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Karte

Handelnde Personen

Yvolar

ein alter Druide

Alphart

ein Wildfänger

Leffel Gilg

ein Bauer aus dem Unterland

Erwyn

ein Menschenjunge

Urys

ein Zwerg

Mux

ein Kobling

Walkar

ein Bärengänger

Rionna

Prinzessin von Iónador

Galfyn

Häuptling des Falkenclans

Herras

sein Waffenmeister

Alwys

König der Zwerge

Barand

Marschall von Iónador

Salmuz

Anführer der Wilden Männer

Fyrhack

der letzte Feuerdrache

Kaelor

ein Eisriese

Lorga

Anführer der Erle

Klaigon

Fürstregent von Iónador

Éolac

sein Seher

Muortis

Herrscher des Eises

96

Alphart spürte die Einsamkeit schwer auf sich lasten, so als würde sie auf seinen Schultern sitzen, ihn niederdrücken und jeden seiner Schritte hemmen. Der Wildfänger versuchte, möglichst nicht daran zu denken, dass er allein war und auf sich gestellt – und dass der einzige Freund, den er inmitten dieser feindseligen Unterwelt hatte, auf dem Weg war, dem finsteren Herrscher gegenüberzutreten. Seine ganze Aufmerksamkeit hatte der Aufgabe zu gelten, die man ihm übertragen hatte: den jungen Erwyn zu finden und ihn zu befreien.

Hätte man ihm noch vor einigen Wochen gesagt, dass er sich für einen hergelaufenen Knaben an den finstersten aller Orte begeben und Leib und Leben riskieren würde, um ihn zu retten, hätte er darüber nur gelacht und den Kopf geschüttelt. Aber die Zeiten hatten sich geändert. Die Welt war nicht mehr, was sie gewesen war, und auch ein gewisser Jägersmann, der, nach Rache dürstend, ins Tal gestiegen war, hatte seine Haltung in mancher Hinsicht überdacht.

Wer hätte geglaubt, dass ein Druide und ein Bauer aus dem Unterland seine besten Freunde werden könnten? Dass er Trauer und Wehmut über den Tod eines Zwergs empfinden würde? Und dass ein halbwüchsiger Knabe zur Hoffnung für ganz Allagáin werden sollte?

Noch vor nicht allzu langer Zeit waren all dies für Alphart, der nur für seine Rache gelebt hatte, befremdliche Gedanken gewesen. Inzwischen wusste er, dass Kameradschaft und wahre Freundschaft nicht nur unter Wildfängern existierten. Mit den Gefährten, mit denen zusammen er von Glondwarac aufgebrochen war, war er zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden, und er konnte es nicht hinnehmen, dass auch nur einer von ihnen in der Gewalt des Feindes zurückblieb.

Er pirschte sich durch eisverkrustete Stollen, die Wegbeschreibung Yvolars leise vor sich hin murmelnd. Ab und an zuckte er zusammen und hob die Axt, wenn er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Aber stets waren es nur Spiegelbilder seiner selbst auf dem schimmernden Eis. Seltsamerweise waren die Gänge nicht bewacht, was Alphart misstrauisch machte. Wenn der Weg, den der gefangene Erl ihnen beschrieben hatte, tatsächlich zum jungen Erwyn führte, weshalb gab es dann keine Wachen? Hüteten die Schergen des Bösen ihre wertvolle Geisel nicht?

Die Sache gefiel dem Wildfänger nicht, aber er sah keine andere Möglichkeit, als weiterzugehen. Wich er von dem Pfad ab, den Yvolar ihm beschrieben hatte, würde er sich binnen kürzester Zeit rettungslos verlaufen, und dann wäre alle Aussicht, den Jungen zu finden, vertan. Auch wenn es Alphart nicht behagte, er musste weiter den Weg beschreiten, den er eingeschlagen hatte, auch wenn er vielleicht in eine Falle führte.

Den Schaft der Axt mit beiden Händen umklammernd, ging er immer weiter, durch niedere, schmale Gewölbe, von deren Decke eigenartig geformte Eiszapfen wuchsen. Erst bei näherem Hinsehen wurde Alphart bewusst, dass es keineswegs nur gefrorenes Wasser war, das dort von der Höhlendecke hing; die bizarren Skulpturen hatten zum Teil die Form menschlicher Wesen, und hier und dort starrten bleiche, in ewigem Entsetzen erstarrte Mienen durch das milchige Weiß. Was diesen Elenden widerfahren war, darüber konnte der Wildfänger nur rätseln. Er hoffte, dass er noch rechtzeitig kommen würde, um Erwyn ein solch grausames Schicksal zu ersparen.

Eine Treppe vereister Stufen führte noch tiefer in das unterirdische Labyrinth hinab. An deren Fuß gewahrte Alphart – ebenso zu seiner Erleichterung wie zu seinem Entsetzen – zwei gedrungene Gestalten. Erle, die offenbar zur Bewachung abgestellt waren. Als Bewaffnung hielten sie kurze Speere in ihren Pranken, ihr Gestank war unbeschreiblich.

Alphart verharrte reglos, überlegte, wie er die beiden Unholde ausschalten konnte, ohne dass sie Alarm schlugen – da rutschte er plötzlich mit der linken Stiefelsohle auf den eisigen Stufen aus. Eine lautlose Verwünschung auf den Lippen, ruderte der Wildfänger mit der Axt, um das Gleichgewicht zu halten.

Vergebens…

Es war, als würden ihm beide Beine unter dem Körper weggetreten, und er krachte rücklings auf die Stufen – hätte er nicht den Schild auf dem Rücken getragen, der den Aufprall abfing, hätte er sich vermutlich das Rückgrat gebrochen. Mit den Beinen voraus rutschte Alphart die Treppe hinab – und krachte im nächsten Moment gegen einen der beiden Erle. Die schweinsgesichtige Kreatur gab ein überraschtes Grunzen von sich und kam ebenfalls zu Fall, während ihr Kumpan herumfuhr. Dessen Augen weiteten sich, als er den Eindringling gewahrte, dann stieß die Speerspitze erbarmungslos zu.

Alphart jedoch war schneller. Noch auf dem Boden liegend, warf sich der Wildfänger herum, und die Speerspitze bohrte sich in den Schild auf seinem Rücken. Dann hieb Alpahrt mit der Axt nach den Beinen des Unholds, die mit Fell umwickelt, ansonsten aber ungeschützt waren.

Es knackte hässlich, als das scharfe Blatt durch Fleisch und Knochen schnitt. Der Unhold kippte wie ein gefällter Baum, woraufhin der Jäger ein zweites Mal zuschlug und die Axt bis zum Schaft in seinem Rücken vergrub.

Dieser Erl rührte sich nicht mehr, wohl aber der andere, der sich schnaubend wieder auf die kurzen Beine gerafft hatte und dann angriff. Den Speer gesenkt, stürmte er heran.

Alphart, der noch neben dem erschlagenen Unhold auf dem Boden kauerte, riss an der Axt und versuchte, sie wieder freizubekommen, was ihm jedoch nicht gelang. Schon war die giftige Speerspitze heran, doch der Wildfänger warf sich im letzten Moment herum.

Zwar verfehlte ihn das Mordinstrument um Haaresbreite, was dem Erl ein wütendes Schnauben entlockte, jedoch war Alphart nun eine ganze Armlänge von seiner Axt entfernt, und das Messer an seinem Gürtel reichte kaum aus, um einen vor Wut rasenden Unhold aufzuhalten. Schon griff der Erl erneut an, den Speer beidhändig umklammernd – Alphart blieb nicht einmal Zeit, auf die Beine zu kommen. Auf den Knien kauernd, wollte er erneut ausweichen, als sein Blick auf den Speer des anderen Wächters fiel, der herrenlos neben ihm am Boden lag. Zum Werfen war die Distanz zu kurz, aber Alphart griff blitzschnell nach der Waffe und richtete sie auf – gerade in dem Moment, als der Angreifer ihn erreichte.

Der Erl, dessen ganze Konzentration darauf gerichtet war, den Eindringling zu vernichten, sah die Gefahr nicht kommen. Er bemerkte die Speerspitze erst, als sie sich mit der ganzen Wucht seines ungestümen Angriffs in seine Eingeweide bohrte und seiner Raserei ein jähes Ende setzte.

»So«, knurrte Alphart, »nun lasst uns sehen, ob das Gift, das ihr mischt, auch für euresgleichen tödlich ist.«

Der Unhold war in Reglosigkeit erstarrt.

Mit ungläubig geweiteten Augen starrte er Alphart an, während er unbeholfene Versuche unternahm, den Speer in seiner Hand doch noch in den Leib seines Gegners zu stoßen. Der Wildfänger sprang auf – gerade in dem Moment, als der Erl vornüberkippte und sich den Speer dadurch nur noch tiefer in den Wanst rammte. Blutbesudelt trat die Spitze in seinem Rücken wieder aus. Der Erl ließ noch ein heiseres Schnauben vernehmen, dann blieb er reglos liegen.

Alphart wandte sich ab und griff nach der Axt, die sich widerspenstig und schmatzend aus dem Fleisch des anderen Unholds löste.

Dann eilte er weiter den Eisstollen hinab und gelangte schließlich in eine Höhle, in deren Boden und Wände vergitterte Öffnungen eingelassen waren. Der Wildfänger hatte sein Ziel erreicht.

Dies mussten die Kerker von Urgulroth sein.

Ein unheimliches Stöhnen schwang in der bitterkalten Luft. Alphart konnte seiner Neugier nicht widerstehen und eilte zur erstbesten Gitteröffnung, die wenig mehr war als ein rundes, in den Boden geschlagenes Loch. Er spähte hinab, um sich sogleich wieder abzuwenden – denn was er dort im unheimlichen grünen Licht gewahrte, war durch Kälte und Folter so entstellt, dass es kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen aufwies.

»Hilfe …«, drang es tonlos herauf, und eine Hand streckte sich ihm entgegen, die schwarz war vom grimmen Frost. »Hilf mir …«

Von Grauen geschüttelt, eilte der Wildfänger weiter, während ihn gleichzeitig die Furcht befiel, Muortis’ Folterknechte könnten den jungen Erwyn ebenso zugerichtet haben.

Wenn er überhaupt noch am Leben war …

Da es offenbar keine weiteren Posten gab, die den Kerker bewachten, rief der Jäger den Namen des Jungen – zaghaft und leise zunächst, dann jedoch, als er keine Antwort erhielt, immer lauter.

»Erwyn? Kannst du mich hören? Wo bist du, Junge …?«

Er hastete zwischen den Gitteröffnungen hin und her, von denen sich die meisten in Boden oder Wänden, einige jedoch auch in der Decke der Höhle befanden, als ob die Naturgesetze in Muortis’ Reich keine Gültigkeit hätten. Ihre Zahl war unüberschaubar und entsprechend planlos Alpharts Suche. Bald eilte er hierhin, bald dorthin, Erwyns Namen rufend und begleitet vom Stöhnen der elenden Kreaturen, die schon wer weiß wie lange in den Zellen gefangen waren, längst nicht mehr am Leben, aber auch noch nicht tot, vergessen von der Welt und – wie es aussah – sogar von ihrem finsteren Peiniger.

Was, in aller Welt, hatte der Erbe Ventars an einem Ort wie diesem verloren?

Alphart hatte erwartet, es mit Horden blutrünstiger, zum Äußersten entschlossener Wächter aufnehmen zu müssen, und daher hatte er seine Aussichten, den Jungen heil aus Urgulroth herauszubekommen, als mehr als gering eingeschätzt. Von den beiden Erlen, die er erledigt hatte, einmal abgesehen, war der Kerker jedoch unbewacht – vielleicht tatsächlich aus dem Grund, dass der Nebelherr nahezu alle seine Diener nach Norden entsandt hatte, um den Krieg nach Allagáin zu tragen …

Wie auch immer – Alphart verstand zu wenig von Dingen wie diesen, als dass er deshalb besorgt gewesen wäre. Er war kein Denker wie Yvolar, sondern ein Mann der Tat, also grübelte er nicht über diesen Umstand, sondern verwendete seine ganze Konzentration darauf, den Jungen zu finden.

»Erwyn? Verdammt, du elender Bengel, wo steckst du? Gib Antwort, wenn du mich hören kannst!«

Je weiter er in die Höhle vordrang, desto tiefer und dunkler schienen die Kerkerlöcher zu werden.

»Erwyn!« In seiner Sorge um den Jungen schrie Alphart immer lauter, alle Vorsicht in den Wind schlagend. »Bist du hier irgendwo, Junge? Dann melde dich!«

»A-Alphart? «

Die Stimme klang zaghaft und brüchig, mehr wie ein Echo, das durch die Höhle wisperte. Abrupt blieb Alphart stehen und schaute sich um. Es war unmöglich zu sagen, aus welcher Richtung die Stimme gekommen war – oder hatte er sie sich in seiner wachsenden Panik nur eingebildet?

»Erwyn, bist du das? Sag etwas, Junge!« »Alphart! Dem Schöpfer sei Dank!«

»Erwyn!«

Plötzlich glaubte Alphart mit ziemlicher Sicherheit zu wissen, aus welchem der unzähligen Kerkerlöcher die zaghaften Rufe drangen. Rasch eilte er hin und fiel davor auf die Knie, spähte hinab – und sah tatsächlich keinen anderen als Erwyn auf dem eisigen Grund der Zelle kauern, frierend und verzweifelt, aber immerhin lebend und am Stück.

»Erwyn!«, rief Alphart in seiner Erleichterung aus. »Du elender Taugenichts! Habe ich dich endlich gefunden!«

»A-Alphart…?«

Erwyns leichenblasse, vor Kälte blau angelaufenen Züge verzerrten sich furchtsam. Der Jäger brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass es an dem Erlhelm lag, den er noch immer trug und dessen Visier geschlossen war. Rasch nahm er das unförmige Ding ab und schleuderte es von sich, sodass es laut schepperte. »Ich bin’s, Junge«, gab er sich zu erkennen, in der Erwartung, dass Erwyn in Jubel ausbrechen oder zumindest einen Ausdruck der Erleichterung zeigen würde.

»Alphart, mein Freund«, stöhnte der Knabe jedoch nur – er schien zu mehr nicht in der Lage zu sein.

»Warte, ich werde dich befreien«, versprach der Wildfänger und setzte seine Axt als Werkzeug ein, um den rostigen Splint zu entfernen, mit dem das Gitter verschlossen war. Ein gezielter Schlag genügte, dann konnte Alphart das Gitter aufstemmen. Mit hässlichem Quietschen hob sich das Eisen. Alphart öffnete es vollends und ließ es zur Seite fallen, was abermals für ohrenbetäubenden Lärm in der Höhle sorgte; der Jäger scherte sich nicht darum.

Alphart führte ein aufgerolltes Seil mit sich. Er löste es von seinem Gürtel, und mit vor Kälte klammen Fingern knüpfte er eine Schlinge und warf sie Erwyn hinab. »Hier!«, rief er. »Kannst du klettern?«

»I-ich glaube nicht. Meine Glieder sind ganz steif gefroren.«

»Schön, dann schlüpf einfach in die Schlinge«, knurrte der Jäger. »Den Rest werde ich erledigen.«

Der Junge tat, wie ihm geheißen, und das andere Ende des Seils um seine Hände geschlungen, versuchte der Wildfänger, ihn zu sich heraufzuziehen. Es gelang nicht sofort, denn auf dem eisigen Boden rutschte Alphart immer wieder ab. Erst als er das Seil um einen von Eis überzogenen Felsen laufen ließ, bekam er genügend Zug, um den Jungen aus dem Kerkerloch zu hieven.

Als Erwyns Gesicht über dem Rand der Öffnung erschien, war seine Miene schwer zu deuten. Erleichterung war darin zu lesen und die Freude, einen alten Freund wiederzusehen, aber auch Betrübnis und Niedergeschlagenheit. Die Augen des Jungen verrieten, dass sie Dinge gesehen hatten, die jenseits menschlicher Vorstellungskraft lagen, und die Strapazen und Ängste, denen er ausgesetzt gewesen war, hatten deutliche Spuren hinterlassen. Dennoch war Alphart ebenso verwundert wie erfreut, Erwyn so vergleichsweise wohlbehalten zu sehen. Offenbar hatten ihn Muortis’ Diener nicht mal gefoltert, was eigenartig war, aber der Wildfänger würde sich gewiss nicht darüber beschweren.

»Hier, greif zu!«, presste er hervor, während er Erwyn seine Rechte entgegenstreckte und das Seil nur noch mit einer Hand hielt. Der Junge, der vor Kälte tatsächlich ganz steif war, hatte Mühe, den Arm so zu heben, dass er Alpharts Hand zu fassen bekam. Der Wildfänger packte zu und zog ihn aus dem Loch und über den Rand der Öffnung. Erschöpft blieben beide liegen und sogen keuchend die frostige Luft in ihre Lungen.

»Danke«, stieß Erwyn hervor, als er wieder zu Atem gekommen war.

Entgegen seines sonst so verschlossenen Wesens zog Alphart den Jungen an sich und umarmte ihn herzlich. Erwyn jedoch erwiderte die Umarmung nicht.

»Alles in Ordnung?«, wollte Alphart wissen.

»Du hättest nicht kommen sollen«, beschied ihm der Junge.

Alphart war verblüfft. »Was hast du gesagt?«

»Du hättest die Gefahr nicht auf dich nehmen sollen«, sagte Erwyn niedergeschlagen. »Nicht meinetwegen.«

»Was soll das denn heißen? Wir sind eine Gemeinschaft, erinnerst du dich? Einer steht für den anderen ein.«

»Einer für den anderen«, murmelte der Junge und sah Alphart mit tränenroten Augen an, die in bodenlose Abgründe geblickt zu haben schienen.

»Ganz genau. Und jetzt komm, verdammt noch mal, auf die Beine, damit wir diesen finsteren Ort rasch verlassen können! Die anderen warten schon sehnsüchtig auf dich.«

»Die anderen?«

»Leffel und Mux – und wahrscheinlich auch dieser verdammte Bärengänger, auch wenn er es nie zugeben würde.«

»Ich … verstehe …« Erwyn nickte.

Alphart wunderte sich. Was war nur mit Erwyn los? Irgendetwas schien den Jungen, der ohnehin zur Grübelei neigte, derart niederzudrücken, dass er sich nicht einmal über seine Befreiung freuen mochte. Was hatten Muortis und seine finstere Brut ihm nur angetan? Vielleicht hatte der flüchtige Eindruck ja getrogen, und der Junge hatte doch größeren Schaden davongetragen, als auf den ersten Blick zu erkennen war, Wunden nicht sosehr am Körper, als vielmehr an seiner Seele …

»Bist du auch wirklich in Ordnung, Junge?«, brummte er – der Blick, mit dem Erwyn ihm antwortete, war unmöglich zu deuten.

»D-da ist etwas, das ich dir sagen muss, Alphart«, begann er zögernd.

»Später«, knurrte der Jäger, während er sich bereits aufraffte. »Dies ist weder der rechte Ort noch der rechte Augenblick für eine Unterhaltung.«

Rasch rollte er das Seil auf und machte es wieder an seinem Gürtel fest – möglicherweise würden sie es noch brauchen. Dafür zog er Danaóns Umhang aus dem Rucksack und reichte ihn Erwyn. »Das wird dich wärmen …«

»Nein, bitte nicht«, wehrte Erwyn ab. »Ich bin seiner nicht würdig …«

Alphart schüttelte den Kopf. »Dass du nach all der Zeit in Kälte und Gefangenschaft noch immer so geschwollen daherreden kannst!« Dann legte er dem Jungen den Mantel kurzerhand um die schmalen Schultern und schloss die Fibel über seiner Brust. »Hier«, brummte er, »und hör gefälligst auf, dich zu beschweren, sonst überlege ich es mir anders und werfe dich wieder ins Loch, verstanden?«

Wortlos nahm Erwyn die Zwergenklinge entgegen, die Alphart ihm ebenfalls zurückgab. Die hölzerne Pfeife, die der Jäger ihm grinsend zusteckte, entlockte ihm den Anflug eines Lächelns, das allerdings schon im nächsten Augenblick wieder verschwunden war. Sogar Alphart, der nicht eben feinfühlig war, konnte erkennen, dass etwas den Jungen schwer belastete. Was immer es jedoch war, es würde warten müssen, bis sie die Kavernen Urgulroths hinter sich gelassen hatten …

»Komm jetzt«, drängte er, nachdem er seine Axt wieder vom Boden aufgelesen hatte. »Je eher wir von diesem Ort des Grauens verschwinden, desto besser.«

»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte Erwyn leise. »Es gibt kein Entkommen von diesem Ort.«

»Woher willst du das wissen, Grünschnabel? Du hast es ja noch nicht einmal versucht.«

»Ich habe ihn gesehen, Alphart«, hauchte Erwyn bedeutungsschwanger.

»Ihn gesehen? Wen, verdammt noch mal?«

»Muortis«, sagte der Junge mit einer Stimme, die den Wildfänger schaudern ließ.

»Wenn schon!« Alphart gab sich unbeeindruckt. »Wir müssen weg von hier. Oder willst du lieber wieder in dein Kerkerloch zurück?«

Zum Entsetzen des Jägers schien Erwyn tatsächlich darüber nachzudenken. Doch ehe der Junge etwas entgegnen konnte, das Alphart nicht hören wollte, versetzte ihm der Wildfänger einen herzhaften Stoß in Richtung Ausgang. »Nichts da, Bürschchen!«, knurrte er, um seine Bestürzung zu vertuschen. »Das könnte dir so passen, dich wieder in dein Loch zu verkriechen, während deine Kameraden und der Rest der Welt ums Überleben kämpfen. Los, vorwärts, ehe ich mich vergesse und dir den Hintern versohle!«

Erwyn widersprach nicht mehr und setzte sich in Bewegung, wenn auch fast widerwillig. Alphart, dem das viel zu langsam ging, packte ihn und schleppte ihn mit sich, an den anderen Kerkerlöchern vorbei, aus denen entsetzliche Laute drangen.

Sie gelangten zur Treppe, wo die erschlagenen Erle lagen.

»Ist das alles?«, fragte Erwyn, als er die beiden Kadaver erblickte. »Nur zwei Wachen?«

»Allerdings«, schnaubte Alphart. »Wir können von Glück sagen, dass Muortis’ Unholde an der Oberfläche dringender benötigt werden als hier.«

»Dringender?« Der Junge lachte freudlos auf, und mit einem Tonfall, der Alphart ganz und gar nicht gefallen wollte, fügte er hinzu: »Du hast keine Ahnung, wovon du sprichst…«

97

Je tiefer Yvolar in das Reich des schrecklichen Feindes eindrang, desto unbarmherziger wurde die Kälte, und auch das Licht wurde immer spärlicher; der unheimliche grüne Schein, der die Gänge und Stollen dieser Unterwelt erfüllte, nahm ab, je näher der Druide jenem finsteren Ort kam, an dem der Herr der Nebel und des Eises Hof hielt – dem Thronsaal von Urgulroth …

Dorthin hatte sich Muortis nach seiner Niederlage gegen die Sylfen zurückgezogen, dort hatte er seine Wunden geleckt und die Zeiten überdauert. Solange bis aus der Geschichte von einst Mythen geworden waren und diese Mythen in Vergessenheit gerieten, sodass es kaum noch jemanden gab, der sich seiner erinnerte. So, dachte der Druide voller Bitterkeit, begann es stets – mit dem Vergessen. Und auf das Vergessen der Vergangenheit folgte der Tod.

Nur gut, dass nicht alle Sterblichen mit Blindheit geschlagen waren. Zumindest ein paar von ihnen waren rechtzeitig aus ihrer Lethargie erwacht und hatten die Augen geöffnet für eine größere und bedeutendere Welt. Yvolar konnte nicht anders, als leisen Stolz zu empfinden für die Freunde, die er gewonnen und die ihn auf seiner Reise zum Kern der Finsternis begleitet hatten. Sie alle würden auf ewig einen Platz in seinem Herzen haben – ob sich ihre Opfer allerdings lohnen oder vergeblich sein würden, wusste der Druide noch nicht. Das Schicksal der Welt balancierte in diesen Tagen auf einem schmalen Grat …

Anders als zu jenen Zeiten, da die Sylfen in den Kampf eingegriffen und die ganze Macht Ventars in die Waagschale geworfen hatten, standen die Menschen diesmal allein. Damals hatte ihre noch junge und unerfahrene Rasse nicht einmal richtig mitbekommen, was geschehen war – diesmal waren sie es, die die Hauptlast des Krieges zu tragen hatten.

Muortis hatte den Zeitpunkt seiner Rückkehr gut gewählt: Das Zeitalter der Mythen ging zu Ende, und eine neue Ära dämmerte herauf, in der die Wesen der Anderswelt verschwinden und Wissenschaft und Technik das Leben der Menschen bestimmen würden. Am Vorabend dieser neuen Zeit jedoch hatten sich die alten Mächte noch einmal zurückgemeldet, schrecklicher und vernichtender als je zuvor, und es würde sich entscheiden, wer das Angesicht der Welt in Zukunft prägen würde: die schwachen Menschen mit ihrer Fähigkeit zum Guten und ihrem Streben nach Gerechtigkeit – oder die Mächte des Chaos und der Zerstörung, die Muortis dienten. Und wie schon einmal waren die Berge der Schauplatz dieses letzten Kampfes – jener Ort der Welt, wo Erde und Fels, Wasser und Luft, Feuer und Eis zusammentrafen.

Beklommen musste der Druide an Fyrhacks Worte denken und daran, dass sie ihren eigenen Untergang nur beschleunigten, wenn sie den Menschen halfen. Das ließ sich nicht leugnen, denn in der neuen, vernunftbestimmten Welt würde kein Platz mehr für wundersame Wesen sein, wie sie es waren. Dennoch hatte die Entscheidung nicht anders ausfallen können – nicht, wenn man die Gesetze der Natur und des Schöpfers respektierte, denen auch sie unterworfen waren. Sich selbst zum Maßstab aller Dinge zu erheben war es, was Muortis von den übrigen Wesen der Anderswelt unterschied. Deshalb hatten sie ihn vor undenklich langer Zeit aus ihrem Kreis ausgestoßen, und deshalb gab es keine andere Möglichkeit als den Kampf bis zum Tod.

Immer deutlicher konnte Yvolar die Präsenz des Nebelherrn spüren – und mit ihr auch seine eigene Furcht. Ja, er verspürte Angst. Nicht sosehr um sein eigenes Leben als vielmehr um das Schicksal der Welt. Denn der Druide wusste, zu was der Nebelherr in der Lage war, und alles in ihm sträubte sich dagegen, die Welt ein zweites Mal in eisiger Kälte versinken zu sehen. Also würde er kämpfen.

Allein …

Er gestand es sich nicht gern ein, aber die Gesellschaft seiner sterblichen Freunde fehlte ihm. Er hatte sich daran gewöhnt, dass Alphart allem und jedem gegenüber misstrauisch war, dass Leffel unentwegt Fragen stellte und der kleine Kobling Mux fröhlich vor sich hin reimte. Und wie sie hatte auch er sich im Lauf der langen Reise und der dramatischen Ereignisse, die hinter ihnen lagen, verändert. Nicht länger war er der einsame Prophet vom Berge Nor. Dass er eine derart lange Zeitspanne seines Lebens allein verbracht hatte, war ihm mittlerweile unverständlich. Er hatte jene Jahre, die er in der Einsamkeit Damasias verbracht hatte, der Ruhe und der Kontemplation gewidmet, dem Studium alter Schriften. Inzwischen fragte er sich, ob die Gegenwart treuer Freunde ihn nicht besser als jede Gelehrtenschrift auf das hätte vorbereiten können, was vor ihm lag …

Leises Grauen erfüllte den Druiden. Er hatte schon einmal in den gähnenden Abgrund geblickt und verspürte kein Verlangen danach, es ein zweites Mal zu tun. Nur hatte er keine Wahl. Den Druidenstab in den Händen, dessen schwaches Leuchten die Dunkelheit kaum zu vertreiben vermochte, schritt Yvolar weiter voran – und hörte plötzlich eine Stimme.

»Komm!«, sagte sie und klang so klirrend wie das Eis selbst. »Komm zu mir …«

98

Einen Keil bildend, an dessen Spitze Barand von Falkenstein ritt, jagten die Lanzenreiter die Hauptstraße hinab. Sowohl Barand als auch Galfyn, die durch den geschlossenen Blutsbund wie ein Mann zu denken und zu handeln schienen, achteten darauf, dass die Verbindung zum Hauptheer nicht abriss, und das nachrückende Fußvolk setzte unter wüstem Kriegsgeschrei in die Bresche, die die Reiter in die Reihen der Erle schlugen.

Wie ein Sturmwind kehrten die Ritter Iónadors in die Goldene Stadt zurück und brandeten über die Unholde hinweg, ließen Berge erschlagener Erle zu beiden Seiten der Straße zurück. Eine mit Widerhaken versehene Speerspitze zuckte auf Barand zu, die der Marschall jedoch mit dem Schild abwehrte. Wirkungslos glitt die mörderische Waffe ab, und Barands Schwert fuhr herab und spaltete dem Urheber des Angriffs den Schädel. Blutüberströmt sank der Erl nieder, kippte seinen Kumpanen entgegen, die in immer größerer Anzahl die Straße herabdrängten. Vom Rücken des Pferdes aus konnte Barand weit die Straße hinabblicken – und er sah nichts als rostige Schwerter, schartige Äxte und in wildem Blutdurst verzerrte Fratzen. Die Erle hatten die Überraschung verwunden und waren zum Gegenangriff bereit.

Derart massig ballten sich die kreischenden, grunzenden Horden in den Straßen, dass es schon bald kein Durchkommen mehr gab, und für jeden Unhold, der unter den Schwertstreichen der Ritter fiel, schienen zehn weitere nachzurücken. Die Hauptstraße, an deren Ende sich in unerreichbarer Ferne der Túrin Mar abzeichnete, war ein einziges wogendes Meer.