Holly Smale

Harriet
Versehentlich berühmt

Hotdogs und High Heels

Aus dem Englischen
von Elvira Willems

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Holly Smale
war als Jugendliche ziemlich unbeholfen,
ein bisschen streberhaft und schüchtern und versteckte sich
während eines Großteils ihrer Teenager-Jahre in der Schul-Toilette.
Mit 15 wurde sie völlig überraschend von einer Londoner
Top-Modelagentur entdeckt und verbrachte die nächsten zwei Jahre damit,
über Laufstege zu stolpern, knallrot anzulaufen und
teure Dinge zu ruinieren, die sie nicht ersetzen konnte.
Sie studierte englische Literatur an der Bristol University,
gab das Modeln auf und entschloss sich, Schriftstellerin zu werden.
»Harriet –Versehentlich berühmt« ist ihr erstes großes Buch-Projekt.

 

 

Für meinen Vater.
Meinen Felsen. Meinen Helden. Meinen Richard.

 

 

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1. Auflage 2015
Text © Holly Smale 2014
© für die deutsche Ausgabe: Arena Verlag GmbH, Würzburg 2015
Umschlag: Frauke Schneider
Zuerst erschienen unter dem Titel »Geek Girl. Picture Perfect« bei Harper
Collins Children’s Books, London 2014
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-401-80487-3

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Modell, das; -s, -e <Substantiv>
Herkunft: vom italienischen modello für Muster, Entwurf; zu lateinisch modulus für Maß, Maßstab

1. (bildungssprachlich) Original

2. Fotomodell, Supermodel, Topmodel

3. Bauart; (Technik): [Proto]typ

4. Modellkleid, Modeschöpfung, Unikat; (Mode): Kreation

5. Vorbild; (gehoben) Inbild; (bildungssprachlich) Inkarnation

1

Ich heiße Harriet Manners und ich habe einen Freund.

Ich weiß, dass ich einen Freund habe, weil ich nicht aufhören kann zu grinsen. Mädchen lächeln oder grinsen anscheinend durchschnittlich zweiundsechzig Mal am Tag, also stehle ich statistisch gesehen wohl einer anderen ihr Glück. Ich grinse alle dreißig oder vierzig Sekunden, mindestens.

Ich weiß, dass ich einen Freund habe, weil ich über meine eigenen Witze kichere, Lieder summe, deren Text ich nicht kenne, und sämtliche Tiere im Umkreis von hundert Metern knuddele und mich mit ausgestreckten Armen im Kreis drehe, sooft ich ein sonnenbeschienenes Fleckchen entdecke. Dank der Glücksstoffe Phenylethylamin, Dopamin und Oxytocin, die mein Gehirn durchtränken, habe ich mich sozusagen in eine Märchenprinzessin verwandelt.

Allerdings eine mit einer astronomisch hohen Telefonrechnung und dem Hang, im Internet »Symptome für Verliebtheit« zu recherchieren, wenn ihr Freund nicht da ist.

Egal. Vor sieben Wochen habe ich mir jedenfalls ein funkelnagelneues knalllila Tagebuch zugelegt. Und der ultimative Grund, warum ich weiß, dass ich einen Freund habe, ist der, dass es hinten im Deckel meines Tagebuchs steht:

ICH HABE EINEN FREUND

Das war ich natürlich. Wäre ja auch ganz schön schräg, in einem fremden Tagebuch rumzukritzeln. Es gibt eine Zeichnung von mir, die mit Datum und Uhrzeit versehen ist, um den Augenblick – vor vier Wochen und zwei Tagen – festzuhalten, seitdem die Sache mit Löwenjunge und mir offiziell ist.

Richtig: Nick und ich sind endlich ein Paar.

Ein Pärchen. Ein Duo, unzertrennlich wie Salz und Pfeffer oder Mozzarella und Tomate. Wir sind das menschliche Äquivalent der Seepferdchen, die Schnauze an Schnauze schwimmen und die Farbe ändern, um zu demonstrieren, wie sehr sie einander mögen, oder der Doppelhornvögel, die Duette anstimmen, um der Welt zu zeigen, dass sie absolut im Gleichklang sind.

Es hat alles verändert.

Seit wir den Romantischsten Sommer aller Zeiten (RSAZ) miteinander verbracht haben, besteht die Welt nur noch aus Regenbögen und Sonnenuntergängen, Guten-Morgen-SMS und Gute-Nacht-Anrufen und jemandem, der mir sagt, wenn ich Kaugummi hinten im Haar habe und an der Kopfstütze des Bussitzes festpappe.

Zum ersten Mal möchte ich an meinem Leben nichts, aber auch gar nichts ändern. Im beobachtbaren Universum gibt es 170 Milliarden Galaxien und ich würde an keiner davon auch nur das kleinste bisschen ändern wollen. Mein Leben ist exakt so, wie ich es haben will.

Alles ist perfekt.

2

Das Tolle daran, die ganze Zeit so gut drauf zu sein, ist jedenfalls, dass mich nichts aus der Bahn werfen kann. Nicht das frühe Aufstehen nach einem Sommer, in dem ich jeden Tag lange geschlafen habe. Nicht mein Hund Hugo, der sein Fell ausgerechnet auf meinem funkelnagelneuen besonderen Outfit verliert. Nicht die Aussicht, meine Nemesis wiederzusehen – nach zehn seligen Wochen ohne sie.

Nicht einmal die Tatsache, dass es der allerwichtigste Tag meines Lebens ist und keiner daran gedacht hat.

Nein. Ich bin die Ruhe und Reife in Person.

Wie Gandalf. Oder der Weihnachtsmann.

»Guten Morgen«, sage ich, als ich in die Küche schwebe. Das ist übrigens im Augenblick meine Standard-Fortbewegungsart: Ich schwebe in einer magischen, glücklichen Blase. »Was für ein vielversprechend schöner Tag, findet ihr nicht? Nahezu verheißungsvoll sonnig, könnte man sagen. Ein Tag wie für Großes geschaffen.«

Dann lasse ich gut gelaunt den Blick über meine schnarchenden Eltern schweifen.

Es sieht so aus, als hätte jemand über Nacht versucht, das Haus auseinanderzunehmen, hätte es aber irgendwann aufgegeben und es stattdessen mit Schlafgas gefüllt. Bis auf das Glühlämpchen in der offenen Kühlschranktür ist es im Raum dunkel und überall stehen Tassen und Teller. Mein Vater sitzt zurückgelehnt auf einem Stuhl, ein Küchenhandtuch über dem Kopf, und meine Stiefmutter Annabel ist auf dem Frühstückstisch zusammengesackt, die Wange auf einem Stück gebuttertem Toast.

Tabitha liegt in ihrer Wippe und gibt süße Schnuffellaute von sich, als wäre sie nicht die Sirene, die jederzeit losheulen kann.

Ich räuspere mich.

»Habt ihr gewusst, dass der Monat August seinen Namen von dem ersten Kaiser von Rom, Augustus, hat? Es war der Monat, in dem er die größten Triumphe errungen hat. Das ist doch unglaublich bedeutsam, oder?«

Schweigen.

Es ist gut, dass ich seit Neuestem permanent gut drauf bin, sonst würde ich ungefähr jetzt einen Wutanfall kriegen. Energisch reiße ich die Vorhänge auf, damit meine Eltern den sonnigen Tag in seiner ganzen Pracht sehen können.

»Feuer!«, schreit mein Vater, reißt sich das Geschirrhandtuch vom Kopf und linst durch die Finger zu mir herüber. »Oh, schlimmer. Was haben wir dir über Tageslicht beigebracht, Schatz?«

»Es ist neun Uhr einundzwanzig«, erkläre ich ihm. »Ihr seid keine Vampire.«

Ich sage das nicht mit großer Überzeugung. Meine Eltern haben graue Haut und rote Augen, sie sind die ganze Nacht auf, essen kaum und scheinen sich ohne Worte zu verständigen. Die Zeichen stehen nicht gut.

»Hmmmhm«, grummelt Annabel und drückt sich ein wenig hoch. Der Toast klebt an ihrem Gesicht. »Wie lange haben wir geschlafen?«

Mein Vater steckt den Finger in eine Tasse, die vor ihm steht. »Nicht lange genug«, meint er seufzend und wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht herum. »Elizabeth Hurley ist jedenfalls wieder weg.«

»Oh Gott«, seufzt Annabel und kneift die Augen leicht zusammen. Ihr normalerweise perfekter Pony steht hoch wie der Kamm eines blonden Kakadus und in ihren Augenbrauen kleben Krümel. »Ich muss die Waschmaschine anwerfen, das Bad putzen …« Sie sinkt wieder auf den Tisch. »Dieser Toast ist überraschend bequem.«

Jawohl.

Es ist genau sechs Wochen her, seit ihr uns das letzte Mal gesehen habt, und alles, was auch nur entfernt an häusliche Ordnung erinnert, hat sich vollständig in Luft aufgelöst.

Mit durchschnittlich 125 Dezibel ist mein neues Schwesterchen, wie sich herausgestellt hat, noch ein wenig lauter als ein Rockkonzert (120 Dezibel) und nur ein winziges bisschen leiser – und schmerzlicher – als wiederholte Schüsse mit einem Maschinengewehr aus kürzester Distanz (130 Dezibel). Das Fremdwort infantil für kindlich geht anscheinend auf den lateinischen Begriff infans zurück und das bedeutet »stumm«. Dazu kann ich nur sagen: Die alten Römer haben Tabitha Manners nicht gekannt.

In Sachen Lärm kann meine winzige Schwester locker mit irgendwelchen schwer bewaffneten Typen mithalten – jedenfalls bringt sie ihre Gefühle exakt zum Ausdruck.

Ich hebe Tabby aus ihrer Wippe und sie schlägt die Augen auf und strahlt mich an. Das gehört mit zu den vielen Dingen, die ich an meiner Schwester liebe: Wir zwei sind vom gleichen Schlag. Ihr Bettchen steht allerdings – zum Glück – im Zimmer meiner Eltern, am anderen Ende des Hauses.

Und ich besitze erstklassige Ohrstöpsel.

»Erinnert sich zufällig jemand daran, was heute für ein Tag ist?«, werfe ich in die Runde. Vielleicht sollte ich ihnen mein Tortendiagramm für heute zeigen. Das nervöse Grummeln im Bauch kann ich nicht in Schach halten, aber ich kann es wenigstens in das richtige Zehn-Minuten-Zeitfenster verweisen.

»Dienstag?«, versucht sich mein Vater. »Freitag? 1967? Könntest du uns einen groben Anhaltspunkt geben?«

»Heb mal das grüne Handtuch rechts von dir hoch, Harriet«, murmelt Annabel mit geschlossenen Augen. »Und das Küchenhandtuch daneben. Wir sind gleich wach.«

Ich trete über zwei große Kartons und Koffer, die offen auf dem Küchenboden stehen.

Dann zupfe ich vorsichtig an dem Handtuch. Darunter ist eine funkelnagelneue Schultasche aus rotem Leder, an der noch der Sonderangebot-Aufkleber klebt. Auf der Klappe sind die Buchstaben HM eingeprägt, und als ich sie öffne, sehe ich, dass sie bis zum Rand mit neuen Bleistiften, Buntstiften, Linealen und Büchern vollgestopft ist.

Unter dem Küchenhandtuch verbirgt sich ein selbst gebackener Schokoladenkuchen, dessen Form vage an einen Roboter erinnert und auf dem mit weißen Schokoladendrops vorn runter VIEL GLÜCK, HARRIET geschrieben steht. Und in fast unleserlicher Zuckergussschrift an den Füßen: (NICHT DASS WIR AN DAS GLÜCK GLAUBEN – DU BIST DIE MEISTERIN DEINES SCHICKSALS.)

Ich strahle sie an.

Seht ihr, was ich meine? Mein Leben läuft exakt nach Plan. Selbst meine Eltern halten sich an mein Kuchen-und-Geschenk-Skript, obwohl sie geschlafen haben, als ich ihnen davon erzählt habe.

»Ach«, sage ich glücklich und lasse Tabby durch die Luft sausen wie ein zappelndes Flugzeug und gebe den beiden einen Kuss. »Danke, ihr Schlafmützen! Ihr seid unschlagbar.«

»Das muss ich sofort Liz Hurley sagen«, murmelt mein Vater und schließt die Augen. »Bin gleich wieder da.«

»Grüß sie von mir«, meint Annabel, gähnt und reibt sich ein wenig Butter aus dem Gesicht. »Falls sie rüberkommen will, um ein bisschen Geschirr abzuwaschen, sag ihr, sie kann sich ruhig austoben.«

Und damit geben meine Eltern sich wieder dem Schlaf hin.

Gut.

Meinem Plan für den heutigen Tag zufolge habe ich jetzt noch sechseinhalb Minuten. Nur sechseinhalb Minuten, um meine lilafarbenen Flipflops anzuziehen, ein paar weiße Schokoladendrops vom Kuchen zu pulen, den Zuckerguss zu verstreichen, damit meine Eltern es nicht merken, und zur Bank an der Straßenecke zu sprinten, wo meine beste Freundin auf mich wartet: gespannt, mit strahlenden Augen und bereit, sich mit mir unserem jeweiligen Schicksal zu stellen.

Mein Timing ist mal wieder absolut perfekt.

Leider habe ich wohl vergessen, meiner kleinen Schwester den Plan darzulegen. Denn als ich ihr einen Kuss auf ihr winziges Näschen drücke, schenkt sie mir ein strahlendes, anbetungswürdiges Lächeln.

Und dann kotzt sie mir über den Kopf.

3

Ehrlich.

Ein Mal würde ich einen wichtigen Tag gern beginnen, ohne mit dem halb verdauten Mageninhalt anderer Leute bekleckert zu sein.

Das hat definitiv nicht in meinem Tortendiagramm gestanden.

Na, egal, während ich mir die Babykotze aus den Haaren wasche, kann ich euch auch gleich erzählen, was in den letzten sieben Wochen sonst noch so los war:

1. Ich bin immer noch nicht sechzehn. Was bedeutet, dass ich die Jüngste in meiner Klasse bin. Aktuellen Zeitungsberichten zufolge erhöht sich damit rein statistisch gesehen die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Leben scheitere.

2. Ich habe meinem Vater deswegen ordentlich zugesetzt. Schließlich ist es seine Schuld, dass ich statistisch gesehen im Leben eher scheitere.

3. Meine beste Freundin Nat und ich haben viel Zeit miteinander verbracht, obwohl ich zum ersten Mal einen richtigen Freund habe. Das liegt daran, dass Freundschaften immer vorgehen.

4. Und auch daran, dass mein Freund, der Model ist, häufig im Ausland arbeitet und ziemlich oft nicht da ist.

5. Toby hat auch viel Zeit mit uns verbracht. Dabei haben wir ihn gar nicht immer eingeladen. Oder ermutigt.

6. Und bemerkt haben wir ihn auch nicht jedes Mal. Er hat seine Stalker-Fähigkeiten enorm verbessert.

7. Mein Vater ist immer noch arbeitslos. Es sei denn, man betrachtet es als Arbeit, mit einem Baby Hoppe-hoppe-Reiter zu spielen.

8. Meine Großmutter Bunty ist wieder weg. Ganze fünf Tage hat sie Tabithas Geschrei ausgehalten, dann hat sie ein buddhistisches Zentrum in Nepal gefunden und ist zu dem Schluss gekommen, sich in einem »weit entfernten Land« eher »nützlich machen« zu können.

9. Was niemanden überrascht hat, am wenigsten Annabel.

10. Ich habe nicht gemodelt.

Seit ich meinen Job bei der Modeschöpferin Yuka Ito gekündigt habe, habe ich nichts gemacht, was auch nur im Entferntesten mit Mode zu tun hat. Nada. Nix. Niente.

Es hat sich herausgestellt, dass Yuka und mein extravaganter Agent Wilbur meine Karriere im Alleingang am Leben erhalten haben wie zwei Kaiserpinguine, wenn sie ihr lächerliches, unselbstständiges Küken aufziehen. Ein Küken, das ohne sie, die es alle paar Stunden füttern und vor dem Riesensturmvogel beschützen, nicht überleben könnte.

Außer dass der Riesensturmvogel in meinem Fall kein großer arktischer Vogel aus der Familie der Procellariidae ist, sondern eher eine Agentin, die Stephanie heißt und Wilbur vor sechs Wochen bei Infinity Models abgelöst hat. Sie ist sehr streng, sehr professionell und sie erinnert sich nicht daran, wer ich bin.

Das weiß ich, weil sie nur selten meine Anrufe entgegennimmt, und als sie einmal doch rangegangen ist, hat sie »Wer?« gefragt.

Seither habe ich nichts mehr von der Agentur gehört.

Ehrlich, mir war nicht klar, wie viel Spaß es mir gemacht hat, golden angemalt zu werden, mit Tintenfischen zu ringen, im Schnee herumzuhüpfen oder so zu tun, als wäre ich die eleganteste Sumokämpferin der Welt. Das habe ich erst kapiert, als es mir weggenommen wurde.

Buchstäblich.

Infinity Models hat mich sogar aufgefordert, die goldenen Schuhe, von denen Yuka sagte, ich könne sie behalten, per Fed-Ex zurückzuschicken.

Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich muss mich auf andere Sachen konzentrieren. In zehn Tagen fängt die zwölfte Klasse an und ich bin bereit.

Ich habe eine funkelnagelneue rote Schultasche.

Ich habe einen teuren Taschenrechner, der Funktionsgraphen zeichnet, Integrieren beherrscht, quadratische Gleichungen löst und natürliche Logarithmen berechnet – was auch immer das ist.

Ich habe einen kompletten Satz neuer Klamotten für die Schule – keine Schuluniform – und auf den allermeisten Sachen sind keine Tiercartoons.

Ich habe meine neuen Lehrerinnen und Lehrer alle im Internet gestalkt und jeweils eine hieb- und stichfeste Zusammenfassung erstellt, damit ich sie für mich gewinnen und/oder zwingen kann, mich zu mögen.

Aber vor allem habe ich einen astreinen, sorgfältig strukturierten Plan.

Ich muss in vier Hauptfächern eine Eins schaffen und mich um meinen Freund und um meine beste Freundin kümmern, um ein gesundes und ausgeglichenes Leben zu führen. Ich muss einen Stalker von Sträuchern mit Dornen fernhalten. Und ich muss meinen einzigartigen sechzehnten Geburtstag vorbereiten. Noch nie im Leben hatte ich so viel zu tun und deswegen habe ich alles bis ins letzte Detail geplant.

Das einzige Problem: Alles hängt davon ab, wie ich bei den Prüfungen abgeschnitten habe.

Und das werde ich gleich erfahren.

4

Vor Kurzem habe ich einen interessanten Artikel über einen zwölf Wochen alten verwaisten Affen in China gelesen, der in eine heilige Stätte gebracht wurde, wo er eine starke und leidenschaftliche Freundschaft mit einer weißen Taube schloss. Obwohl die beiden total verschieden waren, wurden sie sehr schnell unzertrennlich.

Manchmal frage ich mich, ob meine beste Freundin Nat und ich zusammen so ein lächerliches Paar abgeben wie die beiden.

Zum Beispiel jetzt gerade.

Bis ich mich hastig mit einem feuchten Lappen sauber gewischt und meiner komatösen Familie einen Abschiedskuss gegeben habe, hinke ich meinem Plan mehr als fünfzehn Minuten hinterher und hyperventiliere schon vor Panik.

Und Nat wirkt, als könnte es ihr nicht gleichgültiger sein.

Sie sitzt auf der Bank an der Kreuzung. Ihr neuer Pony ist absolut gerade, der Lidstrich an beiden Augen ist vollkommen identisch und ein Träger ihres gestreiften Kleids hängt so lässig über eine Schulter, dass es definitiv aussieht, als wollte sie es so haben.

Francois ist längst von der Bildfläche verschwunden, aber irgendetwas von ihrem Frankreichaufenthalt ist wohl hängen geblieben.

Nat sieht aus, als bräuchte sie englische Untertitel.

»Tut mir leid, dass ich zu spät dran bin«, sage ich atemlos und reiche ihr einen Schokoladendrop. Erst da merke ich, dass ich mir das ganze T-Shirt mit braunem Zuckerguss verschmiert habe und es beunruhigend nach etwas anderem aussieht. »Glaubst du, die Ergebnisse sind schon da? Glaubst du, wir haben bestanden?«

»Was für ein katastrophaler Start in den Tag«, sagt Nat und blickt von ihrer Vogue auf. »Harriet, was sollen wir bloß machen?«

Erleichtert lächele ich ihr zu.

Ich habe meine beste Freundin offensichtlich vollkommen falsch eingeschätzt. Wir werden zusammen durch diese furchterregenden akademischen Gewässer navigieren.

»Mach dir keine Sorgen«, sage ich in möglichst beruhigendem Tonfall und mache mich daran, sie in Richtung Schule zu ziehen. »Es ist bestimmt nicht so schlimm, wie du glaubst.«

»Nein, schlimmer«, erwidert Nat. »Harriet, nach was sieht das für dich aus?«

Sie zupft an ihrem Kleid.

Das könnte eine Fangfrage sein.

»Ähm. Das ist ein …« Fähnchen. Fummel. »Kleid, oder?« Dann kommt mir die Erleuchtung. »Eine Robe?«

»Das sind Streifen, Harriet. Ich trage Streifen. Aber laut Vogue ist Blümchendruck der heißeste Trend diese Saison. Ich wünschte, die hätten mich vorgewarnt

So geht das schon, seit Nat ihren offiziellen Willkommensbrief vom Fachbereich Modedesign des Colleges hier gleich um die Ecke bekommen hat. Dermaßen konzentriert habe ich sie seit ihrer Blauer-Glitzer-Phase in der zweiten Klasse nicht mehr erlebt. Da haben wir ein paar bemerkenswerte Wochen lang beide ausgesehen wie Weihnachtsbaumschmuck.

Mir kommt eine Eingebung und ich löse ein Gummiband mit Blumenmuster von meinem Handgelenk und reiche es ihr.

»Mein Gott, woher hast du das gewusst?«, fragt Nat und schlingt mir die Arme um den Hals.

»Was modische Trends angeht, bin ich absolut up to date«, sage ich und nicke weise. Außerdem hat den eine Stylistin irgendwann mal in meinen Haaren vergessen und ich hatte seither meine Stifte damit zusammengebunden.

Mein Handy piepst und ich reiße es mit der Geschwindigkeit einer Techno-Ninja aus meiner Tasche.

Ha!

Wusste ich doch, dass Nick mich heute Morgen nicht vergessen hat. Wusste ich doch, dass er mich so unterstützt und so romantisch ist, wie ein Freund nur sein k…

Viel Gratulierung, Harry-chan! Möge du an deinem großen Tag auf Wolken sieben und acht schweben. Rin X

Ich grinse – denn es freut mich, dass Rin kreativen Gebrauch des Wörterbuchs der Umgangssprache macht, das ich an ihre Heimatadresse in Tokio geschickt habe – und dann warte ich, falls sonst noch jemand Kontakt mit mir aufnehmen will.

Er tut’s nicht.

Also stecke ich das Handy zurück in die Tasche und wechsele rasch das Thema.

»Nat, ich habe unsere Stundenpläne mit Querverweisen versehen und farblich abgestimmt, damit wir immer wissen, wo die andere gerade ist. Willst du mal sehen?«

Damit habe ich die letzten paar Wochen verbracht: mit der sorgfältigen Planung eines perfekten Hilfsmittels, um nahtlosen Kontakt zu Nat zu halten, wenn sie auf dem College ist und ich in der zwölften Klasse. Wir haben seit fünf Jahren nicht mehr zusammen in einer Klasse gesessen, also erfordert es nur ein bisschen zusätzliche Fantasie.

Ich werde wohl auch die nächsten zwei Jahre jeden Tag mit Toby Pilgrim rumhängen müssen, aber seien wir ehrlich: Das mache ich, ohne es zu wollen, eh schon seit Ewigkeiten.

»Red keinen Blödsinn«, meint Nat lachend und schlingt sich ihre Haare zu einem fluffigen Knoten. »Ich ruf dich einfach nach dem College an und dann können wir auf einen Kaffee gehen oder so.«

Auf einen Kaffee gehen oder so?

»Hast du gewusst, dass Kaffee in hohen Dosen tatsächlich tödlich ist?«

»Ach, Harriet, ich wollte nicht tausend Tassen auf einmal vorschlagen.«

»Hundert reichen schon«, versetze ich düster. »Das haben Wissenschaftler bei Tests herausgefunden.«

Ich will ihr gerade erzählen, dass Kaffee von einem äthiopischen Ziegenhirten entdeckt wurde, dem auffiel, dass seine Ziegen die Früchte fraßen und vollkommen durchdrehten, als wir um die Ecke biegen und beide verstummen.

Vor uns ragt die Schule auf, genau wie immer.

Und doch ist etwas anders. In diesem Gebäude befinden sich in diesem Augenblick unsere ganze Vergangenheit und unsere ganze Zukunft. Dieses Gebäude repräsentiert gleichzeitig den Anfang und das Ende.

Ein kleiner Teil von mir möchte sich plötzlich auf den Bürgersteig setzen, die Hacken in den Boden rammen und sich weigern, noch einen einzigen Schritt zu tun.

Allerdings weiß ich aus Erfahrung, dass meine Umwelt nicht begeistert reagiert, wenn ich das mache.

Also lasse ich es wohl besser.

»Nicht zu fassen, dass es das letzte Mal ist, dass ich je durch diese Türen gehe, oder?«, fragt Nat glücklich.

»Mhm.«

»Das letzte Mal, dass ich meine Haare für Sport zu einem Pferdeschwanz binden muss, obwohl das überhaupt nicht zu meiner Gesichtsform passt.«

»Das letzte Mal, dass du je den Eingang mit deinen wahnsinnig langweiligen Gesprächen versperrst.«

Wir drehen uns um.

»Hi, Alexa«, meint Nat mit einem Seufzer. »Schön zu sehen, dass die langen Ferien dir wirklich zu einem Gefühl inneren Friedens und Mitgefühls verholfen haben.«

»Wie auch immer«, sagt meine Nemesis, wirft ihr Haar mit den frisch gefärbten Strähnchen herum und rammt mich im Vorbeigehen mit der Schulter. »Zu schade, dass du gehst, Natalie. Was machen wir bloß ohne dich?«

»Wahrscheinlich zusammenbrechen und sterben«, versetzt Nat und verschränkt die Arme. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf.«

»Ach, herrje, dann rieche ich ja womöglich so eklig wie Harriet.« Alexa schaut zu mir herüber. Ich stehe da und reibe mir immer noch den Oberarm. »Hey, Uncoole«, fügt sie hinzu. »Dieses Jahr sind wir zwei wohl die einzigsten beiden.«

Und damit ist mein Sommer – ganz plötzlich – zu Ende.

5

Fairnesshalber muss ich sagen, dass ich eine Glückssträhne hatte.

Wenn man die ganzen Ferien und die Wochenenden abzieht, müssen wir nur an 195 Tagen im Jahr in die Schule gehen. Addiert man dazu Abende, Morgende, ein paar Ausflüge, eine Stunde Mittagessen jeden Tag plus zwei fünfzehnminütige Pausen und die Möglichkeit, ab und zu mal krank zu werden, muss ich Alexa in diesem Schuljahr nur 1.118,4 Stunden lang ertragen.

Das sind nur 46,6 ganze Tage.

Anderthalb Monate die volle Ladung Alexa Roberts.

Ganz auf mich gestellt.

O Gott. Ich würde das am liebsten am Stück hinter mich bringen. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie bei uns einziehen will.

»Dieses Jahr sind wir die einzigen beiden«, korrigiere ich sie leise, als Nat mir einen Kuss auf die Wange drückt und durch das Schultor zum Sekretariat läuft.

Dann starre ich auf die kreischende Mädchenmeute, von der sie jetzt umzingelt ist.

Sie kommen mir seltsam fremd vor. Es dauert eine Weile, aber dann begreife ich, was anders ist. Abgesehen von gelegentlichen Schulausflügen ist es das erste Mal, dass wir keine Schuluniformen anhaben. Laura trägt eine Lederjacke und Lucie ist mit ihrem knallroten Lippenstift beinahe nicht wiederzuerkennen. Anna hat sich blaue Federn in den Pferdeschwanz gebunden. Ihr Hinterkopf sieht aus, als würde sie sich feierlich mit Federn eines eigens getöteten Vogels schmücken. Es ist, als sähe man eine Theaterproduktion in Kostümen, nachdem man bis dahin nur den Proben beigewohnt hat.

Die Jungen tragen Jeans und T-Shirts und haben saubere Gesichter und kurze Haare.

Ich blicke an mir hinunter auf das Spiderman-T-Shirt, das ich letzte Woche gekauft habe, und fasse dann an meinen frisch geschnittenen Bubikopf. Es ist wohl offensichtlich, in welches Lager ich falle.

Vielleicht mache ich einfach das Beste draus, lasse mir einen Schnurrbart wachsen und verstecke mich dieses Jahr auf der Jungstoilette.

»Harriet Manners.« Ein dünner Junge in einer orangefarbenen Cordhose und einem Spiderman-Kapuzenpulli tippt mir auf die Schulter. Es sieht ganz so aus, als wären auf seinen Socken winzige Comic-Goldfische. »Was für ein Zufall, dass wir heute perfekt zusammenpassen. Man könnte es Schicksal nennen. Bestimmung. Glücklicher Zufall.«

Es ist weder das eine noch das andere. Er hat sich hinter einem Kleiderständer versteckt, als ich mein T-Shirt gekauft habe.

»Morgen, Toby«, sage ich, als er sich die Nase an seinem Ärmel abwischt und fasziniert darauf starrt.

Dann sehe ich den geöffneten weißen Umschlag in seinen Händen.

Die Zahl der Bakterien, die sich in und auf dem menschlichen Körper befinden, ist zehn Mal höher als die der Körperzellen, und plötzlich spüre ich, wie sie in und auf mir herumkrabbeln.

»Sind das …« Ich schlucke und schon fängt es am ganzen Körper an zu kribbeln. »Sind sie das?«

»Ja«, antwortet Toby. »Genauer gesagt, nein. Denn das ist eine sehr vage Frage, Harriet. Mit so einem Ansatz hättest du beim FBI keine Chance. Ich hab’s überprüft.«

»Eines Tages«, meint Nat, die gerade aus dem Sekretariat zurückkommt, mit einem Seufzer, »wirst du eine Frage wie ein normaler Mensch beantworten, Toby, und dann fallen wir alle vor Schock in Ohnmacht.«

»Also …« Ich schlucke. »Wie hast du abgeschnitten?«

»Vierzehn Einser mit Sternchen«, sagt Toby und steckt das Blatt Papier behutsam in eine Mappe, auf der TOBYS HEROISCHE LEISTUNGEN steht. »Die Abendkurse in Mandarin und Klassischer Zivilisation waren weder Geld- noch Zeitverschwendung, wie meine Eltern gedacht haben.«

Mir dreht sich der Magen um und ich hole mein Handy heraus.

»Da«, sagt Nat und hält mir einen großen Umschlag hin. »Hör auf, an Nick zu denken. Du weißt, dass er bei einem Shooting in Afrika ist. Wahrscheinlich ist er gerade damit beschäftigt, ein Nilpferd niederzustarren oder so. Das ist deiner.«

Ich glotze auf den Umschlag und versuche dann vergeblich, mir die Lippen zu lecken.

So oder so, dieser Augenblick wird mein ganzes Leben verändern. Bleib ganz ruhig, Harriet. Akzeptiere wie ein Zen-Mönch, dass das Leben eine Achterbahn ist und es auf und ab geht und …

»Hör auf, deine Prüfungsergebnisse anzuflüstern, Harriet«, sagt Nat lachend. »Bereit?«

»Mhm.«

»Achtung!«

»Mhm.«

»Fertig?«

»Jaaa.«

»Los!«, schreit Nat.

Und zusammen reißen wir unsere Zukunft auf.

6

Das menschliche Gehirn nutzt im Schnitt zwanzig Prozent des sich im Blutkreislauf befindlichen Sauerstoffs. Meins muss gerade extrem gierig sein, denn plötzlich fühlt sich mein Kopf so leicht an, als könnte er davonschweben wie ein Ballon.

Ich habe bestanden.

Ja, ich habe sogar mit Bravour bestanden.

Ich will ja nicht prahlen, also sage ich bloß: Ich habe einen Stern mehr als das Sternbild Chamäleon und einen weniger als Orion.

In Technik habe ich eine Drei, aber sollte ich je ein Kistchen aus Kiefernholz oder eine Wanduhr aus rotem Plastik brauchen, die aussieht wie ein schlecht geschmirgelter Kolibri, dann gehe ich in einen Laden und kaufe mir eine.

Nat dreht sich in winzigen Kreisen auf der Stelle.

»College, ich komme!«, ruft sie und klatscht bei jeder Umdrehung mit mir ab. »In Geschichte bin ich durchgerasselt, aber wen stört’s, ich gehe aufs College!«

Dann hört sie auf, sich zu drehen, damit wir uns ansehen können.

Mein Kopf schwebt prompt davon.

»Sugar Cookies!«, kreische ich und hüpfe auf der Stelle. »Wir haben’s geschafft!«

»Riesen-Sugar-Cookies!«, ruft Nat.

»MEGA-Sugar-Cookies!«

»GIGA-Sugar-Cookies!«

»UNERMESSLICHE, GRENZENLOSE SUGAR COOKIES! Unsere Cookies sind ins All geschossen!«

»Ah«, sagt Toby und holt ein kleines grünes Buch aus seiner Tasche. »Ich stand unter dem Eindruck, dass Sugar Cookies ein negativer Ausdruck wäre, aber ich notiere mir gleich, dass er beides ausdrücken kann.«

Nat und ich hüpfen und kichern hysterisch herum und dann springen wir halb in Richtung Schultor.

Von dem ganzen Gerede über Cookies habe ich Hunger bekommen. Vielleicht haben meine Eltern mir noch einen Kuchen gebacken: einen Erdbeerkuchen, auf dem mit Marshmallows »GLÜCKWUNSCH« steht, die Pünktchen auf dem Ü aus Smarties …

»Hey«, sagt eine Stimme von hinten. »Hat eine von euch Versagerinnen was fallen lassen?«

Augenblicklich war’s das mit Hüpfen und Kichern.

Denn:

a) direkt hinter uns steht eine große Gruppe Mädchen,

b) vorne dran Alexa,

c) ein knalllila Buch in den Händen.

7

Irgendwo habe ich gelesen, dass ein ausgewachsener Tintenfisch so biegsam ist, dass er durch die Eingeweide eines Menschen wandern könnte. So, wie sich mein Bauch gerade anfühlt, passiert genau das just in diesem Augenblick.

Ist das etwa … mein Tagebuch?

Ausgeschlossen. Das liegt zu Hause neben meinem Bett. Sicher und privat und von einem sorgfältig platzierten rotblonden Haar beschützt, so wie es sein sollte. Allerdings entdecke ich hintendrauf einen Aufkleber der British Library und am Rand eine Reihe goldener Sterne, die ich mir selbst verliehen habe, und die Ecke, die Hugo verärgert angekaut hat, als ich ihm nichts von meinem Sandwich abgeben wollte.

Es kann nicht mein Buch sein, ist es aber.

Was ich in den letzten sieben Wochen in dieses Buch geschrieben habe, schlägt mir mit solcher Wucht entgegen, dass ich innerlich plötzlich ganz erfüllt bin von einem kalten, sich windenden, glitschigen Meeresgeschöpf.

Nein. Nein. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, NEIN.

Ich stürze mich auf Alexa, doch es ist zu spät: Sie hält es hoch über ihren Kopf und schlägt die ersten Seiten auf.

»Mr Harper, Physik«, liest sie laut. »Geschieden. Heimlicher Zumba-Fan. Mitglied der Royal Horticultural Society. Hinweis: Bring was über südamerikanische Tänze und Pflanzen in Erfahrung. Und Eheprobleme.«

Hinter ihr wird hier und da schnaubend gelacht.

Wenn man rot anläuft, betrifft das nicht nur die Wangen, sondern auch die innere Auskleidung des Magens. Mir ist so heiß, dass ich fürchte, den Tintenfisch in meinem Bauch versehentlich zu kochen. Wie konnte das geschehen? Was zum Sugar Cookie hatte mein Tagebuch in meiner Tasche verloren?

O nein.

Annabel dachte wohl, es wäre mein Hausaufgabenbuch, und hat es in meine Schultasche gesteckt. Sie ist so übermüdet, dass sie die Worte ABSOLUT PRIVAT, die mit Silberstift auf dem Umschlag stehen, womöglich nicht bemerkt hat. Und als ich herumgehopst bin wie eine Idiotin, ist es wohl herausgefallen.

Genau deshalb beteilige ich mich nie an irgendwelchen sportlichen Aktivitäten.

»Miss Lloyd, fortgeschrittene Mathematik«, fährt Alexa hämisch fort. »Unangemessene Facebook-Fotos. Subtil andeuten, ich könnte ihre privaten Einstellungen im sozialen Netzwerk überarbeiten.«

Lehrer tauchen am Eingang zur Schule auf, die ersten schauen schon in unsere Richtung. In der Ferne erspähe ich Miss Lloyd. Das hier wird meine akademische Laufbahn der zwölften Klasse jäh beenden, bevor sie überhaupt angefangen hat.

Ich springe hoch, um mir das Buch zu schnappen, doch Alexa blättert mit einer Hand weiter darin, die andere Hand an meiner Stirn, während ich hektisch an ihr scharre wie eine Katze an der Tür.

»Gib’s her«, flehe ich verzweifelt und springe noch einmal hoch. »Bitte, Alexa. Das ist privat.«

Nat kramt in ihrer Handtasche herum. »Gib das Buch zurück«, schreit sie und hat zornige rote Flecken an Hals und Gesicht. »Ich schwöre bei Gott, diesmal skalpiere ich dich.«

»Bis zu dem Tag, an dem es zwangsläufig ein Bestseller wird«, wirft Toby ein, »ist es Harriets geistiges Eigentum, Alexa.«

Doch es ist zu spät.

Alexa hat sich dem hinteren Teil des Buches zugewandt und starrt auf die letzte Seite.

»Ich habe einen Freund?«, sagt sie. Beinahe verschlägt es ihr die Sprache. »Du? Einen Freund? Willst du mich auf den Arm nehmen?«

Der Tintenfisch in meinem Bauch stirbt gleich an Hitzschlag. »Ja.«

»Wen?« Alexa sieht sich um. »Etwa den da?«

»Nein«, antwortet Toby ihrem Zeigefinger. »Wir haben diesen Sommer herausgefunden, dass im körperlichen Bereich die Chemie zwischen uns nicht stimmt und dass Harriet noch an ihren Kusskünsten arbeiten muss.«

Der Tintenfisch macht prompt KRAWUMM.

Alexa richtet den Blick wieder auf mich. »Willst du etwa behaupten, abgesehen von dem Spinner da würde sich ein echter, lebendiger Junge für dich interessieren?«

»Ja«, sage ich leise.

Ich versuche, das Kinn zu heben, doch mir steigt ein stechender Cocktail aus Babykotze und feuchtem Hundefell in die Nase und aus dem Augenwinkel bemerke ich immer noch braunen Zuckerguss auf meinen Jungenklamotten und in meiner Jungenfrisur.

Plötzlich kommt es mir auch äußerst unglaublich vor.

Alexa kreischt vor Lachen.

»Himmel, das ist ja köstlich.« Sie wendet sich zu der Gruppe hinter ihr. »Könnt ihr euch vorstellen, wie uncool der sein muss? Ich wette, zusammen sind die weit jenseits von Gut und Böse. Ich wette, er ist klein und speckig und muss sich noch nicht rasieren.« Sie fängt an zu kichern. »Wetten, er … haha … studiert Physik und riecht nach Rosenkohl und furzt jedes Mal wenn er sich bückt. Hahahaha.«

Ich denke an Nicks schwarze Lockenmähne, seine kaffeebraune Haut und seine schräg stehenden braunen Augen und sein breites Grinsen mit den spitzen Eckzähnen, das sein Gesicht zum Strahlen bringt. Ich denke an den Leberfleck neben seiner Augenbraue, seinen grünen Duft und den kleinen Knick an seiner Nasenspitze.

Ich denke daran, dass er im Kino an den falschen Stellen lacht; dass er die Wange an meine lehnt, wenn er müde ist; dass er meine Füße zwischen seine Knie steckt, wenn sie kalt sind, und dass ich ihn nicht mal darum bitten muss.

Ich denke daran, wie außergewöhnlich er ist.

»Das i…i…ist er nicht«, sage ich leise. »Und tut er nicht.«

»In Wirklichkeit«, fährt Nat auf, »ist Harriets Freund nämlich ein erfolgreiches internationales Supermodel. Deine fiesen Sprüche kannst du dir also in die Haare schmieren.«

Alexa verdreht die Augen und ihr Kichern wird immer hysterischer. »Na klar ist er das.«

»Zeig’s ihr«, verlangt Nat mit hochrotem Kopf und zeigt auf meine Schultasche. »Zeig ihr ein Foto von Nick, Harriet.«

»Ich … hab keins dabei«, gestehe ich.

Alexa tritt einen Schritt näher. »Ein erfundener Freund«, sagt sie. »Das ist jämmerlich, selbst für dich.«

»Er ist echt«, versetze ich, auch wenn es bloß als kleine Mausepiepser rauskommt. »Und ich bin nicht jämmerlich.«

»Bist du wohl. Oder muss es heißen bist – Apostrophe wohl?«

Mir wird kalt bis in die Zehenspitzen.

Am letzten Tag der Prüfungen habe ich Alexa vor einer ganzen Schar von Mitschülerinnen grammatikalisch blamiert. Ich hatte gehofft, sie hätte es vergessen.

Hat sie nicht.

»Erwartest du wirklich, ich glaube dir, dass irgendjemand sich für dich interessiert, Manners?«, schmäht Alexa weiter. »Du bist der langweiligste Mensch, der mir je begegnet ist. Du bist ein Niemand. Ein Nichts.«

Ich blinzele sie an. Aus irgendeinem Grund wünschte ich, sie wäre bei »uncool« geblieben.

»Ich hab dich gewarnt, ich würd’s dir heimzahlen, Harriet«, fügt Alexa hinzu, schubst mich noch einmal nach hinten, steckt mein Tagebuch in ihre Schultasche und schließt sie mit einem Klick. »Lesen kann doch äußerst lehrreich sein, findest du nicht?«

Und damit stürmt sie mit ihrer Entourage im Schlepptau vom Schulhof.

8

Wie es scheint, können Pferde und Ratten nicht kotzen.

Leider bin ich weder ein Pferd noch eine Ratte und es erfordert alle Konzentration, die ich aufbringen kann, um sicherzustellen, dass nicht zum zweiten Mal an einem Tag Erbrochenes auf mir landet.

»Geht es dir gut?«, fragt Nat und legt mir eine Hand auf den Arm.

»Mhm«, antworte ich vergnügt. »Klar. Es ist alles gut. Alles gut. Gut.«

Dann beiße ich mir auf die Lippen. Hör auf, »gut« zu sagen, Harriet.

»Sie hört sich aber nicht gut an«, bemerkt Toby und hängt sich seinen Rucksack wieder über die Schultern wie eine kaputte Schildkröte. »Ich finde, Harriet hört sich gar nicht gut an, Natalie.«

»Halt die Klappe, Toby«, versetzt Nat freundlich und dann legt sie mir den Arm um die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, Harriet. Ich meine, das sind nur ein paar Kritzeleien. Wie schlimm kann das schon sein?«

»Ich finde ja«, fügt Toby fröhlich hinzu, »je mehr Informationen die Menschen über dich haben, desto besser, Harriet. Ich persönlich würde gern alles über dich wissen. Hoffentlich macht sie Kopien und verteilt sie in der Klasse.«

Ich zucke zusammen.

Mein Tagebuch ist definitiv nicht mehr in diesem Stil à la »Heute hat es geregnet, ich habe eine Katze gestreichelt, zum Abendessen gab es Spaghetti« geschrieben, den ich mir mit fünf angeeignet habe, als ich noch jeden Tag fesselnd und einzigartig fand.

Alles, was ich bin, ist in diesem Buch.

Meine Hoffnungen und Träume, meine Sorgen, meine Zweifel. Meine kostbarsten, perfektesten Erinnerungen an Nick und mich, aufgeschrieben in übertriebener, peinlicher Detailfülle. Meine Listen, meine Pläne, der Teil, wo ich versucht habe,Nick Hidaka auf Großer-Tintenfisch-Packer zu reimen.

Wie ich mich verliebt habe, Seite für Seite.

Kurzum, ich habe Alexa gerade die stärkste Waffe gegen mich in die Hand gegeben, die sie je besaß: mich.

Nat führt mich behutsam vom Schulzaun weg. Ich spüre meine Beine nicht mehr. Mir ist, als würde ich auf Gummirädern vorwärtsgerollt.

»Vergiss es«, sagt sie entschlossen und schüttelt den Kopf. »Außerdem finde ich, wir sollten feiern.«

Ich blinzele ein paarmal.

Feiern. Prüfungsergebnisse. Kommt mir jetzt schon wie eine Milliarde Jahre her vor.

Das hier ist so wie diese Sache mit dem Typen, der Geheiminformationen der NSA veröffentlichte, die operative Details weltweiter Überwachungs- und Spionagepraktiken enthielten und drohten, Amerika zu Fall zu bringen. Außer dass es nicht die US-amerikanischen Spionageprogramme sind, sondern meine persönlichen Geheimnisse, die demnächst in der ganzen Jahrgangsstufe verbreitet werden.

Und statt vorübergehend im Asyl in Russland werde ich in einer kalten Ecke des Klassenzimmers enden.

»Ich glaube«, sage ich langsam, »ich gehe besser nach Hause. Meine Eltern wollen bestimmt unbedingt wissen, wie ich abgeschnitten habe.«

Das ist ganz offensichtlich eine Lüge. Es wäre ein Wunder, wenn die beiden überhaupt mal wieder wach würden.

»Ganz sicher? Meine Mutter hat mir nämlich versprochen, neue Klamotten fürs College mit mir kaufen zu gehen, und ich dachte, du könntest mitkommen.«

»Oh«, sagt Toby. »Ja, bitte. Ich glaube, ich muss mir neue Boxershorts kaufen.«

Nat verdreht die Augen. »Sprich nie wieder in meiner Gegenwart von Boxershorts.«

»Slips?«

»Nein.«

»Badehosen?«

»Wieso willst du Badehosen tragen, wenn du nicht mal schwimmen gehst, du Spinner?«

Ich bewege mich in einem kleinen, seitlichen Krebsgang unmerklich von meinen besten Freunden weg.

»Shoppen klingt toll, Nat«, lüge ich noch einmal und gebe mir alle Mühe, möglichst vergnügt zu klingen. »Vielleicht ein andermal?«

»Klar. Also, ich hab alle Hände voll zu tun von wegen College und so. Aber wir haben ja immer noch die Wochenenden, richtig?«

»Richtig«, sage ich leise.

Und dann schieße ich herum und laufe, so schnell mich meine Beine tragen, nach Hause.

9

Was mir um einiges schneller gelingt als früher.

Nichts motiviert einen mehr zum Joggen, als ein Neugeborenes im Haus zu haben und außer dem Gartenschuppen keinen Ort, wo man Zuflucht suchen kann.

»Annabel?«, sage ich, als ich die Haustür öffne und Hugo schwanzwedelnd auf mich zugesprungen kommt. Ich bücke mich und kraule ihn. »Dad? Ich dachte, ihr wollt vielleicht wissen, wie ich …«

Und dann halte ich inne.

In den letzten anderthalb Stunden hat sich das Haus vollkommen verwandelt.

Die Vorhänge sind weit geöffnet, die Küche ist beinahe sauber und im Flur stehen hier und da willkürlich verteilt halb volle Pappkartons. Glänzende Teller und Untertassen stapeln sich auf dem Tisch und die Becher stehen in ordentlichen, wohlorganisierten Reihen, als wollten sie jeden Augenblick einen improvisierten Cancan aufs Parkett legen.

Die Luft riecht nach Lufterfrischer und Sonnenlicht strömt durch das Fenster auf den riesigen Koffer, der immer noch auf dem Küchenboden liegt.

So gefällt’s mir schon besser.

Meine Eltern haben sich also endlich besonnen, meinen besonderen Tag mit dem Respekt zu behandeln, den er verdient, und zu meinen Ehren Frühjahrsputz zu veranstalten.

Sie hätten aber auch Schubladen und Schränke nutzen können wie normale Menschen. Alles auf dem Tisch aufzureihen, kommt mir doch ein bisschen übertrieben vor.

»Harriet?«, ruft Annabel die Treppe runter. Tabitha hat wieder angefangen zu brüllen. Man braucht nur 100 Dezibel in der richtigen Tonhöhe, um Glas zum Bersten zu bringen, und ausnahmsweise sind die Fenster in unserem Haus nicht in Gefahr, weil ich irgendwelche Türen zu fest zuknalle. »Bist du das?«

»Wer soll es denn sonst sein?«, erwidert mein Vater, der gerade aus der Waschküche kommt. »Wenn Einbrecher doch so nett wären, mit Schlüsseln einzudringen. Vielleicht könnten sie auch gleich Staub wischen, während sie unsere Wertsachen stehlen.«