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Bereits von Julian Sedgwick bei Aladin erschienen:
Mysterium. Der schwarze Drache
Mysterium. Der Palast der Erinnerung

Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2015
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden
www.aladin-verlag.de

Originalcopyright Text © Julian Sedgwick, 2014
Originalverlag: Hodder Children’s Books,
a division of Hachette Children’s Books
First published in Great Britain in 2014
Originaltitel: Mysterium. The Wheel of Life and Death
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Karte Vor- und Nachsatz: Christian Schneider
Bildelemente Umschlag: Junge: shutterstock.com/ayakovlevcom
Messer: shutterstock.com/Olga Popova
Brandenburger Tor: shutterstock.com/anayaivanova
Zirkusrahmen: shutterstock.com/Christophe BOISSON
Lektorat: Nina Horn
Layout und Herstellung: Steffen Meier
Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg
Satz aus Janson MT Std, FT Rosecube, Binner Poster MT Std,

E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-8489-6028-6

Für meinen Bruder

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Eins

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Wenn das Herz rast

Danny muss weiter, das weiß er.

Doch er sitzt auf dem Kran fest. Sein müder und betäubter, unter Schock stehender Körper gehorcht ihm nicht mehr. Die unter ihm liegende Stadt wirkt so erstarrt, als wäre sie ein bis zum Anschlag gespanntes Federwerk, das per Knopfdruck zum Leben erweckt werden muss.

Totenstille und Reglosigkeit – Danny klammert sich so panisch an eine Metallstrebe des Auslegers, dass seine Fingerknöchel erbleichen. Das Herz pocht ihm bis zum Hals und die Leere, die unter seinen Füßen klafft, lauert nur darauf, ihn zu verschlingen.

Sogar die Sittiche sind verstummt.

Das unbarmherzige Tempo, das er während der vergangenen Tage vorgelegt hat, scheint seinen Tribut zu fordern – er kann nicht mehr klar denken. Der Vollmond hängt wie versteinert am dunklen Himmel über Barcelona und das rote Warnlicht auf der Spitze des Krans blinkt hypnotisierend. Danny hat das Gefühl, sich in der Schwerelosigkeit zu befinden – wenn er jetzt loslassen würde, dann würde er schweben wie ein Astronaut auf einem Weltraumspaziergang.

»Danny?« Eine panische Stimme dringt in sein Bewusstsein. »Danny! Geh weiter! Sind nur noch ein paar Streben.«

Als er den Kopf hebt, sieht er Sing Sing, die ihm eine Hand entgegenreckt. Die Besorgnis steht ihr in das ovale Gesicht geschrieben, sie scheint ihn flehentlich zu bitten, diese letzte Anstrengung zu unternehmen, um sich in Sicherheit zu bringen. Hinter ihr ragt Darko Blanco auf – der den Blick auf den Abgrund gesenkt hat, die Baumwipfel anstarrt, in die La Loca, die Profikillerin, vor wenigen Minuten gestürzt ist.

»Darko! Hilf mir, verflucht noch eins! Danny steht unter Schock.«

Der Messerwerfer gibt sich einen Ruck. »Ich hole ihn. Keine Sorge.« Nachdem er sich vergewissert hat, dass die Streben des Auslegers genug Halt bieten, pirscht er sich voran.

Hinter ihm taucht eine Gestalt mit schemenhaftem Irokesenkamm auf – Aki hat die Kanzel des Krans erreicht und ruft Danny ermutigende Worte zu. Björn, die im Mondschein aufblitzende Schädelmaske in den Nacken geschoben, folgt ihm auf dem Fuß.

»Alles okay«, stößt Danny hervor. »Mir war nur kurz etwas schwindelig.«

Er wirft wieder einen Blick in die Tiefe, schluckt die aufkommende Panik hinunter und richtet den Blick auf Darko und Sing Sing. Muss mich zusammenreißen, denkt er. Muss mich in Sicherheit bringen. Wäre total bescheuert, wenn ich jetzt abstürze.

Mit einer gewaltigen Willensanstrengung löst er die rechte Hand von der Strebe.

»Gut so, Kleiner«, sagt Darko und wirft einen Blick über die Schulter. »Nur nichts überstürzen.«

Danny nickt. Seine Erstarrung flaut ab und er macht einen Schritt, setzt den Turnschuh auf das Metall. Der Gedanke an die Höhe, in der er sich befindet, erfüllt ihn erneut mit Entsetzen. Während meiner Flucht vor La Loca habe ich gar nicht darüber nachgedacht, denkt er. Lag wohl am Adrenalinrausch.

Aki steht inzwischen neben Darko und beide ermutigen Danny zum Weitergehen. Doch als er den nächsten Schritt machen will, versagt seine Motorik – er rutscht aus, knallt auf den Ausleger, versucht panisch sich festzuhalten. Sein rechter Fuß tritt ins Leere.

»Dannnnyyyyyyy …!«

Sing Sings Schrei durchfährt ihn wie ein Stromschlag und aktiviert seine Reflexe – er sieht gerade noch, dass Darko einen Arm nach ihm ausstreckt. Danny streckt die linke Hand nach vorn – dann packen sie einander mit einem festen Zirkusgriff bei den Unterarmen. Ein Ruck durchfährt Dannys Schultergelenk und er verliert einen Turnschuh, der in die Tiefe stürzt, sich dabei mehrmals überschlägt. Danny schaut ihm nach – für eine Sekunde, die ihm wie eine Minute vorkommt. Sein Herz rast und ihm wird wieder übel. Im nächsten Moment hilft Darko ihm auf die Beine und dann setzt der drahtige, athletische Messerwerfer all seine Kraft ein, um Danny auf einer Plattform dicht bei der Kanzel in Sicherheit zu bringen.

»Hab dich.«

Dannys grün und braun aufblitzende Augen erwidern Darkos Blick.

Der Messerwerfer ist aschfahl. Aki legt einen Arm um Dannys Taille und lehnt sich dann zurück, als ginge es darum, auf dem Trapez einen Flieger zu stabilisieren.

»Ich dachte schon, ich würde abstürzen«, murmelt Danny.

Der Messerwerfer lächelt. »Aber nicht doch! Aki sei Dank.«

»Und dir, Darko«, sagt Sing Sing, die ihre Tränen nur mit Mühe zurückhalten kann, als sie Danny um den Hals fällt.

»Mir geht es gut«, sagt er keuchend. Er lässt den Blick über die Stadt gleiten, die sich ringsumher ausbreitet – und stellt fest, dass sie sich wieder in Bewegung gesetzt hat.

Der Knopf wurde gedrückt – Barcelona ist zum Leben erwacht. Der nächtliche Verkehr zirkuliert wieder, lässt Blut durch die Adern der Stadt strömen, Taxis und Mopeds rasen um die Sagrada. Hoch am Himmel zieht ein Jet einen silbernen Kondensstreifen hinter sich her – und in der Kathedrale ertönt rhythmische Musik. Danach Applaus. Tosender Beifall, Jubel und Pfiffe. Die Vorstellung geht zu Ende.

Danny greift in die hintere Hosentasche. Gott sei Dank – er hat sie nicht verloren! Da knistern sie, die Zettel mit den Codes seines Vaters. Zwei Nachrichten aus dem Jenseits müssen noch entschlüsselt werden. Die Zeit drängt, denkt er. Mit jeder Sekunde, die vergeht, geraten wir gegenüber der Neunundvierzig weiter ins Hintertreffen. Wir müssen die Initiative ergreifen.

»Gut«, sagt er. »Lasst uns runtersteigen.«

Hinten im Buch gibt es ein Glossar, das Fachbegriffe erklärt und Hintergrundinformationen liefert.

Zwei

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Wenn reizbare Zirkusdirektorinnen ausrasten

Eine halbe Stunde später hat sich die gesamte Zirkustruppe in der Manege versammelt. Die Ränge sind inzwischen leer, doch die Zuschauer fragen sich vermutlich noch immer, was sie da gerade erlebt haben. Dannys gelungene Entfesselung hoch über ihren Köpfen hat sie begeistert, aber die Reaktionen der anderen Zirkusleute haben sie verwirrt, dazu der chaotische Abschluss, bei dem Rosa aus dem brennenden Rhönrad sprang und aus der Manege verschwand, ohne den Applaus abzuwarten.

Nun hocken sie in der brütenden Dunkelheit der Kathedrale.

Danny sitzt allein auf einer Transportkiste, hat sich halb abgewandt, weil er Ruhe braucht, um das Schlüsselwort des zweiten Codes richtig einzufügen. Er kritzelt hektisch auf den Zetteln herum. Was mag diese zweite Botschaft verraten? Er braucht auf jeden Fall etwas Zeit, um sich zu sammeln, bevor er die anderen mit seinen Erkenntnissen konfrontieren kann.

Doch die Entschlüsselung fällt ihm schwer. Das von La Loca verabreichte Betäubungsmittel verlangsamt sein Denken, und um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, schaut er in Abständen auf und schüttelt sich. Die Säulen der Sagrada verlieren sich im hohen Raum, und er erinnert sich schaudernd an den Versuch, der engen Zwangsjacke zu entkommen. Tief durchatmen, denkt er.

Die Truppe hat sich um Rosa versammelt, und man diskutiert hitzig über die nächsten Schritte. Alle reden durcheinander. Als Danny sich umdreht, um dem Gespräch zu folgen, erblickt er Sing Sing, die zwischen ihm und der Truppe steht und die Zirkusdirektorin misstrauisch aus dunklen Augen betrachtet.

»Ich sollte mich stellen«, erklärt Darko, dessen osteuropäischer Akzent bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er unter Druck steht, stärker als gewöhnlich ist. »Dann erzähle ich, was passiert ist – und hoffe auf das Beste.«

»Auf gar keinen Fall!«, knurrt Björn. »Diese Verrückte wollte Danny töten. Darko hat ihm das Leben gerettet. Wir müssen die Leiche finden und das Messer verschwinden lassen – und dann so schnell wie möglich abhauen.«

»Außerdem«, sagt Aki mit zustimmendem Nicken, »müssen wir uns nach allem, was Danny und Sing Sing zugestoßen ist, die Frage stellen, ob wir der Polizei vertrauen können.«

Major Zamora, dessen gebrochener Arm fest vor den Bauch geschnürt ist, schüttelt den Kopf. »In Barcelona gibt es viele anständige Polizisten. Natürlich sind auch ein paar schwarze Schafe darunter, aber das heißt nicht, dass man niemandem vertrauen kann …«

»Ich füge mich der Mehrheitsentscheidung«, wirft Darko ein. »Andererseits habe ich wenig Lust, in Untersuchungshaft zu sitzen oder im Knast zu schmoren …«

»Aber man wird die Tote finden«, brummt Zamora, »mit einem Wurfmesser der Firma Dubé im Rücken, das noch dazu von deinen Fingerabdrücken übersät ist …«

»Ruhe!«, blafft Rosa. »Man kann ja sein eigenes Wort kaum verstehen. Wir müssen sowohl die Zirkustruppe als auch die bambini schützen.«

»Bambini? Wen meinst du damit?«, faucht Sing Sing und dreht sich zu Danny um. Sie lächelt kurz, als wolle sie ihn beruhigen, aber ihr Lächeln ist schief. Sie wirkt gehemmt.

Seit wir von dem Kran gestiegen sind, ist Sing Sings Verhalten irgendwie sonderbar, denkt er. Aber das kann warten – zuerst muss ich den Code knacken, der geht vor.

Er senkt den Blick wieder auf den zerknitterten Zettel, denkt intensiv nach. Bei seinen Versuchen, das Schüsselwort einzutragen, kam bislang immer nur Kauderwelsch heraus. Nun knöpft er sich den eigentlichen Code vor, überprüft ihn auf die am häufigsten vorkommenden Zahlen und versucht dann zum wiederholten Mal, die Buchstaben des Wortes MYSTERIUM in die obere Spalte einzutragen. Jeder Buchstabe darf nur einmal vorkommen – das zweite M muss er also auslassen –, danach folgt das restliche Alphabet.

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Er überprüft noch einmal den ersten Abschnitt des Codes. Ja! Jetzt funktioniert es …

GLAUBEJIMMYGLAUBE JIMMY HAT

Er vergisst die diskutierende Truppe und entschlüsselt in aller Eile ein Wort nach dem anderen.

85898 07814 87600 18680 32828 68991 42245 85437 4588383802 86459 76234 58081 45906 82863!

Während die Wörter erscheinen, wächst seine Anspannung. Es gleicht einem Wunder – sein Vater spricht wieder zu ihm, hilft ihm, gibt ihm einen Fingerzeig.

GLAUBEJIMMYHATDIESCHLOESSERGETUERKT

Dann trifft unser Verdacht also zu!

Plötzlich fällt ein Schatten auf den Zettel und Danny verdeckt instinktiv das Geschriebene. Als ihm bewusst wird, dass Sing Sing neben ihm steht, zieht er die Hand weg und zeigt ihr, was er entschlüsselt hat. Wenn ich ihr weiter beweise, dass ich ihr vertraue, denkt er, entschärft das vielleicht die Probleme zwischen uns. Sie fühlt sich bestimmt furchtbar, seit sie weiß, dass sie von unserer Mutter weggegeben wurde …

»Das entspricht genau deinem Verdacht«, flüstert Sing Sing. »Du musst Rosa zur Rede stellen.«

»Warte.«

Danny entschlüsselt die letzten Zahlenkolonnen mit fliegenden Fingern.

DASHERZISTERABERNICHT

Sing Sing liest die vollständige Botschaft und zieht danach die Augenbrauen hoch.

»Er hat schon ein Mal versucht, deinen Vater zu töten. Warum nicht auch ein zweites Mal?«

»Ja. Außerdem weiß ich genau, dass ich Jimmy gesehen habe«, sagt Danny. »In der Nacht des Brandes. Und er hätte ein Motiv gehabt: Rache.«

Er dreht sich wieder zur Zirkusdirektorin um. Sie steht zwischen den Mitgliedern der Truppe und schwenkt die Arme wie eine Polizistin, die ein Verkehrschaos zu regeln versucht.

Sie ist ziemlich sparsam mit der Wahrheit umgegangen, um es freundlich auszudrücken! Höchste Zeit, ihr auf den Zahn zu fühlen. Die Müdigkeit, die seine Beine gelähmt hat, weicht neuer Energie und Entschlossenheit und er marschiert direkt auf Rosa zu. Muss die Sache richtig anpacken, denkt er. Muss energisch wirken und überzeugend klingen. Darf diese Chance nicht verspielen.

Doch sobald er sich in Bewegung setzt, richten sich alle Augen auf ihn.

Jeder bemerkt sofort seinen entschlossenen Blick – und weil die Erinnerung an seine Flucht von dem brennenden Seil noch frisch ist, schauen alle respektvoll zu ihm hoch.

Als Danny spürt, dass er wieder ins Rampenlicht tritt, kommt sein Selbstbewusstsein ins Wanken. Im nächsten Moment verdrängt er das Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen. Die oberste Regel eines jeden Auftritts lautet: Was man nicht empfindet, muss man heucheln. Man muss es so gekonnt vortäuschen, dass man sich selbst überzeugt.

Er tritt vor die Zirkusdirektorin und schwenkt die Zettel direkt vor ihrer Nase, fordert ihre Autorität heraus, reißt die Kontrolle über die Situation an sich. Und als er schließlich spricht, tut er das mit möglichst tiefer Stimme. »Jimmy T hat den Wassertank für die Entfesselungsnummer sabotiert, stimmt’s?«

»Ich …« Rosa klappt den Mund wieder zu und schüttelt den Kopf.

Danny nickt sachte, um sie zu ermutigen, sich zur Wahrheit zu bekennen. »Jimmy war der Täter, und du … hast es gewusst … die ganze … Zeit.«

Die Italienerin will wegschauen, aber Danny hält ihren Blick mit fast magnetischer Kraft.

»Danny, ich …«

»Erzähl mir von Jimmy. Ich weiß, dass er damals in Berlin war. Du hast am Abend des Brandes etwas im Requisitenlaster versteckt, bevor du mich dort gefunden hast. Was war das?«

Die immer tiefere Stille wird nur durch das leise Klackern unterbrochen, mit dem Herzog über die Steinfliesen zu Danny trottet. Die Zirkusdirektorin kneift die Lippen zusammen, als wollte sie ihre Worte zurückhalten. Eine rote Rose steckt noch in ihrem Haar.

Sie zieht die Rose heraus – und im nächsten Moment sacken ihre Schultern nach unten.

»Nun komm schon, Rosa Vega. Raus mit der Sprache«, fordert Zamora.

Danny schaut Rosa unverwandt an. Er kann sehen, wie sie mit sich ringt. Sie kann die Wahrheit nicht mehr verschweigen, vermag ihre Schuldgefühle nicht länger zu unterdrücken – voller Erwartung schlägt Dannys Herz schneller.

»Na gut«, sagt Rosa und senkt ihren Blick auf die zerdrückte Blume in ihren Händen. »Ja. Jimmy hatte sich am Wassertank zu schaffen gemacht …«

Ein entsetztes Stöhnen geht durch die Runde, doch Rosa hebt beide Hände. »Hört zu! Ich bin der festen Überzeugung, dass er deinen Vater nicht ernsthaft gefährden wollte, Danny. Er wollte ihm nur Angst einjagen und ihn öffentlich blamieren. Er war vollkommen durcheinander, weil er so viel für deine Mama empfunden hat!«

Endlich ein Geständnis! Ein wichtiges Puzzleteil des Rätsels findet seinen Platz. Danny versucht seine Aufregung – und seine Wut – zu bändigen. Denn hier ist etwas in Gang gekommen, das er unbedingt ausnutzen muss.

»Warum hast du es so lange für dich behalten?«

»Weil ich glaubte, dass die Leute vorschnell urteilen und falsche Schlüsse ziehen würden! Außerdem habe ich von seinem Plan erst erfahren, als er mir nach der Vorstellung die Maske und die mit Farbe bekleckerte Hose in die Hand drückte. Darum war ich im Requisitenlaster – ich habe nach Paraffin gesucht, um die Sachen verbrennen zu können. Der arme Jimmy …«

»Der arme Jimmy? Ich fasse es nicht«, brummt Zamora. »Er hat das oberste Gebot verletzt! Und er muss auch der Brandstifter gewesen sein!«

»Nein!«, erwidert Rosa kopfschüttelnd. »In der betreffenden Nacht war er schon wieder in New York. Ich habe ihn dort angerufen. Habe ihm eingeschärft, sich vom Mysterium fernzuhalten. Der Brand muss ein Unfall gewesen sein …«

Danny reißt die Hände hoch. »Das war ganz sicher kein Unfall. Angesichts all dessen, was seitdem passiert ist, kann das nicht sein. Und ich habe Jimmy in der Nacht des Brandes mit eigenen Augen gesehen.«

»Das ist unmöglich, bello. Vielleicht haben dir deine Gefühle einen Streich gespielt, no

Darko zieht die Augenbrauen hoch. »Ich finde, dass wir jede Spur verfolgen sollten …«

»Jimmy war damals in New York«, wiederholt Rosa. »Und warum sollte er Danny – oder Zamora oder auch Sing Sing – gefährden? Das ergibt doch keinen Sinn!«

Stille hält wieder Einkehr – tief und bedrückend –, während alle versuchen die Neuigkeit zu verdauen: Jimmy, ein Saboteur. Und Rosa, die Zirkusdirektorin, hat diese Wahrheit wider besseres Wissen verschwiegen! Ist dies das Aus für die Truppe?, denkt Danny entmutigt.

»Ich dränge nur ungern«, sagt Darko, »aber könnten wir zuerst mein Problem lösen? Was sollen wir deiner Meinung nach tun, Danny? Du bist hier offenbar der Einzige, der noch klar denkt.«

Danny lässt seinen Blick über sämtliche Mitglieder der Truppe gleiten. Er spürt, dass sie auf eine Antwort warten – jeder schaut ihn an, scheint zu erwarten, dass er wieder die Führung übernimmt. Habe meine Rolle offenbar gut gespielt, denkt er und schließt die Augen. Ich müsste das Problem mit Hilfe der »Atom-Strategie« sezieren, jedes Detail für sich betrachten, eines nach dem anderen.

Doch er hat schon instinktiv eine Entscheidung getroffen. Er weiß, dass er eine rote Linie überschreitet – die Wahrheit verschleiert und Beweise unterschlägt –, aber Darko hat ihm das Leben gerettet. Er hat es nicht verdient, in einer Zelle zu sitzen, während das Mysterium weiterzieht.

»Wir müssen die Leiche von La Loca finden«, sagt Danny. »Stellt sicher, dass sie …« Die Stimme versagt ihm. Dann fährt er fort: »Wir bergen Darkos Messer. Danach rufen wir die Polizei an und behaupten, sie wäre abgestürzt. Vorausgesetzt, sie wurde nicht schon gefunden. Gut möglich, dass sich das Messer durch den Sturz in die Bäume aus ihrem Rücken gelöst hat.« Er dreht sich wieder zu Rosa um. »Aber danach müsst ihr mir alle bei der Suche nach Jimmy helfen.«

Die Zirkusdirektorin wirkt niedergeschlagen und verunsichert. »Was meinst du, Zamora?«

»Wäre nicht das erste Mal, dass es auf Messers Schneide steht …« Er bläst die Backen auf. »Aber ich sorge für Unterstützung. Ich kenne ein paar Sicherheitsleute.«

»Stimmen wir ab.« Rosa, die versucht ihre Autorität wiederherzustellen, klingt barsch. »Wer ist dafür?«

Alle heben die Hand – außer Darko. »Ich enthalte mich«, murmelt er.

»Gut!« Die Zirkusdirektorin klatscht in die Hände. »Damit ist die Sache entschieden.« Nach kurzem Zögern dreht sie sich zu Danny um.

»Vergib mir, bello. Ich hätte es dir erzählen müssen. Aber ich mochte Jimmy sehr gern …«

»Bitte hilf mir, ihn aufzuspüren. Versprich mir, dass wir ihn suchen.«

»Das verspreche ich. Bei der Ehre meiner Familie«, sagt Rosa, legt die rechte Hand auf ihr Herz und schaut Danny in die Augen. Dann stiefelt sie davon, um die anderen auf Trab zu bringen.

Sing Sing zupft Danny am Ellbogen.

»Warum lässt du sie so leicht davonkommen?«

»Ich brauche Rosas Unterstützung. Die anderen werden ihr sowieso die Hölle heiß machen. Außerdem muss ich mit Ricard Kontakt aufnehmen, um zu erfahren, wie er über die Sache denkt. Ich muss ihm ein paar Fragen zu Jimmy stellen.«

Vielleicht hat Ricard inzwischen neue Informationen, denkt er. Vielleicht weiß er, welche Gefahren uns noch drohen. La Loca war als Profi-Killerin nur am Rande an der Sache beteiligt. Die Neunundvierzig mag hier in Barcelona ihre Leute haben – aber sie treibt ihr Unwesen auch an anderen Orten. Und ihr Chef, das Herz, muss noch enttarnt, gestellt und besiegt werden.

»Und was ist mit dem Haufen da?«, fragt Sing Sing und nickt in Richtung der hinter ihnen stehenden Zirkustruppe. »Sind die alle sauber?«

»Ich denke schon. Javier hat von jemandem gesprochen, der dem Mysterium nahesteht – damit muss er Jimmy gemeint haben.«

Danny legt die Stirn in Falten, denn ihn beschäftigt noch etwas. »Findest du es richtig, dass wir Darkos Messer zurückholen, Sing Sing?«

»Nur Vollidioten glauben, dass alles entweder schwarz oder weiß ist, Danny.«

»Aber …«

»Da gibt es kein Aber.«

Herzog beschnüffelt Dannys Fuß, dem der Turnschuh fehlt, und Sing Sing legt eine Hand auf den struppigen Kopf des Hundes. »In China gibt es ein Sprichwort: In unserem Inneren kämpft ein braver Hund gegen einen bösen Hund, und wenn man möchte, dass der brave Hund gewinnt, dann muss man ihn gut füttern.« Sie wendet sich ab. »Du hast deinem braven Hund viel Futter gegeben. Da kannst du dem bösen Kläffer auch mal einen Knochen hinwerfen …«

Danny wartet ungeduldig auf die Rückkehr des Suchtrupps.

Endlose dreißig Minuten später kehren die Klowns, Maria, Frankie und Darko endlich in die Kathedrale zurück. Sie scheinen es nicht eilig zu haben und wirken ziemlich verblüfft.

»Wir haben uns aufgeteilt und jedes verdammte Fleckchen Erde unter dem Ausleger des Krans abgegrast«, ruft Frankie. »Wir haben auch im weiteren Umkreis gesucht. Maria und Aki sind sogar in die Bäume geklettert, um nachzusehen, ob sie irgendwo in den Ästen hängt …«

»Und?«, fragt Danny ungeduldig.

»Totale Fehlanzeige«, sagt Darko. »Weder Leiche noch Mantel, weder Blut noch Messer. Keine Spur von gar nichts. Aber das hier lag mitten auf einem Weg!« Der fehlende Turnschuh baumelt an einem seiner langen Finger.

»Tja, in diesem Fall«, sagt Rosa mit großer Erleichterung, »gibt es wohl nichts, was wir der Polizei melden müssten.«

»Sie kann den Sturz nicht überlebt haben«, sagt Danny. »Oder etwa doch? Wir müssen sichergehen. Vielleicht wurde sie schon von der Polizei eingesammelt …«

»Halte ich für unwahrscheinlich«, sagt Frankie und kratzt sich am Kahlkopf. »Dann hätte man den Fundort mit Absperrband gesichert. Vielleicht ist sie irgendwo auf dem Dach gelandet, wer weiß.«

Rosa seufzt. »Wir haken sie einfach ab!«

»Wir können doch nicht so tun, als wäre es nie passiert«, beharrt Danny. Nach der Sache mit Jimmy vertraut er Rosas Urteilsvermögen nicht mehr ganz – und es wäre falsch, diesem Problem auszuweichen, anstatt es zu lösen.

Die Zirkusdirektorin reibt ihren Nacken. »Weißt du, bello, ich schlage Folgendes vor: Wir ziehen morgen die Vorführung durch, bauen danach schnell ab und brechen auf. Wenn sich im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden irgendetwas tut, setzen wir uns damit auseinander.«

Darko gibt Danny den Turnschuh. »Rosa hat Recht. Uns bleibt nichts anderes übrig.«

Danny seufzt genervt, dann bückt er sich, um den Schuh anzuziehen. »Und wohin geht es als Nächstes?«

»Nach Berlin«, antwortet Rosa leise.

Danny verschlägt es kurz die Sprache.

»Berlin?«

»Wir treten eine Woche beim Berliner Zirkusfestival auf. Du wirst uns begleiten müssen, damit wir auf dich aufpassen können, bis deine Tante wieder auf freiem Fuß ist.«

Berlin.

Diese Neuigkeit verdrängt vorübergehend alle anderen Gedanken: Tante Lauras missliche Lage, das rätselhafte Verschwinden von La Locas Leiche, Sing Sings trübe Gedanken. Danny meint, einen eisigen Wind im Gesicht zu spüren.

Berlin!

Er bringt die Stadt nur mit einem einzigen Ereignis in Verbindung, und zwar mit dem Tod seiner Eltern. Mit dem alles verschlingenden Feuer. Berlin ist für ihn gleichbedeutend mit Gefahr und totaler Ausweglosigkeit.

Ihm steht also jene Reise bevor, vor der er sich immer gefürchtet hat. Andererseits weiß er seit langem, dass er sie irgendwann machen muss. Ebenjene Reise, an deren Ende er – endlich – am Grab seiner Eltern stehen wird.

Drei

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Wenn nachts unheimliche Stimmen ertönen

Das Wort, das eine Stimme im Takt seines Herzschlags leise, aber unablässig zu wiederholen scheint, hallt noch in seinen Ohren nach, als er später mit Zamora und Sing Sing in Rosas Wohnwagen am Tisch sitzt.

Ber-lin, Ber-lin, Ber-lin.

Die Vorhänge wurden zugezogen, um sie von der Außenwelt abzuschirmen. Danny ist froh darüber, denn so kann er sich besser auf Zamoras Worte konzentrieren.

Der Major reißt eine Packung Tabletten auf. »Wir gehen ab jetzt kein Risiko mehr ein. Ich habe vorhin zwei von Javiers besten Männern gebeten, uns bis zu unserer Abreise zu beschützen. Sie sehen aus wie zwei Schießbudenfiguren – Javier hat sie immer Dideldum und Dideldei genannt –, sind aber gute Typen. Echt harte chicos.« Er schiebt sich zwei Schmerztabletten in den Mund, schneidet eine Grimasse und schluckt sie dann, ohne einen Schluck Wasser zu trinken.

»Können wir ihnen vertrauen?«, fragt Sing Sing und teilt die Vorhänge. Danny blickt über ihre Schulter durch den Spalt in die Dunkelheit. Sie können die massige Gestalt eines der Brüder erkennen, ein Schemen vor der riesigen nächtlichen Kathedrale, der den Lockenkopf hin und her dreht und sich wachsam umschaut.

»Sí, sí. Auf jeden Fall«, antwortet Zamora und wischt Sing Sings Zweifel mit einer Handbewegung vom Tisch. »Ich kenne die beiden Burschen seit ihrer Kindheit. Habe schon ihre Windeln gewechselt …«

»Aber in Javier hast du dich getäuscht«, sagt Danny bissig. Er braucht jedes bisschen Unterstützung, aber ihm wird immer stärker bewusst, dass auf die Erwachsenen, die ihn umgeben, wenig Verlass ist.

Zamoras Augen blitzen auf. Er will etwas erwidern – schließt den Mund aber wieder. Dann legt er Danny seinen gesunden Arm auf die Schulter, drückt sie und schaut dem Jungen in die Augen.

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, Mister Danny. Das weißt du doch. Ich werde ab jetzt die Augen offen halten und dich vor Schaden bewahren – solange mein Herz noch schlägt, lasse ich niemanden an dich heran.«

Danny zwingt sich ein Lächeln ab. Früher hatte er das Gefühl, sich voll und ganz auf Zamora verlassen zu können – auf den berühmten Major Pablo Zamora Lopez, den kleinwüchsigen Muskelmann und Draufgänger, die »Säule der Zirkustruppe« –, aber dieses Vertrauen hat einen gewaltigen Knacks bekommen. Ich zweifele nicht an seiner Treue, denkt Danny, aber an seinem Urteilsvermögen. An seinem Gespür.

»Vielleicht können wir uns vorübergehend zurücklehnen«, sagt Sing Sing. »Diese neunundvierzig Schwachköpfe sind derzeit ziemlich ausgebremst. Bei unserer Abreise waren sie stark angeschlagen …«

»Schlimmer noch«, sagt Zamora durch zusammengebissene Zähne. »Die Jungs haben mir erzählt, dass der Lieferwagen in die Luft geflogen ist. Dabei sind zwei Typen auf der Strecke geblieben.«

Sing Sing pfeift. »Gut für uns.«

Aber Danny ist plötzlich speiübel. Oh mein Gott, das ist unsere Schuld, denkt er. Ich wollte den Lieferwagen doch nur stoppen, um uns die Flucht zu ermöglichen. Wäre es auch so schlimm ausgegangen, wenn ich den Fahrer nicht geblendet oder den Beifahrer nicht mit der Taschenlampe geschlagen hätte?

»Das wollte ich nicht«, flüstert er.

Sing Sing schüttelt ungeduldig den Kopf. »Leute, die mit dem Feuer spielen, verbrennen sich manchmal die Finger – das liegt in der Natur der Sache. Verstehst du?«

Danny sackt auf seinem Platz zusammen. Ja, kann sein, denkt er. Aber ich glaube, wie haben dem bösen Hund zu viel Futter gegeben.

»Morgen Nachmittag habe ich einen Termin im Krankenhaus«, sagt Zamora. »Dann bekomme ich einen richtigen Gipsverband. Bis dahin lasse ich dich nicht aus den Augen, Danny. Wir holen uns Schlafsäcke und pennen im Requisitenlaster. Ich kann nicht bei Lope bleiben – zumal sie inzwischen ihre ganze Familie zu Besuch hat. Du leistest mir Gesellschaft. Und umgekehrt, no

Das war früher immer mein Versteck, denkt Danny. Aber jetzt ist alles anders – und ich will lieber bei Sing Sing bleiben. Um mit ihr über den Fund der Geburtsurkunde und deren Bedeutung für uns beide zu sprechen. Vorausgesetzt, sie sträubt sich nicht dagegen …

Nach dem Rausch der Rettungsaktion auf dem Kran hat sie sich abgeschottet und in ihrer stacheligen Schale verkrochen. Außerdem muss ich mich erst daran gewöhnen, dass sie meine Halbschwester ist, denkt er. Wie soll ich sie jetzt nennen? Sing Sing? Halbschwester? Schwesterherz?

Sie sehen einander nicht besonders ähnlich – so viel steht fest. Auf Grund seiner wilden Mischung aus walisischen, englischen und chinesischen Genen wirkt er unter Europäern wie ein Asiate; unter Asiaten dagegen, etwa in den Straßen Kowloons, ähnelt er eher einem Europäer. Sing Sing ist von ihren glatten schwarzen Haaren bis in die Zehenspitzen durch und durch Chinesin. Ist schon verrückt, aber sie hat eindeutig etwas von ihrer Mutter, zum Beispiel die Augen und den Schwung der Lippen.

»Danny?«, bohrt Zamora nach.

»Ich bleibe bei dir, Sing Sing. Wenn du möchtest …«

»Nein, das ist nicht nötig. Ich rede noch einmal mit Rosa, um sicherzugehen, dass sie uns keine weiteren Informationen über die Nacht des Brandes verschweigt. Oder über meine Mutter!« Das letzte Wort ist aufgeladen mit Gefühlen und sie wendet hastig den Blick ab.

Zamora runzelt die Stirn. Trotz der späten Stunde hat er darauf bestanden, alles zu erfahren, was sich im Park Güell zugetragen hat – die Entdeckung von Sing Sings Geburtsurkunde, der Fund der Proust-Ausgabe von Dannys Vater. Nun beißt er sich in die Knöchel der unversehrten Hand und denkt nach, den Blick auf den Inhalt der Tüte gerichtet. »Proust!«, entfährt es ihm. »Warum ausgerechnet Proust?«

Danny schüttelt den Kopf. »Keinen blassen Schimmer! Wollte Papa, dass ich den Roman lese?«

»Nein, es muss mehr dahinterstecken. Zeig mir noch mal die Geburtsurkunde«, erwidert Zamora. »Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, wären mir fast die Augen aus dem Kopf gefallen.«

Doch Sing Sing reagiert nicht. Sie sitzt verkrampft da und starrt in die Dunkelheit.

»Wisst ihr was?«, murmelt sie nach langem Schweigen. »Ihr solltet das unter euch regeln. Ich fühle mich irgendwie unwohl. Komme mir bescheuert vor …«

»Aber warum denn?«, fragt Danny und will ihr eine Hand auf die Schulter legen. »Es ist doch …«

»Ich will allein sein«, faucht sie. »Kapierst du nicht, dass ich ein paar ziemlich dicke Brocken verdauen muss?«

Danny zieht seine Hand langsam zurück.

Geht mir genauso, denkt er. Ganz genauso.

Danny macht es sich im Requisitenlaster so gemütlich wie möglich, aber die Distanz, die zwischen ihm und Sing Sing entstanden ist, belastet ihn sehr. Er dämmert eine gute Stunde vor sich hin, findet keinen Schlaf, und trotz der tiefen Erschöpfung rasen seine Gedanken. Warum wurde Sing Sing von ihrer Mutter weggegeben?, fragt er sich. Warum haben seine Eltern nie von ihr erzählt? Er müsste sich eigentlich pudelwohl fühlen, zumal in Gesellschaft Zamoras – in Ballstone wäre er bei einer solchen Gelegenheit vor Freude geplatzt –, doch er findet keine Ruhe. Der Gedanke an Berlin geht ihm nicht mehr aus dem Kopf, und obwohl er sich dagegen wehrt, hat er immer wieder La Loca vor Augen: der leere Blick, der in ihre Augen trat, als sich das Messer in ihren Rücken bohrte, ihr Sturz in den Abgrund.

Irgendwo in der Ferne schlägt eine einsame Glocke zwei Uhr früh.

Hilft nichts, denkt Danny, ich kann nicht einschlafen – und ich habe furchtbar Durst. Seit er am brennenden Seil wieder zu sich gekommen ist, wird er das Gefühl, einen staubigen Teppichfetzen im Mund zu haben, nicht mehr los. Im Laster gibt es nichts zu trinken, aber einer der Anhänger dient als Vorratskammer und enthält Essen und Kisten mit Wasser.

Zamora lehnt schnarchend neben der Hecktür an der Wand, ausgeknockt von Schlaftabletten und Erschöpfung. Ohne sein Markenzeichen, die Melone, wirkt er verletzlich, und im fahlen Licht, das durch ein Oberlicht fällt, glänzen die Stoppelhaare auf seinem immer kahler werdenden Schädel. Er wirft sich unruhig hin und her, und seine Augenlider zucken, als würde ihn ein Albtraum quälen.

Danny schleicht vorsichtig an ihm vorbei, öffnet leise die Tür und springt aus dem Laster in die Nacht.

Ein kalter Wind bläst um eine Ecke der Kathedrale, der Mond hängt tief am Himmel. Ich beeile mich, denkt er. Dann wird mir schon nichts passieren.

In einer nahe gelegenen Straße wird gelacht und Glas geht zu Bruch. Davon abgesehen herrscht Stille. Danny zieht sich die Kapuze des Mysterium-Pullovers über den Kopf und huscht quer durch das Lager, vorbei an Darkos altem rotem Wohnmobil, am Beleuchtungswagen, in dem Frankie campiert, und an Rosas Wohnanhänger.

Er denkt an Sing Sing, die im Wohnanhänger übernachtet. Ob sie schläft? Oder ist sie vielleicht auch wach? Ich kann nur hoffen, dass die Entdeckung, die wir im Park Güell gemacht haben, unsere Freundschaft nicht belastet, denkt er. Denn eigentlich müsste sie für eine noch tiefere Verbundenheit sorgen.

Er hat den Anhänger mit dem Proviant fast erreicht, da hört er ein Geräusch, und als er die Ohren spitzt, erklingt eine sehr hohe und sehr leise Stimme. Anfangs scheint sie so weit entfernt zu sein, dass er geneigt ist, sie für eine Einbildung zu halten, aber kurz darauf wird ihm bewusst, dass sie echt ist – sie spricht kurze Sätze, die sie wie bei einem Diktat zweimal wiederholt. Danny kann sie sekundenlang deutlich verstehen, doch was er hört, gleicht einem Zahlensalat:

»Vier … sieben … zwei … acht … acht. Vier, sieben, zwei, acht, acht. Neun … zwei … eins … sieben … drei. Neun, zwei …«

Ist das Deutsch? Das wäre ein sonderbarer Zufall, denn während der zurückliegenden Stunden hat er ununterbrochen an Berlin denken müssen! Die Wörter klingen so hohl und flach, als würden sie aus einem Lautsprecher kommen, aber Danny kann die genaue Quelle nicht ausmachen.

In diesem Moment rast ein Krankenwagen mit jaulender Sirene vorbei, und nachdem er verschwunden ist, hört Danny nur noch das Flüstern des Windes. Klang echt komisch, denkt er. Fast wie Sprachunterricht …

Hinter ihm nähern sich energische Schritte und er zuckt zusammen. Als er herumfährt, hat er ein gespenstisches Bild vor Augen: La Loca, das Messer im Rücken und dennoch lebendig, torkelt auf ihn zu, um ihn endgültig zu erledigen.

Stattdessen steht der ältere der zwei Brüder vor ihm, Dideldum oder Dideldei. Der Mann ragt über ihm auf, lässt den Blick nach links und rechts zucken, als wäre er ein Profi im Erkennen von Gefahren.

»Besser im Laster bleiben«, flüstert er in gebrochenem Englisch. »Ich sehen einen chico – Mann – draußen vor Tor. Ich gehen, weil ich reden will, aber er rennt. Schnell. Großer Mann, dunkle Kleider. Vielleicht nur einer ohne Wohnung, no, aber … Zamora sagt, wir aufpassen, also …«

Danny folgt dem ausgestreckten Zeigefinger mit seinem Blick, sieht aber nur eine Plastiktüte, die von einer Windböe durch die Luft gewirbelt wird. Ein Schauder läuft ihm über den Rücken. »Wie hat sich seine Stimme angehört? War es ein Jugendlicher?«

Der Mann schüttelt den Kopf und zeigt auf die Kabel der Ohrhörer, die in seinen dichten, lockigen Haaren verschwinden.

»Höre Musik«, sagt er. »Gutes Zeug.« Er hält Danny einen der Ohrhörer hin und blecherne Beats erklingen zwischen ihnen in der Luft.

»Ich gehe wohl besser zu Zamora zurück«, sagt Danny.

Der Mann nickt. »Bona nit. Kein Angst!« Er legt die rechte Hand auf eine Ausbuchtung seiner Jacke und wendet sich dann ab, um einen Blick über das dunkle Gelände hinter der Absperrung zu werfen. Was mag da stecken?, denkt Danny. Eine Pistole? Wäre zwar irgendwie beruhigend, würde aber noch einmal verdeutlichen, wie groß die Bedrohung ist.

Er schnappt sich eine Wasserflasche aus dem Anhänger und eilt zwischen die dicht gedrängten Fahrzeuge, die ihm ein sicheres Gefühl geben.

Als er wieder in den Requisitenlaster steigt, wälzt sich Zamora im Schlafsack und stöhnt schmerzerfüllt. Danny legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Alles in bester Ordnung, Major. Du schläfst. Du schläfst tief und fest. Deinem Arm geht es besser, viel besser – er ist bald wieder gesund –, und du schlummerst friedlich …«

Zamora scheint die Luft anzuhalten, doch im nächsten Moment atmet er ruhiger, seine Schultern entspannen sich etwas. Wäre gut, wenn mich auch jemand hypnotisieren würde, damit ich endlich schlafen kann, denkt Danny. Vielleicht würde ich dann tief verschüttete Erinnerungen ausgraben. Ob ich Darko darum bitten soll? Nein, das würde nicht funktionieren, denn ich kenne seine Methoden und könnte nicht richtig loslassen.

Wenn ich schon nicht schlafe, kann ich ebenso gut arbeiten …

Er nimmt eine Stirnlampe von der Wand und richtet ihren Strahl auf den dritten Hinweis. Diese kurze Notiz ist das Letzte, was sein Vater jemals geschrieben hat. Die Stelle, an der sie im Notizbuch steht, die Unterstreichungen, die gehetzte Handschrift – all das deutet darauf hin, dass sie von höchster Wichtigkeit ist.

Wenn die Neunundvierzig die Macht hat, ihn in Hongkong, in Barcelona und sogar in Ballstone zu bedrohen, dann muss er sich auch in Berlin auf Ärger gefasst machen, kein Zweifel. Die Organisation hat dort bestimmt eine Zelle, denkt er. Ich werde wahrscheinlich schon erwartet.

Doch er schüttelt diesen Gedanken trotzig ab. Noch bin ich in Barcelona, denkt er, und ich muss Papas Hinweis entschlüsseln – das hat absoluten Vorrang. Alles andere kann warten.

Du brauchst DEN KEKS! Erinnerst du dich?

Nein, verdammt, ich erinnere mich nicht! Der Code sieht jedenfalls nicht nach einem weiteren Raster aus, in dem die Zahlen für Buchstaben stehen. Außerdem scheint sein Vater am Seitenrand etwas wegradiert zu haben, denn dort sind mehrere blasse Schriftspuren zu erkennen. Was mag er da notiert haben? Hat er etwas Wichtiges oder etwas Banales entfernt?

Er richtet die Stirnlampe auf die Rückseite des Zettels, und der Lichtstrahl durchdringt das dünne Papier und lässt die blasse Schrift aufleuchten – die trotzdem unlesbar bleibt. Ob Ricard oder jemand anderer bei Interpol helfen könnte? Danny richtet das Licht wieder auf den Hinweissatz und kramt in seiner Erinnerung nach einem Detail, das ihm bei der Entschlüsselung helfen könnte. Er hat das dumpfe Gefühl, als wäre die Lösung zum Greifen nahe. Nachdenken!

Doch ihm fällt nichts ein. Stattdessen starrt er die Worte seines Vaters so lange an, bis Schrift und Zahlen verschwimmen und vor seinen Augen zu tanzen beginnen …

Zamora erwacht schlagartig, und als er den Kopf hebt, sieht er durch das Oberlicht, dass der Tag anbricht. Weiter hinten im Laster schläft Danny tief und fest, eine angeknipste Lampe vor der Stirn, in den Händen ein Blatt Papier.

Der Major geht zu ihm hinüber und wirft einen Blick auf den Zettel.

Der dritte Code und der Hinweissatz sind offenbar noch nicht entschlüsselt, sondern von einem Ring immer größerer – und immer frustrierter wirkender – Fragezeichen umgeben.