couverture
Karlotta
durch den Wind
Claire Singer
Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
arsEdition GmbH, München 2016
©
2013 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München
Alle Rechte vorbehalten
Text und Illustrationen: Claire Singer
Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition
unter Verwendung von Bildmaterial von gettyimages / thinkstock
ISBN ebook 978-3-7607-9983-4
ISBN Print 978-3-7607-9586-7
www.arsedition.de
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rung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
G
ebirgszüge
9
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umorte
25
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tte Familie
31
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m dunklen Grunde
35
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arlotta durch den Wind!
42
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ar nicht so still, dieses Waldesruh!
51
      
Inhalt
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eheimnis aus dem Nebel
58
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n perfekt unmöglicher Plan
70
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bitte, geht doch
78
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86
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roßes Finale im Grandh
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96
      
Tippe einfach auf das Briefchen und schon öffnet
sich die Nachricht.
Gebirgszüge
W
as
»
ist rosa und tönt wie explodierende Essiggurken?
Schokolottchen, scho doch onfoch on do Dose mot
don Homborchen!«
Eindeutig Paps, seine Stimme klingt metallisch und hat ein
Echo. Er steckt mit dem Kopf in einem Blecheimer, aus dem er
Reste der rosa Farbe kratzt, mit der er für die örtliche Ballett-
schule einen Sonnenuntergang mit springenden Tänzerinnen
gepinselt hat. Das war seit Langem mal wieder ein richtig gut
bezahlter Auftrag gewesen, der die nächsten acht Tage verhin-
dern wird, das wir dreimal am Tag Senfbrot essen und dazu
Kamillentee trinken. Und auch wenn Paps die Gelbtöne dieser
beiden Nahrungsmittel »ultra« findet, kann ich mir Anfang
November kaum pfiffigere Farben vorstellen, um der prächtig
grauen Natur was entgegenzusetzen.
Ich bin ja nicht anspruchsvoll. Ich, Karlotta Petzmeier, dank
dieser Buchstabenzumutung immer wieder ein Brüller in
Sachen Verballhornung, wie »Karlotto«, »Lottootto« oder
»Petzlo« (in Anlehnung an J.Lo, nur dass Jennifer Lopez und
mich nicht nur die Vorsilbe trennt, sondern auch der Vorbau,
der Hinterbau und die knackige Hautfarbe, von der Pracht-
mähne, also der von J.Lo, ganz zu schweigen). Ferien mit Paps
bedeuten immer viel Spontaneität und einen eingeschränkten
Speiseplan. Mein guter Paps, den alle Welt, inklusive er selbst,
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Papa Bonbon nennt, nach seiner farbenfrohen Kleidung und
seinem ebenso farbenfrohen Beruf des Kunstmalers, hat zum
Thema Geldverdienen ungefähr ein so gutes Verhältnis wie
Elefanten zu Porzellanläden. Mama lässt mich mit schöner
Regelmäßigkeit in den Ferien bei Paps, während sie sich der
Fortbildung hingibt. Sie meint, dass dies immer eine gute
Erfahrung wäre, die einen fürs Leben stärkt. Sie selbst hat
Paps und sein buntes Chaoshaus schon vor Jahren hinter sich
gelassen und ist mit mir drei Straßen weiter gezogen. Die-
se Herbstferien hat sie einen Kompaktkurs Pilates ab 40 an
der Bad Göttersteiner Volkshochschule gebucht, und das Ein-
zige, das sie an Paps erinnern wird, ist der Sonnenuntergang,
den er für die lange Wand des Turnsaals der Volkshochschule
gemalt hat. Als »Bezahlung« darf Paps jetzt ein Leben lang
Volkshochschulkurse besuchen, so der Deal. Wer meinen Paps
kennt, weiß, dass er zu Schulen im Allgemeinen und Erwach-
senenbildung im Besonderen ein gespaltenes Verhältnis hat.
Und so hat er meiner Mam den Gutschein überlassen, sozusa-
gen als Teil der Unterhaltszahlung. Nicht, dass wir uns falsch
verstehen. Mama und Paps sind nicht zerstritten, doch ihre
Eigenarten werden auf engstem Raum zu einer Art Gigan-
tosilvesterkracher, in deren Nähe alles verschmort, was nicht
aus feuerfestem Material ist.
»Paps, welche der fünfzig Dosen mit Himbeerchen meinst
du!« Ich komme also an diesem ersten Herbstferientag noch
einmal auf meine Ausgangsfrage zurück, wo denn der Kakao
sei. An diesem wunderschönen Tag regnet es morgens mit
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einer Vehemenz, dass Bad Götterstein sich bald in Götter-
steiner Therme umtaufen lassen sollte.
Paps' Antwort »in der Dose mit den Himbeerchen« ist un-
gefähr so genau wie der Hinweis in einer Hühnerfarm: »die
Legehenne mit den weißen Eiern«. In Paps' knallbunter Kü-
che mit den dreibeinigen Stühlen, den Oberschränken im Blu-
menlook und einem Prototyp »Dose mit Himbeerdekor« sind
noch weitere vierzig Dosen mit Himbeeroptik hinzugekom-
men. Allesamt leere Kaffeedosen, denen Paps seinen unver-
wechselbaren Stil aufgedrückt hat, um sie mal »anzubieten«.
Entweder hat Paps das Anbieten dank seiner angeborenen
Schüchternheit nur theoretisch gemeint oder die Nachfrage
hielt sich in Grenzen – jedenfalls machen diese Seriendosen
nun bei Paps in der Küche eine gute Figur. Und bei mir Stim-
mung, denn ich will jetzt Kakao und nicht erst vierzig geöff-
nete Dosen später; und »Schokolottchen« ist so ziemlich der
hinterletzte Versuch, aus meinem Namen ein thementaug-
liches Wortspiel zu machen.
»Paps, komm her und hilf mir, dieser kakaobraune Tag ist
nur mit Kakao zu ertragen!«
»Ach Pepfi, fau mal in fer fünften von fefts!«, grummelt es
immer noch aus der Tiefe des rosa Farbeimers, in dem sich
Paps nun endgültig vergraben hat. Ich ahne das Schlimmste:
Paps hat Novembermelancholie, die kann von September bis
Mai dauern, je nach Wolkendichte und Temperaturanzeige
des Thermometers.
Ein kleiner Rundblick durch die Küche sagt mir, dass seit
meinen letzten Ferien die Gebirgsbildung wieder zugenom-
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men hat. Tellerberge, Farbdosenskulpturen, Zeitungshaufen
und leere Pizzakartons bilden die Gipfelkette, vorgelagert
sind Kissenhügel, Schuhschneisen und Pfandflaschenketten.
Ich würde für die ersten Gipfel geschätzte vier Tage brauchen,
dann könnte ich mein Basislager an der Spüle errichten und
die restlichen fünf Ferientage mit der Erstbesteigung der Sup-
pentellernordwand zubringen. Vielleicht würde in dieser Zeit
die Dose mit dem Kakao zufällig vornüber aus dem Regal kip-
pen, denn das Brett biegt sich bedenklich unter einem Stapel
Post. Mindestens Post der letzten sechs Wochen. Kalkgraue,
essiggelbe, schimmelweiße, algengrüne und roséweinrosa Ku-
verts, dazwischen Wurfsendungen des Bad Göttersteiner Dis-
counters (von dem Paps mehrere Einkaufsgutscheine hat, weil
er den Obst- und Gemüsebereich mit einem Sonnenunter-
gang ausgestattet hat), drei sehr senfgelbe Flyer des neu eröff-
neten indischen Lokals »Current Curry« (Sonnenuntergang
mit Elefanten davor!) und mehrere Kuverts in sehr schlech-
tem Zustand, denen man ansieht, dass Paps sie mit Ungeduld
oder – sehr selten bei Paps – mit Wut im Bauch geöffnet hat.
Das eine Schreiben ist vom Bad Göttersteiner Finanzamt, das
Paps »Götterschleimer Finzfanzamt« nennt, seit sie auf seinen
Vorschlag nicht eingegangen sind, eine Steuervorauszahlung
gegen einen von Paps gemalten Sonnenuntergang im Emp-
fangsbereich des Finanzamtes zu tauschen. An dem offen-
sichtlich zügig geöffneten Schreiben, das an der Aufrissstelle
aussieht, als hätte der Weiße Hai eine Gebissprobe abgegeben,
klebt ein anderes Brieflein, das ebenfalls den ersten Preis im
Wettbewerb »Wir basteln uns ein Spitzendeckchen« gewinnen
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könnte. Paps hatte wohl eines seiner vielen Bonbons, die er in
Stresssituationen gerne vertilgt, darauf abgelegt, die Wärme
über dem Herd hat das Bonbon zu Erste-Sahne-Pattafix ge-
macht, und jetzt kann ich zusehen, wie ich diese Papiertorte
so entzerre, dass ich auch den zweiten Zettel lesen kann, der
in noch erbarmungswürdigerem Zustand ist als die Zahlenko-
lonnen des göttlichen Finzfanzamtes.
Erst mal in Paps' bauchigem Teekessel Wasser warm machen,
dann probiere ich es mit heißem Dampf. Lange Zuckerfäden
ziehen sich von einem Schriftstück zum anderen, das Um-
weltpapier des Finanzamts löst sich samt dem Zucker in grau-
braune Würmchen auf und das unbekannte Schreiben mit
dem aparten Lochmuster fällt zu meinen Füßen.
Zum Fußboden in Paps' Küche sei so viel gesagt: Er lebt. Sil-
berfischlein und Wollmäuse haben hier das Sagen, außerdem
frische, große Kaffeeflecken, die den Weg anzeigen, den Paps
noch vor Kurzem genommen hat, und deren Spur sich vor
dem rosa Farbeimer verliert. In einem der braunen Flecken
ruht nun das Zettelchen. Die braundunkle Flüssigkeit flutet
in die wenigen Teile, die diesen Zettel noch ausmachen, und
die Druckertinte macht sich eilig davon. Unter physikalischen
und chemischen Gesichtspunkten sicher aufsehenerregend,
jetzt so hinderlich wie Kaugummi an der Schuhsohle. Denn
alles, was ich noch lesen kann, ist das:
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