SASCHA LANGE

DJ Westradio

Meine glückliche DDR-Jugend

Impressum

ISBN 978-3-8412-0532-2

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2007 bei Aufbau, einer Marke der

Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für dasöffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung capa design, Anke Fesel

unter Verwendung eines Fotos von Carla Brno/bobsairport

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

Für Friedrich und Levi

In Erinnerung an Steffen Thüm

Inhaltsübersicht

Zum Anfang – Erinnerungen

Südvorstadt

Ortsbestimmung

Leipzig zur Messe

Messeonkel

Einschulung in die DDR

Meine Schulklasse

Paketabholung

Scherbelberg

Westwaren

Shop – Exquisit – Delikat

Haben Sie Werbematerial?

Neue Musik-Wellen

Ferienlager

BRAVO-Poster

Praktische Arbeit

Rüstzeiten

Kassettenrekorder

New Wave

Die Clique

Mädchen

Kriegsspiele

Kleinmesse und Faschos

Behind the Wall – Depeche Mode in Ostberlin

Lehrzeit

Born in GDR – Die anderen Bands

Kriegsspiele Vol. 2

Montagsdemos

Das erste Mal

Die Wende wendet sich

Leipzig wird bunt

Im Süden geht was

Kommunikationsprobleme

Wiedervereinigung

Ich steh auf Berlin

Zum Schluß

Zum Anfang - Erinnerungen

Ich sammle Erinnerungen. Natürlich in erster Linie meine eigenen, und ich denke, daß ich schon eine ganze Menge zusammengetragen habe. Vor einigen Jahren hat man begonnen, sich an das Leben in der DDR zu erinnern. Zum Beispiel in lächerlichen TV-Ostalgie-Shows mit den Vorzeige-Ossis Axel Schulz und Katharina Witt im FDJ-Hemd. Nun glauben wirklich alle, daß Ossis Trottel sind. Schönen Dank auch! Yvonne Catterfeld beklagte vor einiger Zeit in der BILD-Zeitung, wie schlimm ihre DDR-Schulzeit gewesen sei. Ich trockne mir noch heute die Tränen.

Auf dem Gipfel der Ostalgie-Welle plazierte das Internetkaufhaus Ebay sogar Werbebanner für DDR-Nostalgieauktionen. Man wollte so die Leute animieren, Erinnerungen zu kaufen, meist gar nicht ihre eigenen. Meine Erinnerungen an die DDR muß ich mir nicht für Westgeld ersteigern. Die habe ich in meinem Kopf. Und in einem Pappkarton mit Schwarzweißfotos.

Ich wurde im Dezember 1971 in Leipzig geboren, und meine Eltern gaben mir den Namen Alexander. Als selbsternannte Ost-68er haben sie mich nach Alexander Dubček benannt, dem tschechischen Staatschef, den die Post-Stalinisten 1968 nach dem Prager Frühling abgesetzt hatten. Auf diesen Frühling folgte ein tiefer sibirischer Winter.

Alexander nennt mich aber niemand. Auch meine Eltern sagen immer nur »Sascha« zu mir, das ist eine Koseform von Alexander. So heiße ich also eigentlich Alexander, aber andererseits wiederum nicht. Genauso wurde ich zwar in der DDR geboren, habe aber in Leipzig eigentlich gar nicht in der DDR gelebt. Ich fühlte mich in Kindertagen weniger als DDR-Bürger, sondern vielmehr als Bundesbürger mit DDR-Staatsbürgerschaft. Ich kam in einem katholischen Krankenhaus zur Welt, ging mit drei Jahren in einen evangelischen Kindergarten und schaute zu Hause im Westfernsehen die Sesamstraße und die Sendung mit der Maus.

Einer der Hauptgründe, warum ich es in der DDR ausgehalten habe und warum ich mich gerne an die Zeit zurückerinnere, ist simpel: das gelegentliche sagenumwobene Westpaket.

Spielzeug? Playmobil, Lego und Matchbox-Autos. Comics? Micky Maus, Lustige Taschenbücher und Asterix-Hefte. West-Comics waren natürlich verboten bei uns. Ich hatte trotzdem welche und nicht wenige. Turnschuhe? Adidas und Puma. Klamotten? C&A und was weiß ich noch. Ich naschte Haribo-Goldbären, Maoam-Kaubonbons, Raider (heißt jetzt Twix), Mars, Nutella – und zwar nicht nur zu Weihnachten. Später kamen dann die Bücher der »Drei ???«, BRAVO-Magazine und Schallplatten dazu. Möglich machten das die geliebten Westpakete und gelegentliche Besuche von Verwandten und Bekannten von drüben. Nein, ich möchte nicht gegenüber meinen ostdeutschen Altersgenossen (im wahrsten Sinne des Wortes) nachträglich angeben. Aber nicht alle in Ost und West wissen heute, dass man damals in der DDR nicht zwangsläufig hinterm Mond gelebt hat.

An dieser Stelle möchte ich darum im Namen aller Zonis all den Menschen aus Westdeutschland danken, daß Ihr uns all die Jahre so viele Sachen geschickt und mitgebracht habt. Ohne Euch hätten wir den Herbst 1989 bestimmt schon auf 1979 verlegt. So konnten wir uns zehn Jahre länger der Illusion hingeben, Euer Westen wäre unser Paradies. Danke dafür.

Südvorstadt

Manche Menschen sagen, sie wüßten nicht, woher sie kommen. Sicher meinen sie diese Frage philosophisch, aber ich weiß dafür ganz genau, woher ich komme. Ich komme aus der Leipziger Südvorstadt. Ein, architektonisch gesehen, gutbürgerliches Gründerzeitviertel, sehr symmetrisch aufgebaut, viele grüne Alleen, kaum Fabriken. Der riesige Auewald nur zehn Minuten Fußweg entfernt, das Stadtzentrum keine fünf Minuten mit der Straßenbahn, der Badesee fünfzehn Minuten mit dem Rad. Nicht weit weg ist auch der Scherbelberg an der Fockestraße, den die Neu-Leipziger heutzutage immer »Fockeberg« nennen, nur weil das so auf den Stadtplänen steht. Der heißt aber Scherbelberg. SCHERBELBERG! Klar?

In der Südvorstadt läßt es sich wunderbar leben. Das war auch schon zu der Zeit so, als die vielen Geschäftsleute von drüben mit ihren schicken Westautos nur zweimal im Jahr zur Leipziger Messe kamen, einige D-Mark und den Inhalt ihrer Koffer bei uns ließen und dann wieder abhauten. Jetzt sind sie das ganze Jahr über da, bezahlen jeden Quadratmeterpreis für die schönen Jugendstilwohnungen und treiben damit die Mieten in die Höhe. Außerdem nehmen sie uns mit ihren dicken Arbeitgeberschlitten die Parkplätze weg. So war das 1989 aber nicht gemeint!

Ich weiß das alles, weil ich hier immer noch wohne, natürlich nicht mehr bei meinen Eltern, aber auch nicht weit von ihnen. Jetzt wohnen hier vor allem die »Kulturszene« und die Volvo-Volvic-Wohlfühlpulli-Fraktion (eine Abspaltung der Generation Golf), und auf der Karl-Liebknecht-Straße gibt es seit einigen Jahren jede Menge Szenekneipen und Szenegeschäfte. Ich hatte immerhin das Glück, nicht dem schönen Großstadtleben hinterherziehen zu müssen, es kam einfach zu mir in meine Südvorstadt.

Wenn ich heute das Viertel meiner Kindheit und Jugend in einem Anfall sentimentaler Erinnerungen abfahre, gelingt der Nostalgietrip nur noch teilweise, denn die Zeit von damals wurde optisch nicht konserviert. Die Häuser stehen zwar alle noch, nur wenige neue wurden in den 90ern hier gebaut, aber es hat sich trotzdem alles verändert. Früher hatten die meisten Häuser eine abgeblätterte Fassade in einem schmutzigen Einheitsgrau, und nur das Grün der Blätter oder ganz frischer Schnee brachte Farbe. Jetzt sind alle Häuser aufwendig saniert, und jedes Detail an der Jugendstilfassade wurde wieder herausgearbeitet. Die Häuser sehen jetzt zu perfekt aus, kulissenartig, ohne Seele. Die ganze Patina ist verschwunden. Wenn ich an den Wohnungen meiner damaligen Mitschüler vorbeiradle, weiß ich, daß sie dort nicht mehr zu Hause sind. Zeit und Arbeit haben sie fortgetragen. Die Häuser sind noch da, aber die Bewohner wurden nahezu komplett ausgetauscht. Mein altes Wohnviertel erscheint mir dann wie ein verlassenes Nest. Alle sind flügge geworden und ausgeflogen. Die meisten erst nach 1990.

Ortsbestimmung

Leipzig war zu Beginn der 70er Jahre eine Stadt mit gut 600 000 Einwohnern. Bis zum Herbst 1989 sollten über 100 000 Menschen der Stadt den Rücken kehren – nicht selten mit Reiserichtung Westen. Die meisten Kriegsschäden waren zu meiner Zeit schon beseitigt, zahlreiche Neubauten im 60er- und 70er-Jahre-Stil schlossen die Lücken. Nur hier und da sah man noch eine Ruine aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Verfall der Stadt ging dennoch unaufhaltsam weiter. »Ruinen schaffen ohne Waffen« hieß das in den 80ern im Volksmund in Anlehnung an eine Losung der westdeutschen Friedensbewegung. Die Alliierten hatten 1943 via Luftpost beträchtliche Vorarbeiten geleistet, und den Rest besorgte die kommunale Wohnungsverwaltung.

Die Stadt war umgeben von Tagebauen und chemischer Industrie. Die Umweltbelastung war entsprechend hoch. Hinzu kam in der kalten Jahreszeit der Dreck der zahllosen Öfen, denn in Leipzig heizte man die Altbauten wie überall in der DDR mit Kohle. Wollte man auf dem Balkon Wäsche aufhängen, mußte man immer erst eine schwarze Rußschicht von der Leine abwischen.

Meine Eltern und ich wohnten, zunächst zusammen mit meiner Oma mütterlicherseits, in einer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Lößniger Straße. Nur einen Steinwurf entfernt sind die Gleisanlagen, welche zum Bayerischen Bahnhof führen. Damals kam man von dort gerade mal bis Zwickau, aber er war immer noch der »Bayerische« Bahnhof. Auch der Schlachthof, er hieß zu meiner Zeit bereits »Delicata«, war nicht weit entfernt. Die Laster, die das Schlachtvieh dorthin transportierten, prägten zeitweise den Geruch ganzer Straßenzüge. Gleich vor unserer Haustür lag der »Knochenplatz«. Der hieß so, weil man von ihm aus die Knochenberge des Schlachthofes, die sich neben den Gleisanlagen türmten, sehen und bei günstiger Windrichtung auch riechen konnte.

Die Lößniger Straße hat noch heute ihr holpriges Kopfsteinpflaster, über das damals immer die Kohlenlaster von einem nahe gelegenen Verladebahnhof in der Kohlenstraße polterten, vor allem in der kalten Jahreszeit. Da lag es auf der Hand, daß auch die Straße drekkig war und die parkenden Autos ebenfalls. Uns störte das nicht allzu sehr, denn wir besaßen kein Auto. Zwar hatten meine Eltern 1979 den Kauf eines PKW Wartburg beantragt, mit seiner Auslieferung war jedoch frühestens 1994 zu rechnen.

Manchmal kam es vor, daß die Laster nicht normale Briketts geladen hatten, sondern den hochwertigeren Koks, mit dem man den Ofen garantiert heiß kriegte. Wenn die Laster wegen der zahlreichen Schlaglöcher einige kostbare Koks-Stücke vor unserem Haus verloren hatten, rannten die Anwohner mit einem Eimer auf die Straße und sammelten sie ein. Daß man noch viel mehr bekommen könnte, wenn man dafür auf die Straße gehen würde, hatten die Leute hier in den 70ern leider noch nicht herausgefunden.

Drei Jahre nach meiner Geburt zog meine Großmutter als Rentnerin zu meiner Tante nach Bad Godesberg bei Bonn. So bekam ich nicht nur endlich ein eigenes Kinderzimmer, sondern neben einer Westtante, einem Westonkel und zwei Westcousins auch eine Westoma.

Ich war ein Einzelkind. Anders als viele Kinder in der DDR kam ich nicht mit einem Jahr in eine Kinderkrippe, sondern erst mit drei Jahren in den Kindergarten, denn ich war oft krank. Mein Kindergarten befand sich in kirchlicher Trägerschaft. Dort mangelte es uns an nichts, außer vielleicht an Kriegsspielzeug. Etwas, auf das Jungs wohl aus genetischen Gründen nicht verzichten wollen. Als Ausgleich dazu hatte ich in unserem Haus den etwa gleichaltrigen Tom, dessen Eltern ihn regelmäßig mit Spielzeug-Kalaschnikows und Gummi-NVA-Soldaten eindeckten. Es sollte dann noch eine Ewigkeit dauern, bis meine pazifistischen Eltern sich wenigstens zu einer gelben Wasserspritzpistole für mich durchringen konnten.

Mein Vater hatte in den 70ern gleich zwei Jobs. Tagsüber saß er, verantwortlich für Presse- und Öffentlichkeit, in der »Hauptabteilung Kultur« der Karl-Marx-Universität Leipzig an einem Schreibtisch, und abends spielte er mit Kollegen Kabarett. Zwei Jobs waren natürlich eine anstrengende Sache. Anfang der 80er Jahre konnte er endlich ausschlafen und war nur noch abends Kabarettist. Daß somit das gemeinsame Abendbrot selten stattfand, störte mich keineswegs. Während andere Familien artig mit Abendessen und Tischgesprächen beschäftigt waren, saß ich abends mit Schnittchen vor der Glotze und schaute Vorabendserien im Westfernsehen wie »Simon & Simon« oder »Ein Colt für alle Fälle«.

Meine Mutter arbeitete zunächst als Laborantin in einem kleinen kirchlichen Krankenhaus im Süden der Stadt, einer wunderschönen dreistöckigen Villa, fast schon ein kleines Schloß. Manchmal, wenn ich krank war und nicht in den Kindergarten durfte, nahm mich meine Mutter, sobald es mir ein bißchen besser ging, mit zur Arbeit. Ich saß dort aber nicht im Labor rum, wo ich aus Langeweile am Ende noch die Testergebnisse manipuliert hätte, sondern spielte in dem zum Haus gehörigen Park und in der Gärtnerei oder jagte die Katzen durch die Gegend. Anfang der 80er Jahre blieb meine Mutter einige Zeit zu Hause, um meine Oma, ihre Schwiegermutter, zu pflegen, die zu uns gezogen war. Später wurde meine Mutter Requisiteuse in demselben Kabarett, in dem auch mein Vater arbeitete.

Schöne Wohnungen waren Mangelware in der DDR, so wie eine ganze Menge anderer Dinge. Man konnte sie auch nicht in einem Westpaket geschickt bekommen. (Mittlerweile weiß ich, daß selbst im Westen schöne Wohnungen Mangelware sind. Deshalb hätten sie auch gar nicht verschickt werden können.) Glücklicherweise hörten meine Eltern eines Tages von einer Frau, die bei uns gleich um die Ecke in einem wunderschönen, aber unsanierten Jugendstilhaus eine hochherrschaftliche Fünfeinhalb-Zimmer-Wohnung mit ihrem Dackel bewohnte. Sie wollte sich verkleinern – nicht ganz unverständlich. Eine kleinere Wohnung fand sie nicht (Mangelware, wie gesagt), einen freien Wohnungsmarkt gab es nicht, alles wurde in der DDR zentral verwaltet. Aber wir durften mit ihr die Wohnung tauschen. Der Umzug fand quasi auf dem Fußweg statt.

So zogen wir, zusammen mit der Mutter meines Vaters, im Sommer 1980 um die Ecke in die Kurt-Eisner-Straße. Zweiter Stock, 180 Quadratmeter, Parkett und Stuck im Originalzustand für 149 Ostmark Miete im Monat. Es gab sogar noch die Klingelleitungen ins frühere Dienstmädchenzimmer. Dennoch waren nicht unbeträchtliche Sanierungsarbeiten notwendig, die uns noch mal gut zwei Jahre auf einer Baustelle wohnen ließen. Aber diese Wohnung war wirklich jede Entbehrung wert.

Unser schöner Südseitenbalkon wurde uns allerdings wenig später wegen Einsturzgefahr von der Wohnungsverwaltung gesperrt. Grund war sein desolater Originalzustand. Als kleines Trostpflaster wurden uns 1,50 Mark Miete erlassen. Wie es sich für ordentliche Oppositionelle gehörte, haben wir den Balkon trotzdem einfach weiter genutzt. Sozusagen illegal, jedoch unter Mißachtung jeder Konspiration, denn er stand jeden Sommer voller blühender Blumen.

Unser Hof war ein kleines Spielparadies. Nicht daß er besonders groß war, aber Platz zum Budenbauen gab es genug, einen großen Sandkasten hatten wir auch. Außerdem standen im Hof zwei riesige Kastanienbäume, die uns im Sommer viel Schatten spendeten. Angrenzend befand sich ein großes Grundstück mit freistehenden Garagen. Entweder spielten wir dort Verstecken oder kletterten auf eines der Dächer und hüpften von Garage zu Garage. Kam einer der Besitzer, legten wir uns flach auf das Dach und hofften, daß wir nicht erwischt wurden. Außerdem gab es da noch die anderen Kinderbanden aus den Nachbarhöfen, gegen die wir unser Revier verteidigen mußten.

War das Wetter beschissen, spielte ich in meinem Zimmer. Die kleinen Playmobil-Kataloge hatten eine Menge Begehrlichkeiten in mir geweckt, die unsere familiären Westkontakte jedoch nur zum Teil abdecken konnten. Darum hatte ich mir mit der Zeit ein großes Lager an kleineren Pappkartons und Schachteln angelegt, aus denen ich dann für meine Playmobil-Figuren Ritterburgen und Raumschiffe bastelte. Mein größter Kinderwunsch war das Playmobil-Piratenschiff. Stundenlang schaute ich mir die winzigen Bilder meines zigarettenschachtelgroßen Kataloges an und träumte mich an Bord. Aber meiner Westoma war das Schiff zu teuer. Trotzdem wollten einige verwegene Playmobil-Piraten auf Kaperfahrt gehen. Aus einem alten Schuhkarton entstand schließlich in meiner Kinderzimmerwerft ein Segelschiff. Für die Strickleitern zerschnitt ich ein altes Einkaufsnetz. Optisch konnte es natürlich mit dem Original nicht annähernd mithalten, dafür hat es sich bei unzähligen Seeschlachten auf meinem Teppichboden tapfer geschlagen – und ist dann irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen Bett, Schrank und Schreibtisch untergegangen.

Leipzig zur Messe

Über weite Strecken des Jahres war Leipzig eine Stadt wie jede andere Stadt in der DDR. Doch Leipzig wäre nicht Leipzig, wenn es nicht die Messe gegeben hätte. Zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, wurde die Stadt für jeweils eine Woche zur internationalen Messe-Metropole, und Heerscharen von Handelsvertretern und Managern strömten vor allem aus dem Westen in unsere Stadt. Das war schon seit Jahrhunderten so, und auch die Tatsache, daß in Leipzig nun der Sozialismus täglich siegte, hatte daran nichts geändert.

Bereits Wochen vor der Frühjahrs- und Herbstmesse begann ein emsiges Treiben, um die größten Schandflecken der Stadt zu kaschieren. Da wurden zum Beispiel an den Hauptverkehrsstraßen die Erdgeschoßzonen einiger Häuser frisch gestrichen, damit die Westbesucher aus den Autos heraus einen nicht ganz so trostlosen Ausblick hatten. Ab dem ersten Stock ging hingegen, von den Besuchern weitgehend unbemerkt, der Verfall weiter. Besonders die Häuser an der »Protokoll-Strecke« – der Straße, auf der DDR-Chef Honecker mit seinem Westauto zur Eröffnung der Messe in die Stadt einfuhr – waren hübsch angemalt. Der alte Mann sollte in dem Glauben gelassen werden, daß der Sozialismus planmäßig aufgebaut werde und nicht schon längst wieder zerfiel.

Auch mußten noch schnell die schlimmsten Schlaglöcher geflickt werden, denn die eleganten Westschlitten waren für solche Buckelpisten nicht konzipiert. Der Fluß Pleiße, der durch das Leipziger Zentrum fließt, war bereits in den 50er Jahren eingemauert worden, weil die Abwässer der chemischen Industrie vor den Toren der Stadt das Wasser in eine stinkende Brühe verwandelt hatten.

In den Restaurants wurden für die Zeit der Messe die Speisekarten gewechselt. »Messepreise« wurden festgelegt – alles wurde teurer, denn auch im Sozialismus wollte man mal was verdienen. Die Regale in den Geschäften wurden aufgefüllt, damit es nicht ganz so nach rumänischen Verhältnissen aussah. Mit etwas Glück kam man in dieser Zeit an Sachen ran, die es sonst das restliche Jahr nicht zu kaufen gab.

Auch die Leipzigerinnen und Leipziger selbst bereiteten sich voller Vorfreude auf die Messe und ihre Besucher vor. Außer im Hotel übernachteten viele Geschäftsleute von drüben in Privatquartieren. Die Wohnungen wurden auf Hochglanz poliert und teilweise komplett umgeräumt, die Familie rückte in der Abstellkammer zusammen, und in den restlichen Zimmern wohnten nun die Mitarbeiter der großen und kleinen Westfirmen. Tagelang beanspruchten die Gastgeber ihrerseits alle Geschäftsbeziehungen, um ordentliche Wurst, gutes Export-Bier und andere feine Lebensmittel im Kühlschrank zu haben, denn die Messegäste sollten sich ja wie zu Hause fühlen. Dafür brachten sie dann Geschenke mit, und natürlich bezahlten sie auch ihr Quartier nicht selten mit D-Mark. Neben dem persönlichen wirtschaftlichen Vorteil entstanden auch echte Freundschaften und nicht wenige Lust- und Liebesbeziehungen – Ost und West vereint für einige Tage.

Immer samstags rollten sie ein. Mercedes, Audi und VW parkten dann zwischen den Trabants und Wartburgs. Ein Porsche konnte in der Innenstadt schon mal einen mittleren Menschenauflauf verursachen, sehr zur Freude des Besitzers, denn drüben konnte er damit nur bedingt angeben – hier hingegen grenzenlos. In der Schule waren wir zuvor noch belehrt worden, die Besucher nicht nach Süßigkeiten anzubetteln, sich nicht die Nase an den Westautos plattzudrücken und keine Mercedes-Sterne abzubrechen, weil das keinen guten Eindruck von den Kindern in der DDR machen würde. »Aber Herr Lehrer, das haben wir doch gar nicht nötig – wir haben doch Messegäste!«

Die Messe fand an zwei Orten statt: zum einen auf dem Technischen Messegelände im Südosten der Stadt, zum anderen direkt in der Innenstadt in den Messehäusern, welche zur Jahrhundertwende erbaut worden waren. Den Rest des Jahres standen sie im übrigen leer. Von der Messe hatten alle etwas. Besonders die, die dort arbeiteten. Selbst Klofrauen bekamen von freundlichen Geschäftsleuten mal eine Tafel Schokolade oder Kölnisch Wasser in die Hand gedrückt. Auch der Fahrstuhlführer (so was gab es damals noch) wurde mit einer Stange Westzigaretten und Dosenbier versorgt. Überall herrschte Weihnachtsstimmung. Sankt Martin in allen Gängen. Weil die Westfirmen Unmengen von Nahrungs- und Genußmitteln mitbrachten, hatten es einheimische Standhilfen besonders gut, denn sie saßen an der Quelle. Was übrigblieb und nicht an die Ostgeliebten der Westfirmenmitarbeiter verschenkt wurde, trugen sie nach Hause. Ich weiß das, weil meine Mutter auch als Standhilfe arbeitete und es anschließend bei uns zu Hause einige Tage lang Westsaft und Schweppes-Limonade zu trinken gab. Das fand ich unheimlich fetzig. Trotzdem habe ich das Fruchtfleisch aus dem Granini-Orangensaft mit einem Sieb herausgefiltert. Was hatte das denn im Saft zu suchen?

Messeonkel

Auch wir beherbergten zweimal im Jahr einen Freund der Familie als Messegast. Dieser arbeitete für eine Hannoversche Chemiefirma. Meine Eltern hatten ihn nach meiner Geburt gleich zu meinem Patenonkel ernannt. Er war immer gutgelaunt, von kräftiger Statur, hatte einen dunklen Anzug an, roch angenehm nach »TABAC Original«, fuhr einen dunkelblauen Audi 80 und sprach einen ganz anderen Dialekt als die Leute hier in Leipzig. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Dialekt, schließlich kam er ja aus Hannover. Aber er hatte so etwas Taffes in der Sprache und im Gestus wie alle anderen Wessis auch (damals sagte man noch »Bundis«). Das fand ich toll. Das erinnerte an Westfernsehen. Kein Wunder, denn er kam aus dem Westen.

Mit der Zeit merkte ich, daß sich in seinen schicken Samsonite-Hartschalenkoffern eine Menge Sachen für uns befanden, besonders für mich, ich war immerhin das Kind, sein Patenkind. Er sammelte vor jedem Leipzig-Besuch bei seinen Familienvater-Kollegen nicht mehr gebrauchte Machtbox-Autos und Playmobil-Figuren, Comics und Klamotten ein, und die warteten dann in seinem Gepäck auf mich. Und ich wartete auch. Ungeduldig. Darauf, daß endlich ausgepackt wird, wie zu Weihnachten. Besondere Qualen mußte ich erleiden, wenn er vormittags anreiste, nur kurz das Gepäck abstellte, gleich auf die Messe eilte und ich bis zum Abend nur um die Koffer schleichen konnte. Manchmal drückte er mir noch schnell ein Asterix-Heft mit der Bemerkung in die Hand, daß es abends noch was gäbe. Argh, was für endlose Stunden, bis ENDLICH Onkel Friedel mit meinen Eltern in der Küche saß, das Abendbrot ENDLICH vorbei war und ENDLICH die Koffer geöffnet wurden. Ganz unschuldig saß ich in meinem Zimmer und lauschte angespannt, wie er mit seinen Tüten im Nachbarzimmer raschelte. Westcomics und Westspielsachen, Westklamotten und Westsüßigkeiten – alles viel bunter und toller, als ich es von hier kannte. Heute mag das albern klingen, aber als Kind habe ich das so gesehen. Und die Erwachsenen sahen das, glaube ich, genauso.

Einmal hatten die DDR-Zöllner unseren Messegast ausgiebig an der Grenze gefilzt und ein gutes Dutzend Micky-Maus-Hefte sowie ein Spiegel-Magazin für meine Eltern beschlagnahmt. Die Einfuhr westlicher Druckerzeugnisse war generell verboten, denn die DDR-Führung hatte die nicht unbegründete Angst, daß wir dadurch alle versaut werden würden. Da er die Hefte nicht auf seinem Einfuhrzettel angegeben hatte, unterstellten sie ihm Schmuggel und verdonnerten ihn zu 200 DM Strafe. Glücklicherweise konnte er unsere Familie als Adressaten dieser schönen, aber verbotenen Hefte raushalten. Könnt Ihr Euch vorstellen, was das für ein DDR-Kind bedeutete: Mitanzuhören, wie der Messe- und Patenonkel erzählt, daß er 17 Micky-Maus-Hefte mitbringen wollte, die nun auf dem Schreibtisch irgendeines Stasi-Schergen vergammelten? Das einzige, was sie ihm nicht abgenommen hatten, war ein Playboy-Magazin, welches er in seiner Mantelinnentasche versteckt hatte. Aber was interessierten mich damals die nackigen Frauen im Playboy?! Ich wollte Donald-Duck-Geschichten lesen. Das waren und sind meine Hefte! Wenn irgend jemand in der Birthler-Behörde in einer Stasikiste einen Stapel Micky-Maus-Hefte findet, dann bitte bei mir melden. Das sind garantiert meine, ich bin immer noch interessiert.

Einschulung in die DDR

Meinen ersten richtigen Kontakt mit der DDR hatte ich eigentlich erst mit meiner Einschulung im September 1978. Ich wurde sozusagen in die DDR eingeschult. Arthur Hoffmann, nach dem unsere Schule benannt wurde, war ein früherer kommunistischer Stadtverordneter gewesen, der während der Nazizeit aktiv im Leipziger Widerstand gearbeitet hatte und dafür Anfang 1945 hingerichtet worden war. (Nach 1990 benannte man die Schule in »3. Grundschule« um, weil Arthur Hoffmann als Kommunist ja kein Demokrat gewesen sei. Die Stadt besann sich außerdem ihres rechtskonservativen Oberbürgermeisters Carl Goerdeler, der auch im Widerstand tätig gewesen war, und setzte ihm am Neuen Rathaus ein Denkmal. So ganz unter uns: Goerdeler war auch nicht mehr Demokrat als Arthur Hoffmann gewesen.)

Bei der Einschulungsfeier im Mehrzweckgebäude unserer 70er-Jahre-DDR-Neubaukasteneinheitsschule war ich übrigens der einzige ohne Ranzen. Ich kann mich daran noch so gut erinnern, weil mich natürlich viele fragten, wo denn mein Ranzen sei. Ich war jedoch ohne Sorge, denn ich wußte, daß er am Nachmittag im Auto von Onkel Friedel angeliefert werden würde, zusammen mit dem Geha-Füller extra für Linkshänder und der Doppelstockfedermappe. Westranzen gab es nicht viele an unserer Schule, und damals war es auch nicht wirklich wichtig, woher nun der Ranzen kam. Aber meiner sah natürlich irgendwie fetziger aus als die DDR-Modelle. Leider hatte er einen entscheidenden Nachteil: Im Gegensatz zu den robusten DDR-Ranzen war er nicht wasserdicht. Pech bei starkem Regen. Machte nichts, dafür war er aus dem Westen. Echt West! Trotzdem hat er irgendwie nicht sehr lange gehalten, und ich mußte einige Jahre später schließlich doch noch einen DDR-Ranzen aus stabilem Leder tragen. Da ging maximal eine Naht auf, und die konnte man einfach wieder zunähen. Bis zum beliebten Aktenkoffer als Jugendweihegeschenk (ich bekam natürlich einen von drüben) war es noch ein endlos langer Weg.