Hans-Ulrich Lüdemann
Janusgesichter
Stories aus der Klemm & Klau GmbH Ost
ISBN 978-3-86394-857-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1999 in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen) beim Verlag Das Neue Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Wolfgang Schmolinske
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Die Frau stieß eine dünne Decke von sich und rollte sich von der Doppelliege. Selber nackt betrachtete sie minutenlang den unbekleideten Schläfer. Seine kaum sichtbare Männlichkeit reizte zu einem überlegenen Lächeln. Mindestens einmal im Monat trafen beide für eine Nacht mit aller Lust aufeinander. Liebes- und andere Schwüre unterblieben schon aus Gründen ihres Altersunterschiedes. Nichtsdestoweniger kamen sie nicht mehr voneinander los. Bruno war völlig unpolitisch, wenn man von solchen Sätzen wie Besser eine Rote Socke als eine braune Sau! absah. Allein wegen seines südländischen Aussehens war er von Glatzköpfen zusammengeschlagen worden. Eine Anzeige auf dem zuständigen Revier war wohl aufgrund fehlenden fremdenfeindlichen Hintergrunds, wie es die Polizei bereits routiniert formulierte, mitsamt Butterbrotpapier in einem Abfallkorb gelandet. Bruno verdankte es allein ihrer Ermittlungsarbeit, dass Anklage erhoben wurde und die Täter per Urteil ein stattliches Schmerzensgeld zahlen mussten. Der Dreißigjährige war arbeitslos und hatte, glaubte man den chaotischen Hausbesetzern im Seitenflügel, einen Sprung in der Schüssel: Werkzeugmacher von der edelsten Sorte ohne Stellung und baute aus Zündhölzern den Reichstag im korrekten Maßstab nach - so etwas ging über deren Verstand. Es waren nach Mildred Sox Meinung übrigens die gleichen Typen, die wegen der Verurteilung jener Schläger-Kameraden an ihrer Glaskastenreklame DETEKTEI MILDRED SOX immer aufs Neue die ersten vier Buchstaben im Vornamen abdeckten. Das wäre allenfalls noch zu ertragen gewesen, aber jene Typen nahmen infamerweise stets Klopapier. Als das Spielchen von einem Tag zum anderen aufhörte, sprühten Schmutzfinken ebenso auffällig an die Hauswand, dass hier eine DETEKTEI ROTE SOCKE ermittelt ...
Mildred Sox schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer ins Bad. In diesem sanierungsbedürftigen Haus musste die Brause etwa zehn Minuten eingeschaltet sein, um unter einem halbwegs warmen Strahl stehen zu können. Jetzt ging die Frau in den angrenzenden Raum. Dieser war mit dem neuesten Sperrmüll ausgestattet, wozu auch der bejahrte Anrufbeantworter gehörte. Nicht zu vergessen ein allen Unbefugten bislang widerstehender Panzerschrank aus der Gründerzeit für Telefon, Handy, CB-Pocket, Diktiergerät, Laptop mit integriertem Modem, Dokumente aller Art, Bubble Jet und einer Pulle GOLDKRONE. Die spartanische Einrichtung war kein Armutszeichen, eher Ausdruck ihrer Resignation nach einer Serie von Einbrüchen. Die Ersten, einhergehend mit ekelerregendem Vandalismus, hatte sie noch gezählt.
Mildred Sox schlug eine Taste mit dem Zeigefinger an und lauschte ihrer eigenen Ansage: Werter Anrufer. Sie haben die richtige Nummer gewählt. Hier ist die Detektei Mildred Sox. Sollten Sie im Sinn haben, mich mit dem Ausforschen von krankgeschriebenen Arbeitnehmern, untreuen Ehemännern oder gar der Konkurrenz zu beauftragen, so bedanke ich mich für Ihr Interesse und bitte Sie gleichzeitig, wieder aufzulegen. Allen anderen wünsche ich einen guten Tag und bin bereit, nach dem Piepton Ihr Problem anzuhören beziehungsweise mich dessen in Ihrem Sinne anzunehmen. Hinterlassen Sie, wenn möglich, Ihre Telefonnummer. Ich rufe zurück, um eventuell Ort und Zeit für ein Gespräch verabreden zu können. Danke ...
Ein lautes Knacken - dann meldete sich eine Stimme, die alt und zittrig klang: ”Ja, also. Hier bin ich ...”
Eine kleine Pause und das darauffolgende Klicken hieß nichts anderes, als dass jemand angerufen hatte, der sich nichts weiter traute. Sollte es jedoch wichtig sein, würde sich der alte Mann wieder melden. Eine Erfahrung, die Mildred Sox bereits öfter gemacht hatte. Sie schaltete den Anrufbeantworter erneut auf Stand-by und kehrte ins Bad zurück. Der lasche Wasserstrahl aus der Dusche war schuld, dass die morgendliche Prozedur mehr Zeit als üblich verlangte. Dreißig Minuten später betrachtete Mildred Sox sich ausgiebig in einem Spiegel, der die gesamte Schmalseite des fliesenlosen Bades einnahm. Eigentlich war sie nicht unzufrieden. Die grünen Augen, trotz ihrer fünfundvierzig Lebensjahre ganz und gar nicht mütterlich dreinschauend, bildeten einen interessanten Kontrast zum widerspenstig wuscheligen Rotschopf. Passend dazu hatte Mutter Natur ihr noch die Sommersprossen des Vaters mitgegeben. Mildred Sox umgriff beide Brüste wie es in den aufklärerischen Medizin-Zeitschriften gezeigt wurde. Die Mutter war vor drei Jahren in Boston, USA, an Brustkrebs gestorben und es hieß ja allerorten, dass so etwas aus der Erbmasse kam, aber bei Früherkennung nicht als Lebensgefahr angesehen wurde. Mildred Sox hielt die Augen geschlossen und konzentrierte sich ganz auf das prüfende Abtasten. Die Gedanken wanderten zu Bruno, der als Erster mit dem Zählen der hellen Sommersprossen auf ihren Brüsten zu Ende gekommen war. Mildred Sox lächelte versonnen. Irgendwann hatte er gestanden, dass sie die erste Frau in seinem Leben sei. So gesehen war Bruno eine Naturbegabung: Unendlich zärtlich rührten die äußerst behutsamen Händen wohl von jener Reichstag-Passion her. Wenn es auch irgendwie etwas makaber anmutete, das 1933 aus politischem Kalkül von den Nazis in Brand gesetzte Gebäude ausgerechnet mit Zündhölzern nachzubauen ...
Auf dem Weg zum Tresor trat Mildred Sox auf einen am Boden liegenden Schnurschalter. Es dauerte, bis der alte, noch mit Röhren für Schwarz-Weiß bestückte Fernsehapparat Bilder vom lokalen Frühstücksfernsehen zeigte. Wie vom Blitz getroffen blieb die Frau stehen. Im Halbrund mit einer Moderatorin saß selbstbewusst wie immer Rudi Schnittomeit. Hatte der Kerl es doch wieder geschafft! Filmproduzent nannte er sich also jetzt. Immerhin - er war mal auf der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg immatrikuliert und - weil zu künstlerischen Höhenflügen nicht begabt genug, hatte er damals ein Angebot des MfS angenommen. Was Rudi dort im Einzelnen getan hatte, wusste Mildred Sox nicht. Wollte sie auch im Nachhinein nicht wissen.
In der Bildschirmrunde ging es jedenfalls um ein ganz großes Projekt: der anwesende Professor Gudow redete sich in Eifer, als er auf seinen Filmstoff über den Dreißigjährigen Krieg zu sprechen kam, der genug Material für eine TV-Serie bot. Und Gudows über alle Maßen ansehnliche Frau, eine Schauspielerin Liane Loreni vom Stadttheater, flocht zwischendurch mehrmals aufgeregt ein, wie wahnsinnig glücklich sie sei, in der Serie die Hauptrolle spielen zu dürfen ...
Den Blick auf das Fernsehgerät fixiert, holte sich Mildred Sox die halb leere Flasche GOLDKRONE aus dem Panzerschrank. Als sie den Arm hob, um einen Zug zu nehmen, fiel ihr das Badehandtuch von den Schultern. Die unbekleidete Frau bot einen Anblick, wie ihn sich nicht nur ein Aktmaler wünschte. Mildred Sox geschulter Verstand schlussfolgerte bereits nach den ersten Minuten, dass es zwischen Liane Loreni und Rudi Schnittomeit geradezu knisterte; beide hatten garantiert ein Verhältnis miteinander. Sie kannte doch ihren Verflossenen. Abstand von Rudolf Schnittomeit!
”Frühstück ist fertig!”
Erst nachdem Brunos Ruf durch die ganze Wohnung verhallt war, roch sie die rituelle Speise nach solchen Nächten: Rührei mit untergerührten schwarz gebratenen Zwiebeln und knusprigem Speck. Mildred Sox erhob sich langsam, schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie zurück in den Tresor. Gerade wollte sie den Schnurschalter treten, als mitgeteilt wurde, dass die soeben wiederholte Talk-Sendung dem Gedenken Professor Gudows gewidmet gewesen sei. Der über die Landesgrenzen hinaus renommierte Historiker war vor drei Tagen auf seinem Grund und Boden erschossen worden ...
”Kennst du einen Professor Gudow, Bruno?”
”Muss ich das, Mildred?", fragte Bruno kauend.
”Oder eine Schauspielerin Liane Loreni am Stadttheater?”
”Hat sich bei mir noch nicht vorgestellt.”
Mildred Sox winkte ab. Sie zog den Morgenmantel enger. Schnittomeit, ach Schnittomeit.
”Ich muss dann los”, sagte Bruno. Er stieß beim Aufstehen den Hocker zurück. ”Irgend so ein Heini vom Museum interessiert sich für meinen Reichstag. Und ob ich Lust habe, auch andere Objekte nachzubauen, darüber will er mit mir reden.” Der Mann schob sich aus seiner Ecke an Mildred Sox vorbei und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
”Du arbeitest vor dem Aufstehen?” Die Frau deutete auf ihren Mund und gab erst Ruhe, nachdem sie ein zweites Mal geküsst worden war.
Bruno drehte sich in der Küchentür um. ”Die Eier sind alle”, meinte er anzüglich lächelnd. ”Die noch da waren, haben kaum gereicht ...”
”Bruno?!”
Sich fügend, tauchte Bruno wieder im Türrahmen auf. Betont demutsvoll wartete er auf Mildred Sox weise Worte zum Tage.
”Weißt du, was unsere Altvorderen immer bei solchen Gelegenheiten gesagt haben, Bruno?”
Der Mann schüttelte den Kopf.
”Allzu viel zerreißt den Sack!”
”Machs gut, Rote Socke!”
Bevor der geworfene Plastlöffel Bruno treffen konnte, war er endgültig verschwunden. Sekunden später klappte die Wohnungstür. Mildred Sox griff in die Bademanteltasche und zog eine Zigarettenschachtel hervor. Brunos schneller Abgang hatte auch etwas Gutes. Musste sie sich nicht anhören, dass ihre Pafferei schädlich sei und vor allem, dass Raucherküsse verdammt mies schmecken. Um so genussvoller waren heute ihre ersten Züge. Mildred Sox blickte den blauen Rauchschwaden nach. Von Rudolf Schnittomeit war die Rede in ihrem letzten Gespräch mit Kriminaldirektor Ziegenhelm. Sagte der doch ganz unverfänglich, er habe da gerade alle Unterlagen aus ihrer Dienstzeit vor 1990 bekommen. Ziegenhelm hatte auf einen geschlossenen Ordner getippt und sich scheinheilig erkundigt, ob da mal etwas war mit einem gewissen Rudolf Schnittomeit. Privat oder auch dienstlich. Und sie hatte dem Herrn Kriminaldirektor zu verstehen gegeben, dass er nicht wie ein Kater um den heißen Brei schleichen solle. Sie gebe ja alles unumwunden zu - die Sachverhalte würden sowieso in ihrer Akte nachzulesen sein. Auch dass sie bei jener obligatorischen Neubewerbung für den Kriminaldienst ihr Wissen um die Stasi-Zugehörigkeit vom Nachbarn und langjährigen Liebhaber Rudolf Schnittomeit unterschlagen habe. Sie hatte sich in den Satz geflüchtet, nach dem Wissen Macht sei und der Herr Kriminaldirektor jetzt genug wissen würde, um sie aus dem Job zu feuern. Was getan werden müsse, das müsse nun einmal auch getan werden, gab Ziegenhelm zurück. Er war dann noch etwas in Rage gekommen: Als Quelle von IM Pitcher die eigenen Kollegen auszuhorchen und über diesen Schnittomeit der Stasi weiterzumelden! Sie hatte sich nur mühsam beherrscht und hielt dagegen, ob der Herr Kriminaldirektor nicht auch jemanden zu Hause habe, bei dem er sich manchmal Probleme in seinem Job von der Seele reden müsse. Ohne stets darauf zu achten, ob dieser jemand sein Wissen weitergebe. Das bestätigte Ziegenhelm sofort. Bei ihm sei es die Frau Mama. Als der Herr Kriminaldirektor sah, dass sie tief Luft holte, um etwa einen Vergleich anzubringen, da kam er ihr zuvor und fügte schnell hinzu, die alte Dame sei aber stocktaub. Im Übrigen solle die Frau Kommissarin ihre fristlose Entlassung beileibe nicht persönlich nehmen. Ziegenhelm fragte abschließend: ”Mildred Sox? Wieso hatten Sie in der DDR überhaupt Aufstiegschancen mit diesem Namen? Ist doch amerikanischen Ursprungs. Oder?”
Mildred Sox öffnete die Augen. Sie hatte auf der Stelle kehrtgemacht und war für immer gegangen. Von Rudolf Schnittomeit zu Hause ahnungslos begrüßt, ohrfeigte sie den Verdutzten links-rechts und warf ihn anschließend raus. Was diesen Kerl aber nicht gehindert hat, ihr zum Geburtstag über Fleurop Rosen zu schicken. Und es hatte gedauert, ehe Mildred Sox draufkam, warum es 1992 ausgerechnet neun rote waren: Schnittomeit hielt 45 Rosen für 45 Lebensjahre wohl für unangemessen - er hatte die Quersumme gewählt. Also warum in aller Welt Ziegenhelm über sich Auskunft geben - dieser aus dem Westen importierte Apparatschik lief doch nicht ganz rund! Zu DDR-Zeiten musste sie zuerst den Vater in Boston verleugnen, später traf es die Mutter, nachdem sie 1985 ganz offiziell wegen einer Augenoperation zu ihrem Verflossenen, einem ehemaligen GI, in die Hauptstadt von Massachusetts gereist und nicht wiedergekommen war. Zur Beisetzung der Mutter gab es 1989 zwangsläufig auch kein Visum, erst zwei Jahre später hatte Mildred Sox ihren Dad das erste Mal bewusst gesehen: ein wohlhabender siebzigjähriger Mann, dessen einziges Sinnen und Trachten darin bestand, bis zum Tode aufgrund seines Familiennamens Ehrenmitglied im Bostoner Baseball-Klub RED SOX zu bleiben. Kein Wort war zwischen beiden darüber gefallen, dass er seine erste Frau mit der vierjährigen Mildred im Stich gelassen hatte, um daheim in den USA noch einmal zu heiraten. James Fenimore Sox war ein in der zweiten Ehe kinderlos gebliebener Bigamist. Eine Rache Gottes, weil seinetwegen die neunzehnjährige Amalie von Hohenstein noch vor ihrem Abitur von den mildtätigen Klosterfrauen aus dem Internat des katholischen Gymnasiums verwiesen worden war? James F. Sox hatte Amalie, deren Eltern und Großeltern bei einem Fliegerangriff im eigenen Haus verbrannt waren, noch vor Mildreds Geburt geheiratet. In seinen Augen war Amalie schuld, dass sie keinen Nachwuchs für die RED SOX Boston zur Welt gebracht hatte. Den ersten wirklichen Ehezwist aber gab es, weil J. F. das Mädchen partout auf den Vornamen Red taufen lassen wollte. Die Mutter, taktisch geschickt wie Jahre später auch, einigte sich mit ihrem geliebten G.I. auf Mildred. Immerhin war in diesem herkömmlichen anglikanischen Vornamen quasi ein, wenn auch nur verkappter Hinweis, auf die RED SOX Boston enthalten. Trotzdem rief Daddy seine Tochter immer nur Red. Vier Jahre später war die heiße Liebe bereits erkaltet und er verließ Knall auf Fall seine Familie. Für Amalie Sox, nicht nur von einem Ami-Ehemann verlassen, sondern jetzt alleinstehend mit Kind - waren das nach Kriegsende in einer stockkatholischen Gegend keine günstigen Lebensumstände. Beide wurden von den Ortsansässigen bei jeder sich bietenden Gelegenheit schikaniert. Was die Bauern, junge und alte Gockel, nicht hinderte, der ansehnlichen Frau Sox eifrig nachzusteigen. Mutters politischer Instinkt bewog sie schließlich, in die DDR überzusiedeln. Dass Amalie Sox, geborene von Hohenstein, ihren Mädchennamen nicht wieder annahm, lag keinesfalls an einer fehlenden Scheidungsurkunde. Klug, wie sie war, wusste Mildreds Mutter von Anfang an nur zu gut, worauf es in ihrer neuen Heimat ankam. Als Amalie Sox in die Staaten reiste, war sie Präsidiumsmitglied im DFD, eine einflussreiche Frauenorganisation der DDR ...
Im Büro klingelte das Telefon. Mildred Sox nahm hastig einen letzten Schluck, bevor sie nach nebenan eilte. Als sie den Hörer aufnahm, meldete sich Rübensam aus der HAFENKLAUSE: ”Störe ich?”
”Dann wäre ich gar nicht erst rangegangen.”
Mildred Sox’ erster Fall nach dem Rausschmiss: Edgar Rübensam hatte trotz seiner Dickfälligkeit für Sekunden die Nerven verloren, als ein Beamter des Gewerbeaufsichtsamtes für Hygiene in Kneipen ihn abzocken wollte. Eine gewisse Summe Geldes - und keine weiteren Auflagen. Im Weigerungsfalle würde Rübensam seines Lebens als Budiker nicht mehr froh werden. Die Detektei Mildred Sox hatte Tage später dem Gericht zwei weitere Gaststättenbetreiber zuführen können, bei denen derartige Erpressungen seit Längerem gang und gäbe waren. Rübensam kam trotz der ihm zur Last gelegten Körperverletzung auf Bewährung davon. Seitdem durfte Mildred Sox in der HAFENKLAUSE kostenfrei essen und trinken. Was sie in den finanziell mageren Anfangsmonaten allzu gern wahrnahm.
”Ja, also”, begann Rübensam zögernd. ”Einer von meinen Stammgästen - ein armer Hund, Frau Sox. Dessen Sohn Ulli sitzt seit gestern ...”
”Natürlich unschuldig”, warf Mildred Sox ein.
”Genau!”, verstärkte der Kneiper. ”Haben Sie vom Mord an diesem Professor gehört? Ist vor drei Tagen bei seinem Haus im Stadtwäldchen erschossen worden! Lange Rede kurzer Sinn: Die Bullen haben die Tatwaffe und da sind blöderweise Ullis Fingerabdrücke drauf. Er selbst und sein Vater behaupten steif und fest, dass sie ein Alibi haben. Aber selbst mir wollte Paule Campnagel, das ist der Vater von Ulli, nichts weiter sagen. Wenn Sie den Ulli irgendwie raushauen würden, Frau Sox? Einige Tausender spielen keine Rolle, soll ich noch von Paule ausrichten.”
”Nobel. Da wäre ich ja dumm, wenn ich den Auftrag nicht annehmen würde, Rübensam. Wann kann ich diesen Campnagel senior sprechen?”
”Er hätte bei Ihnen angerufen. Sagt Paule. Aber da hätte sich Ihr Anrufbeantworter gemeldet und er hat eingehängt.”
”Wann also?”
”Paule will erst Ihr Honorar auftreiben. Der ist eine ehrliche Haut. Trotz Vorstrafen. Morgen Vormittag wollte er hier sein. Dann könnten Sie mit ihm reden.”
Mildred Sox legte auf. Sie entnahm dem Tresor ihren Laptop mit CD-ROM-Laufwerk, Made in USA. Auch ein Geschenk von J. F. für seine Red während ihres Aufenthaltes in Boston. Nicht ganz uneigennützig erlaubte ihm dieses technische Wunderwerk doch, schnell und vor allem für den kostenfreien Ortstarif seiner Telefongesellschaft Briefe aus Boston per E-Mail nach Germany zu senden oder Nachrichten von Red zu empfangen. Über den Akustikkoppler ermöglichte das interne Modem zugleich auch Internet-Surfen und Faxbetrieb. Nachdem also der Mini-Computer gebootet hatte, meldete ein Kalender, dass es für diesen Septembertag weder eine Verabredung noch einen Geburtstag gab. Zufrieden, dass sie keinen Termin wahrzunehmen hatte, schloss Mildred Sox den Laptop wieder weg.
Auf dem Weg zur Justizvollzugsanstalt unternahm sie einen Abstecher zur Lagerhalle eines renommierten Spielzeugunternehmens. Der Verwalter verdanke es ihr, dass er nicht wegen Kindesmissbrauchs verurteilt worden war. Seine Ex-Frau hatte sich rächen wollen und ihm die Schweinereien eines neuen Freundes angehängt. Von diesem war die Tochter sexuell genötigt worden. Ein Richter hatte schließlich dem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen ...
Kaum hatte Siggi Luderer vernommen, woran die Detektivin dachte bei all den Spielzeugkartons, da ging ihm wie zufällig ein ganz bestimmtes beim Umlagern entzwei und musste von ihm abgeschrieben werden. So kam es, dass Mildred Sox mit einem Kinder-Computer im Einkaufsbeutel vor der JVA auftauchte und den Oberaufseher zu sprechen wünschte.
Dobermann war erschrocken und erfreut zugleich. Er verdankte der Genossin Sox sein Leben. Das war fast vor etwa zwanzig Jahren - sie hatte gerade ihr Kriminalistik-Examen an der Humboldt-Universität mit Auszeichnung bestanden - die Festnahme eines mehrfachen Mörders wäre für ihn beinahe das Aus gewesen. Milli beherrschte nicht nur ausgezeichnet Kampfsporttechniken - sie schoss auch hervorragend. Es hieß spaßhaft, dass die Genossin Unterleutnant auf hundert Schritt einer Fliege das linke Auge ausschießen könne. Falls es nottat. Für Dobermann war wegen seiner vielköpfigen Familie der Kriminaldienst mit zu wenig Freizeit und zu viel Stress verbunden gewesen. Deshalb hatte er sich für den Strafvollzug beworben und hier wollte er auch bis zum Ende seiner Dienstjahre bleiben.
”Du hast einen Campnagel hier. Ulrich Campnagel.”
Dobermann nickte. Was jetzt kommen würde, das ahnte er bereits. Milli, wie sie von Anfang an die studierte Neue genannt hatten, war seit ihrem Rausschmiss nicht zum ersten Mal hier. Bis jetzt ging es immer gut ab. Aber sein Tun war ungesetzlich ...
”Was machen deine vier Enkel?”
”Sieben!” Dobermann hielt stolz beide Hände hoch.
Die Frau lächelte auf eine seltsam traurige Art: ”Habt ihr also mein Soll miterfüllt. Und deswegen ...” Mildred Sox kramte umständlich im Beutel. Dann hielt sie den Schüler-Computer hoch. ”Für einen Enkel in der richtigen Altersklasse. Dachte ich mir einfach so.”
”Milli!” Mehr vermochte Dobermann nicht zu sagen. Dann fasste er sich und fragte misstrauisch: ”Eine Bestechung?”
”Können diese meine grünen Augen lügen?”
Dobermann schüttelte lächelnd den kahlen Schädel. Im Gegenzug fragte er: ”Ulrich Campnagel? Mordverdacht. Was unser alter Spezi Roeder zusammengetragen hat, hört sich ziemlich wasserdicht an, Milli. Ich könnt den Jungen ja mal fragen, ob er sich in der Bücherei zwecks Beratung etwas aussuchen will. Ein Lexikon des Strafrechts vielleicht?”
Beide lachten. Eine Viertelstunde später sprach Mildred Sox, ohne ihren Namen zu nennen, mit Ulrich Campnagel. Der junge Mann tischte ihr eine Story auf, dass sich die Balken bogen. Danach habe ihm ein Mann telefonisch angeboten, für zwei Riesen aus Professor Gudows Haus eine Police zu holen. Details wurden dann bei einem zweiten Telefonat abgesprochen.
Der Fünfundzwanzigjährige war Mildred Sox nicht unsympathisch. Natürlich kein Vergleich mit Bruno. Ein anderer Typ Mann eben. Schade, dass Campnagel ihr nicht in die Augen sehen konnte, während er sprach.
”Würden Sie die Stimme des Auftraggebers wiedererkennen?”
”Aber!!”
Mildred Sox faltete einen STADTANZEIGER auseinander. Der auf Sensation zielende Bericht über den mit einer MAKAROW erschossenen Prof. Gudow in allen seinen Einzelheiten war jetzt nicht von Interesse: ”Kennen Sie eine von den drei Personen auf diesem Foto, Herr Campnagel?”
Der junge Mann schaute sich das Gruppenbild mit Dame, wie Mildred Sox jene Situation bereits vom Fernsehen kannte, sehr genau an. Dann schüttelte er den Kopf.
”Und es gab im zweiten Telefonat keine Erklärung dafür, warum der Professor das Hotel verlassen würde? Er ist doch genau zu der Zeit am Haus eingetroffen, um laut Kripo von Ihnen, Pardon, erschossen zu werden?”
Campnagels Adern an der Schläfe schwollen an. Dann brach es aus ihm heraus: ”Ich geb’ ja zu, dass in der Schublade neben der Police auch eine Wumme lag. Aus Spaß habe ich damit irgendwie herumgefuchtelt. Deswegen sind meine Fingerabdrücke ja drauf - wie die Bullen sagen.
”Wo ist die Police?”
”Ich sollte das Papier auf dem Rastplatz an der Autobahnbrücke neben einer Imbissbude unter die Tischplatte kleben.”
”Und?”
”Habe ich gemacht.”
”Das Geld, meine ich. Wenn Ihre Story stimmt, müssen Sie ja nach so kurzer Zeit noch was davon haben?”
Ulrich Campnagel wurde krebsrot. Der junge Mann druckste herum, ehe er schließlich gestand: ”Alles heiße Luft! Mein Vater geht noch jeden Tag nachsehen - im Briefkasten bei mir. Aber ist wohl so, dass dieser krumme Hund mich reingelegt hat. Ich hätte es wissen müssen!”
”Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gekriegt. In Ihrem Falle wären die zwei Mille ein Faktum gewesen, das für Ihre Angaben gesprochen hätte. Sozusagen plausibel als eine Art Lohn für den bestellten Diebstahl. Und was ist mit dieser Police? Von der Kripo sichergestellt?”
Campnagel sagte, der Vernehmer habe ja nur ärgerlich abgewinkt: Alle seine Angaben zu einem Unbekannten seien Hirngespinste. Überhaupt: dieser Hauptkommissar Roeder - das sei ein verdammt scharfer Hund.
Mildred Sox unterdrückte ein Lächeln: Edwin Roeder züchtete nämlich seit Kindesbeinen Deutsche Schäferhunde. Selbst die Diensthundestaffel bezog ihre Tiere aus Roeders Zwinger. Sie hatten sich je nach Spezialausbildung oft in den verschiedenen Ressorts bewährt ...
”Sie sprachen - wie Ihr Vater übrigens auch - von einem Alibi?”
Ulrich Campnagel verschloss sich jetzt ganz: ”Ich bin unschuldig. Ich war zur Tatzeit auch gar nicht im Haus am Stadtwäldchen. Basta!”
”Schade.” Mildred Sox Stimme klang rein geschäftsmäßig. Ihr Motto war schon immer: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Aber eines musste sie der Vollständigkeit halber noch hinzufügen: ”Es war Ihr Vater, der mich gebeten hat, Ihnen zu helfen. Sehen Sie zu, wie Sie allein rauskommen. Wenn meine Meinung Sie interessiert: Ich sehe da schwarz für Sie, Herr Campnagel.”
Mildred Sox nahm gelassen ein Buch aus dem Regal und ging vor zur geschlossenen Stahltür.
”He?!”
Die Frau drehte sich nicht um. Sie übergab ihrem ehemaligen Kollegen eine zerlesene Schwarte: ”Danke, Herr Dobermann. Das Buch, von dem ich glaubte, dass ich es hier bei Ihnen ausleihen könnte, ist nicht zu finden.”
Dobermann drückte Milli kräftig die Hand und murmelte fast unverständlich sein Dankeschön für den Rechner. Mildred Sox atmete mehrmals tief durch, als sie wieder vor den Toren der Justizvollzugsanstalt stand. Ihre nächste Station war jener Rastplatz an der Autobahn, wo Campnagel jr. die Police deponiert haben wollte. Eine Signalleine der Feuerwehr sperrte die Zufahrt und zwei ausgebrannte Autowracks waren das Einzige, was auf dem schmalen Fahrstreifen zu sehen war. Drei Tische mit den dazugehörigen Bänken standen noch als verkohlter Rest auf dem Rasen. Die Imbissbude hatte schwere Metallplatten vor den Fenstern. Alles war verschlossen und verrammelt. So weit ging Mildred Sox in ihrer Fantasie nicht, dass sie annehmen wollte, der Brand habe etwas mit dem FALL GUDOW zu tun. Also setzte sie sich wieder in ihren schrottreifen 323er MAZDA, den sie Anfang 1980 mittels eines von der Kripo-Dienststelle positiv beschiedenen Antrages hatte kaufen dürfen, und rollte im dichter werdenden Feierabendverkehr stadteinwärts.
Das kleine Bad duftete nach allen Wohlgerüchen Arabiens. Mildred Sox trug das ungewohnte kleine schwarze Kostüm mit einem Selbstbewusstsein, als sei dieses ihre tägliche Arbeitskleidung. Über das Trällern eines Schlagers legte sich nervtötend die schrille Türklingel. Ungehalten wegen der Störung, lief die Frau über den Korridor und öffnete. ”Bruno?”
Verdutzt zog Bruno den Duft in die Nase. Sein Gesicht verklärte sich. Er schob die Frau zurück in den dunklen Flur und begann, ihren Hals und Nacken zu küssen. Zugleich drängte er sie in Richtung Schlafzimmertür.
”Nein, Bruno!", sagte Mildred Sox. ”Heute nicht schon wieder ...”
So abrupt, wie Brunos Leidenschaft aufgeflammt war, fiel sie in sich zusammen. Als er sah, dass Mildred Sox es ernst war mit ihrer Ablehnung, wandte er sich um und ging schnurstracks zur noch offenstehenden Tür.
”Bruno?!”
Bruno hörte diesen teils zornig und teils als Entschuldigung gemeinten Ruf nicht mehr. Die Frau unterdrückte ihren Ärger. Der Beruf ging nun einmal vor. Als sie sich im großen Spiegel prüfend musterte, fand Mildred Sox keinen Anlass, über ihr Äußeres zu klagen. Sie wusste, was Mutter Natur einer Fünfundvierzigjährigen zugestand und was nicht. Letzten Endes gehörte auch Bruno in diesen Katalog des Möglichen. Und - wenn es ihm in den Augen stand, würde er wiederkommen. Dieser Mann war wie aus Wachs, wenn er nur ihre Körperwärme spürte ...
Nur eine einzige Grand Dame saß um diese Tageszeit im Restaurant des Hotels Congress. Und es ergab sich rein zufällig, dass dieser Gast im vornehm schwarzen Kostüm mit dem Chef des Etablissements über den Mord an Professor Gudow zu sprechen kam. Schließlich waren im STADTANZEIGER ausführlich alle Einzelheiten zu lesen gewesen. Ausgeklammert allerdings blieb nach wie vor der Umstand, warum um alles in der Welt der Historiker seinen bereits angekündigten Vortrag nicht gehalten hatte und stattdessen nach Hause geeilt war. Mildred Sox lauschte auf, als der weltläufig wirkende Restaurant-Chef einen Besuch der Gattin des Professors erwähnte. Ein oder zwei Tage nach dem Mord. Es ging ihr um ein kleines elektronisches Gerät, das der Ehemann bei sich gehabt haben musste. Auch in Professor Gudows Appartement war danach gesucht worden - nichts.
”Verstehen Sie mich nicht falsch: ob ich mir das mal ansehen darf?”
”Was meinen Gnädige Frau?” Der nicht gerade große Mann im Smoking ähnelte einem Pinguin. Er schien die Vornehmheit in Person zu sein. In diesem Hause entschied der Gast, was normal war und was nicht.
”Professor Gudows Appartement!", rief Mildred Sox mit unterdrückter Stimme. Der Barkeeper sah aufmerksam zu ihnen herüber. ”Das ist doch gruselig, finden Sie nicht auch? Räume, in denen ein Ermordeter gewohnt hat!”
Dem Angestellten war anzusehen, dass er Mildred Sox zumindest für verhaltensgestört hielt. Flugs bestellte sie das Teuerste, was die Menü-Karte hergab. Serviert werden sollte allerdings erst, nachdem ...
”Dreiundzwanzigster Stock, gnädige Frau.” Der Restaurantführer hatte ihre Satzpause richtig interpretiert. ”Fragen Sie nach Halgard. Das ist der Etagenkellner, gnädige Frau.”
Halgard erwies sich als ein Filou, der sich seiner Wirkung, vornehmlich auf allein angereiste weibliche Gäste, vollauf bewusst war. Aus Scham kein Handgeld anzunehmen, das gehörte nicht zu seinen Tugenden. Nach einem Hunderter war der Mann wie ein volles Weinfass, das jemand angestochen hatte. Er sei zu Hause gewesen, Überstunden abzubummeln, als die Witwe des Professors im Hotel nach persönlichen Sachen gefragt habe.
”Immer, wenn Professor Gudow hier logierte, habe ich ihn betreut.”
”Aber er wohnte doch nicht weit von hier?”
”Wohl eine Frage seiner perfekten Organisation”, meinte der schöne Halgard achselzuckend.
”Was glauben Sie, Halgard: Warum ist der Mann wie in Panik weggefahren?”
Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: ”Der Herr Professor rief mich wie üblich in sein Appartement und fragte, was ich wohl machen würde, wenn man mir Hörner aufsetzen würde? Er wollte aber gar keine Antwort. Der Herr Professor bat mich, ihm bei der Lösung eines technischen Problems zu helfen. Er holte also diesen Fernabfragesender aus seiner Jackentasche. Ich sollte das kleine Ding auf die Sprechmuschel legen und festhalten. Etwa so, gnädige Frau.”
Halgard verdrehte seine Handflächen miteinander. Mildred Sox nickte ungeduldig und bedeutete dem Filou, fortzufahren.
”So ein Gerät mit Tastatur hat die Größe einer Zigarettenschachtel. Ich musste den Code 1648 eingeben. Dann bedeutete der Herr Professor, dass ich sein Appartement verlassen solle. Ich habe es getan, gnädige Frau. Wenige Minuten später kam er herausgestürmt, hetzte den Flur entlang zum Lift. Das war das letzte Mal, dass ich den Herrn Professor lebend gesehen habe. Tut mir leid, mehr weiß ich wirklich nicht.” Halgard zuckte mit den Achseln und wandte sich zum Gehen.
”Moment!” Mildred Sox war noch nicht am Ende. Ihr war eine Vermutung gekommen: ”Wenn die Frau des Professors hier war und nach den Habseligkeiten aus seinem Appartement gefragt hat - könnte das nicht bedeuten, sie dachte hauptsächlich dabei an diesen ...” Sie schnipste ungeduldig mit den Fingern.
”Fernabfragesender”, half der Etagenkellner aus.
”Genau! Ein tolles Ding muss das sein!”
”Teufelswerk”, bestätigte Halgard. ”Diese Fernabfrage hab ich.”
”Bitte?”
”Kurz vor dem Lift muss dem Herrn Professor das kleine Ding aus einer Mappe gefallen sein, die er ständig bei sich trug.”
”Sagen Sie mal: Hat die Kripo Sie denn nicht verhört?”
”Wie gesagt, gnädige Frau: Ich bin nach meinen freien Tagen heute das erste Mal wieder hier.”
”Geben Sie mir das Gerät, Halgard?”
Der Mann schaute Mildred Sox wortlos an. Ein Blick, der erprobt war und bei Damen wohl immer Wirkung gezeigt hatte. Sie zog aus ihrer Kostümjacke einen zweiten Hunderter. Brüsk drehte Halgard sich weg. Wie ein Hündchen lief die Frau ihm nach. Im Dienstzimmer fragte der Etagenkellner: ”Ich verstehe nicht, dass Ihnen so sehr daran liegt, gnädige Frau? Sind Sie von der Polizei oder von der Versicherung?”
”Weder noch, Halgard.” Diese drei Worte benötigte Mildred Sox, um sich voll und ganz auf ihren Körperwärmetest zu konzentrieren. Beide standen Haut an Haut. Die äußerst angespannten Sinne der Frau registrierten bereits Wirkung. Mildred Sox steckte einen zweiten Schein aufreizend langsam in seine Hosentasche. Mein Gott, dachte sie, wozu habe ich vor über zwei Jahrzehnten ein Psychologie-Examen mit sehr gut bestanden ...
”Ich bin gegen neun Uhr abends frei, gnädige Frau”, hauchte Halgard. Überzeugt, dass seine erotische Anziehungskraft auf Frauen sich glänzend bestätigt hatte. Gönnerhaft zeigte er jetzt auf eine Zigarrenkiste im Regal.
Mildred Sox griff blitzschnell zu, nahm das weiße Kunststoffgebilde mit Zifferntasten und verabschiedete sich flugs: ”Ich freue mich für Sie, Halgard, dass Sie ab neun Uhr abends frei sind. Bis die Tage!”
Mildred Sox wusste, dass sie rücksichtslos handelte, wenn sie ohne das Menü verspeist zu haben, einfach davonfuhr. Aber sie hatte auf der Rückseite dieses Fernabfragesenders einen Aufkleber gesehen mit Namen und Anschrift des Händlers. Das Geschäft lag im Zentrum. Hatten die Leute nach der Urlaubszeit kein Geld übrig für elektronische Geräte - im Laden war niemand außer dem Verkäufer. Mildred Sox ließ sich einen Anrufbeantworter vorführen, mit dem auch Gespräche aufgezeichnet werden konnten. So etwas schwebte ihr schon lange vor. Sie würde dann beim Telefonieren nicht mehr mitschreiben, sondern einfach den Modus Aufnahme wählen. Beide waren sich schnell handelseinig. Der Verkäufer wollte ihr noch eine Kassette mit den verschiedensten Ansagen verkaufen. Da gab es für den gleichen Preis die imitierte Stimme vom Papst, von Hans Albers von Marlene Dietrich. Für Fußballfans war das Idol Franz Beckenbauer imitiert worden. Helmut Kohl und Erich Honecker wurden bereits im Preis reduziert angeboten ...
Mildred Sox schob die bunten Kassetten beiseite und fragte nach einem Fernabfragesender.
”Tut mir leid, meine Dame.” Das Halskettchen des Verkäufers wippte bei jeder seiner Bewegungen. ”Solche Modelle kommen erst Ende der Woche. Wenn ich Ihnen meine Karte geben darf?”
Mildred Sox nutzte die Situation und fragte nach der Funktion einer Fernabfrage. Etwas von oben herab erhielt sie Auskunft. Danach gab es wie üblich europäische und asiatische Standards, um von irgendeinem Telefonanschluss in der Welt nach Eingabe der beispielsweise vierstelligen PIN seinen heimischen Anrufbeantworter abzufragen. Eine Besonderheit sei hierbei die Raumüberwachung. Ohne oder nach einem bzw. mehreren Klingelzeichen würde das angerufene Gerät ein Mikrofon aktivieren, sodass es möglich sei zu hören, was sich in dessen Reichweite abspielte.
”Das ist möglich?”
”Nichts ist heutzutage unmöglich, meine Dame.” Wieder und wieder klirrte das Kettchen. ”Auf Wunsch besorge ich Ihnen einen speziellen Gläsernen Mann als Telefonhörer, bei dem Sie an seinen Öhrchen hören und zwischen seinen leicht gespreizten Schenkeln sprechen können ...”
Mildred Sox spürte den abschätzigen Blick und roch plötzlich ein Parfüm, das nicht ihrem Geschmack entsprach. Eine Hand betastete ihren nackten Unterarm. Außer Bruno durfte keiner sie so berühren. Dieser Ketten-Billy überzog das verträgliche Maß. Aber gegen Macho-Typen wusste sie sich zu wehren: ”Verzeihung, junger Mann!”
Das Frauenknie schoss gegen den Oberschenkel des Verkäufers, der nach seinem verhaltenen Schrei windschief dastand, sich die Stelle reibend. Mildred Sox sagte wie eine gestrenge Lehrerin: ”Pferdekuss, hervorgerufen durch den NERVUS ISCHIADECUS. Ist nicht von Dauer. Ich darf mich also wieder melden wegen des Anrufbeantworters mit Fernabfragesender?”
Mildred Sox rief zu Hause Prof. Dr. Hans Gudows Telefonnummer von einer einschlägigen CD-ROM auf. Es galt nunmehr herauszufinden, wie sein Fernabfragesender programmiert war. Dessen Code kannte sie: 1648. Es meldete sich eine Männerstimme: ”Bei Gudow. Schnittomeit.”
Mildred Sox fielen beinahe Telefonhörer und Fernabfrage aus den Händen. Ein Klingelzeichen also gab es auf jeden Fall. Nun kam es darauf an, wer die stärkeren Nerven besaß. Nach ihrer Wahlwiederholung meldete sich Schnittomeit und rief mehrere Male den Teilnehmer am anderen Ende der Leitung. Mildred Sox legte auf und tippte erneut die Wahlwiederholung. Niemand hob ab. Dafür hörte sie Schnittomeit und Liane Loreni. Ein typisches Gespräch zwischen Mann und Frau: Schnittomeit sollte die Loreni zum Schneider begleiten. Das Trauerkleid musste angeprobt werden. Schnittomeit murrte über seine Arbeitsüberlastung. Da inszenierte die Loreni einen Theaterdonner, wie er im Buche stand. Alles müsse sie allein regeln! Schnittomeit goss noch Öl ins Feuer mit der Bemerkung, dass das Filmprojekt seiner MEDIA NOVA beinahe geplatzt wäre, weil sie ihre Triebe nicht beherrschen konnte. Ihr Mann habe gewiss von beider Verhältnis gewusst und deswegen bei seinem Notar eine Zurücknahme sämtlicher Rechte verfügt. Das, was der Alte angerichtet habe, sei ja in wenigen Tagen aus der Welt, konterte die Loreni. Und sie warnte Schnittomeit schon jetzt für den Fall, dass er die Hauptrolle mit einer anderen besetzen wollte. Schließlich hatte sie beim Theater auf sämtliche Angebote für das kommende Jahr verzichtet. Sämtliche Angebote, provozierte Schnittomeit. Waren es gar zwei Rollen? Jetzt drohte die Loreni, dass sie gewaltig auspacken würde, wenn er nicht die Abmachung mit ihrem Alten einhielte. Sie würde als alleinige Erbin die Rechte zurückholen und dann könne es mit ihr in Hauptrolle losgehen. Die Fördergelder des Landes, Bundes und der EU seien ja dank der Reputation ihres Alten bereits auf dem Konto der MEDIA NOVA ...
Dann entfernten sich Schritte und beide verließen den Raum. Die Frau legte auf. Das waren ungeahnte Möglichkeiten für Ermittlungen! Sie würde es auch mit dem Handy probieren. Plötzlich fiel ihr Bruno ein. Schnell wählte sie seine Telefonnummer. Nichts. Die Zeit lief gegen ihn, dessen war sich Mildred Sox gewiss.
Die Verabredung mit dem alten Campnagel platzte. Als ginge es ihn persönlich an, entschuldigte sich Rübensam für Paule. Mildred Sox ließ sich ein Bauernfrühstück bringen. Mit großem Appetit essend, beobachtete sie das Treiben ringsum. Viel Betrieb war zu dieser Tageszeit nicht. Arbeitslose saßen vor der Kneipe, starrten in das ölige Wasser des stillgelegten Stadthafens und hielten sich stundenlang an ihrem Glas Bier fest. Diese Kundschaft ließ Rübensam nur wegen der alten Zeiten gelten. Penner hätte er kraft körpereigener Masse schon längst - Originalton Edgar Rübensam - vom Acker gejagt. Das Heulen einer Sirene erklang plötzlich neben der HAFENKLAUSE. Ein Sanka bremste quietschend. Rübensam lief hinaus. Schließlich kannte er die Gegend wie seine Westentasche und hinter der Kneipe sei Pumpe. Was immer auch Rübensam damit meinte, der Fahrer verstand ihn. Sprach leutselig von einem Ertrunkenen, den es zu bergen galt. Vielleicht ein Saufzahn und am Ende kannte Rübensam oder einer seiner Gästen den Toten? Dessen Ausweispapiere lauteten auf Paul Campnagel. Mildred Sox verstand Rübensam nicht, als er ungewohnt leise dem Fahrer Bescheid gab, wie er zum ehemaligen Zuckerrübenkai fahren müsste. Sekunden später heulte die Sirene wieder, obwohl Campnagel, dem dieser vormittägliche Lärm galt, nie und niemanden mehr um Eile bitten würde.
”Nur gut, dass Paule meine Polaroidkamera hiergelassen hat”, sagte der Kneiper, als er wieder am Tresen stand und eine Runde Freibier für die Männer draußen zapfte. ”Borgte er sich nämlich oft aus. Den Film bezahlte er natürlich. Oder sagen wir mal so: Paule hatte seit Monaten die Absicht. Überall mehr Schulden als Haare auf dem Kopf.” Rübensams Gerede und das gespendete Bier waren seine Art, einem Stammkunden die letzte Ehre zu erweisen. ”Ich habe nachgeguckt, drei Bilder sind schon runter ...”
”Vielleicht ein Spanner, Ihr Paule?”
Rübensam fand es unter seiner Würde, darauf zu antworten.
”War Paule Alkoholiker?”
”Kein Stück!”, protestierte Rübensam. ”Er war auch heute nicht blau. Muss ein Unglücksfall sein.”