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Bei keinem der drei Aufträge, die Privatdetektiv Georg Wilsberg nahezu gleichzeitig erhält, kann er brillieren. Ob es sich um die nach Holland ausgerissene Punkie Tanja, um Georgs verschwundene Jugendliebe Ines oder um den bestohlenen Disco-Chef Carlo Ponti handelt: der nunmehrige Secondhandkaufhausbesitzer kriegt reichlich Zoff, Ärger und Prügel.

 

*

 

»Der Roman lebt aus der gelungenen Charakterdarstellung seines Protagonisten, einer zeitgemäßen und ironisierten Adaption der klassischen amerikanischen Vorbilder.« Marabo

 

»Mittels seiner treffenden Personencharakterisierungen und sprachlicher Ironie zeigt Kehrer den fruchtbaren Boden bürgerlicher Doppelmoral, die erschreckenderweise gerade auch in der früheren Studentenszene, fröhliche Urstände feiert.« Stadtblatt Münster

 

Dieser zweite Wilsberg-Krimi wurde mit Leonard Lansink in der Hauptrolle vom ZDF verfilmt.

© 2012 by GRAFIT Verlag GmbH

Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung des Kriminalromans

Jürgen Keher: In alter Freundschaft

© 1991 by GRAFIT Verlag GmbH

Chemnitzer Str. 31, D-44139 Dortmund

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: info@grafit.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagzeichnung: Peter Bucker

eISBN 978-3-89425-880-1

Jürgen Kehrer

 

 

 

In alter Freundschaft

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

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Der Autor

Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren. 1974 von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster geschickt, fand er das Leben in dieser Stadt bald so angenehm, dass er noch heute dort wohnt.

1990 erschien sein erster Kriminalroman Und die Toten lässt man ruhen. Damit nahm die beeindruckende Karriere des sympathischen, unter chronischem Geldmangel leidenden, münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg ihren Anfang. Bis heute sind siebzehn weitere Wilsberg-Romane erschienen. 1995 wurde Wilsberg für das Fernsehen entdeckt und ermittelt seitdem auch regelmäßig in der Samstagabendkrimireihe im ZDF. Sieben der bislang gesendeten sechsunddreißig Wilsberg-Filme basieren auf zuvor veröffentlichten Romanen.

Neben den Wilsberg-Krimis schreibt Jürgen Kehrer historische und in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, Drehbücher fürs Fernsehen und Sachbücher. Zuletzt veröffentlichte er Wilsbergs Welt, eine Sammlung von Krimikurzgeschichten mit und ohne Wilsberg.

www.juergen-kehrer.de

»Vielleicht ist Unglück das Kontinuum, durch das ein Menschenleben sich bewegt, und Freude nur eine Reihe von Leuchtpunkten, von Inseln im Strom.«

Salman Rushdie

I

 

 

Ich trank Kaffee, rauchte Zigarillos und beobachtete eine Gruppe von Kids, die am Strand lag, eine Weinflasche kreisen ließ, herumgrölte und sich zwischendurch abknutschte.

Es war einer jener Aufträge, bei denen man nicht brillieren kann. Es galt, die verlorene Tochter zurückzuholen, soweit dies ohne Gewaltanwendung möglich war. Mami und Papi verstanden nicht, warum die missratene Tochter lieber am holländischen Strand lag, als im miefigen Vorstadtreihenhaus der migränigen Mutter bei der Hausarbeit zur Hand zu gehen. Ich verstand die Tochter, denn ich hatte Mami und Papi kennengelernt. Aber Papi zahlte mir die Spesen für diesen Ausflug nach Zandvoort, also würde ich mein Glück bei der missratenen Tochter versuchen. Allerdings erst nach Sonnenuntergang.

Ich bestellte eine warme Schokomelk und Appelgeback und las weiter in dem Krimi, den ich vorsorglich eingesteckt hatte. Eigentlich liebe ich Fälle, bei denen man dazu kommt, ein gutes Buch zu lesen.

Zwei Stunden später klappte ich das Buch zu. Die inzwischen völlig alkoholisierten Deutschen am Nachbartisch frozzelten zum wiederholten Mal über mein schwarzes Hemd, das ich anbehalten hatte, um meine empfindliche Haut nicht den grellen Sonnenstrahlen auszusetzen.

Die Kids lagen unverändert am Strand. Jetzt stand Tanja auf und stakste in meine Richtung. Offensichtlich wollte sie das Klo des Strandcafés benutzen. Eine günstige Gelegenheit, musste ich mir selber zugestehen, obwohl die Sonne noch eine Handbreit vom Horizont entfernt war.

Ich wartete, bis sie ihr Geschäft erledigt hatte, und stellte mich in den Weg. »Hallo, Tanja!«

Sie kniff die Augen zusammen und überlegte angestrengt.

»Wer sind Sie?«, artikulierte sie etwas mühsam.

»Ich heiße Georg Wilsberg und bin Privatdetektiv. Deine Eltern haben mich beauftragt, dich zu suchen.«

»Scheißoldies«, sagte sie.

Ich nickte verständnisvoll.

»Scheißbulle«, sagte sie.

Diesmal nickte ich nicht. »Mir persönlich ist es egal, ob du mitkommst oder nicht. Ich mache dich aber darauf aufmerksam, dass deine Eltern dir und deinen Freunden die Polizei auf den Hals hetzen werden, wenn du mich nicht freiwillig begleitest.«

»Arschloch«, sagte sie.

»Ist das dein letztes Wort? Denk daran, dass deine Freunde keinen Stress haben werden, wenn du jetzt sofort mitkommst.«

Sie machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Dann versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Nach zwei Minuten leichten Hin- und Herschwankens und Denkfalten auf der Stirn war sie soweit. »Okay. Ich komme mit.«

Ich bezahlte rasch und packte sie in mein Auto, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie rülpste laut und eine giftige Rotweinwolke nahm mir fast den Atem. Kurz hinter Heemstede war sie schon eingeschlafen.

Zwei Kilometer vor Amsterdam wachte sie wieder auf.

»He, Bulle, wo sind wir hier?«

»In Amsterdam.«

»Eh, das ist geil. Lass uns reinfahren, ja?«

»Eigentlich wollte ich direkt nach Münster …«

»Nur ganz kurz, bitte, bitte!« Sie setzte ein Lächeln auf, bei dem jeder Mann über zwanzig sofort väterliche Gefühle bekommen hätte, und plinkerte mich mit teddybärbraunen Augen an. »Ich will auch ganz brav sein, ehrlich.«

Wegen ihrer Dracheneltern willigte ich ein.

Sie strahlte: »Mann, Bulle, du bist ja gar nicht so blöd, wie du aussiehst.«

 

Ich parkte am Rokin und wir schlenderten zum Dam hinauf, wo die Haschtouristen ihre Krümel teilten.

»Hast du heute schon was gegessen?«, erkundigte ich mich.

»Zwei Mars.«

»Was hältst du von einem chinesischen Essen?«

»Wär echt geil.«

Am Rande des Rotlichtbezirks gibt es ein paar chinesisch-indonesische Restaurants. Ich wählte eins mit Blick auf eine Gracht und bestellte eine indonesische Reistafel für zwei Personen, dazu eine Kanne Jasmintee für mich und ein großes Bier für Tanja. Nach ihrem Hunger zu schließen, ernährte sie sich schon seit Längerem von Rotwein und Mars.

»Wieso bist du Bulle geworden? Konntest du nichts Anständiges lernen?«, fragte sie, während sie an einem Satéstäbchen knabberte.

»Erstens bin ich nicht Bulle, sondern Privatdetektiv«, gab ich zurück.

»Bulle, Privatdetektiv, wo ist da der Unterschied?«

»Ein Bulle arbeitet für den Staat, ich arbeite für mich selbst. Zweitens habe ich tatsächlich was Anständiges gelernt, ich war nämlich mal Rechtsanwalt.«

»Ist das nicht ein Abstieg?«

Ich überlegte, ob ich ihr die ganze Wahrheit meiner beruflichen Rückschläge erzählen sollte, entschied dann aber, dass sie dafür noch zu jung war. »Heute sagt mir niemand, was ich zu tun und zu lassen habe, das reicht mir.«

»Und mein Vater? Hat er dir nicht gesagt, dass du mich suchen sollst?«

»Was ist daran schlecht, die Tochter von jemandem zu suchen? Ich hätte dich ja nicht gezwungen, mitzukommen.«

Sie schien nachzudenken. »Was haben sie dir über mich erzählt? Dass ich eine verlogene, versoffene, kleine Nutte bin?«

»Nicht mit diesen Worten, aber sinngemäß.«

Sie lachte verächtlich. »Meine Oldies. Immer brav und anständig. Was meinst du, wann er zum letzten Mal auf sie draufgeklettert ist? Warte mal, das muss vor siebzehneinhalb Jahren gewesen sein, denn in drei Monaten werde ich siebzehn. Seitdem sehen sie sich nur noch am Küchentisch. Ein Scheißleben ist das. Kein Wunder, dass meine Mutter dauernd Migräne hat.«

Eine Weile ließ sie sich über das unappetitliche Eheleben ihrer Eltern aus. Hätte ich mir damit nicht meine Prämie vermasselt, wäre ich beinahe geneigt gewesen, sie wieder am Strand auszusetzen.

Nachdem sie das letzte Reiskorn aufgepickt hatte, gingen wir. Ausgemergelte Heroingestalten huschten an uns vorbei und selbstbewusste Huren führten ihre Hunde spazieren.

Ich sagte: »Wenn du die Klappe hältst und deinen Eltern nichts davon erzählst, lade ich dich zu einem Joint ein.«

Sie schüttelte die fettigen schwarzen Locken. »Mann, Bulle, du bist ja voll drauf.«

Der Kellner zeigte uns seine Kollektion und ich kaufte ein Zehn-Gulden-Piece Libanese. Das Drehen überließ ich Tanja, denn ich war ein bisschen aus der Übung. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass sie ein schönes, leicht orientalisches Gesicht hatte.

»Können wir nicht hierbleiben?«, fragte sie nach dem dritten Zug. »Du und ich, in einem kleinen gemütlichen Hotelzimmer?« Sie setzte ein Lächeln auf, das sie wohl für besonders verführerisch hielt.

Ich schüttelte den Kopf.

»Du bist eben doch nur ein Bulle, bah!« Der Joint flog auf den Tisch und zwei Sekunden später war sie die Wendeltreppe hinuntergesaust.

»He, Tanja, lass doch den Scheiß!«, rief ich und sauste hinterher. Niemand trat mir in den Weg, obwohl mich vermutlich alle für einen Kinderschänder hielten.

Ich verfolgte sie ein paar Straßen weit, unter den Blicken der leicht bekleideten asiatischen und holländischen Mädchen, die in rot erleuchteten Fenstern saßen. Dann gab ich auf.

II

 

 

In derselben Nacht fuhr ich nach Münster zurück. Tanja konnte meinetwegen bleiben, wo sie wollte. Und ihre Eltern sollten sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen, dass aus ihr eine brave Tochter zu machen sei. Genau das würde ich dem Ekelpaket von Vater erzählen: ›Warum, glauben Sie, ist Tanja weggelaufen? Weil es in der Kühlkammer des Schlachthauses gemütlicher ist als in Ihrem trauten Heim.‹ Vielleicht würde ich auch gar nichts sagen. Schließlich war das Ganze nicht mein Problem. Jeder hat ein Recht darauf, unglücklich zu sein.

Der letzte Gedanke kam mir irgendwie bekannt vor. Gab es nicht ein Buch mit diesem Titel? Wenn nicht, war es an der Zeit, dass einer dieser Pseudo-Lebenshelfer mit rudimentären Psychologie-Kenntnissen sich dransetzte, einen Bestseller für demoralisierte Studenten, frustrierte akademische Hausfrauen und midlifekrisengeschüttelte Studienräte zu schreiben: Recht auf Unglücklichsein, Untertitel: Wie gebe ich mir den Rest? Wäre ich nicht ein angesehener Privatdetektiv und ein halbwegs erfolgreicher Ladenbesitzer, ich könnte glatt zum Bestsellerautor werden.

Bei Enschede wurde das Loch im Auspuff größer und der ohrenbetäubende Lärm verdarb mir ein bisschen die Freude an meinen hochfliegenden Gedanken.

 

Nach einem ausgedehnten Frühstück besuchte ich am Nachmittag meinen Laden. Willi bevorzugt zwar die Bezeichnung Kaufhaus, aber ich sage das nur, wenn ich mit Kunden und Lieferanten rede. Und das geschieht in letzter Zeit immer seltener, denn Willi hat praktisch die alleinige Leitung übernommen. Genauer gesagt, er ist der von mir eingesetzte Geschäftsführer.

Das Briefmarken- und Münzgeschäft, das ich seinerzeit zusammen mit meinem Detektivbüro am Roggenmarkt laufen hatte, war in eine Phase der Stagnation gefallen. Und da Stagnation im Geschäftsleben bekanntlich Rückschritt bedeutet, hatten Willi und ich uns zusammengesetzt und überlegt, was zu tun sei. Letztlich war Willi auf die glorreiche Idee mit dem Zweite-Hand-Kaufhaus gekommen. Komplettes Angebot von Damen- und Herrenbekleidung, Elektronik und Haushaltsgeräte, nur eben nicht Neu-, sondern Gebrauchtwaren. Selbstverständlich blieben die Briefmarken und Münzen ein zentraler Bestandteil des Warensortiments. So konnten unsere Stammkunden mit hinübergezogen werden und gleichzeitig das eine oder andere Schnäppchen aus unseren anderen Abteilungen mit nach Hause nehmen. Dachten Willi und ich zumindest. Tatsächlich war ein Teil der älteren Männer, die früher meinen Laden bevölkert hatten, von der sachlichen Kaufhausatmosphäre wenig angetan. Der einbeinige Erwin und der halbtaube Otto kamen nur ein paarmal, dann blieben sie auf immer weg. Später sah ich sie am Ludgeribrunnen stehen und finstere Blicke in Richtung des alten Ladens werfen.

Natürlich mussten wir umziehen. Die Lage am Roggenmarkt, in der Verlängerung von Münsters Prachtstraße Prinzipalmarkt, war zwar optimal, aber der Quadratmeterpreis viel zu hoch, um eine entsprechende Verkaufsfläche zusätzlich anzumieten. Also waren wir ins billigere Bahnhofsviertel umgezogen, wo wir ein zweistöckiges Nachkriegsgebäude günstig übernehmen konnten. Im Winter fällt gelegentlich die Heizung aus, und die Wände sind so schlampig gebaut, dass sie schon beim kleinsten Erdbeben zusammenklappen würden. Allerdings hat es meines Wissens in Münster noch nie ein Erdbeben gegeben.

Auf Anraten meines Steuerberaters hatte ich eine GmbH gegründet und dabei, auf den ersten Blick ganz uneigennützig, Willi einen zehnprozentigen Anteil geschenkt. Ein kluger Schachzug, wie ich mir heute zugestehen muss, denn Willi brach daraufhin sein Sinologiestudium im 33. Semester ab und stürzte sich voll in die Arbeit.

Ich parkte im eingeschränkten Halteverbot und näherte mich über die Achtermannstraße. Nachts knallen einem schon von Weitem die lilafarbenen Neonröhren ins Auge. Auch jetzt, bei Tageslicht, kam der riesige Schriftzug Zweite-Hand-Kaufhaus gut zur Geltung.

Im Erdgeschoss läuft man direkt in die Münzen- und Briefmarkenabteilung. Darauf hatte ich bei der Planung bestanden. Kleidung gibt's in der ersten Etage und der zweite Stock wird von der Verwaltung und meinem Detektivbüro eingenommen.

Willi saß vor dem Computer und hämmerte mit zwei Fingern auf der Tastatur herum.

»Dass du dich auch mal wieder sehen lässt«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Ich war in Holland«, erinnerte ich ihn.

»Und? Hast du den Punkie erwischt?«

»Die Punkie. Ich hab sie erwischt und sie ist mir entwischt.«

Er ließ das Gerät in Ruhe. »Du meinst, du hast sie am Strand getroffen und sie hat gesagt: ›Leck mich!‹«

»So ähnlich«, gestand ich. »Vorher waren wir noch in Amsterdam chinesisch essen.«

»Erklär das mal dem Vater!«, sagte Willi und fuhr den Ledersessel, Modell Boss, einen halben Meter zurück. »Der hat heute schon zwei Mal angerufen. Ich bin's langsam leid, deine Klienten abzuwimmeln. Beim nächsten Mal gebe ich ihm deine Privatnummer.«

»Untersteh dich!«, sagte ich. »Es kann ihm im Moment nichts Besseres passieren, als im eigenen Saft zu schmoren. Vielleicht fragt er sich dann, was er mit seiner Tochter falsch gemacht hat.«

»Wer so eine fiese Stimme hat«, schnaubte Willi, »der ist über jeden Selbstzweifel erhaben.«

»Möglich«, gab ich zu. »Dann lass mir wenigstens ein bisschen Zeit, damit ich vor der schicksalhaften Begegnung Mut schöpfen kann. Wenn er noch mal anruft, sag ihm, ich wär in Holland und würde eine heiße Spur verfolgen. Spätestens morgen Abend bekäme er von mir einen ausführlichen Bericht.«

Willi zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja nur dein kleiner Geschäftsführer. Es steht mir nicht zu, die weisen Ratschlüsse meines Herrn und Meisters zu kritisieren.«

»Da wir schon beim Geschäftlichen sind«, lenkte ich ab, »wie läuft's denn?«

Willi fuhr wieder an den Computer heran und tippte ein paar Befehle ein. Auf dem Bildschirm erschien eine Statistik.

»Im Vergleich zum Vormonat ist der Umsatz um 2,7 Prozent gestiegen. Das kann natürlich am schlechten Wetter in der letzten Woche liegen. Bei schlechtem Wetter bummeln die Leute ausgiebiger. Andererseits ist der Umsatz der Kleiderabteilung überproportional gestiegen. Seitdem wir Werner in die Wüste geschickt haben, geht's mit der Kleiderabteilung rapide aufwärts. Cilly ist einfach Spitze. Die weiß, was die Leute tragen wollen. Werner war völlig hinter dem Mond. Der hat noch Fünfzigerjahre eingekauft, als die Kids längst in den Sechzigern waren. Wenn man nicht weiß, wo der Trend läuft, ist man verraten und verkauft. Warum haben wir ihn nicht viel früher rausgeschmissen?«

»Ich fand ihn nett«, protestierte ich halbherzig.

»Nett, nett«, grummelte Willi. »Nettigkeit alleine reicht nicht. Unsere Abteilungsleiter müssen was drauf haben. Ich sage dir, wenn wir bei der Auswahl unseres Personals nicht härtere Kriterien anlegen, kommen wir nie auf einen grünen Zweig.«

»Wie hat Werner das verkraftet?«, erkundigte ich mich.

»Den Job in der Auslieferung wollte er nicht. Also haben wir uns auf eine Abfindung geeinigt.« Willi drückte auf eine Taste: »Was die Umsatzanteile angeht: Hier siehst du das Ganze als Tortendiagramm.«

Tatsächlich sah ich so etwas Ähnliches wie eine Torte, mit roten, blauen, gelben und grünen Stücken.

Willi zeigte auf das rote Stück: »Das da ist die Kleiderabteilung. Und das …«, sein Finger wanderte zum grünen Stück, »… sind die Münzen und Briefmarken. Umsatzmäßig seit Monaten rückläufig. Die zentrale Lage im Erdgeschoss scheint mir nicht länger gerechtfertigt.«

»Auf keinen Fall wird daran etwas geändert«, sagte ich mit erhobener Stimme. »Meine Münzen und meine Briefmarken bleiben, wo sie sind.«

»Aber …«

»Sie bleiben«, entschied ich. »Vielleicht muss die Schaufensterdekoration geändert werden. Und in unserer Werbekampagne scheinen sie mir auch nicht ausreichend berücksichtigt.«

Willi zog die Augenbrauen hoch. Als er noch in seiner esoterischen Phase war, Schamanismus und Astrologie betrieb, hatte ich mich besser mit ihm verstanden. Aber vermutlich wäre er damals als Leiter eines Kaufhauses völlig ungeeignet gewesen.

»Wie du meinst«, sagte er mit leichter Bitterkeit.

»Ich gehe in mein Büro«, verkündete ich. »Die Post der letzten Tage durchsehen.«

»Übrigens, Carlo Ponti hat nach dir verlangt«, rief er mir nach.

Ich drehte mich um. »Wer?«

»Carlo Ponti. Die Szene-Größe. Die lebende Musiker-Legende. Der Discotheken-Mogul.«

Natürlich kannte ich Carlo Ponti. Wer kannte ihn in Münster nicht?

»Und was wollte er?«

»Mit dir reden. Möglichst vorgestern, wenn ich ihn richtig verstanden habe.«

»Ein Auftrag?«

»Was weiß ich? Ich bin mit meinem Kram schon genug beschäftigt. Wenn du mich fragst, solltest du endlich eine eigene Sekretärin einstellen. Es ist ein Unding, dass deine Detektivgeschichten immer zu mir durchgestellt werden.«

»Ich frag dich aber nicht«, sagte ich. »Falls mich jemand sucht: Ich bin bei Carlo Ponti.«

»Ich werd's Tanjas Vater sagen«, höhnte Willi.

Irgendwie hatte sein Charakter gelitten, seitdem er Manager geworden war.

 

Carlo Pontis Reich liegt an der Steinfurter Straße, einer vierspurigen Ausfallstraße, die die westfälische Provinzmetropole mit so unbedeutenden Käffern wie Burgsteinfurt, Ahaus und Gronau verbindet. Hier hatte Ponti der Stadtverwaltung ein altes Hallenbad abgekauft und daraus eine Art Vergnügungscenter gemacht, mit einer Kneipe, einem Restaurant und – als Clou des Ganzen – einem wechselweise als Konzerthalle oder Discothek zu verwendenden Saal anstelle des alten Schwimmbassins. Ein geschickter Innenarchitekt hat einen Touch von Badeanstalt erhalten (der Boden der Tanzfläche ist hellblau gekachelt), und deshalb heißt der Komplex, für alle Vergnügungssüchtigen aus Münster und Umgebung ein Begriff: Bad.