»Professor Kunstmann, ein angesehener Astrophysiker, ist verschwunden. Hält er sich wirklich bei einem Trainingskurs der ›Kirche für angewandte Philosophie‹ in England auf? Privatdetektiv Georg Wilsberg ermittelt im Dunstkreis der Sekte.
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»So locker-flockig, wie die Wilsberg-Krimis daherkommen, eignen sie sich gut als Krimi-Happen zwischendurch.« Südwest Presse
»Anklänge an gewisse Sekten sind bei diesem Mordfall nicht zu übersehen. Nicht nur für Münster-Kennner eine spannende Geschichte.« Westfälische Rundschau
© 2012 by GRAFIT Verlag GmbH
Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung korrigierte Fassung des Kriminalromans
Jürgen Keher: Gottesgemüse
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Umschlagzeichnung: Peter Bucker
eISBN 978-3-89425-881-8
Jürgen Kehrer
Gottesgemüse
Kriminalroman
Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren. 1974 von der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze nach Münster geschickt, fand er das Leben in dieser Stadt bald so angenehm, dass er noch heute dort wohnt.
1990 erschien sein erster Kriminalroman Und die Toten lässt man ruhen. Damit nahm die beeindruckende Karriere des sympathischen, unter chronischem Geldmangel leidenden, münsterschen Privatdetektivs Georg Wilsberg ihren Anfang. Bis heute sind siebzehn weitere Wilsberg-Romane erschienen. 1995 wurde Wilsberg für das Fernsehen entdeckt und ermittelt seitdem auch regelmäßig in der Samstagabendkrimireihe im ZDF. Sieben der bislang gesendeten sechsunddreißig Wilsberg-Filme basieren auf zuvor veröffentlichten Romanen.
Neben den Wilsberg-Krimis schreibt Jürgen Kehrer historische und in der Gegenwart angesiedelte Kriminalromane, Drehbücher fürs Fernsehen und Sachbücher. Zuletzt veröffentlichte er Wilsbergs Welt, eine Sammlung von Krimikurzgeschichten mit und ohne Wilsberg.
www.juergen-kehrer.de
»Ich sitze nochmals auf den Uferblöcken und rauche nochmals eine Zigarre – ich filme nichts mehr. Wozu! Hanna hat recht: nachher muss man es sich als Film ansehen, wenn es nicht mehr da ist, und es vergeht ja doch alles – Abschied.«
Max Frisch
Draußen tobte ein Schneesturm, der den historisierenden Giebeln des Prinzipalmarktes Pappnasen aufsetzte. Flüchtende Einkäufer rutschten über das Kopfsteinpflaster und die Busse der Stadtwerke zermalmten den Schnee zu gräulich breiiger Pampe. Ich stand am Fenster, genoss die Wärme meines gut temperierten Büros und dachte an die Tage, an denen mich mein negativer Kontostand gezwungen hatte, mir wegen eines läppischen Auftrags nasse Füße und eine chronische Bronchitis zu holen. Graue Vorzeit.
Die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch schnarrte. »Deine Ex-Freundin Elke ist am Telefon«, sagte Sigi, die Sekretärin.
Ich drückte auf den Knopf. »Ich bin nicht da.«
»Sie hat heute schon zweimal angerufen.«
»Egal. Sag ihr, ich wäre auf einer Dienstreise.«
Sigi äußerte grummelnden Protest, doch das Telefon blieb stumm.
Seit einem halben Jahr leistete ich mir den Luxus einer Sekretärin, den Luxus eines großzügigen und gut möblierten Büros direkt am Prinzipalmarkt, schräg gegenüber vom Rathaus, und den Luxus, nur die Aufträge anzunehmen, die mir passten. Mit Recherchen und Handlangerdiensten beauftragte ich freischaffende Privatdetektive, meist abgehalfterte und übel beleumdete Polizisten, die sich für zwanzig Mark pro Stunde bei Nacht und Nebel die Beine in den Bauch standen. Das Ergebnis ihrer mühseligen Kleinarbeit präsentierte ich dann in einem aufwendigen Abschlussbericht auf edlem Papier. Das richtige Ambiente brachte die richtigen Kunden, und allmählich bekam ich die Aufträge, die mich in der Sparkasse bis in die oberste Etage führten.
Der Glücks- war eigentlich ein Trauerfall. Willis Onkel, der sich vor dreißig Jahren in die schottischen Berge zurückgezogen hatte und von der Familie vergessen worden war, hatte sich eines Tages unbemerkt aus dem Leben verabschiedet. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, dass der alte Herr über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Und das hatte er, kinderlos wie er war, einem einzigen Erben vermacht, seinem Patenkind Willi.
Willi, Geschäftsführer und zehnprozentiger Anteilseigner unseres gemeinsamen Secondhandkaufhauses im Bahnhofsviertel, erfüllte sich mit dem Geld einen Lebenstraum, nämlich die restlichen neunzig Prozent zu kaufen, damit er endlich alleine schalten und walten konnte. Ich verkaufte sie ihm gerne, denn das Verhältnis zwischen Willi und mir war seit Langem nicht mehr das, was es früher einmal gewesen war. Außerdem hatte ich mich in dem Kaufhaus nie so wohl gefühlt wie in meinem alten Briefmarken- und Münzladen; und als Willi dann noch durchsetzte, dass die angeblich unrentablen Briefmarken und Münzen aus dem Erdgeschoss des Kaufhauses in die hintere Ecke der zweiten Etage verbannt wurden, beschränkte sich mein Spaß am Kaufhausbesitzen auf die Durchsicht der monatlichen Bilanzüberschüsse.
Also nahm ich Willis Geld, räumte das Büro in dem ungeliebten Kaufhaus und etablierte mich am Prinzipalmarkt als gut situierter und angesehener Privatdetektiv, dem man bald die Aufnahme in den örtlichen Golfklub nicht mehr verweigern konnte.
Die Gegensprechanlage schnarrte wieder. »Eine Frau Kunstmann ist hier und möchte Sie sprechen.«
Wenn Klienten im Raum waren, verwendete Sigi das seriöse ›Sie‹.
»Lassen Sie sie bitte herein!«, antwortete ich. Normalerweise spielten wir das Herr-Wilsberg-ist-sehr-beschäftigt-Spiel, aber ich langweilte mich bereits seit zwei Stunden.
Sigi öffnete die Tür und schenkte mir ein komplizenhaftes Lächeln. Den Grund dafür sah ich eine Sekunde später. Frau Kunstmann war die Klientin, von der Privatdetektive träumen, wenn sie in vereisten Autos sitzen und kalt gewordenen Kaffee schlürfen.
So unbeeindruckt wie möglich stand ich auf und gab meiner Stimme jenen Klang, den Psychologen und Rechtsanwälte zu ihrem wichtigsten Kapital zählen: »Guten Tag. Georg Wilsberg.«
»Anja Kunstmann.«
Wir gaben uns die Hände, und ich erwischte einen Blick ihrer blaugrünen Augen.
»Darf ich Ihnen Ihren Mantel abnehmen?«, erkundigte ich mich, während ich aus den Augenwinkeln sah, dass Sigi sich köstlich amüsierte.
»Frau Bach, könnten Sie uns bitte zwei Tassen Kaffee bringen!«, sagte ich und drückte Sigi den Mantel in den Arm. Dann geleitete ich Anja Kunstmann zu der kleinen Gesprächsecke mit den zwei Lederfreischwingern und dem Rauchtisch.
Sie kramte in ihrer Handtasche herum und brachte ein silbernes Zigarettenetui zum Vorschein. Als sie die Zigarette schon im Mund hatte, erschrak sie fast wegen ihrer Unhöflichkeit.
»Darf ich rauchen?«
»Natürlich.« Ich nahm eine gestopfte Pfeife aus dem Regal. Bei schwierigen Fällen machte sich so etwas gut.
Das Anzünden, Stopfen und wieder Anzünden der Pfeife gab mir Gelegenheit, sie durch die Rauchschwaden zu mustern. Sie trug einen dunkelgrauen Pullover und darauf eine Goldkette mit Anhänger. An ihrem länglichen Gesicht gab es nichts, was die Regeln der Symmetrie und Schönheit gebrochen hätte. Die Haare wurden von einem Ring zusammengehalten. Sie hatten die Farbe feuchten Sandes, weder blond noch braun, aber von allem etwas. An den Fingern, die nervös über die schwarze Jeanshose strichen, glitzerten Ringe.
»Was führt Sie zu mir, Frau Kunstmann?«, fragte ich.
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, sagte sie.
Ich guckte sie erstaunt an: »Wieso?«
Sie lächelte, als hätte sie mich dabei erwischt, wie ich mir versehentlich Zahnpasta in die Haare schmiere. »Das steht in Ihrer Anzeige in den Gelben Seiten: Haben Sie Vertrauen zu mir!«
Nun musste auch ich grinsen.
»Oder darf man etwa kein Vertrauen zu Ihnen haben?«
»Sie dürfen unbegrenztes Vertrauen zu mir haben, Frau Kunstmann. Aber gibt es außerdem noch etwas, was ich für Sie tun kann?«
Sie sah mich intensiv an. »Mein Mann ist verschwunden. Er war zu einem Kurs in Großbritannien und ist nicht mehr zurückgekommen.«
»Und Sie haben nichts von ihm gehört?«
»Nein. Der Kurs sollte zwei Wochen dauern. Eigentlich hätte er vor zehn Tagen wieder zu Hause sein müssen.«
»Haben Sie sich in Großbritannien nach ihm erkundigt?«
»Ja. Man sagte mir, er habe den Kurs planmäßig beendet und sei abgereist.«
Sigi kam herein und stellte ein silbernes Tablett mit zwei Tassen Kaffee auf dem Rauchtisch ab.
Ich sagte: »Bitte in der nächsten halben Stunde keine Telefonanrufe, Frau Bach!«
»Selbstverständlich, Herr Wilsberg«, antwortete sie und trat mir dabei absichtlich auf den linken Fuß.
Ich verzog keine Miene.
»Waren Sie schon bei der Polizei?«, wandte ich mich wieder an meine potenzielle Klientin.
»Nein.«
»Warum nicht? Sie hätten eine Vermisstenanzeige aufgeben müssen.«
»Ich glaube, ich weiß, wo er ist.«
Mir schwante Böses. Den Ehemann von der hässlichen Geliebten loszueisen und ihn zu der schönen Ehefrau zurückzubringen, gehörte zu den undankbarsten Aufgaben eines Privatdetektivs.
»Und wo ist er?«
Sie nahm einen Schluck Kaffee, um Zeit zu gewinnen. »Das ist eine lange Geschichte, Herr Wilsberg.«
»Mein Stundenhonorar beträgt fünfzig Mark. Aber nur, wenn ich den Auftrag annehme.«
»Ja, natürlich. Ich dachte nicht, dass Sie umsonst zu haben sind.« Sie warf mir wieder einen blaugrünen Blick zu.
»Mein Mann ist Astrophysiker, genauer gesagt: Professor für Astrophysik an der Universität Münster. Ich habe bei ihm studiert. Nach meinem Diplom haben wir geheiratet. Zwei Kinder, ein Reihenhaus in Sprakel, für die Nachbarn sind wir eine glückliche Familie.«
»Sie brauchen nicht in Steno zu reden, Frau Kunstmann. So viel Zeit muss sein.«
»Das waren nur die Daten. Das Problem liegt woanders. Es heißt KAP, Kirche für angewandte Philosophie.«
Ich erinnerte mich dunkel an einen Fernsehbericht. »Diese Sekte?«
»Ja. Vor drei Jahren kam er mit der KAP in Berührung. Ein Kollege erzählte ihm, dass er durch die KAP den Sinn seines Lebens gefunden habe. Aus Neugierde besuchte mein Mann einen Trainingskurs, dann noch einen und noch einen. Nach einiger Zeit war er ganz begeistert und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich auch Training machen solle. Ich wollte nicht. Ein paar Mal bin ich mit ihm zum Studienzentrum der Kirche gefahren, aber die Leute dort gefielen mir nicht. Die Trainings kosten eine Menge Geld, und Mitglieder werden gedrängt, immer höhere Summen zu spenden. Mir kam das so vor, als ginge es nur darum, den Leuten Geld aus der Tasche zu ziehen. Martin wollte davon nichts hören. ›Ich habe Erfolge‹, sagte er immer wieder. ›Ich bekomme mein Leben besser in den Griff.‹ Angeblich wird man frei von seelischen Leiden und schmerzhaften Erinnerungen, wenn man nur lange genug Training macht. Ich bekam Angst, weil er immer abhängiger von der Kirche wurde. Er begann, sich in allem nach den Vorschriften der Kirche zu richten. Seine Trainingsleiterin sagte ihm, was er zu tun und zu lassen habe. Fast seine ganze Freizeit verbrachte er im Studienzentrum. Ich glaube, er verkaufte sogar Bücher und sprach Leute auf der Straße an. Nach und nach entfremdete er sich von mir und den Kindern. Er machte seine Arbeit, weil er das Geld für die Trainings verdienen musste, aber er verlor jeglichen Ehrgeiz. Sein Ziel war, den Zustand der ›Freiheit‹ zu erreichen. Ich beschwor ihn, damit aufzuhören. Er lachte mich aus. ›Du weißt nichts‹, sagte er. ›Du bist nicht besser als das Gemüse im Garten.‹ Wir konnten nicht mehr miteinander reden. Ich nehme an, dass ihm die Kirche empfohlen hat, mich zu ignorieren. Die Kirche betrachtet Familienangehörige, die ihr skeptisch gegenüberstehen, als Feinde.«
Sie saugte heftig an der zweiten Zigarette. Ihre Augen waren etwas feucht geworden.
»Ich habe ihm angeboten, uns scheiden zu lassen. Er lehnte ab. Mir blieb nichts anderes übrig, als so weiterzumachen wie bisher. Womit hätte ich den Lebensunterhalt für die Kinder und mich verdienen sollen? Ich habe meinen Beruf nie ausgeübt. Finanziell war ich immer abhängig von meinem Mann.«
Ich unterdrückte den Impuls, ihre Hand zu nehmen und sie eine Zeit lang festzuhalten. »Was soll ich tun?«
»Holen Sie ihn da raus! Ich bin sicher, dass er alles aufgegeben hat und nur noch für die Kirche leben will.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo er sich im Moment aufhält?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist er noch in Großbritannien. Oder in einem Zentrum der KAP in Deutschland.«
Ich lehnte mich zurück und nuckelte an meiner Pfeife. »Ich brauche mehr Informationen über die Kirche für angewandte Philosophie und ein Bild Ihres Mannes.«
Der Glanz in ihren Augen hätte den härtesten Privatdetektiv weichgemacht. »Sie nehmen den Auftrag an?«
»Eigentlich bin ich ja auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert. Aber in Ihrem Fall mache ich vielleicht eine Ausnahme.«
Sie beugte sich über ihre Handtasche und zog ein Scheckheft heraus. »Am Geld soll es nicht liegen. Noch habe ich genug davon.«
Abwehrend hob ich die Hände. »Nicht so schnell, Frau Kunstmann. Geben Sie mir ein paar Stunden Bedenkzeit! Sie sind nicht die einzige Auftraggeberin unserer Detektei. Ich muss das mit meinen Mitarbeitern abstimmen.«
Das stimmte nur zur Hälfte, aber sie sollte nicht den Eindruck gewinnen, dass ich auf sie gewartet hatte.
Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit, und schnell setzte ich hinzu: »Geben Sie mir Ihre Telefonnummer! Sobald ich das Organisatorische geregelt habe, setze ich mich mit Ihnen in Verbindung.«
»Wann wird das sein?«
»Vielleicht schon heute Nachmittag.«
Wir standen auf und gingen zur Tür. Mitten im Raum blieb sie plötzlich stehen und sagte: »Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören.«
Eine Sekunde lang machte sie mich sprachlos.
»Was liegt diese Woche noch an?«, fragte ich Sigi, als Anja Kunstmann entschwunden war.
Sigi blitzte mich an. »Will der große Detektiv den Fall selbst übernehmen?«
»Koslowski oder Eger eignen sich jedenfalls nicht dafür.«
»Erzähl!«, forderte Sigi.
Ich gab ihr eine Kurzfassung des Gespräches. Sigi wiegte zweifelnd den Kopf.
»Die KAP ist ziemlich gefährlich. In der letzten Zeit stand einiges in den Zeitungen. Die betreiben mit ihren Mitgliedern so eine Art Gehirnwäsche. Da jemanden rauszuholen, dürfte so gut wie unmöglich sein.«
»Es kommt auf den Versuch an.«
»Du meinst, bei der Klientin?«
»Sigi, ich glaube, du siehst mich zu eindimensional.«
»Männer sind eindimensional.«
Ich räusperte mich. »Wolltest du mir nicht sagen, welche Termine ich diese Woche habe?«
»Freitagmorgen bist du mit Dr. Gross, dem Vorstandsmitglied der Sächsischen Versicherung, verabredet. Es geht um den Juwelier, der vermutlich sich selbst beklaut hat.«
»Hat sich Koslowski inzwischen gemeldet?«
»Nein. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, was der Juwelier heute gemacht hat: Er ist von seinem Haus zu seinem Laden gefahren, um achtzehn Uhr dreißig fährt er dann ohne jeden Umweg zurück.«
»Und nachts schläft er«, ergänzte ich. Für den Nachtdienst war Eger zuständig. Tagsüber überwachte Koslowski die Zielperson.
»Na gut. Vielleicht tut sich ja bis Freitagmorgen etwas. Was gibt es sonst noch?«
»Der Steuerberater möchte bis Freitag die Dezemberbuchführung haben.«
»Kannst du das nicht erledigen?«
»Wenn du mir die Belege gibst, die in deinem braunen Aktenkoffer sind.«
»Genau, der braune Aktenkoffer. Den habe ich gestern schon gesucht. Ich werde heute Abend noch mal bei mir zu Hause nachgucken.«
»Abgesehen von diesen Kleinigkeiten«, sagte Sigi und dehnte dabei ihre Worte, »kannst du dich Frau Kunstmann widmen.«
Sechzig Minuten später griff ich zum Telefon.
An diesem Nachmittag brach in Münster das Chaos aus. Innerhalb von einer halben Stunde fiel so viel Schnee vom Himmel, dass die Räumfahrzeuge zusammen mit allen anderen Autos im Stau stecken blieben. Von der Innenstadt nach Sprakel – eine Strecke, für die man normalerweise zehn Minuten benötigt – brauchte ich anderthalb Stunden.
Endlich rutschte ich in die Straße, in der die Kunstmanns wohnten. Männer und Frauen waren emsig damit beschäftigt, die Bürgersteige freizuschieben. Niemand wollte die Schadenersatzklage eines zu Fall gekommenen Spaziergängers riskieren. Vor dem Haus der Kunstmanns türmten sich die Schneemassen. Frau Kunstmann hatte offensichtlich andere Sorgen.
Ich ließ meinen BMW in Richtung Bürgersteig gleiten und stieg aus. Drei Sekunden nach meinem Läuten öffnete Anja Kunstmann die Tür.
»Bei diesem Wetter habe ich nicht mehr mit Ihnen gerechnet.«
»Wenn sich ein Detektiv schon vom Wetter aufhalten lässt, sollte er lieber den Beruf wechseln.«
Sie lachte ein kurzes, dunkles Lachen. Es passte nicht ganz zu ihrem biederen Aussehen.
»Kaffee, Tee oder etwas Alkoholisches?«
»Tee«, sagte ich.
Ich folgte ihr in die Küche und lehnte mich gegen den Türrahmen, während sie einen Kessel mit Wasser aufsetzte und die Teekanne präparierte.
»Die Stille ist für mich ganz ungewohnt. Meistens tobt eine Horde Kinder durch das Haus. Ich habe Lisa und Johannes zu meiner Mutter gebracht. Sie glauben, dass ihr Vater auf einer Dienstreise in Amerika ist. Ich möchte nicht, dass sie beunruhigt werden.«
Sie drehte sich zu mir um. »Gehen wir doch ins Wohnzimmer. Da ist es gemütlicher.«
Das Wohnzimmer war, abgesehen von einer hellen Polstergarnitur, sparsam möbliert. An einer Wand streckte Albert Einstein seine Zunge heraus, an der anderen stand ein schwarzer Regalschrank mit Fernseher, Video- und Hi-Fi-Anlage und ein paar Büchern. Eine Glasfront öffnete den Blick auf einen kleinen Garten, in dem man unter den Schneemassen die Umrisse eines Sandkastens und einer Schaukel erkennen konnte.
Wir setzten uns so, dass ein Glastisch zwischen uns stand. Ich tastete nach der Schachtel Zigarillos in meiner Jackentasche, verzichtete aber darauf, sie herauszuholen. Mit Zigarillorauch macht man sich schnell unbeliebt.
Sie öffnete ihr Zigarettenetui und hielt es mir entgegen: »Möchten Sie?«
Dankbar nahm ich an.
Ich dachte noch über eine sinnvolle Eröffnungsfrage nach, als der Wasserkessel zu pfeifen begann. Anja Kunstmann verschwand in der Küche und kehrte nach zwei Minuten mit der Teekanne, zwei Tassen und einem Topf Honig zurück.
»Ich weiß zu wenig über die Kirche für angewandte Philosophie«, sagte ich. »Erzählen Sie mir mehr davon!«
Sie seufzte. »Notgedrungen bin ich zu einer Expertin geworden. Ich habe sogar mit dem Sektenbeauftragten der katholischen Kirche gesprochen.« Der Ansatz eines Lächelns überflog ihr Gesicht. »Er hat mir geraten, fest zu meinem Mann zu stehen. Der Glaube würde ihn auf den rechten Weg zurückbringen.«
Sie entfernte imaginären Staub von der Glasplatte. »Die Kirche für angewandte Philosophie ist von einem Amerikaner namens Ross W. Stocker gegründet worden. Er war Science-Fiction-Schriftsteller, ein ziemlich erfolgreicher sogar. Angeblich ist er auch Mitglied eines satanistischen Ordens gewesen. Irgendwann, Anfang der Fünfzigerjahre, erfand er das ›Geistige Training‹. Er behauptete, dass er die Mechanismen entdeckt habe, nach denen der menschliche Geist funktioniere, und dass es eine einfache Methode gebe, mit der alle seelischen Probleme beseitigt werden könnten. Er trat öffentlich auf und demonstrierte das ›Geistige Training‹ an Versuchspersonen. Tatsächlich muss es eine gewisse Wirkung gezeigt haben, denn bald scharten sich zahlreiche Anhänger um Stocker.
Natürlich bekam Stocker auch Ärger. Vor allem Psychologen und Psychiater bezeichneten ihn als Scharlatan und verlangten, dass er das ›Geistige Training‹ einstellen solle. Als der Wirbel in den Vereinigten Staaten zu groß wurde, setzte sich Stocker nach England ab. Mit dem inzwischen verdienten Geld kaufte er südlich von London ein großes Schloss. Dort gründete er 1959 die Kirche für angewandte Philosophie.«