

Speyer, im Juli 2012

Lenelotte Möller

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Einleitung

Geten und Daker

Die Goten vom 1. bis zum 6. Jh. n. Chr.

Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus

Jordanes und seine Gotengeschichte

Andere Quellen zur Geschichte der Goten

ÜBERSETZUNG DER GETICA

Einleitung in das Werk

Vorrede des Jordanes an Castalius (1) 1–3

Erdbeschreibung (1) 4–9

Die Insel Britannien (2) 10–15

Gemeinsame Geschichte der Goten

Die Insel Scandza und ihre Bewohner (3) 16–24

Der Auszug (4) 25–29

Die neue Heimat – das Gebiet der Skythen (5) 30–38

Leben der Goten im Laufe der Wanderung (5) 39–43

Geschichte der Geten (und Daker)

Krieg der Geten mit den Ägyptern (5) 44 (6) 48

Die Amazonen – Frauen der Geten (7) 49 (8) 57

Exkurs: Der Kaukasus (7) 52–55

Die Geten im Trojanischen Krieg (9) 58–60

Die Geten im Kampf gegen die Perserkönige (10) 61–64

Die Geten und König Philipp II. von Makedonien (10) 65–66

Die Geten werden gelehrt (11) 67 (12) 73

Geographische Hinweise (12) 74–75

Fortsetzung der Geschichte der Goten

Die Herrscherreihe der Goten (13) 76 (14) 82

Kaiser Maximinus [Thrax] – ein Gete (15) 83–88

Einfall der Goten ins Römische Reich 247 (16) 89–93

Konflikt mit den Gepiden (17) 94–100

Einfälle der Goten in das Imperium Romanum unter Cniva und seinen ersten Nachfolgern (18) 101 (19) 106

Neue Kämpfe mit den Römern und anderen Nachbarn (20) 107 (22) 115

König Ermanarich (23) 116–120

Die Hunnen: Entstehung, Ankunft und Aussehen (24) 121–128

Ermanarichs Ende und der Untergang des Ostgotenreiches (24) 129–130

Das Schicksal der Westgoten nach dem Hunneneinfall

Die Umsiedlung der Westgoten in das Imperium Romanum und die Schlacht von Adrianopel (25) 131 (26) 138

Die Goten und Kaiser Theodosius (27) 139 (28) 145

Die Kaiser Honorius und Arcadius (29) 146–151

Die Eroberung Roms 410 (30) 152–156

Alarichs Tod und Begräbnis (30) 157–158

Kampf um Galla Placidia (31) 159 (32) 166

Geiserich und das Vandalenreich (33) 167 (34) 177

Attila (34) 178 (36) 186

Römisch-gotisches Bündnis (36) 187 (37) 196

Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern (38) 197 (41) 218

Attila in Italien (42) 219–224

Thorismunds Sieg und Ende (43) 225–228

Theoderids Kampf gegen die Herrscher der Suaven (44) 229–234

König Eurich und das Ende des Weströmischen Reiches (45) 235 (47) 245

Das Schicksal der Ostgoten nach dem Hunneneinfall

Die Ostgoten nach dem Tod Ermanarichs (48) 246–251

Attilas Tod (48) 252 (49) 258

Das Ende des Hunnenreiches und die Neuaufteilung des Landes (50) 259–268

Die Kleingoten (51) 267

Geburt und Jugend Theoderichs des Großen (52) 268–271

Kriege der Ostgoten in Pannonien und erste Taten Theoderichs (53) 272 (55) 282

Aufbruch ins Römische Reich (56) 283–288

König Theoderich (57) 289–296

Familien- und Innenpolitik (58) 297–303

Theoderichs Tod und die Herrschaft Amalaswinthas (59) 304–306

Das Ende der ostgotischen Herrschaft (60) 307–314

Epilog (60) 315–316

Literaturverzeichnis

Gemeingotische Herrscher

Die Amaler

Die Balthen

Herrscher der Westgoten

Herrscher der Vandalen

Herrscher der Hunnen

Register der Eigennamen

EINLEITUNG

Das Volk der Goten, das um Christi Geburt auf der historischen Bildfläche erschien, nach weiten Wanderungen, Trennungen und Vermischungen, Eroberungen und Landverlusten schließlich im Jahr 410 die Stadt Rom eroberte (als erste Kriegsmacht nach 800 Jahren) und schließlich in der Spätantike in anderen Völkern aufging, schuf die ältesten germanischen Sprachdenkmäler und prägte wesentlich die germanische Sagenwelt. Jordanes’ »Ursprung und Taten der Goten« ist einerseits eine der wenigen und gleichzeitig eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte dieses Volkes, enthält andererseits aber zahlreiche Irrtümer und wohl auch einige bewusste Verfälschungen. Um Jordanes’ Erzählung mit Erkenntnisgewinn lesen zu können, ist es nützlich, die Grundzüge der Geschichte der hauptsächlich darin behandelten Völker zuvor kennenzulernen. Während die römische Geschichte, namentlich die der Kaiserzeit, eher als bekannt vorausgesetzt werden kann, ist das Wissen über die Goten dagegen gering, da sie noch seltener im Unterricht behandelt werden, während Geten den meisten Mitteleuropäern noch nicht einmal dem Namen nach bekannt sind. Und während nach den mit den Geten verwandten Dakern eine in Deutschland zunehmend verbreitete und originell beworbene Automarke benannt ist, hat dies zur Bekanntheit des namengebenden Volkes und seiner Geschichte noch kaum beigetragen.

Geten und Daker

Obwohl die Geten und die mit ihnen verwandten Daker thrakische Völker waren, werden sie in Verfälschung der tatsächlichen Gegebenheiten in Jordanes’ Geschichtswerk mit den germanischen Goten gleichgesetzt. Den willkommenen Anlass dazu bot dem Verfasser die Namensähnlichkeit der Geten und Goten sowie ihre nahe beieinanderliegenden Siedlungsgebiete. Die Intention des Autors, die mit dieser Gleichsetzung verfolgt wird, soll im Kapitel »Getica oder Origo Gothica« erläutert werden. In der Übersetzung wurde der Begriff »Geten« gewählt, wo Jordanes aus deren Tradition schöpfte, das Wort »Goten« wurde verwendet, wo er sich auf tatsächliche oder vermeintliche gotische Tradition stützt.

Die Geten waren der nördlichste thrakische Volksstamm und siedelten im Ostbalkan und an der Ostküste des Schwarzen Meeres, das in der Antike Pontos genannt wurde. Ihre Nordwestliche Gruppe ist seit dem 2. Jh. v. Chr. als Daker belegt, das Volk, von dem sich die Rumänen der Gegenwart herleiten. In das umschriebene Siedlungsgebiet waren die Geten wohl im 5. Jh. v. Chr. eingewandert, und sie ernährten sich wahrscheinlich als Nomaden und Viehzüchter. Sie wohnten in kleinen Einheiten zusammen, Dörfer und kleine Städte gründeten sie erst nach den ersten Kontakten mit den Griechen. Nach Auskunft antiker Geschichtsschreiber und Geographen (Herodot 4,94–96; Strabon 7,3,3–5; Pomponius Mela 2,18) verehrten sie als ihren höchsten Lehrer Zalmoxis und waren Anhänger des Unsterblichkeitskultes, der ihnen im Kampf absolute Todesverachtung verlieh und sie damit besonders mutig machte. Das Reitervolk, das mit Pfeil und Bogen kämpfte, war deswegen in der Antike sehr gefürchtet. Dennoch unterwarf Perserkönig Dareios sie während seines Skythenfeldzugs (Herodot, Geschichte 4,93) im Jahr 510 v. Chr., jedoch wohl nur für kurze Zeit. Denn noch im selben Jahrhundert zogen sie mit Odrysenkönig Sitalkes, dem Herrscher eines Nachbarvolkes, gegen Perdikkas von Makedonien mit einem großen Reiterkontingent (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg 2,97). Um 360 v. Chr. wurde ihr Gebiet von den Skythen erobert und von diesen zum Teil für ihr eigenes Volk beansprucht. Als die Geten dagegen Widerstand leisteten, rief Skythenkönig Atheas seinen Verbündeten Philipp von Makedonien zu Hilfe, entzweite sich aber später mit diesem und wurde von Philipp geschlagen. Darauf wurden die Geten ein Teil des von Alexander d. Gr. eroberten Reiches, und nach dessen Tod fielen sie an den Diadochen Lysimachos (Iustinus 13,4), der seine Macht nach einigen Aufständen zu Beginn festigen konnte. Damals wanderten viele Geten als Sklaven in griechischen Poleis, einem Umstand, dem die Gegenwart viele zuverlässige Auskünfte griechischer und römischer Historiker (Herodot, Thukydides, Strabon, Cassius Dio, später Pomponius Mela und Plinius d. Ä.) über dieses Volk verdankt. Das nächste Volk, das über die Geten und ihre Nachbarn hereinbrach, waren die nach Osten ziehenden Kelten (Iustinus 25,1).

Im Bündnis mit König Eupator von Pontus gerieten sie in Konflikt mit den Römern und wurden 72 v. Chr. von L. Licinius Lucullus besiegt. Etwa zur Regierungszeit C. Iulius Caesars in Rom einigte Dakerkönig Burebista alle thrakischen Stämme auf dem Balkan und am Schwarzen Meer und wagte sogar einen Aufstand gegen Caesar. Dieser allerdings wurde ermordet, bevor er gegen Dakien ziehen konnte. Doch auch Burebista konnte seine Macht nicht langfristig stabilisieren, sondern sein Reich zerbrach nach einer Generation.

Die bedeutendste Stadt der Geten, Tomis am Schwarzen Meer, das heutige Constanţa in Rumänien, wurde bekannt als Exilort des Dichters Ovid (8–14 n. Chr.), der nach eigenem Zeugnis nicht nur gemeinsam mit seinen Gastgebern einen Skytheneinfall in das zu dieser Zeit römische abwehrte, sondern auch die Sprache der Geten erlernte und sogar in ihr dichtete.

Zu den wichtigen Herrschern der Geten in dieser Zeit gehörten Dapyx und Zyraxes. Ab 46 n. Chr. setzte die allmähliche Romanisierung der Bevölkerung ein. Am Ende des Jahrhunderts einigte König Dekebalos noch einmal die Geten und Daker, doch in mehreren Kriegen von 101 bis 106 wurden sie von Kaiser Traian unterworfen, unter dem das Imperium Romanum seine höchste geographische Ausdehnung erreichte. Er richtete die Provinz Dakien ein, und bis zur Ankunft der Goten waren die Daker vollständig romanisiert, was sich bis heute an der Sprache ihrer Nachfahren ablesen lässt.

Die Goten vom 1. bis zum 6. Jh. n. Chr.

Ein gemeinsamer Ursprung der Stämme, die in der antiken Geschichtsschreibung als Gauten und Gutonen bezeichnet werden, ist wohl anzunehmen. Sie stammen aber weder, wie Jordanes erzählt, aus Skandinavien, noch sind sie von skandinavischer Zuwanderung beeinflusst worden. Diese Vorstellung ist eher eine Selbstdeutung des Volkes in der Zeit Theoderichs des Großen aufgrund von Namensähnlichkeiten wie derjenigen zu der skandinavischen Insel Gotland, die aber auf anderen Ursachen beruht. Im 1. Jh. n. Chr. werden die Gutonen als Bewohner des östlichen Germaniens erstmals in der antiken Literatur erwähnt (Plinius, Naturalis Historia 4,99; Tacitus, Germania 44,1, Annales 2,62,2). Um 150 spricht Klaudios Ptolemaios (3,5,8) als letzter antiker Autor von den Gutonen, und zwar mit der präzisesten Nennung ihres Siedlungsgebietes, des Weichselknies. Dort sind sie archäologisch identifizierbar mit der Wielbark- bzw. Willenberg-Kultur. Es erfolgten im Laufe ihrer Geschichte wohl Teilungen des Stammes, wobei jeweils ein Teil aus dem bisherigen Siedlungsgebiet abwanderte, während ein anderer zurückblieb. Die Auswanderer siedelten in neuen Gebieten, wo sie sich mit den bisherigen Bewohnern nicht nur bekriegten, sondern allmählich auch verbanden. Etwa fünf Jahrzehnte später wanderte ein großer Teil der Gutonen aus Ostpommern ab und drang allmählich bis zur Donaumündung vor. Dort ist er in der Tscherniachov-Kultur nachweisbar. Die Goten erschienen erstmals 208 am Schwarzen Meer und gewannen mit der Zeit die Vorherrschaft über die schon zuvor hierher gewanderten Bastarnen, ebenfalls ein germanischer Stamm, sowie über die Karpen und Sarmaten.

Als die Goten unter König Kniva 238 das Südufer der Donau überfielen, kamen sie erstmals mit den Römern in Kontakt. Es folgten abwechselnd Abwehrkämpfe der Römer gegen die Goten, Friedensschlüsse, gotische Kontingente bei römischen Feldzügen – so mit Kaiser Gordianus gegen die Perser 242 – und wieder Einfälle in römisches Hoheitsgebiet. 249 setzte König Kniva mit den Goten über die Donau, dann zog sein Heer in einem dreifachen Vorstoß (die beiden anderen Abteilungen unter den Heerführern Argaith und Guntherich) nach Dakien, Moesien und Thrakien und drangen bis nach Philippopel (Plovdiv) vor. Einen Rückeroberungsversuch der Römer unter Kaiser Decius wehrten sie in der Schlacht bei Abrittus-Hisarlak in der Nähe von Razgrad (Bulgarien) im Jahr 251 erfolgreich ab, in der Decius selbst und sein Sohn fielen. Decius’ Nachfolger Trebonianus Gallus schloss Frieden zu den Bedingungen der Goten. Doch schon 254 überfielen diese die Stadt Thessaloniki, weitere drei Jahre später zu Schiff überfielen sie vom Kimmerischen Bosporus ausgehend, vereint mit einem Landheer, die Südwestküste des Schwarzen Meeres und drangen zum Bosporus und nach Bithynien vor. Dabei wurde vermutlich aus dem Dorf Sadogolthina bei Parnassos in Kappadokien die Familie verschleppt, aus der später Bischof Wulfila hervorgehen würde. 268 fielen sie gemeinsam mit dem germanischen Stamm der Heruler von See her ins Römische Reich ein, wurden aber erfolgreich abgewehrt; dennoch gelang ihnen das Vordringen bis zur Ägäis, sie wurden von Milizen und zunächst von Kaiser Gallienus aufgehalten – der aber fiel – und dann bei Nisch (jetzt in Serbien) von Kaiser Claudius II. besiegt, der sich als erster römischer Herrscher Gothicus nannte (269). Ein Rachefeldzug überlebender gotischer Einheiten im folgenden Jahr wurde von römischen Bürgerwehren zurückgeschlagen. 271 erkämpften die Römer zwar einen Sieg, bei dem 5000 Goten mitsamt ihrem König Kannabaudes fielen, mussten aber in der Folge die Provinz Dakien aufgeben. Unter Kaiser Probus nahmen die Römer 280–295 die die von den Goten verdrängten germanischen Bastarnen ins Römische Reich auf und siedelten diese in Thrakien an.

In dieser Zeit teilten sich die am Schwarzen Meer wohnenden Goten allmählich in zwei Gruppen: die Ostrogoten (von *austra – glänzend), die auch Greutungen hießen, und die Visigoten (von *uesu – gut), die auch Terwingen hießen. Da die Ostrogoten östlich des Flusses Olt siedelten und die Visigoten westlich davon, setzten sich durch die zufällige Ähnlichkeit der Eigennamen mit den relativen Himmelsrichtungen die Bezeichnungen Ost- und Westgoten durch. Die weitere Geschichte dieser beiden Großgruppen ist wegen der Teilung und der getrennten Schicksale von hier an parallel in einer Tabelle dargestellt. So gut wie nie traten die beiden Gruppen alleine auf, weder gegenüber den Römern noch gegenüber anderen Außenstehenden. Meist waren sie bei Raubzügen und in Kriegen mit verwandten oder fremden Völkern in wechselnder Kombination verbündet.

Zeit

Westgoten

Ostgoten

um 311

Der spätere Bibelübersetzer und Bischof Wulfila wird geboren.

 

323

Die Terwingen unter Rausimod greifen die ungeschützte Grenze der weströmischen Reichshälfte unter Augustus Licinius an.

 

324

Unter Fürst Alica kämpfen sie an der Seite Ostroms gegen Westrom und verhelfen Constantin d. Gr. zum Sieg. Licinius wird hingerichtet.

 

328

Constantin erobert Dakien für das Imperium Romanum zurück.

 

332

In den Krieg der Westgoten mit den Theis-Sarmaten greift Constantin ein und führt so die Niederlage der Goten herbei. Deren Rückzugsgefechte leitet Ariarich, der ein Bündnis mit Constantin zu römischen Bedingungen eingehen muss; vielleicht werden dabei auch nur ältere Verträge erneuert.

 

334

Die Westgoten überfallen das Gebiet der Vandalen.

 

340er-
Jahre

Die Westgoten unternehmen Raubzüge über die gefrorene Donau nach Moesien.

 

341

Wulfila wird Bischof.

 

347/48

In der Ersten Gotischen Christenverfolgung wird Wulfilas Familie aus dem Gebiet der Westgoten vertrieben und im heutigen Bulgarien angesiedelt, Wulfila erhält den Titel »Bekenner«. In Bulgarien entsteht seine Bibelübersetzung, von der weite Teile des Neuen Testamentes erhalten sind, das erste große Denkmal einer germanischen Sprache in einer Mischschrift aus römischen und griechischen Buchstaben und einzelnen Runen.

 

Mitte 4. Jh.

 

Im östlichen Gotenreich regiert König Ermanarich, der seine direkte und indirekte Macht weit ausdehnt und – wohl vor allem wegen seines tragischen Endes – in der Sagenliteratur reiche Spuren hinterlässt.

363

Die Westgoten ziehen mit einem römischen Heer unter Kaiser Julian gegen Persien.

 

365

Der Richter Athanarich tritt sein Amt im Stamm der Westgoten an und zieht mit 3000 Mann zur Unterstützung des römischen Gegenkaisers Procopius nach Konstantinopel, kann jedoch weder diesem noch dessen Nachfolger Marcellus auf den Thron verhelfen.

 

367–369

Unter Kaiser Valens greift das Imperium Romanum die Goten an, die sich unter Athanarich in die Karpaten zurückziehen, während die Römer ihr bisheriges Siedlungsgebiet verwüsten.

 

368

Donauüberschwemmungen zwingen die Römer, ihren Vormarsch gegen die Goten anzuhalten, verursachen den Goten allerdings massive Ernteausfälle und schwächten sie so erheblich.

 

369

Mit dem wieder einsetzenden römischen Vormarsch steigt der Widerstand der Westgoten, und es kommt zu einem Friedensschluss an der Donau.

 

369–372

Die Zweite Gotische Christenverfolgung bewirkt eine Spaltung der terwingischen Bevölkerung. Unter den katholischen Märtyrern dieser Verfolgung befindet sich der hl. Saba.

 

375/376

Der Westgotenherrscher Fritigem will mithilfe des Kaisers Valens die Herrschaft über die Westgoten an sich reißen.

Der Überfall der hunnischen Reiternomaden vernichtet das Reich Ermanarichs, der sich das Leben genommen haben soll (Ammianus Marcellinus 31,3,2). Ihm folgt Vidimer, der selbst in einer späteren Hunnenschlacht fällt.

 

Der Überfall der Hunnen erreicht auch die westliche Gruppe der Goten. Ein Teil von ihnen zieht sich unter der Führung Athanarichs von Bessarabien erneut in die Karpaten zurück, wo er die ursprünglich verbündeten Taifalen und Sarmaten vertreibt; der größere Teil der Westgoten wandert, veranlasst durch die im Imperium Romanum bereits lebenden gotischen Christen, in das Römerreich ein, um dort Schutz zu finden. Sie werden angeführt von Fritigem und Alaviv. Die ins Römische Reich eingewanderten Goten verfügen zunächst über keine funktionsfähige Landwirtschaft, und der Umzug wird logistisch nicht gut organisiert. Die römischen Beamten erhöhen die Getreidepreise, um aus der Versorgungsnot der Goten Profit zu schlagen.

Sein Sohn wandert ins Römische Reich ein. Eine Gruppe von Goten bleibt auf der Krim zurück und wird später als Krim-Goten bezeichnet. Spuren von ihr sind noch im 16. Jh. feststellbar.

Unter hunnischer Herrschaft formiert sich der ostgotische Stamm neu.

378

Als der römische Befehlshaber Lupicinus Gotenkönig Fritigem bei einem Gastmahl hinterlistig töten lassen will, greifen die Goten an, siegen und verwüsten die Gegend von Marcianopel. Bei Adrianopel, dem heutigen Edirne, werden sie durch gotische Hilfstruppen der römischen Armee verstärkt. Die Kaiser Valens und Gratian wollen die Goten hier gemeinsam angreifen. Gratian allerdings kehrt mit seinem Heer um nach Westen, da er einen Alemanneneinfall abwehren muss. Valens wagt, nachdem er ein Friedensangebot Fritigerns abgelehnt hat, am 9. August den Angriff auf die gotische Wagenburg alleine, kassiert die schlimmste römische Niederlage nach Cannae (216 v.Chr.) und dem Teutoburger Wald (9 n.Chr.) und kommt selbst unter ungeklärten Umständen ums Leben, außer ihm auch zwei Drittel seines Heeres. Die Goten jedoch nutzen ihren Sieg nicht zu langfristigen Vorteilen, die Greutungen, die die Westgoten unterstützt haben, trennen sich wieder von ihnen. Sie werden von Gratian mit ihren Herrschern Alatheus und Saphrax besiegt.

380

Athanarich wird von Verwandten aus dem Richteramt vertrieben, vielleicht von Fritigem veranlasst, …

 

381

… und wird in Konstantinopel als Flüchtling von Kaiser Theodosius empfangen und stirbt zwei Wochen später.

 

382

Kaiser Theodosius schließt ein Bündnis mit den Westgoten, die er als foederati in Thrakien ansiedelt. Er stellt eine westgotische Heereseinheit auf.

 

391

König Alarich führt die Goten im Römischen Reich.

 

406

 

Der Einmarsch von Radagasius mit vorwiegend greutungischen Goten nach Italien wird in der Schlacht von Faesulae (Fiesole) aufgehalten. Die Greutungen schließen sich zum großen Teil Alarich an.

410

Alarich, der von den Römern nicht als legitimer Herrscher anerkannt wird, erobert Rom und lässt es drei Tage lang plündern. Einige in Kirchen geflüchtete Römer werden aber von den gotischen Eroberern verschont. Alarich stirbt noch im selben Jahr. Ihm folgt sein Schwager Athaulf.

 

414

Athaulf heiratet die Schwester des Kaisers Honorius Galla Placidia. Goten und Römer bleiben sich aber fremd.415Athaulf wird in Barcelona ermordet.

 

418

Der Westgotenkönig Vallia erhält, nachdem die Westgoten die Römer in Hispanien gegen die Vandalen unterstützt haben, die römische Provinz Aquitania II um Toulouse und Bordeaux zur Ansiedlung. Hier entsteht das Tolosanische Reich. Erster König dieses Reiches wird Theoderid. Das Zusammenleben mit der römischen Oberschicht in Gallien ebenso wie mit den benachbarten Burgunden verläuft langfristig erträglich.

 

451

Die Westgoten unterstützen den siegreichen römischen Heermeister Aëtius gegen die Hunnen in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, die Ostgoten stehen auf der Seite der Hunnen. Im Tolosanischen Reich folgt auf Theoderid König Thorismund.

 

453

Auf Thorismund folgt Theoderich II.

 

454

 

Im Krieg zwischen Attila und den Gepiden sind die Ostgoten aufgeteilt: Ein Teil hält unter Ardarich zu den Gepiden, die die Auseinandersetzung verlieren, ein Teil zu den Hunnen.

456

 

Erneut wehren die Ostgoten einen hunnischen Angriff ab. Von Kaiser Marcian erhalten sie unter ihren Anführern Valamer, Thiudimer und Vidimer als Siedlungsgebiet ganz Pannonien zwischen dem Plattensee und Sirmium. Es gelingt ihnen, die Gepiden zurückzudrängen.

459

 

Sie unternehmen einen Kriegszug bis nach Dyrrhachium.

466

Im Tolosanischen Reich folgt Eurich auf Theoderich II. Unter ihm breitet sich ab 468 das Tolosanische Reich nach Hispanien aus.

 

467

 

Ein Angriff der Goten auf Noricum wird in der Schlacht von Teurina an der Donau zurückgeschlagen. Allerdings gelingt die Abwehr der Sarmaten, Hunnen und Sueben.

469

 

In der Schlacht an der Bolia siegen die Ostgoten über eine Koalition von Angreifern: Gepiden, Heruler, Rugier Sarmaten, Skiren und Sueben.

470

 

Theoderich erobert Singidunum (Belgrad).

 

 

Die Ostgoten unter Thiudimer ziehen nach Thessaloniki, andere unter Vidimer nach Italien. Die Letzteren schließen sich den Westgoten an.

474

 

Nach dem Tod Thiudimers folgt ihm sein Sohn Theoderich d. Gr.

481

 

Theoderich Strabo, der Anführer der gotischen Truppen im Römischen Reich stirbt, sein Heer geht zu Theoderich über.

484

Im Tolosanischen Reich folgt auf Eurich der Balthe Alarich II.

Theoderich wird römischer Konsul.

488

 

Theoderich zieht gegen Odoaker …

489

 

… und besiegt ihn auf der Isonzobrücke.

490

 

Odoaker unterliegt Theoderich erneut in der Schlacht an der Adda.

493

Alarich II. heiratet Theoderichs Tochter Thiudigotha.

Theoderich ermordet Odoaker persönlich und wird Herrscher über ganz Italien. Er heiratet Chlodwigs Schwester Audofleda.

496

 

Theoderichs Tochter Ostrogotha heiratet Burgundenkönig Sigismund.

497/98

 

Theoderich wird von Kaiser Anastasius anerkannt und erhält den Titel Flavius Theodoricus rex.

500

 

Theoderichs Schwester Amalafrida heiratet Vandalenkönig Thrasamund.

507

Theoderich gewinnt nach einem Erfolg gegen den Franken Chlodwig die Kontrolle über die Westgoten.

 

510

 

Theoderichs Nichte Amalaberga heiratet Thüringerkönig Herminafrid.

511

Theoderich kontrolliert über seinen Statthalter Theudis das Westgotenreich.

 

525

 

Amalafrida stirbt bei einem Umsturz am Vandalenhof.

526

 

Nach Theoderichs Tod folgt ihm sein Enkel Athalarich. Regentin für den Jungen ist dessen Mutter, Theoderichs Tochter Amalaswintha, die einer starken Opposition von Goten und Römern ausgesetzt ist.

531

Theudis besiegt König Amalarich und wird König der Westgoten.

 

534

 

Athalarich stirbt.

535

 

Theodahad lässt Amalaswintha ermorden.

536

 

Der byzantinische Feldherr Belisar landet in Sizilien, erobert Neapel und stirbt. Der neue König Witiges heiratet Amalaswinthas Tochter Mataswintha.

539

 

Die Franken verwüsten Oberitalien.

540

 

Witiges, der in Ravenna belagert wird, kapituliert und wird gefangen genommen.

542

 

König Totila gelingt noch einmal die Zurückdrängung von Byzanz.

548

Auf die Ermordung Theudis’ folgen Machtkämpfe im Westgotenreich.

 

552

Byzanz erobert Cartagena.

Der byzantinische Feldherr Narses besiegt die Goten in Italien, Totila fällt, im selben Jahr auch sein Nachfolger Teja. Dies bedeutete das Ende des Ostgotenreiches.

711

Das Westgotenreich wird von den Sarazenen erobert.

 

Flavius Magnus Aurelius Cassiodorus Senator

Die Herrschaft der ostgotischen Amaler in Rom bedurfte einer Rechtfertigung, die über die Tatsache der militärischen Überlegenheit hinausging. Insbesondere verlangte es Theoderich nach einem Beweis der historischen Ebenbürtigkeit des herrschenden Gotenvolkes mit den nunmehr beherrschten, kulturell jedoch überlegenen Römern.

Aus diesem Grund beauftragte er einen seiner engsten Getreuen, Cassiodor Senator, mit der Untersuchung der Geschichte der Goten – einen wahrhaft würdigen Autor, wie dessen Leben vor und nach dem Tod Theoderichs, den er überlebt hat, beweist.

Cassiodor war geboren zwischen 485 und 490 in Scylaceum in Kalabrien, das damals noch Bruttium hieß. Er stammte aus einer vornehmen Familie, die früher aus Syrien nach Italien eingewandert war. Sein Urgroßvater hatte Sizilien und Bruttium gegen die Vandalen verteidigt, sein Großvater war Gesandter bei Attila und sein Vater, praefectus praetorio 503–506, verwaltete Sizilien unter Odoaker und rettete die Insel Sizilien ebenfalls vor den Vandalen und wurde dafür zum patricius ernannt. Cassiodor erhielt die bei dieser Herkunft gleichsam obligatorische Ausbildung in Rom und zeigte selbst besonderes Interesse an Rhetorik. Vor diesem Hintergrund hielt er eine Lobrede auf Theoderich den Großen, den Herrscher des Westens und wurde dafür zum Quästor 506/507 ernannt. Unter der Herrschaft der Ostgoten in Rom machte er in der Verwaltung eine beachtliche Karriere. Diese bestand damals nämlich noch aus römischen Beamten und hatte ihren Sitz in Ravenna. Schließlich brachte es Cassiodor zum Minister und persönlichen Berater Theoderichs. Loyal diente er dem neuen König mit dem Ziel, römische Tradition mit der neuen gotischen Herrschaft zu versöhnen. Sein Mittel dazu war besonders die Rhetorik: Cassiodor blieb der Panegyriker der Amaler auch über den Tod Theoderichs hinaus noch für dessen Enkelin Mataswintha.

Die Leitung der römischen Verwaltung hatte er inne in einer Zeit des Niedergangs und unglaublicher sozialer Spannungen. Die damals prägenden Gegensätze wurden zusammengefasst in dem Satz: Romanus miser imitatur Gothum, et utilis Gothus imitatur Romanum1 – Der arme Römer ahmt den Goten nach, der reiche Gote den Römer. Auch politisch waren die Zeiten höchst unsicher: Cassiodors persönliche Freunde, sein Amtsvorgänger als magister officiorum Boethius und dessen Schwiegervater Symmachus, wurden aus politischen Gründen hingerichtet. Außer mit ihnen war Cassiodor auch mit dem Dionysius Exiguus, einem Mönch skythischer Abstammung, befreundet, dem wir die christliche Jahreszählung verdanken.

Seine hauptberufliche und seine schriftstellerische Tätigkeit verknüpfte Cassiodor durch die Herausgabe der Variae (Sammlung wichtiger Texte aus der römischen Verwaltung), die zur wichtigsten Geschichtsquelle über die römische Staatsverwaltung ihrer Zeit wurden. Die Variae bestehen aus zwölf Büchern antiker Zählung mit 468 Textvorlagen für Rechtstexte, bereichert allerdings mit philosophischen Abhandlungen. Daher stellen sie auch eine Sammlung des damaligen Wissens dar. Sie sind gekennzeichnet durch einen geschraubten, umständlichen Stil, der auch die Laudes auf die Mitglieder der Familie der Amaler charakterisiert. Sein erstes Werk, die Chronica, hatte Cassiodor schon 519 veröffentlicht: eine Weltgeschichte, die mit dem Konsulat Eutharichs, des Schwiegervaters Theoderichs, endet.

Von Theoderich erhielt Cassiodor den Auftrag, eine Geschichte der Goten zu schreiben. Diese legte er in zwölf Bänden an, in denen er Herkunft, Aufenthaltsorte und Taten dieses Volkes darlegte. Das Werk sollte die gotische Herrschaft in Italien durch die Verbindung der gotischen und römischen Vergangenheit legitimieren. Gleichzeitig sollte das ostgotische Geschlecht der Amaler herausgestellt werden. Es richtete sich an Römer und gebildete Goten. Um den Goten ein angemessenes Alter im Mittelmeerraum zu verleihen, setzte er sie mit den schon erheblich länger hier wohnenden thrakischen Geten sowie phasenweise mit den ebenfalls thrakischen Dakern gleich und gewann auf diese Weise viele Jahrhunderte auf einmal und wertete so die Goten als Kulturvolk erheblich auf. Dass dabei keine logische Chronologie mehr herzustellen war, störte ihn nicht, dafür reklamierte er ein hohes Alter des beanspruchten Siedlungsgebietes. Den berühmten Ostgotenherrscher Ermanarich verglich er mit Alexander dem Großen. An vielen Stellen ist selbst noch in den überlieferten Fragmenten der Anklang an griechische und römische Historiker festzustellen: Tacitus, Deixippos, Priskos und Blabius. Abgeschlossen wurde das Werk wohl 537/538, wurde aber nach Meinung mancher Historiker noch von Cassiodor fortgesetzt bis 551.

Doch das politische Gebilde, das Cassiodor mit seiner Gotengeschichte integrieren wollte, war nicht von langer Dauer. Nach Theoderichs Tod 526 regierte dessen Tochter Amalaswintha für ihren Sohn Athalarich, Cassiodor leitete weiterhin die Zivilverwaltung und wurde selbst 533 praefectus praetorio wie einst sein Vater. Seine kulturellen Ambitionen waren ungebrochen: Mit Papst Agapetus I. (reg. 535–536) fasste er den Plan, ein Zentrum für Bibelstudien einzurichten nach dem Vorbild bestehender weltlicher Hochschulen in Italien und Katechetenschulen in Nisibis und Alexandrien. Doch als 537 der byzantinische General Belisar Rom eroberte und Nachfolger Cassiodors als praefectus praetorio wurde, verlor dieser sein Amt. Er blieb aber in Ravenna und wurde am Ende seiner Laufbahn vielleicht noch mit dem Titel patricius geehrt. 540 wurde auch Ravenna durch Truppen Iustinians erobert. Damit endete, nicht nur in Italien, die Amalerherrschaft, in deren Dienst sich Cassiodor sein ganzes bisheriges Leben lang gestellt hatte.

Cassiodor zog sich zunächst ins Privatleben zurück, was in Antike und Spätantike gar nicht ungewöhnlich war, und ging auf einen neuen Lebensabschnitt zu. 550 befand er sich in Konstantinopel mit dem ehemaligen Konsul des Ostens Rufinus Petronius Nicomachus Cethegus und dem früheren Ostgotenkönig Vitiges sowie weiteren Emigranten, wohl auch selbst als ein Verbannter. In dieser Zeit verfasste er De anima als 13. Buch der Variae, das stilistisch einfacher gehalten ist als der erste Teil: Die äußere Form verlor hier bereits an Bedeutung gegenüber dem Textgehalt. Ebenso begann er die Expositio Psalmorum (Psalmenerklärung), die 10 Jahre später erschien.

Die Fortsetzung der Schriftstellerei aber genügte Cassiodor nicht. Für den neuen, zweiten Lebensabschnitt, aus dem noch fast eine zweite Hälfte wurde, gründete Cassiodor 554 das Kloster Vivarium (so benannt nach seinen Fischteichen) auf seinem Familiengut nahe dem Flüsschen Pellena (jetzt Alessi). Er selbst war Klosterherr und Abt; die Mönche lebten nach einer eigenen Regel, nicht nach der Benedikts. Die von ihm selbst formulierte Aufgabe der Ordensgemeinschaft lautete: Bewahrung der antiken Bildung, Rettung für die neue Zeit. Auch hier war es – wie schon in seinem ersten Leben – notwendig, Gegensätzliches zu verbinden: Antike und Christentum. Die Mönche begannen daher mit einer regen Sammel- und Abschreibtätigkeit, eventuell fertigten sie auch Übersetzungen an. Als Abt schrieb Cassiodor die Institutiones divinarum et humanarum litterarum (Einführung in die religiösen und weltlichen Wissenschaften), ein grundlegendes Lehrbuch des Mittelalters, gegliedert nach den Septem artes liberales, das auch als Anleitung zum Sammeln und Abschreiben von Handschriften diente. Eine Bibliothek entstand; daneben hatte Cassiodor auch noch eine Privatbibliothek. Klar war, dass Texte aufgrund der Seltenheit vieler Werke sowie wegen der geringen Haltbarkeit der Beschreibstoffe und der hohen Verlustgefahr nur durch immer wieder neues Abschreiben erhalten werden konnten. Hier fand der Übergang von Papyrus zu Pergament und von der Rolle zum Codex als systematische Maßnahme zur Erhaltung von Texten statt. Von den 3% Texten, die von der ursprünglich vorhandenen antiken Literatur auf uns gekommen sind, verdanken wir einen großen Teil Cassiodor, seiner Mönchsgemeinschaft und seiner Vorbildwirkung auf andere Klöster. Eine Ironie der Geschichte ist es, dass dabei ausgerechnet sein Werk über die Goten nicht erhalten wurde. Eine Handschrift, die er selbst angefertigt hat, ist erhalten geblieben. Sie liegt jetzt in St. Petersburg. Im Alter von 93 Jahren schrieb Cassiodor seine letzte Schrift: De orthographia.

Durch den ungeheuren Bruch in der Mitte seines Lebens wurde der Verfasser der Gotengeschichte »der letzte Römer und der erste Mensch des Mittelalters«.2 580 starb Cassiodor in seinem Kloster Vivarium.

Jordanes und die Getica oder Origo Gothica

Jordanes – auch Jordanis genannt – war ein Balkangote und stammte von Sadagaren oder Skiren ab; seine durchaus wohlhabende Familie lebte in der Provinz Moesia inferior, und sein Großvater war notarius bei dem Alanenfürsten Kandak. Jordanes seinerseits war notarius bei dessen Neffen, dem Amaler Gunthik, auch Baza genannt. Jordanes war auch Kleriker, und zwar in der katholischen Kirche. Er war kein Arianer. Nach manchen Historikern ist er identisch mit Bischof Jordanes von Crotone. Seine Schriften entstanden ab 551:

Zunächst De summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum, eine Weltchronik von Adam bis Iustinian, gegliedert nach der sich aus dem Buch Daniel im AT ergebenden Periodisierung. Dann das hier vorliegende Werk De origine actibusque Getarum. Beide Werke erschienen nicht nur gemeinsam, sondern wurden auch wohl parallel verfasst.

Die Schrift »Vom Ursprung und den Taten der Goten, kurz Getica oder Origo Gothica, sind – kritisch ausgewertet – von hohem Wert für die Kenntnis der Geschichte der Goten. Nach Aussage ihres Verfassers stellt sie eine Zusammenfassung der zwölf Bücher Cassiodors über die Geschichte der Goten dar, auf den ihr Stil auch deutlich verweist. Dem VariaeOrigo Gothica