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JAMES BOND

TRIGGER MORTIS

DER FINGER GOTTES

von

ANTHONY HOROWITZ

Ins Deutsche übertragen von

ANIKA KLÜVER

und

STEPHANIE PANNEN

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Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – TRIGGER MORTIS

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Material from Murder On Wheels, by Ian Fleming,
Copyright © The Ian Fleming Estate 2015

INHALT

Prolog

Teil eins: Was hochfliegt …

1:An die Arbeit

2:Rasende Ungewissheit

3:Zurück zur Schule

4:Der Teufelskreis

5:Keine Reue

6:Der Nürburgring

7:Mord auf Rädern

8:Das Schloss

9:Ein Sprung ins Dunkle

10:»Wählen Sie eine Karte …«

11:Jeopardy

12:Raketenwissenschaft

Teil zwei: … muss auch wieder runterkommen

13:Der Chef

14:Die toten Stunden der Nacht

15:Die Spur des Geldes

16:Die Höhle des Löwen

17:Nogeun-ri

18:»… irgendeine Karte«

19:Die Radieschen von unten

20:Nackte Wut

21:Der Eine-Million-Dollar-Zug

22:Tunnelblick

23:Der letzte Countdown

24:Reisezeit

PROLOG

Es war dieser Augenblick des Tages, in dem die Welt genug hat. Die Sonne stand tief am Horizont. Ein sanftes rotes Glühen kroch über die Sumpfebene, während hoch oben ein Schwarm Vögel ziellose Kreise am leeren Himmel zog. Der Wind hatte nachgelassen, und die Nachmittagshitze war drückend geworden, gefangen in einem Dunst aus Staub und Abgasen. Die Szenerie wurde durchbrochen von einem einsamen dunkelblauen Crosley-Kombi, der über die Route 13 von der Küste ins Landesinnere raste.

Der Crosley war ein hässliches kleines Auto mit einer übermäßig stark ausgeprägten Nase, einer flachen Fahrerkabine und einer Menge Rost, der sich durch die Karosserie aus Kupferstahl fraß. Der Fahrer kauerte hinter dem Steuer und hatte die Augen fest auf die Straße vor sich gerichtet. Er hatte den Wagen für dreihundert Dollar von einem Verkäufer erworben, der geschworen hatte, er würde die hundert Kilometer mit sechs Litern Benzin schaffen, und das bei einer Geschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern pro Stunde. Natürlich hatte er gelogen … mit dem perfekten Gebiss und dem freundlichen Lächeln eines typischen Schmalspurganoven. Der Crosley kam selbst dann kaum richtig in Gang, wenn es steil bergab ging, und hier, in der Nähe von Virginias Ostküste, war die Landschaft in allen Richtungen kilometerweit flach.

Der Fahrer hätte ein Professor oder ein Bibliothekar sein können. Er sah aus wie jemand, der zu viel Zeit seines Lebens drinnen verbracht hatte. Er hatte blasse Haut, nikotinverfärbte Finger und eine Brille, die sich im Laufe der Jahre langsam in seine Nase gedrückt hatte, bis sie zu einem festen Bestandteil seines Gesichts geworden war. Sein schütteres Haar offenbarte die Leberflecken hoch oben auf seiner Stirn. Sein Name war Thomas Keller. Obwohl er mittlerweile einen amerikanischen Pass besaß, war er in Deutschland geboren und sprach seine Muttersprache nach wie vor fließender als die seiner Wahlheimat. Ohne das Steuer loszulassen, drehte Keller seine Hand und warf einen Blick auf die Militärarmbanduhr von Elgin, die er bei einem Pfandleiher in Salisbury gekauft hatte. Zweifellos hatte sie dort irgendein vom Glück verlassener Soldat abgegeben. Er war genau pünktlich. Als er die Abfahrt direkt vor sich sah, blinkte er. Ihm wurde klar, dass er in einer Stunde genug Geld haben würde, um sich ein anständiges Auto und eine anständige Uhr zu kaufen – selbstverständlich ein Schweizer Fabrikat, vielleicht eine Heuer oder eine Rolex. Und endlich auch ein anständiges Leben.

Er hielt vor einem Diner, einem glatten silbernen Kasten, der aussah, als wäre er in einem Stück auf der Ladefläche eines Lasters angeliefert worden. Der Name – Lucie’s – prangte in pinken Neonbuchstaben über den vier Gerichten, die für den Großteil der Bevölkerung die gesamte amerikanische Küche definierten, egal in welchem Staat man sich befand: Hamburger, Hotdogs, Shakes, Fritten. Er stieg aus – sein Hemd blieb kurz am Vinylbezug des Sitzes kleben – und zog sein Jackett vom Beifahrersitz. Einen Augenblick lang stand er in der warmen Luft, lauschte dem gedämpften Klang einer Jukebox und dachte über die Reise nach, die ihn hierhergeführt hatte.

Thomas Keller hatte gerade erst seinen Abschluss in Physik und Ingenieurwissenschaften gemacht, als er über etwas gestolpert war, das zur großen Leidenschaft seines Lebens werden sollte. Es war im Harmonie-Kino in Sachsenhausen gewesen, in das er mit einem hübschen Mädchen gegangen war, um sich Fritz Langs neuen Film Frau im Mond anzusehen. Fünf Minuten nach Filmbeginn hatte er seine Begleitung und sogar seine Hoffnung, sie später auf dem Parkplatz des Kinos ein wenig befummeln zu können, komplett vergessen. Stattdessen hatte der Anblick einer Stufenrakete, die auf der Leinwand den Erdorbit verließ, etwas in ihm geweckt, und von diesem Moment an vereinnahmte ihn dieses Thema voll und ganz. Man konnte sagen, dass es dieselbe unwiderstehliche Kraft war, die ihn zuerst an die Universität von Berlin, dann zum Verein für Raumschiffahrt und schließlich an die Ostseeküste und zum Hafen von Peenemünde getrieben hatte.

Zu dieser Zeit war die deutsche Raketenforschung bereits sehr weit fortgeschritten, denn obwohl der verhasste Friedensvertrag von Versailles gewaltige Einschränkungen für die Entwicklung von Waffen beinhaltet hatte, war die Raumfahrt außen vor geblieben. Das spielte dem deutschen Militär in die Hände, denn dort erkannte man schnell, dass mit flüssigem Treibstoff betriebene Raketen, die von recht einfachen, behelfsmäßigen Plattformen gestartet wurden, weiter und schneller fliegen konnten als jede Artilleriewaffe. Was bedeutete, sie konnten ihre Ladungen in jede große Stadt Europas bringen.

Keller war sechsunddreißig, als er den Mann kennenlernte, der das deutsche Raumfahrtprogramm leitete: den Raketenwissenschaftler (und SS-Sturmbannführer) Wernher von Braun. Als Sohn eines preußischen Barons entstammte von Braun einer Familie, die seit dem dreizehnten Jahrhundert Kämpfe ausfocht, und er hatte seine aristokratische Ader nie verloren. Er stolzierte herum, blaffte jeden an, der ihm widersprach, und begegnete den Menschen mit kühler Herablassung, wenn er nicht in Stimmung war. Gleichzeitig widmete er sich voller Hingabe seiner Arbeit. Er verlangte sich selbst und allen um ihn herum immer das Beste ab. Keller fürchtete und bewunderte ihn gleichermaßen.

Natürlich hatte zu dieser Zeit ein gewisser österreichischer Gefreiter die Macht an sich gerissen, und Deutschland befand sich im Krieg. Aber das interessierte Keller nicht sonderlich. Wie viele der Akademiker und Physiker, aus denen sein gesamter Freundeskreis bestand, hatte er wenig Interesse an der Welt um ihn herum. Wenn Hitler Geld in die Entwicklung raketengetriebener Abfangmechanismen und ballistischer Flugkörper investieren wollte – elf Millionen Deutsche Mark, die von der Luftwaffe und der Armee bewilligt wurden –, konnte Keller in Bezug auf die anderen, weniger angenehmen Beschäftigungen der Nazis gerne ein Auge zudrücken. Als er im Sommer 1944 endlich in Peenemünde stand und die ersten V1-Raketen gestartet wurden, dachte er tatsächlich nicht über den Tod und die Zerstörung nach, die sie mit ihren eine Tonne schweren Sprengladungen bringen würden. Er war ein Künstler, und dies war seine Leinwand. Das Beobachten der Abschussvorgänge war für ihn ein Augenblick purer Ekstase: die Wolken aus weißem Rauch voller winziger Funken aus der Zündvorrichtung, die sich plötzlich zu einer strahlend roten Flamme vereinten, die abfallenden Seile und die elegante schlanke Gestalt, die in den Himmel entlassen wurde. Die Vibrationen fuhren durch seinen Körper. Seine ganze Haut schien zum Leben zu erwachen, und er spürte den Nervenkitzel der Gewissheit, dass er zu der Handvoll Techniker gehörte, die bei der Erschaffung dieses Wunders geholfen hatten, dessen Antriebe erstaunliche achthunderttausend Pferdestärken aufbrachten und schon bald ein Tempo erreichen würden, das fünfmal schneller als Schallgeschwindigkeit war. Die Bürger Londons hätten keine Ahnung von der Perfektion, der schieren Genialität der Waffe, die sie töten würde. Oft konnte sich Keller nicht zurückhalten. Er weinte Tränen der Freude.

Der Krieg endete, und für eine kurze Weile fragte sich Keller, ob er sich gewissen Konsequenzen würde stellen müssen. Er war sogar vor Ort gewesen, als sich von Braun den Amerikanern ergeben hatte und anschließend als Teil der berühmten Schwarzen Liste von ihnen verhört worden war. Die Schwarze Liste war der Codename für deutsche Wissenschaftler und Ingenieure von besonderer Bedeutung. Doch er machte sich keine allzu großen Sorgen. Was von Braun und sein Team geschaffen hatten, würde für die Alliierten zu wertvoll sein, und er war zuversichtlich, dass sie ihre Arbeit irgendwie fortsetzen würden. Er sollte recht behalten. Die beiden Männer wurden noch am selben Tag aus der Haft entlassen. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Wissenschaftler und Techniker wurden sie aus Deutschland ausgeflogen und kamen schließlich in Fort Bliss an, einer amerikanischen Militärbasis in der Nähe von El Paso, wo sie mit neuen Meistern – und in ein paar Fällen neuen Identitäten – ihre Arbeit genau an der Stelle fortsetzten, an der sie aufgehört hatten, als man sie so unfreundlich unterbrochen hatte.

Nun war Keller fünfzig und näherte sich dem Ende seiner Karriere. Er hatte zwölf Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt, aber niemand hätte ihn je für einen Amerikaner gehalten. Er hatte die Statur und den Körperbau eines Ausländers, langsam und schwerfällig. Seine träge Sprechweise und sein starker Akzent verrieten seine Herkunft, sobald er den Mund aufmachte. Doch das spielte keine Rolle. Der Krieg war lange genug vorbei. Es kümmerte die Leute nicht mehr. Außerdem hatte er sich seiner Meinung nach auf eine Weise angepasst, die sehr viel wichtiger war – und die ihn vollkommen zufriedenstellte. Drei Jahre nach seiner Ankunft hatte er eine amerikanische Kellnerin geheiratet, die er in El Paso kennengelernt hatte, und sie waren zusammen in ein typisch amerikanisches Haus in Salisbury, Maryland, gezogen. Keller hatte eine Stelle als Generalplaner im Naval Research Laboratory (NRL) erhalten und arbeitete in deren Raketenabschussbasis auf Wallops Island. Sein dortiges Büro hatte er vor weniger als einer Stunde verlassen.

Und nun hatte er sein Ziel erreicht.

Er betrat das Diner und spürte sofort die kühle Luft der Klimaanlage. Genau in diesem Moment tönte ein Lied der Everly Brothers aus der Jukeboy.

Bye bye love

Bye bye happiness …

Keller hatte kein Interesse an amerikanischer Musik, aber in den vergangenen Monaten war es unmöglich gewesen, diesem Lied zu entkommen. Die Worte erschienen ihm seltsam unpassend. Denn er war in der Hoffnung und Erwartung des genauen Gegenteils hierhergefahren.

Der Mann, mit dem er sich treffen wollte, wartete an der Stelle auf ihn, die sie verabredet hatten: dem Tisch am Eckfenster. Er trug einen Anzug von Brooks Brothers, ein Buttondown-Hemd und Slipper. Es war die gleiche Kleidung, die er immer trug. Er war offenbar schon früher eingetroffen. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Zeitung, und er hatte das Kreuzworträtsel teilweise ausgefüllt. Keller kannte ihn als Harry Johnson, aber er war sich ziemlich sicher, dass das nicht sein richtiger Name war. Ein wenig ungelenk hob er eine Hand zum Gruß. Dann ging er über den rot-weiß gefliesten Boden und quetschte sich an die andere Seite des Tischs. In letzter Sekunde wurde ihm klar, dass er vergessen hatte, sein Jackett anzuziehen. Tja, nun war es dafür zu spät. Fest entschlossen, nichts zu tun, was unsicher oder schlecht vorbereitet wirken mochte, legte er das Jackett neben sich auf die Bank.

»Wie geht es Ihnen, Mr Keller?« Johnson hatte einen breiten Manhattan-Akzent.

»Es geht mir gut. Danke.«

Harry Johnson war zehn oder fünfzehn Jahre jünger als er, wirkte allerdings mit seinem lang gezogenen Gesicht, den faltigen Wangen und dem kurz geschorenen grauen Haar älter. Er rollte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her. An einem Finger trug er einen goldenen Siegelring.

»Wie heißt die Hauptstadt von Venezuela?«, fragte er.

»Verzeihung?« Keller war völlig überrumpelt.

»Neun senkrecht. Die Hauptstadt von Venezuela. Es ist ein Wort mit sieben Buchstaben und beginnt mit einem C.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Keller gereizt. »Ich mache keine Kreuzworträtsel.«

»Schon gut. War nur eine Frage.« Johnson hob den Blick von der Zeitung. »Dann ist also alles erledigt?«

Dieses Mal wusste Keller, was er meinte.

Dies war ihr viertes Treffen. Keller erinnerte sich an das erste Mal, eine scheinbar zufällige Begegnung in einer Bar in der Innenstadt von Salisbury. Johnson war einfach plötzlich da gewesen, auf dem Barhocker neben ihm. Keller hätte unmöglich sagen können, wann er sich gesetzt hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen. Johnson hatte behauptet, er sei Geschäftsmann, was vermutlich stimmte, aber vieles bedeuten konnte. Die Tatsache, dass Keller Raketenwissenschaftler war, schien ihn zu faszinieren, und im Laufe der zweiten Runde Drinks – Johnson bestand darauf, zu bezahlen – stellte er eine Reihe interessierter, aber unverfänglicher Fragen, nichts Alarmierendes. Natürlich war die ganze Sache arrangiert gewesen. Er hatte alles über Keller gewusst, bevor sie auch nur ein einziges Wort gewechselt hatten. Am Ende des Abends verabredeten die beiden Männer ein erneutes Treffen. Warum nicht? Johnson war ein angenehmer Geselle, und als er ging, erwähnte er beiläufig, dass er vielleicht ein Angebot für Keller hätte. »Sie könnten ein wenig Geld verdienen. Nur ein Gedanke. Lassen Sie uns beim nächsten Mal darüber reden.«

Aber beim nächsten Mal hielt er ihn hin. Sie sprachen über ihre Frauen, ihre Familien, ihre Gehälter und ihre Sehnsüchte. Es war ein typisches Männergespräch, auch wenn meist Keller derjenige war, der redete. Erst beim dritten Treffen, als sie einander ein wenig besser kannten, unterbreitete Johnson ihm sein Angebot. Das war der Moment, in dem Keller zur Polizei oder noch besser zum Büro des Sicherheitschefs von Wallops Island hätte gehen sollen.

Natürlich hatte er das nicht getan. Johnson, oder seine Auftraggeber, hatten ihn ausgewählt, weil sie wussten, dass er es nicht tun würde. Sie hatten ihn vermutlich seit Monaten beobachtet. Und wer genau waren sie? Das kümmerte Keller nicht. Es war die gleiche Kurzsichtigkeit, die ihn durch den Krieg gebracht hatte. Er musste das große Ganze nicht kennen. Es war nicht wichtig. Er konzentrierte sich einfach auf das Angebot, das man ihm unterbreitete, und auf die zweihundertfünfzigtausend Dollar – steuerfrei –, die er erhalten würde, wenn er seine Aufgabe erfüllte. Er stimmte fast sofort zu, und es gab nur noch ein weiteres Treffen, um die Einzelheiten zu besprechen. Alles lief sehr direkt ab. Das, was man von ihm verlangte, war nicht leicht. Es erforderte ein umfassendes Verständnis von Festkörpermechanik und Zugspannung – aber das waren seine Fachgebiete. Doch sobald er die genauen Kalibrierungen ausgetüftelt hatte, blieb immer noch die Frage der eigentlichen Aufgabe. Bestenfalls würde er vier oder fünf Minuten allein haben. Das Risiko war beträchtlich – aber die Belohnung ebenfalls. Das war seine erste Berechnung gewesen.

»Also ist alles erledigt?«

»Ja.« Keller nickte. »Letztendlich war die Aufgabe sehr viel leichter, als ich erwartet hatte. Ich war in der Lage, die Montagehalle während einer Feuerübung zu betreten.« Er hielt inne. Er hatte sich von seiner Begeisterung mitreißen lassen und lief nun Gefahr, seine Leistung unter Wert zu verkaufen. »Natürlich musste ich sehr schnell arbeiten. Im Vorfeld eines Starts werden die Sicherheitsmaßnahmen immer erhöht. Und ich musste sehr sorgfältig vorgehen. Es bestand die Möglichkeit einer Inspektion in letzter Minute, müssen Sie wissen. Meine Arbeit musste …« Er suchte nach dem passenden Wort. »… unsichtbar sein.«

»Der Antrieb wird versagen?«

»Nein. Aber er wird nicht effektiv sein. Die Menge an Treibstoff, die in die Brennkammer gepumpt wird, wird nicht ausreichend sein. Es ist so, wie ich es Ihnen erklärt habe. Das Ergebnis wird genau so sein, wie Sie es sich gewünscht haben.«

Die beiden Männer schwiegen, als eine Kellnerin mit Kaffee und eisgekühltem Wasser an ihren Tisch kam. Zwei Speisekarten lagen ungeöffnet vor ihnen. Sie hatten nicht vor, etwas zu essen.

»Was ist mit dem Zeitplan des Starts?«, wollte Johnson wissen.

Keller zuckte mit den Schultern. Er mochte keinen Kaffee. Wie viele Liter dieses Zeugs hatte er seit seiner Ankunft in Amerika getrunken, während er rauchend die Nächte durchgearbeitet hatte? Er schob die Tasse von sich. »Er hat sich nicht geändert … zwölf Tage von heute an. Ich habe mir die Vorhersagen angesehen. Das Wetter ist gut. Aber man kann nie sicher sein. Die Windscherung ist von enormer Wichtigkeit, und wenn die Bedingungen nicht stimmen …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. »Aber das ist nicht meine Sorge. Ich habe getan, was Sie verlangt haben. Haben Sie das Geld?«

Der andere Mann sprach nicht. Seine Augen waren fest auf den Deutschen gerichtet. Dann klappte er eine Sonnenbrille auf, die an seiner Brusttasche gehangen hatte. Es war das Zeichen, dass ihr Handel abgeschlossen war. »Unter dem Tisch steht ein Aktenkoffer.«

»Und das Geld?«

»Alles drin.«

Johnson schickte sich an, zu gehen, doch Keller hielt ihn zurück. »Ich muss Ihnen etwas mitteilen«, beharrte er. »Es ist wichtig.« Er hatte geprobt, was er nun sagen würde. Er war recht stolz auf die Formulierung, die er sich überlegt hatte, und darauf, wie sorgfältig er alles durchdacht hatte. »Ich werde das Geld nicht zählen. Ich werde davon ausgehen, dass alles da ist. Aber gleichzeitig muss ich Sie warnen. Ich weiß nicht, wer Ihre Auftraggeber sind, und es ist mir auch egal. Sie arbeiten ganz offensichtlich für wichtige Leute. Aber eine Viertelmillion Dollar ist eine Menge Geld. Es steht viel auf dem Spiel. Und es ist möglich, dass Sie mich zu Ihrer eigenen Sicherheit zum Schweigen bringen wollen. Das wäre nicht schwierig, oder? Soweit ich weiß, könnte sich in diesem Aktenkoffer ein Sprengsatz befinden, und ich könnte tot sein, bevor ich mein Auto erreiche. Oder es könnte einen Unfall auf der Autobahn geben.

Also sollten Sie wissen, dass ich alles, was zwischen uns stattgefunden hat, und alles, worum man mich gebeten hat, aufgeschrieben habe. Ich habe Sie nicht nur beschrieben, ich habe Sie auch fotografiert. Ich hoffe, Sie vergeben mir diese kleine List, aber ich bin sicher, Sie werden meine Lage verstehen. Ich habe auch eine Notiz zu dem Wagen, den Sie fahren, inklusive Nummernschild hinzugefügt. Das alles ist bei einem Freund von mir deponiert, und er hat die Anweisung erhalten, es den Behörden zu übergeben, falls mir irgendetwas Verdächtiges zustoßen sollte. Verstehen Sie, was ich sage? Es wird keine Raketenfehlfunktion geben. Und auch wenn die Polizei eine Weile brauchen wird, um Sie zu finden, wird sie von Ihrer Existenz wissen und Ihnen für immer auf den Fersen sein.«

Johnson hatte sich alles schweigend angehört. Keller kam zum Ende, und Johnson starrte ihn ungläubig an. Es war das erste Mal, dass er überhaupt eine echte Gefühlsregung zeigte. »Für was für Leute halten Sie uns?«, fragte er. »Glauben Sie, wir sind Gangster? Ich muss schon sagen, Tom, Sie haben die falschen Bücher gelesen. Wir haben Sie gebeten, uns einen Dienst zu erweisen. Sie haben uns diesen Dienst erwiesen und wurden bezahlt. Sie liegen übrigens falsch. Eine Viertelmillion Dollar ist im Großen und Ganzen gesehen nicht viel Geld. Sie werden nur dann wieder von uns hören, wenn sich herausstellen sollte, dass Sie nicht das getan haben, was ausgemacht war, und unter diesen Umständen könnte Ihr Leben tatsächlich auf dem Spiel stehen. Doch auch wenn Sie uns nicht vertrauen, haben wir absolutes Vertrauen in Sie.« Er warf ein paar Münzen auf den Tisch, um für den Kaffee zu bezahlen, rollte die Zeitung zusammen und stand auf. »Auf Wiedersehen.«

»Warten Sie …« Keller war ganz verlegen. »Caracas«, sagte er.

»Caracas?«

»Die Lösung für Ihr Kreuzworträtsel. Die Hauptstadt von Venezuela.«

Johnson nickte. »Natürlich. Danke.«

Keller beobachtete, wie er davonging. Seine Rede war tatsächlich ein wenig melodramatisch gewesen, inspiriert durch ein paar der Filme, die er mit seiner Frau gesehen hatte. Außerdem entsprach sie nicht der Wahrheit. Es gab keine Aufzeichnungen, kein Foto, keinen Freund, der darauf wartete, zur Polizei zu gehen. Er hatte nur gedacht, dass die Androhung ausreichen würde, ihn zu schützen, falls es notwendig werden sollte. Hatte er damit falschgelegen? Hatte er sich zum Narren gemacht? Dann erinnerte er sich an das Geld. Er tastete unter dem Tisch herum und stieß mit den Fingerknöcheln gegen etwas, das an der Wand stand. Der Aktenkoffer! Er zog ihn nach oben, klappte die Verschlüsse auf und öffnete den Koffer gerade weit genug, um einen schnellen Blick hineinwerfen zu können. Es schien alles da zu sein: Bündel aus Fünfzigdollarscheinen, in ordentlichen Stapeln aufgereiht. Er schloss den Koffer, zog sein Jackett an und eilte nach draußen. Auf dem Parkplatz war keine Spur von Harry Johnson zu sehen. Er ging zu seinem eigenen Wagen, warf den Aktenkoffer auf den Beifahrersitz und stieg ein.

Er brauchte weitere zwanzig Minuten, um nach Hause zu fahren, wo, wie er wusste, Gloria auf ihn warten würde. Der Gedanke an Gloria entlockte ihm ein Lächeln. Er entspannte sich ein wenig am Steuer. Letztendlich hatte er das alles für sie getan.

Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, klein und ein wenig pummelig, aber auf eine Art und Weise, die er sehr aufregend fand. Ihre Brüste und Hüften drohten immer, den Stoff ihrer Kleidung zu sprengen. Sie war noch ein Teenager gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, und als er ihr von sich erzählt hatte, war sie begeistert gewesen. Dieser Mann war aus Europa ins Land geschmuggelt worden und arbeitete in einer streng geheimen Forschungseinrichtung, wo er Weltraumraketen baute. Das klang wie etwas aus den Schundromanen, die sie so gerne las, und die Tatsache, dass er Deutscher und unattraktiv war und manchmal schmerzhafte Dinge von ihr verlangte, schien ihr nichts auszumachen. Sie waren bei ihrer Hochzeit ziemlich glücklich gewesen und hatten sich dafür entschieden, nach Norden zu ziehen. Die Wahl war auf Salisbury gefallen, weil es in der Nähe von Wallops Island lag. Sie hatten ein Haus gekauft und die Möbel gemeinsam ausgesucht. Doch seitdem war es zwischen ihnen nicht so gut gelaufen. Sie konnten keine Kinder bekommen. Sie langweilte sich zu Hause und auf der Arbeit. Sie führte ein kleines Restaurant, das erst am Wochenende zum Leben erwachte und ansonsten kaum Gäste hatte. Sie wollte nichts mehr über Raketen hören, und in letzter Zeit kam sie auch nur noch widerwillig zu den Startveranstaltungen. Und doch liebte Keller sie noch. Er fühlte sich definitiv zu ihr hingezogen. In gewisser Weise betrachtete er sie als das ultimative Statussymbol, die Bestätigung eines arbeitsreichen Lebens. Sie war seine amerikanische Ehefrau. Er verdiente sie.

Er hatte ihr von seinem neuen Freund Harry Johnson erzählt und auch, worum dieser ihn gebeten hatte. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, die Sache ohne ihre Zustimmung durchzuziehen. Er war froh, dass er es getan hatte. Es stand unglaublich viel auf dem Spiel. Er war kurz davor, ein Verbrechen zu begehen, für das er, falls er erwischt wurde, wegen Verrats angeklagt werden würde. Doch Gloria war von Anfang an sogar noch entschlossener als er gewesen. Sie hatte ihn angetrieben, wenn er den Mut verloren hatte. Seit Wochen sprachen sie nun schon über die Zukunft, die sie sich schaffen würden, darüber, was sie mit dem Geld anstellen würden, wie vorsichtig sie sein mussten, um nicht zu schnell zu viel davon auszugeben. Keller kam es vor, als wäre seine Frau wie ausgewechselt. Er erinnerte sich nun wieder daran, wie sie gewesen war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. All ihre Energie und Lebensfreude waren zurückgekehrt. Und sie hatte auch wieder Lust im Bett und gab sich ihm mit der gleichen Leidenschaft hin wie in ihrer Hochzeitsnacht.

Sie wartete an der Eingangstür ihres holzverkleideten Bungalows mit dem einzelnen Panoramafenster und der Anbaugarage. Es war ein Haus wie aus einem Katalog, mit ordentlichem Vorgarten und weißem Gartenzaun. Keller parkte in der Auffahrt und ging mit dem Aktenkoffer in der Hand zu ihr. Sie küssten sich in der Tür. Sie trug ein Kleid mit Blumenmuster, das in der Taille gebunden war. Ihr blondes Haar fiel in Locken über ihre Schultern. In diesem Augenblick wollte Keller sie mehr als je zuvor.

»Hast du es?«, fragte sie.

»Ja.«

»Hast du es gezählt?«

»Es ist alles da. Das war nicht nötig.«

»Du hättest es zählen sollen.«

»Das können wir drinnen machen.«

Sie gingen zusammen hinein, in das hübsche Wohnzimmer mit dem Sofa, dem Beistelltisch und dem Fernseher. Sie öffneten den Koffer und zählten das Geld. Gloria stand dabei vor ihm und presste ihre Schultern und ihren Hintern gegen ihn, während er seine Arme um sie gelegt hatte. Als sie sicher waren, dass das ganze Geld da war, drehte sie sich um und küsste ihn auf die Wange. »Ich habe Champagner kalt gestellt«, sagte sie.

Er folgte ihr in die Küche und stand da, während sie in der Schublade herumkramte. »Ich kann den verdammten Korkenzieher nicht finden«, erklärte sie.

Er ging zu ihr, und erst als er sie erreichte, wurde ihm klar, dass man eigentlich gar keinen Korkenzieher brauchte, um eine Champagnerflasche zu öffnen. Genau in diesem Augenblick drehte sie sich um, und er spürte, wie sich etwas in ihn hineinbohrte. Er schaute nach unten und sah das Unglaubliche: Ein Messergriff ragte aus seinem Bauch. Das musste ein Fehler sein. Das konnte nicht wahr sein. Doch dann sah er auf, fand ihren Blick und wusste, dass es stimmte. Er versuchte, zu sprechen, doch das Blut strömte aus ihm heraus und nahm seinen Atem und sein Leben mit sich. Er hielt sie immer noch fest, als er auf die Knie sackte. Dann trat sie zur Seite, und er kippte vornüber auf den Boden. Gloria schaute zu ihm hinunter und erschauderte. Es war nicht der Anblick des Blutes, das sich auf dem Linoleum ausbreitete, der sie anwiderte. Es war die Erinnerung an seine Hände auf ihrem Körper, an den sauren Geruch seines Atems.

Es gab nicht mehr viel zu tun.

Sie hatte das Benzin bereits gekauft. Sie verteilte es auf ihrem toten Ehemann, in der Küche, im Wohnzimmer und auf der Treppe. Dann nahm sie den Koffer, in den sie die paar Dinge gepackt hatte, die sie mitnehmen wollte, und legte das Geld hinein. Schließlich zündete sie ein Streichholz an.

Sie nahm den Crosley-Kombi ihres Mannes, obwohl es ein scheußliches Auto war. Wenigstens konnte sie sich darauf verlassen, dass es sie bis nach Kalifornien brachte, wo sie ihr neues Leben beginnen wollte. Sie erreichte das Ende der Auffahrt und bog auf die Straße, ohne zurückzuschauen. Daher sah sie weder die ersten Flammen, die hinter ihr aufstoben, noch den Rauch, der in die Abendluft aufstieg.

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WAS HOCHFLIEGT …

1

AN DIE ARBEIT

James Bond öffnete die Augen. Es war genau sieben Uhr. Das wusste er, ohne einen Blick auf den Wecker neben seinem Bett werfen zu müssen. Das Licht der Morgensonne strömte bereits ins Zimmer und bahnte sich seinen Weg durch die Spalten zwischen den Vorhängen. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, ein sicheres Zeichen dafür, dass er am Abend zuvor einen Whisky zu viel getrunken hatte. Um wie viel Uhr war er ins Bett gegangen? Weit nach Mitternacht. Und ins Bett gehen hatte nicht schlafen bedeutet.

»Wie spät ist es?« Die Frau, die neben ihm lag, war ebenfalls aufgewacht. Ihre Stimme war weich und schläfrig.

»Sieben.« Bond streckte eine Hand aus und streichelte das kinnlange schwarze Haar. Dann ließ er die Hand sanft weiter nach unten wandern.

»Hör auf, James. Ich brauche meinen Schlaf. Es ist viel zu früh.«

»Nicht für mich.«

Bond schwang sich aus dem Bett und tappte ins Bad. Eine der Besonderheiten des umgebauten Regency-Hauses an der King’s Road in Chelsea, in dem er lebte, war die Tatsache, dass das helle, weiß gekachelte Badezimmer exakt die gleiche Größe wie das Schlafzimmer hatte. Vielleicht war das eine zu klein und das andere zu groß, aber Bond hatte sich daran gewöhnt, und es bestand absolut kein Grund, etwas daran zu ändern. Man würde einfach nur um der Konvention willen Zeit mit Architekten und Bauarbeitern verschwenden. Er trat in die gläserne Duschkabine und drehte das Wasser auf, erst sehr heiß und dann fünf Minuten lang eiskalt, wie jeden Morgen.

Er verließ die Dusche, wickelte sich ein Handtuch um die Hüften und ging zum Waschbecken. In einem Leben, in dem nichts vorhersehbar war und das ohne Vorwarnung bedroht oder beendet werden konnte, war ihm dieses morgendliche Ritual sehr wichtig. Es tat gut, jeden Tag mit dem Gefühl zu beginnen, dass alles an seinem vorgesehenen Platz war. Er rasierte sich mit dem Rasierschaum mit Orangen- und Bergamotteduft, den er immer bei Floris in der Jermyn Street kaufte. Dann wusch er die Schaumrückstände ab. Der Spiegel war beschlagen, und er wischte mit einer Hand darüber, um in graublaue Augen zu starren, die ihn ruhig musterten, wie sie es immer taten. Er sah ein schmales Gesicht und dünne Lippen, die einen Hang zur Grausamkeit hatten. Er drehte den Kopf, um die Verbrennung auf seiner rechten Wange zu begutachten, die er einer Kugel verdankte, die aus kurzer Entfernung in einer Boeing 377 Stratocruiser hoch über dem Atlantik abgefeuert worden war. Glücklicherweise war die Verletzung schon fast verheilt. Bond hatte bereits eine dauerhafte Narbe im Gesicht, und er wusste, dass man eine Verletzung als Missgeschick abtun konnte, zwei jedoch definitiv zu einem Kommentar einladen würden – was angesichts seines Berufs nicht gerade wünschenswert war.

Er zog sich eine Baumwollshorts an und ging dann ins Schlafzimmer zurück. Das Bett war leer, die Laken noch warm von der Erinnerung an die vergangene Nacht. Er trat vor den Schrank und nahm einen dunklen Anzug, ein weißes Seidenhemd und eine schmale graue Satinkrawatte heraus. Er zog sich schnell an und nahm gleichzeitig erfreut den Duft von Kaffee wahr, der aus der Küche unten zu ihm herauftrieb. Zu guter Letzt zog er schwarze Mokassins an, ließ dann sein Zigarettenetui aus Geschützbronze in seine Innentasche gleiten und machte sich auf den Weg nach unten. Es war kurz nach halb acht.

Pussy Galore wartete in der Küche auf ihn. Sie trug nicht mehr als eines seiner Hemden, das ihr natürlich viel zu groß war. Als er hereinkam, drehte sie sich um und schaute ihn mit ihren erstaunlichen violetten Augen an, die ihn bei ihrer ersten Begegnung in der Lagerhalle in Jersey City vor knapp zwei Wochen sofort in ihren Bann geschlagen hatten. Damals war sie die Anführerin einer lesbischen Organisation gewesen, den sogenannten Zementmischern. Auric Goldfinger hatte sie rekrutiert, um ihm bei der Durchführung des Raubzugs des Jahrhunderts zu helfen. Im Laufe des Abenteuers war sie erst Bonds Verbündete und dann unweigerlich auch seine Geliebte geworden. Für Bond war diese Eroberung besonders befriedigend gewesen, denn er hatte auf den ersten Blick ihre Unnahbarkeit erkannt – eine Weigerung, geliebt zu werden. Er hatte sie von dem Moment an begehrt, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war in einem perfekt sitzenden Anzug auf ihn zugekommen und hatte sich in einem Raum voller Gangster behauptet. Er betrachtete sie, wie sie nun dastand: das schwarze, ungleich geschnittene Haar, die vollen Lippen, die prominenten Wangenknochen. Er konnte nur schwer glauben, dass dies eine Frau war, die Männern gegenüber lediglich Misstrauen und Hass verspürt hatte, bis er in ihr Leben getreten war.

Sie goss zwei Tassen Kaffee ein – die extra starke Mischung von De Bry, die Bond bevorzugte – und brachte dann ein einzelnes gekochtes Ei an den Tisch.

»Bitte sehr«, sagte sie. »Genau drei ein Drittel Minuten lang gekocht, so wie du es magst.«

Sie selbst aß nichts. Sie hatte sich bereits eine Bloody Mary mit einem großen Schuss Smirnoff White Label Wodka und genug Tabasco gemacht, um damit ihre Magenschleimhaut in Brand zu stecken. Sie saß mit dem Drink vor sich da und rührte ihn geistesabwesend mit einer Selleriestange um. »Also, was hast du heute vor, Bond?«, fragte sie. »Du gehst um halb neun zur Arbeit. Ich stehe normalerweise nie vor zehn Uhr auf. Mir fallen immer eine Menge Dinge ein, die man vor dem Frühstück machen kann, je nachdem, wer gerade bei mir ist. Ich wohnte früher immer in diesen protzigen Schuppen in New York, und du kannst mir glauben, dass ich dem Wort ›Zimmerservice‹ eine ganze neue Bedeutung verliehen habe. Aber du bist anders, oder? Du rettest noch vor dem Mittagessen drei Mal das Vaterland …«

Tatsächlich hatte sich Bond für eine Trainingsstunde auf der Schießanlage angemeldet, die sich im Keller seines Bürogebäudes befand. Den Rest des Tages würde er damit verbringen, den Papierkram abzuarbeiten, der sich in seiner Abwesenheit angesammelt hatte. Mittags würde er vielleicht eine kurze Pause machen, um mit Bill Tanner, dem Stabschef und seinem engsten Freund beim Service, etwas essen zu gehen. Aber er erzählte ihr nichts davon. Was hinter den Wänden des neun Stockwerke hohen Gebäudes am Regent’s Park passierte, ging nur die dortigen Mitarbeiter etwas an und durfte nicht mit Außenstehenden besprochen werden. Letztendlich war es deswegen immer am einfachsten, gar nichts zu sagen.

»Was ist mit dir?«, fragte er.

»Ich habe mich noch nicht entschieden.« Die Selleriestange drehte eine weitere Runde am Rand des Glases entlang. »Ich liebe deine Stadt. Wirklich. Alles, was du mir gezeigt hast – den Tower, den Palast, die Houses of Was-auchimmer … Ich hätte nie gedacht, dass ich mal nach London komme, und nun verstehe ich, warum ihr Briten so selbstzufrieden seid. Vielleicht könnte ich hier leben. Ich könnte anfangen, nach einer Wohnung zu suchen. Was meinst du?«

»Das ist eine Idee.«

»Eine schlechte. Die würden das nie erlauben. Wer will schon eine Gaunerin wie mich? Abgesehen von dir, und du willst mich aus den falschen Gründen.« Sie seufzte. »Ich weiß nicht. Ich bin nicht in der Stimmung, mir noch mehr Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Nicht allein.«

»Ich kann mir nicht noch länger freinehmen.«

»Schon gut. Ich werde einkaufen gehen. Das sollte ein Mädchen in London doch machen, oder? Ich werde einen Hut kaufen.«

»Mit einem Hut würdest du lächerlich aussehen.«

»Wer sagt, dass er für mich ist?«

»Ich werde nicht spät nach Hause kommen. Wir können heute Abend ausgehen. Ich kann einen Tisch im Scott’s besorgen.«

»Ja. Sicher.« Sie klang gelangweilt. »Solange du mich nicht zwingst, noch mehr Austern zu essen. Ich könnte einen Abend ohne Schleim im Mund vertragen.«

Sie wartete, bis Bond sein Ei aufgegessen hatte, dann zündete sie zwei Zigaretten an – nicht die von Morlands, seine Lieblingsmischung, die er extra anfertigen ließ, sondern ihre eigenen Chesterfields. Sie reichte Bond eine, und er nahm einen tiefen Zug. Er kam zu dem Schluss, dass die erste Zigarette des Tages eindeutig besser schmeckte, wenn sie vorher zwischen den Lippen einer schönen Frau gesteckt hatte.

Eine ganze Weile lang sprachen sie nicht. Es war eine unangenehme Stille voller düsterer Gedanken und unausgesprochener Worte. Bond trank seinen Kaffee und warf einen Blick auf die Titelseite der Times, die Pussy von draußen hereingeholt hatte. Nichts über das Spektakel in Amerika. Diese Angelegenheit war von den Titelseiten verschwunden. Ein Artikel über Apartheid. Der medizinische Forschungsrat beharrte darauf, eine Verbindung zwischen Rauchen und Lungenkrebs gefunden zu haben. Bond starrte auf die glühende Spitze der Zigarette in seiner linken Hand. Er hatte nie geraucht, weil er glaubte, es wäre gut für ihn, und wenn der Krebs auf die verrückte Idee kam, ihn umbringen zu wollen, würde er sich hinten anstellen müssen. Auf der anderen Seite des Tischs trank Pussy ihre Bloody Mary aus. Bond schob die Zeitung beiseite, stand auf und küsste sie flüchtig auf die Lippen. »Wir sehen uns später.«

Plötzlich hielt sie ihn fest, und in ihren Augen lag eine seltsame Härte. »Wenn du willst, dass ich gehe, brauchst du es nur zu sagen, weißt du?«

»Ich will nicht, dass du gehst.«

»Nein? Tja, vergiss nicht – du warst derjenige, der mich hierher eingeladen hat. Ich bin bestens ohne dich zurechtgekommen, und glaub ja nicht, dass ich dich jetzt brauche.«

»Fahr die Krallen wieder ein, Pussy. Ich bin froh, dass du hier bist.«

Aber war er das tatsächlich? Als er am Steuer seines 4½-Liter-Bentleys saß und leise in Richtung Hyde Park brauste, dachte Bond über seine Worte nach und fragte sich, ob er sie auch so gemeint hatte.

Was als Routineermittlung in einem Fall von Goldschmuggel begonnen hatte, war zu einem der gefährlichsten – und wunderlichsten – Aufträge in Bonds Karriere geworden. Irgendwie hatte er sich mitten in einer Verschwörung wiedergefunden, die die Elite der amerikanischen Verbrechersyndikate zusammengebracht hatte, darunter die Maschine, die Zementmischer und die Unione Siciliano. Dabei hatte er Pussy Galore getroffen, und sie war am Ende bei ihm gewesen, als Bond Goldfinger konfrontiert und sein Flugzeug vom Himmel geholt hatte. In Wahrheit hatte sie wenig getan, um ihm zu helfen, aber er musste anerkennen, dass ihre Anwesenheit, das Wissen, eine Freundin im feindlichen Lager zu haben, ihn dazu angespornt hatte, seine haarsträubende Flucht durchzuführen.

Erst später war die Frage aufgekommen, was er mit ihr anstellen sollte. Er hatte Amerika in Windeseile verlassen, da die Presse zu viele Fragen gestellt hatte. Das FBI und das Pentagon waren in voller Alarmbereitschaft gewesen. Die Tatsache, dass Goldfinger kurz davor gestanden hatte, auf amerikanischem Boden eine chemische Waffe einzusetzen, hatte in den obersten Kreisen für Entsetzen und Empörung gesorgt. Goldfinger hatte Bond erzählt, dass er die vier wichtigsten Bandenanführer getötet hätte, aber das musste noch bestätigt werden, und in der Zwischenzeit wurden ihre Verbündeten im ganzen Land bedrängt und überall wurden Verhaftungen durchgeführt. Pussy Galore war ein Teil der Verschwörung gewesen. Eine bekannte Kriminelle, die von Einbruchsdiebstahl zu organisiertem Verbrechen übergegangen war. Sie hatte mit den Verantwortlichen hinter dem Mord an Mr Helmut M. Springer von der Purple-Gang konspiriert. Das Ganze war eine knappe Geschichte gewesen, und die Amerikaner waren nicht in der Stimmung, Ausnahmen zu machen. Wenn sie ihnen in die Hände fiel, würde sie untergehen.

Unter diesen Umständen hatte Bond das Gefühl gehabt, keine Alternative zu haben. Er hatte sie mitgenommen und seine Entscheidung gerechtfertigt, indem er (fälschlicherweise) berichtete, dass sie eingewilligt hätte, zu kooperieren, und über entscheidende Informationen verfügte, die der Bank of England beim Aufspüren des verschwundenen Golds helfen konnten. Pussy Galore war noch nie zuvor in London gewesen. Sie konnte nirgendwo unterkommen. Es erschien ihm nur vernünftig, sie in seiner eigenen Wohnung unterzubringen – zumindest bis sich die Dinge beruhigt und sie entschieden hatten, was sie unternehmen würden.

Er bereute es bereits. Pussy brauchte ihn. Aber etwas in seiner Natur wollte nicht, dass man ihn brauchte – er verabscheute schon die bloße Vorstellung. Und abgesehen davon war sie außerhalb der Straßen Harlems einfach nicht in ihrem Element. Die Beziehung fing bereits an, ihren Reiz zu verlieren … wie ein Lieblingsanzug, den man einmal zu oft getragen hatte.

Bond wusste, dass es ungerecht war, aber er hatte sich noch nie ganz wohl dabei gefühlt, sein Leben mit einer Frau zu teilen. Er erinnerte sich an seine Zeit mit Tiffany Case, daran, wie das Ganze in sinnlosen Streitereien geendet hatte. Sie hatten sich nur noch angegiftet, bis sie in ein Hotel gezogen war und ihn schließlich ganz verlassen hatte. Er begehrte Pussy Galore nach wie vor, aber er wollte sie nicht. Sogar das gekochte Ei, das sie ihm zum Frühstück serviert hatte, hatte ihn irgendwie verärgert. Ja, er hatte seine Marotten. Er mochte es, wenn die Dinge auf eine bestimmte Weise gemacht wurden. Aber er wurde nicht gerne daran erinnert, und den leicht spöttischen Tonfall in ihrer Stimme nahm er ihr entschieden übel.

Er wusste nicht, was er mit ihr anstellen sollte. Sie hatten zwei wundervolle Tage miteinander verbracht, ein paar Touristenattraktionen in London besucht, und sie hatte alles mit dieser kindlichen Begeisterung geliebt, die man verspürt, wenn man sich endlich außer Gefahr befindet. Sie hatte darauf bestanden, eine Bootstour auf dem Fluss zu machen. Als sie gemeinsam auf dem Deck gesessen und beobachtet hatten, wie die diversen Brücken an ihnen vorbeigezogen waren, hätten sie ein beliebiges Paar sein können, einfach zwei gewöhnliche Leute, die die Gesellschaft des anderen und später dann einander genossen. Und doch konnte es nicht ewig so weitergehen. Bond fühlte sich bereits unbehaglich. Erst am vergangenen Abend hatte er zufällig einen Bekannten im Savoy getroffen und insgeheim Zufriedenheit verspürt, als der Blick des anderen Mannes über die schöne Frau an seinem Arm gewandert war. Doch dann hatte sie alles verdorben, indem sie sich vorgestellt hatte. Pussy Galore. Der Name, der bei ihrer ersten Begegnung bei der Verbrecherversammlung in Jersey City sowohl herausfordernd als auch angemessen gewesen war, wirkte in einem angesehenen Londoner Hotel plump, fast kindisch.

Er war nur froh, dass sich May, seine ältliche Haushälterin, einen Monat freigenommen hatte, um ihre kranke Schwester in Arbroath zu pflegen. Was hätte sie wohl zu seiner neuen Mitbewohnerin gesagt? Bond konnte ihre Stimme fast hören, als er sich in den Verkehr an der Hyde Park Corner einordnete und auf die Park Lane abbog. Es war, als säße sie neben ihm. »Für Sie ist das in Ordnung, Mr James. Sie müssen tun, was Ihnen gefällt, und es steht mir nicht zu, Sie zu kritisieren. Aber wenn Sie mich fragen, würde ich sagen, dass Sie sich lieber ein nettes englisches Mädchen suchen sollten, das sich um Sie kümmert. Oder noch besser ein schottisches. Sie wissen ja, was man sagt. Nur die inneren Werte zählen! Daran sollten Sie immer denken …«

Zwei Stunden später haftete Bond der Geruch von Kordit an, als er im fünften Stock des Hauptquartiers des Secret Service aus dem Aufzug trat und auf die Tür ganz rechts zuging. Sie führte in ein kleines Vorzimmer, in dem eine junge Frau saß und die Post sortierte. Sie stand nicht auf, als er hereinkam, wodurch Bond sofort wusste, dass sie unzufrieden mit ihm war. Loelia Ponsonby war in jeder Hinsicht die perfekte Sekretärin. Sie war diskret, treu, effizient und außerdem umwerfend schön. Normalerweise hätte sie sich sofort um ihn gekümmert, ihm sein Jackett abgenommen und ihn mit dem neuesten Bürotratsch versorgt. Aber sie hatte seine Reiseunterlagen gesehen, als er aus Amerika zurückgekehrt war. Sie hatte seine Berichte abgetippt. Zweifellos hatte sie bemerkt, dass Bond nicht allein zurückgekommen war und dass sich eine gewisse P. Galore nun in Chelsea niedergelassen hatte. Loelia Ponsonby war nicht eifersüchtig. Ein solcher Charakterzug passte nicht zu ihr. Aber nachdem sie so viel Zeit in einer Welt verbracht hatte, die aus Geheimnissen und Pflichtgefühl bestand, hatte ein wenig der vorherrschenden Strenge auf sie abgefärbt, und es missfiel ihr, wenn sich ein Agent – besonders einer aus der Doppelnullabteilung – mit jemandem vergnügte, der bestenfalls eine Ablenkung und schlimmstenfalls ein Sicherheitsrisiko darstellte.

»Irgendwelche Nachrichten?«

»Mr Dickson hat angerufen. Er sagt, er kommt nächste Woche vorbei und will Sie bei Swinley treffen.«

Bond lächelte in sich hinein. Dickson war nur einer der Namen, die Agent 279 benutzte, der von Station H aus in Hongkong operierte. Jedes Jahr kam er für vierzehn Tage nach England zurück, um seinem beengten fensterlosen Büro zu entkommen. »Gott sei Dank – zwei Wochen Ruhe vor dem Duftenden Hafen«, pflegte er dann immer zu sagen. Zu diesem Ritual gehörte, dass er Bond zu einer Partie Golf einlud, obwohl er einer der schlechtesten Spieler auf dem Planeten war. Er verfehlte regelmäßig den Ball, schlug Stücke aus dem Rasen und stieß dabei deftige Schimpfwörter aus. Aber in Hongkong gab es nur einen Golfclub. »Und das Gras stammt aus Afrika, ist das zu fassen?« Ihm gefiel der Tapetenwechsel. Er gab ihm das Gefühl, nach Hause zu kommen.

»Sonst noch etwas?«, fragte Bond.

»Nur Papierkram.« In ihrer Stimme klang ein Anflug von Entschuldigung mit. Sie wusste, was er von Papierkram hielt.

Bond ging in sein Büro mit den drei Schreibtischen – zwei davon waren wie immer unbesetzt – und nahm Platz. Loelia Ponsonby hatte die braunen Aktenmappen aufgestapelt, und er wusste, dass sie die dringendsten ganz nach oben gelegt hatte. Er nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche und zündete sich seine fünfte Zigarette des Tages an. Er nahm einen tiefen Zug und griff nach der obersten Akte.

Er hatte sie kaum zu sich herangezogen, als das Telefon klingelte. Das Geräusch war in dem Raum mit der Holzvertäfelung und der hohen Decke fast unanständig laut. Es war Ms Stabschef. »Können Sie raufkommen?«, fragte er. »M will mit Ihnen reden.«

Und das war es. Acht Wörter, die alles bedeuten konnten: eine neue Aufgabe, eine Einladung, die Notwendigkeit eines umgehenden Todes. Bond zog noch einmal an seiner Zigarette, dann drückte er sie aus und machte sich auf, um seinem Schicksal zu begegnen.

2

RASENDE UNGEWISSHEIT

Der Kommunikationsraum des Secret Service befand sich mittlerweile im siebten Stock des Gebäudes. Früher war er im Keller gewesen. Aufgrund einer der ersten Anweisungen, die M in der Woche nach seinem Arbeitsantritt als Geheimdienstleiter erlassen hatte, war er verlegt worden. Es war Ms Wunsch, zumindest einen Teil des körperlichen Trainings seiner Agenten ins Gebäude zu holen. Also hatte er die Behörden so lange unter Druck gesetzt, bis man ihm Gelder für einen hoch entwickelten, modernen Schießübungsstand sowie dazugehöriges Vollzeitpersonal bewilligt hatte. Auf den Hinweis, dass der Kommunikationsraum den Platz belegte, den er dafür benötigte, hatte er eine der knappen Nachrichten versandt, die schon bald zu seinem Markenzeichen werden sollten. »Verlegen.« Und so war der Raum umgezogen.

Vielleicht aus nostalgischen Gründen strahlte der Kommunikationsraum allerdings immer noch viel von seinem unterirdischen Charme aus. Die Jalousien waren immer heruntergelassen, und obwohl es Deckenbeleuchtung gab, war sie stets gedimmt, als würde das irgendwie zu der geheimen Natur der Arbeit beitragen, die hier vonstattenging. Die Mitarbeiter – sie waren hauptsächlich weiblich – zogen die konzentriertere Beleuchtung der flexiblen Röhrenlampen von Artek vor, die an ihren Schreibtischen befestigt waren. Das einzig konstante Geräusch im Raum kam von einer Reihe ratternder Fernschreiber, die an den Wänden entlang aufgereiht waren. Am hinteren Ende des Raums stand ein runder Tisch, an dem der diensthabende Beamte der Kommunikationsabteilung saß und die hereinkommenden Informationen las, bevor er sie an die entsprechenden Abteilungen schicken ließ. Neben ihm befand sich eine Rohrpostvorrichtung. Die einzelnen Röhren führten zu den Büros der diversen Abteilungen, und während ihn die Nachrichten erreichten, erteilte er hin und wieder die Anweisung, sie zusammenzurollen, in einen Zylinder zu stecken und diesen dann in eine der Röhren zu befördern, die sich mit einem Zischen öffneten und schlossen. Eine Kopie jeder Nachricht verblieb auf seinem Schreibtisch.