Petra K. Gungl
Diabolische List
Roman
Personen, Handlung und Unternehmen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen,
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © stevart – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-4422-7
Für Johannes
Zu einer Zeit, als alles noch EINS war und es Zeit nicht gab, wollte EINS sich selbst erfahren. So entstand ZWEI – das Helle und das Dunkle, das Weibliche und das Männliche, Gut und Böse, Vergangenheit und Zukunft; so entstanden das Leben, der Tod, die DREI und die zehntausend Dinge, alle aus EINS.
Die Trennung ließ sie die EINSHEIT vergessen. Fühlende Wesen wurden individuell und einsam, sie urteilten und richteten einander, trennten, was zusammengehörte. Die Zeit floss dahin, weg von der Quelle des Seins. Doch ein Sehnen erwachte in manch einer Seele. Erinnerungen tauchten auf. Gaben dem Sehnen einen Namen. Tao. Nirwana. Gott.
Nur wenige fanden den Weg zurück, und manche der fühlenden Wesen konnten anderen den Weg andeuten, wenngleich er nur aus eigenem Erleben zu finden war. Allzu oft wurden die Andeutungen missbräuchlich verwendet und viele Suchende gingen in die Irre. Doch das Bedürfnis nach dem Ursprung konnte ihnen nicht genommen werden und im Laufe von Äonen wurde die Welle erkennender Seelen breiter.
Ein neues Zeitalter beginnt.
Die Seelen erwachen aus dem Traum der Trennung und kehren heim, selbst wenn sie bis zum Ende aller Tage auf der Suche sind, getrieben von der großen Sehnsucht nach sich selbst.
Sie werden erkennen, dass es nichts zu suchen und nichts zu finden gibt, dass kein Weg zur EINSHEIT führt.
Die EINSHEIT war immer schon da.
Bereit für dich.
Ulrich Wach saß an seinem Schreibtisch, den Kopf auf die eine Hand gestützt, die andere kritzelte Stichworte auf ein Blatt Papier. Es waren lediglich Anhaltspunkte für seinen großen Auftritt vor der Geschäftsführung … morgen schon.
Gründlich aufräumen, Köpfe rollen lassen, dann herrscht wieder Ordnung.
Ein letztes Mal ging er die Punkte durch, schließlich schob er die Notizen in einen Ordner und stellte diesen zurück ins Regal. Sein Blick blieb starr auf den Rücken des Ordners gerichtet. Das würde einen mächtigen Aufruhr verursachen. Die Geschäftsführung musste darauf reagieren. Und wenn nicht, gab es Freunde bei der Presse. Die Journaille würde den Brocken dankbar fressen, die Firma zerfleischen.
Ist es das wert?
Ein Seufzer löste sich aus seiner Brust. BabyStar war sein Zuhause. Das einzige, das er kannte. Sein Zuhause musste man sauber halten. Und er hatte es im Guten versucht, unter vier Augen sozusagen. Das Resultat war erbärmlich gewesen. Ignoranz und Arroganz waren ihm entgegengeschlagen.
Den Forschern von heute fehlt jede Demut vor dem Leben.
Solang er der Leiter des Bereichs Künstliche Befruchtung war, musste er diesen Respekt einfordern. Es stand ihm nicht nur zu, es war seine moralische Pflicht. Sein Ruf in der Fachwelt war ausgezeichnet, er genoss mit seinen 55 Jahren höchstes Ansehen. Wach griff sich ans Herz. Die ganze Affäre in seinem Bereich regte ihn über Gebühr auf und er mahnte sich zur Besonnenheit. Ein schwaches Herz musste gepflegt werden. Höchste Zeit, Ordnung zu schaffen, frei für die eigentlichen Aufgaben zu werden.
Seine Finger strichen über die Stirnglatze. Tief durchatmen.
Zufrieden klopfte er sich auf den Bauch, der seit seinem Herzanfall gut zehn Kilo flacher geworden war. Heute war sein Körper wieder in Form. Wohl hatte das jahrelange Rauchen Spuren hinterlassen, jedoch besaß Ulrich Wach trotz allem eine starke Konstitution.
Sein Leben war der Medizin geweiht; keine Frau, schon gar nicht Kinder hätten ihm das geben können, was er in der Welt der Zellen und der Biochemie gefunden hatte. Zumindest hatte er sich das niemals vorstellen können. Seine überambitionierten Kolleginnen reichten ihm vollauf. Wach schmunzelte über sich selbst. Kolleginnen nannte er diese Karriereweiber schon. Für Wäsche und Wohnung sorgte eine gut bezahlte Haushaltshilfe, die gegebenenfalls Besorgungen erledigte und sich jeglicher Kommentare zu seiner Person enthielt. Hin und wieder gönnte er sich ein erotisches Abenteuer mit klaren finanziellen Abmachungen. Das nannte er ein gelungenes, gut strukturiertes Leben. Und auch diese verbrecherischen Umtriebe in seiner Firma würden bald Vergangenheit sein.
Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es wieder spät geworden war, ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Am Gang waren keine Mitarbeiter mehr zu hören. Wieder mal der Letzte, der die Forschungslabors verließ. Ein weiterer Tag an Mikroskop und Computerbildschirm vorüber. Jetzt noch Herz-Kreislauf-Training – ein flotter Marsch nach Hause. Der Belastung durch Kälte vorbeugend, ein Sprühstoß Nitro unter die Zunge.
Eben hatte Wach das Fläschchen zurück in den Medizinschrank gestellt und seine Daunenjacke übergezogen, als ihn ein eigenartiges Gefühl beschlich. Eine kalte Leere im Kopf und schwirrende, graue Schleier vor den Augen ließen ihn nach der Sessellehne greifen. Der Arzt in ihm beobachtete erstaunt die Symptome, zu denen nun auch ein stark erhöhter Puls kam. Massive Erweiterung der Blutgefäße. Herzflimmern?
Sein Zustand verschlechterte sich mit jeder Sekunde und der Arzt in ihm wurde von einem hilflosen Menschen abgelöst, der Todesangst litt. Kalter Schweiß stand auf Wachs Stirn. Schon überkam ihn die Schwärze einer drohenden Ohnmacht. Stöhnend ließ er sich in den Sessel fallen, zwang sich dazu, durchzuatmen. Was war bloß mit ihm los? Er vertrug das Nitro immer tadellos …, wieso sackte der Kreislauf derart in den Keller? Unerklärlich. Enge in der Brust, keine Luft …
Mein Herz … das Fenster … kalte Luft …
Er konnte nicht aufstehen … Was geschah mit ihm?
In seinem Kopf überschlugen sich Theorien – da gab es eine Kontraindikation mit Nitro, die genau diese Wirkung haben würde. Unmöglich – er war Arzt und vermied jedes Risiko. Die blaue Tablette hatte er vorgestern Abend geschluckt. Ein ausreichender Abstand. Wach verstand die Welt nicht mehr, begriff bloß, dass keine Zeit mehr blieb. Im schalen Tunnel der drohenden Besinnungslosigkeit gefangen, tasteten seine Finger nach dem Kugelschreiber, der ordnungsgemäß am Rand der Tischplatte lag. Der Stift war gewichtslos, die Finger gefühllos. War er tatsächlich zwischen den Fingerkuppen eingeklemmt? Sein Blick verschwamm. Eine blassblaue Spur zeichnete sich auf dem Papier der Schreibtischunterlage ab. Der letzte Buchstabe des einzigen Wortes, das hingehaucht dastand, war eine Linie in den Abgrund.
*
Am nächsten Morgen lief eine Putzfrau schreiend den Gang im ersten Stockwerk des BabyStar-Gebäudes entlang. Der Schwall türkischsprachiger Schreckensbezeugungen wurde sogleich von ihren Kolleginnen mit ebenso aufgeregten Worten übernommen. Gemeinsam stürzten die Frauen in das Zimmer des ärztlichen Bereichsleiters und drängten mit ängstlicher Neugierde an den Schreibtisch.
Dr. Ulrich Wach lag ausgestreckt am Boden, der Chefsessel an die Wand gedrängt. Die Augen stierten zur Decke, der Körper war längst erkaltet. Ein Kugelschreiber lag neben seiner Hand.
»Du kannst nicht so einfach gehen … Nach all den Jahren bist du mir eine Chance schuldig! Komm sofort zurück – AGNES! AGNES!« Die Männerstimme überschlug sich. Seine Schreie bohrten sich in den Rücken der Frau vor ihm, peitschten sie voran. Sie fürchtete diesen Mann, den sie vier Jahre zu lieben versucht hatte und nun endlich verließ. Er war einige Meter hinter ihr, doch sie fühlte seine physische Präsenz, als hätte er sie bereits gepackt. Sein Gesicht war unrasiert und die grauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Der Bürstenhaarschnitt gab ihm das Aussehen eines amerikanischen Soldaten, groß, hart und unerbittlich. Trotz des Windes, der Schneekristalle wie Glassplitter vor sich hertrieb, hatte Norman keine Jacke übergezogen, war nur in die schweren Doc Martens gestiegen und stapfte wütend den Gartenweg hinter Agnes her. Der Eiswind zerrte an seinem Flanellhemd und ließ seinen Unmut über diese Situation noch mehr anschwellen.
Agnes hatte Norman als hilfsbereiten Menschen kennengelernt, trotz seiner kalten Augen. Die andere Seite seines Wesens. Ein Jahr des Zusammenlebens war genug der Ahnung darüber.
Ein erfolgreicher Kriminalinspektor, das war Norman. Kamen Kollegen zu Besuch, scherzten sie gern, dass dies wohl an seinen Verhörmethoden liegen müsse. Norman lächelte stets über solche Aussagen, als wären sie Komplimente. Agnes kannte die Tricks, wie man, ohne blaue Flecke oder Wunden zu hinterlassen, Täter geständig machen konnte. Ob Norman das tat? Zu nassen Handtüchern oder Plastiksäcken griff? Hatte er niemals zugegeben.
Immer auf der Hut sein, Kleines.
Norman liebte es, Verdächtige auf frischer Tat zu betreten, wie er es nannte. Agnes wusste das. Blutspritzer aus Diensthemden zu entfernen, war nicht einfach. Fragen stellen, war nicht gesund. Eine besondere Behandlung ließ er Kinderschändern zukommen, denn eine Gefängnisstrafe war nach seinem Gerechtigkeitssinn für die zu wenig. In seinen Augen glänzte Befriedigung, wenn er davon sprach.
Spezialbehandlung für Schweine.
Und sie hasste sich für die Genugtuung, die sie bei dem Gedanken empfand, dass solche Ungeheuer wenigstens einmal die Gewalt zu spüren bekamen, die sie wehrlosen Kindern antaten, selbst wenn die Männer daraus nichts lernen würden und die Prügel nichts an deren Neigung änderten. Sie, eine Juristin, dem Gesetz verpflichtet, war um nichts besser.
Normans Gewalttätigkeit war stets latent spürbar gewesen. »Wenn dich ein anderer Kerl angreift, hack ich ihm die Hände ab!«, war eine Standardfloskel. Aggressionshaushalt: explosiv. Geriet Norman in Wut, flogen schon mal Gläser gegen die Wand oder er packte Agnes so fest an den Armen, dass seine Fingerabdrücke noch Stunden zu sehen waren. Dann verschwand er in den Dienst und brachte am nächsten Morgen Blumen.
Ausgebrannt durch unzählige Nachtdienste, Überstunden und eine fanatische Hingabe zum Beruf, wurde das Zusammenleben immer mehr zur Qual. In Normans Vorstellung gab es bloß noch Verbrecher oder potenzielle Verbrecher. Aus Angst vor Racheakten lagerte eine beachtliche Waffensammlung im Wohnzimmerschrank und Agnes war unter Normans Anleitung eine geübte Pistolenschützin geworden. Im Ernstfall sollte sie sich mit ihm gemeinsam verteidigen können.
Vor zwei Wochen hatte sie entdeckt, dass Norman Antidepressiva einnahm, die letzte Möglichkeit, sein Burn-out-Syndrom zu unterdrücken. Tatsächlich war er verträglicher als sonst gewesen – ihre Chance, den Absprung zu wagen. Wer konnte wissen, wie lang dieser Frieden anhielt? Bislang hatte Agnes das Risiko gescheut. Norman war vom Brüllen bis zum Zuschlagen alles zuzutrauen. Schusswaffen und Munition waren in ausreichender Menge im Haus gelagert, um ein Dorf auszuradieren. Gewiss, eine Kugel genügte, er würde treffen. Todsicher. Trotzdem wollte sie diesem Irrsinn entfliehen. Der Plan war, so zu tun, als wollte sie eine Beziehungspause einlegen, um dann nach einer angemessenen Abkühlphase endgültig Schluss zu machen. Zeit gewinnen.
Er hatte sie nun beinahe eingeholt. Angst kroch an ihr Herz. Eine Windböe wehte ihr das Haar vors Gesicht, doch sie strich die dunklen Strähnen nicht zurück, als wäre jede Geste, die der Flucht nicht dienlich war, Zeitverschwendung. Eilig öffnete sie das schmiedeeiserne Gartentor und trat hinaus auf die Straße. Glitt fast am Eis aus. Keine Fußgänger zu sehen, nicht einmal die Hunde der Gartensiedlung stimmten ihr übliches Kläffkonzert an. Dreckige Schneehaufen lagen am Fahrbahnrand, dazwischen eingekeilt standen Autos, von einer Schneedecke verhüllt. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Wagen.
»Wohin fährst du jetzt? Zu deinem Vater?«, rief er ihr zu. Viel zu nahe. »Bleib stehen, wir müssen reden!« Seine Stimme vibrierte aggressiv. Sie wagte nicht, sich umzuwenden. Zum Auto. Schnell. Nicht reden. Reden? Trotz der Angst hätte Agnes am liebsten lauthals über Normans Worte gelacht – reden wollte er mit ihr. Noch eine Chance wollte er haben. Seit Monaten, ach was, seit Jahren versuchte sie, mit ihm zu reden, ihm klarzumachen, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hatte sein Junggesellenleben weiterlaufen lassen. Seine Zeit gehörte dem Beruf und die spärliche Freizeit der Couch vor dem Fernseher. Da gab es keine Kompromisse. Die wenigen Freunde waren allesamt Kollegen. Agnes’ Freunde mochte Norman nicht, an jedem fand er einen Makel, ein kriminelles Geheimnis, und sei es nur Ehebruch. Allein war sie zu Geburtstagsfeiern, Silvesterpartys und Einladungen gegangen, hatte die Nachfragen zu seinem Verbleib mit Ausreden quittiert und die mitleidigen Blicke ignoriert. Warum war sie bei ihm geblieben?
Ich hatte viel zu tun. Eine Ausrede? Das Studium war hart gewesen, auf das Tanzen und Malen musste sie dank Normans Arbeitswut nicht verzichten. Und zugegeben – sein Leben klang aufregend gefährlich, ein Held im Kampf gegen das Böse – war da ihr Verzicht auf gemeinsame Zeit nicht ein verdienstvoller Beitrag?
Kindskopf.
Die große Veränderung kam mit dem Zusammenleben. Die Hausarbeit blieb gänzlich an ihr hängen. Ihre Arbeit war zweitrangig – nein, weniger als das. Juristen waren das Letzte für Norman: Polizeijuristen nach seiner Ansicht völlig überfordert, Anwälte allesamt Huren und Richter ließen mühsam eingefangene Verbrecher wieder laufen. Mit ihrem akademischen Titel kam er definitiv nicht klar.
Eine tiefe Sprachlosigkeit hatte sich zwischen ihnen entwickelt, die Agnes einsam und bitter werden ließ. »In anderen Beziehungen läuft es genauso«, reagierte Norman auf die immer seltener werdenden Rettungsversuche von Agnes. Ein ständiger Konkurrenz- und Machtkampf, der alle Energie aus dem Leib saugte und die Partner hohl und leer zurückließ.
Warum war sie bei ihm geblieben?
Der Wind fauchte Agnes an, holte sie aus der Erinnerung. Ihn einmal richtig anbrüllen. Ohne Angst vor den Konsequenzen. Aber das ging nicht, nicht jetzt. Kühlen Kopf bewahren … freundlich sein … weitergehen … ein paar Meter noch. Um eine feste Stimme bemüht, suchte sie nach den richtigen Worten.
»Ruf mich bei Paps an, okay? Die nächsten Wochen muss ich allein sein. Abstand und Ruhe, ich hab’s dir erklärt.« Sie sah sich nicht um, ging immer weiter. Hob die Hand zum Abschied, öffnete die Wagentür, warf die Reisetasche und ihren Rucksack auf den Beifahrersitz. Im Einsteigen klopfte sie Schnee von den Stiefeln, schlug die Tür zu und stieß den Riegel hinein. Schlüssel ins Zündschloss; die Lenkradsperre klemmte, gab nicht nach, wie sehr sie auch am Lenkrad riss. Dann, endlich, freie Räder. Den Zündschlüssel im Schloss drehend, betete sie um das Wunder, dass der Motor dieses eine Mal sofort anspringen würde. Natürlich nicht – keine Wunder auf Bestellung. Der Starter heulte wie immer gequält vor sich hin.
»Spring an, komm schon … ich schwöre, eine neue Batterie zu kaufen … bitte … bevor er mich aus dem Auto zerrt … wo ist er?«, gehetzt blickte sie in den Rückspiegel, pumpte das Gaspedal. »Knarre holen?«
»AGNES!«
Sie zuckte zusammen. Er stand direkt neben ihr, zog am Türgriff. Gedämpft drang sein Schreien ins Wageninnere. Schon schlug er mit der Faust gegen die Scheibe.
»Mach sofort auf! Was soll das? Aufmachen!« Fäuste hagelten gegen die Seitenscheibe und sein Brüllen betäubte ihre Sinne. Das Glas ächzte unter dem Tritt des Stiefels.
Weg hier.
Der Motor jaulte. Der bringt mich um, schoss es ihr durch den Kopf, als das Seitenfenster unter einem weiteren Fußtritt knackte. Im nächsten Moment kam das erlösende Geräusch aus der Motorhaube und sie rammte den Retourgang hinein. Gleich den Ersten. Über eine Schneewechte mit durchdrehenden Reifen. Sie fetzten Schnee gegen Norman, sodass er zur Seite wich. Im Rückspiegel wurde Norman kleiner, stand unbewegt auf der Straße, ungläubig, dass sie tatsächlich gegangen war.
*
Agnes Feder stand zwischen Koffern, Reisetaschen und Papiertüten, die den gesamten Boden des kleinen Vorzimmers bedeckten. Drei Türen führten von hier zu den Zimmern des Hauses und am Ende des Ganges befand sich eine schmale, steile Treppe. Wie eine Fremde sah sich Agnes um. Alle Kraft hatte sie verlassen, Mut und Kampfgeist waren erloschen, die Arme hingen müde herunter und wollten die Last nicht mehr tragen. Achtlos glitt der Rucksack aus ihrer Hand zu Boden. Im Spiegel der Garderobe betrachtete sie die erschöpfte Frau, die ihr entgegenblickte.
Und jetzt?, fragte sie sich. Da war noch ein anderes Frauenbild.
Großmutter.
Das Porträt hing an der Wand hinter ihr. Eng geschnürt, gekleidet in der Mode der Jahrhundertwende, ruhte Großmutters strenger Blick auf Agnes. Die Haltung ihrer Ahnin brachte Agnes unwillkürlich dazu, die Schultern zurückzuziehen und sich aufzurichten. Großmutters Blick wirkte zufrieden.
»Agnes, da bist du ja endlich!« Eine Frauenstimme ließ Agnes herumwirbeln. »Ich war schon ganz unruhig, weil du so lang weggeblieben bist.«
»Theres.« Hinter Theres eröffnete sich der Blick in die Küche.
»Liebes, komm erst mal herein, hier im Vorzimmer ist es eiskalt. Das ganze Haus ist ausgefroren. Ich habe Tee gemacht. Danach geht es dir gleich wieder besser. Ganz blass bist du.« Theres nahm Agnes in die Arme, drückte sie und zog sie sogleich in die Wohnküche. »Ich hätte dich nicht noch einmal zurückfahren lassen dürfen, war doch klar, dass er um diese Zeit heimkommen würde. Wenn er dir etwas angetan hätte«, plapperte sie aufgeregt vor sich hin, »mein Gott, ich darf gar nicht daran denken.«
Der Tisch war gedeckt, die Teekanne stand auf einem Stövchen und daneben ein Teller mit den letzten Weihnachtskeksen. Zimt-, Nelken- und Holzgeruch lagen in der Luft. Im Bauernherd knisterte ein Feuer, dessen Wärme den Raum erfüllte. Das Knacksen der Holzscheite flüsterte: Du bist daheim. Agnes sank auf den nächsten Sessel und atmete tief durch. Theres ihr gegenüber machte immer noch ein besorgtes Gesicht. Dankbar musterte Agnes das vertraute Antlitz der Freundin, den ordentlich geschnittenen Pagenkopf, die freundlichen Augen.
»Hauptsache, vorbei«, beruhigte sich Theres.
»Ich bin weg von ihm und lebe noch«, bestätigte Agnes und ihre Hand legte sich unwillkürlich über die Kehle. »Irgendwann wäre ich sowieso mit Norman zusammengekracht.«
»Die Geschichte mit der Beziehungspause hat gewirkt?«
»Funktioniert … noch. Er wird mich zurückwollen.«
»Hast Angst?«, fragte Theres leise und Agnes nickte, die Augen starr auf den Boden gerichtet.
»Steckt in jedem Knochen. Wenn er erst mal mitbekommt, dass Schluss ist …« Ein Frösteln durchzitterte sie.
»Denk jetzt nicht daran. Einen Schritt nach dem anderen.«
»Okay.«
»Du hast immer Rücksicht genommen – einmal war er krank, dann wieder gestresst oder sonst durchgedreht. Ich konnte gar nicht verstehen, wie du das aushältst.« Theres schüttelte den Kopf, goss Tee ein, gab einen Löffel Rohrzucker in jede Tasse, fügte Milch hinzu und rührte um.
»Danke.« Agnes nahm die Teetasse aus Theres’ Händen entgegen und sah zu, wie diese es sich mit der anderen Tasse bequem machte. »Du bist ein Schatz, Theres.« Die Freundin winkte ab und nippte am Tee. »Was hätte ich ohne deine Hilfe gemacht?«, versuchte Agnes, ihre Dankbarkeit in Worte zu fassen. »In deinen Lieferwagen haben meine ganzen Sachen gepasst. Wenn ich bloß nicht die Tasche mit den Schuhen vergessen hätte.« Der Gedanke an ihre Flucht ließ die Angst anschwellen.
»Bei dem Stress – da mach dir mal keine Vorwürfe.«
»Er wird nicht aufgeben.« Agnes’ Kehle verengte sich, der Magen ballte sich zu einer Faust. Rasch was anderes denken. »Ist die Heizung im Schlafzimmer an? Sonst erfriere ich heute Nacht.« Atmen. Die Lungen gaben die gestaute Luft frei. Agnes lehnte sich zurück.
»Ja, alles erledigt.« Theres blickte sich in der alten Küche um. »Wirst du zurechtkommen? Ist nicht sehr komfortabel, das Gartenhäuschen. Warum gehst du nicht zu deinem Vater? Du wärst nicht so allein.«
»Kommt nicht infrage.«
Die Lehne im Rücken gab Halt. So wie der Tee, der die Kehle hinabrann.
Tee wärmt nicht nur Hals und Bauch.
Allmählich beruhigte sich ihr Nervensystem. Der Raum war still, nur das Feuer knisterte und von draußen drang das Rufen der Saatkrähen herein. Agnes schloss die Augen für einen Augenblick. Haltung bewahren. Als sie wieder aufblickte, konnte sie fast lächeln.
»Du weißt, wie Paps ist. Er würde innerhalb weniger Tage mein Leben kontrollieren wollen. Werde immer sein kleines Mädchen bleiben. Mit meinen fast 30 Jahren keine erquickliche Aussicht.« Theres lachte auf und Agnes stimmte kurz mit ein. »Am Riederberg habe ich es friedlich. In die Stadt ist es nicht weit, mit einer neuen Batterie wird es meine Karre noch eine Weile schaffen. Und Norman wird mich hier nicht vermuten.«
»Aber das Haus ist …«, Theres rang nach Worten, »…eine Bruchbude«, schloss sie vorsichtig an.
»Okay. Seit Mutters Tod habe ich nichts renoviert. Aber Paps hat dafür gesorgt, dass es von der Substanz her in gutem Zustand bleibt«, verteidigte Agnes ihr neues Zuhause. »Ich habe jetzt genügend Zeit und ein Einkommen. Du wirst sehen, bald ist es hier super gemütlich.«
Theres lächelte ungläubig. »Wie auch immer – du wirst nicht lang allein bleiben. Bald findest du einen netten Mann.« Was gut gemeint war, brachte Agnes in Rage. In ihren Augen glomm aufgestaute Wut.
»Hör mir damit auf! Ich habe diese Spielchen satt. Habe die Typen satt – zuerst einfühlsam, und nach einiger Zeit schleichen sich Bequemlichkeit und Selbstverständlichkeit ein. Das Leben zu zweit soll für einen Mann einfach und reibungslos funktionieren, ohne dass Mann etwas dafür zu tun braucht.«
»Aber so sind …«, versuchte Theres einzuwerfen, wurde aber von Agnes erst gar nicht wahrgenommen.
»Nur nichts investieren – weder Gefühl noch Zeit. Die Wärme, die sie zum Leben benötigen, holen sie sich beim Sex. Jede Frage in Richtung Beziehung ist schon eine Zumutung.«
»… doch nicht alle«, ergänzte Theres leise, blieb aber ungehört.
»Was ist so schlimm daran, sich ab und an in die Arme zu nehmen, einander ein paar liebe Worte zu sagen, nur um dem anderen Freude zu machen? Weißt du, was Norman einmal zu mir gesagt hat? Wenn man seine Frau zu gut behandelt, dann wächst der Baum leicht in den Himmel, und das muss Mann offenbar tunlichst vermeiden. Ist das nicht ein Wahnsinn? Wozu habe ich einen Partner sonst, als mit ihm in den Himmel zu wachsen? Stattdessen kappen sie dir die Wurzeln, bis du letztendlich umfällst. Nein, Theres, da mache ich nicht mehr mit – ich will kein Kräftemessen mehr und ich will nicht aufpassen müssen, wer mehr Macht über den anderen gewinnt. Im Job habe ich genug Stress, den brauche ich nicht noch in meiner Freizeit.« Endlich holte Agnes Luft. Trotzdem sagte Theres nichts. Sie goss Tee nach und rührte den Zucker in der Tasse um. Agnes beobachtete sie dabei. Der Dampf war raus. Hatte sie Theres niedergequatscht? Theres. Freundin seit Kindertagen. Schwester im Herzen. Theres war der Schwarm aller Burschen gewesen – kein Wunder: groß, schlank, blond und von freundlichem Wesen. Theres hatte sich nie viel aus ihren Verehrern gemacht. Sehr früh entschied sie sich für einen der Burschen und war ihm bis zum heutigen Tag eine treue Gefährtin geblieben. Nach der Schule hatten sich Theres’ und Agnes’ Wege getrennt und manchmal sah es so aus, als hätten sie sich auseinandergelebt. Aber das Band zwischen ihnen zerriss nie ganz.
»Hältst du mich jetzt für eine militante Emanze?«
»Quatsch. Du bist frustriert.«
»Na, das ist ja viel besser …«, grinste Agnes.
»Und siehst verdammt müde aus«, lächelte Theres milde. »Soll ich dir noch beim Auspacken helfen, bevor ich heimfahre? Zu zweit geht es schneller und macht mehr Spaß.«
»Okay«, nickte Agnes zustimmend. »Danke … für alles.« Sie stand auf und umarmte Theres, verbarg ihr Gesicht in deren Haar.
»Gern. Wozu sind Freundinnen sonst da?«, tätschelte Theres den Rücken ihrer Freundin. »Lass uns die Taschen gleich in die richtigen Zimmer bringen und ein paar Sachen einräumen.« Sie klang beinahe enthusiastisch.
»Gut«, riss sich Agnes aus der einsetzenden Rührseligkeit. »Ich hole mal die Sachen aus dem Auto.« Damit ging sie ins Vorzimmer, zog Winterjacke und Stiefel über und trat vor die Haustür.
Vor ihr lag der weitläufige, verwilderte Garten mit den alten Buchen, die so dick waren, dass zwei Männer sie nicht umfassen konnten, eine Birkengruppe und der hundertjährige Nussbaum. Heckenrosen wucherten ungezähmt, Flieder, Holler und viele andere Sträucher hatten die Zeit ohne Gärtner zur Entfaltung genutzt. Selbst das Haus war durch üppig rankende Mauerkatze, Schlingknöterich und Goldgeißblatt von der Natur vereinnahmt worden. Die biegsamen Zweige, welche die verwitterten, einstmals weißen Bretter der Veranda bedeckten, wiegten sich bedächtig im Ostwind. Der Weg unter ihren Füßen bestand aus Schieferplatten, führte hinaus, durch das Gartentor in die Außenwelt. Mit wenigen Handgriffen lud Agnes die letzten Taschen aus dem Wagen. Das Rauschen des Waldes ließ sie aufblicken. Der Horizont hob sich leuchtend vom Dunkel der bewaldeten Hügel ab. Es war so einsam hier. Klare Luft drang eisig in Agnes’ Lunge. Reinigend.
Du darfst dieses Land niemals verkaufen. Dies ist unsere Zuflucht. Versprich es mir.
»Ach, Mama!« Agnes seufzte und versuchte vergeblich, gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen.
*
Spätabends saß Agnes mit Füllfeder und Kalenderbuch am Sekretär ihrer Großmutter, der im Schlafzimmer nahe der Fensterbank stand. Eines der wenigen Erbstücke, die nicht verkauft worden waren.
Das war eine Persönlichkeit gewesen, ihre Großmutter. Vor den 30er-Jahren noch eine gute Partie mit ansehnlicher Mitgift, vernichtete die Wirtschaftskrise das gesamte Vermögen der Frau. Aktien waren die falsche Anlageform gewesen, musste ihr nun herzkranker Ehemann eingestehen. Nach und nach wurden Möbel und Schmuckstücke zu Geld gemacht. In den Kriegsjahren baute Großmutter Gemüse an, kochte für den Winter ein, schaffte es, alle Kinder einen Beruf lernen zu lassen. Beinahe wäre sie von den Nazis verhaftet worden, weil sie die Idioten davonjagte, die ihr das Mutterkreuz verleihen wollten. Ein Orden dafür, dass ihre beiden ältesten Söhne in Stalingrad gefallen waren? Nicht für Großmutter. Selbst mit den russischen Soldaten wurde sie fertig, verteidigte ihre Töchter wie eine Löwin.
Das Kerzenlicht des Leuchters, der auf einem Beistelltisch stand, tauchte den Raum in warmes Licht. Ein altmodisches Messingbett wartete frisch bezogen gegenüber. Es würde klamm sein – wenig verlockend. Agnes blickte in den Spiegel, der an der Wand neben ihr hing, und fuhr sich durch das Haar. Ihre dunklen Augen waren ungeschminkt, die Wangen blass und ein wenig schmäler als gewöhnlich. Musik kam aus dem CD-Player, tröstete sie. Holding back the years, raunte Mick Hucknall – die vergangenen Ereignisse vor Augen, erinnerte sie sich mit dem Song an zurückgehaltene Tränen, verlorene Chancen, verschwendete Jahre. Eine Geschichte wie die ihre, nicht besonders, fast unausweichlich.
In ihr Kalenderbuch schrieb sie: Seltsam, trotz aller Aufregung fühle ich mich wie nach einem langen Schlaf, so als hätte ich die letzten Jahre dahingedämmert. Die Trennung fühlt sich gut an, ich bin ein Schiff, das endlich auf richtigem Kurs fährt. Dabei kann ich Norman nicht einmal böse sein für die verschwendeten Jahre. Es war meine Entscheidung, sie zu verschwenden. Alles, was war, wollte einfach sein.
Sie blies die Kerzen aus und legte sich ins Bett. Die Laken waren noch kälter als erwartet. In der Dunkelheit lauschte sie den letzten Akkorden des Liedes, dem leisen Verklingen der Trompete.
Die erste Nacht in einem neuen Leben.