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Verlag Klaus Wagenbach  Berlin

Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Intento de escapada bei Anagrama in Barcelona.

Diese Ausgabe wurde mit einer Beihilfe der Abteilung für Bücher, Archive und Bibliotheken des spanischen Ministeriums für Erziehung, Kultur und Sport übersetzt.

La presente edición ha sido traducida mediante una ayuda de la Dirección General del Libro, Archivos y Bibliotecas del Ministerio de Educación, Cultura y Deporte de España.

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E-Book-Ausgabe 2014

© 2013 Miguel Ángel Hernández

Editorial Anagrama S.A.

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978 3 8031 4164 4

Ein Künstler pfercht einen Afrikaner in eine Holzkiste und stellt ihn aus – die Kritiker sind begeistert. Doch danach ist der Eingesperrte wie vom Erdboden verschluckt. Der Student Marcos beginnt nachzuforschen und steckt mit seinem bösen Verdacht auch den Leser an: Kann Kunst tödlich sein?

Miguel Àngel Hernández bringt frischen Wind in die spanische Literatur. Kenntnisreich, intelligent und lustvoll.

ABC

Für Raquel, für alles

Inhalt

Prolog

Ein verborgenes Geräusch

I.

Flüchtige Eindrücke

II.

Die unsichtbare Stadt

III.

Schattentanz

IV.

Ikonostase

V.

Es gibt keine Zauberei

Epilog

Ein Roman und kein Essay

Manche Personen zeichnen sich durch das aus, wovor sie fliehen, andere durch die Tatsache, dass sie fliehen.

Adam Phillips

Die Kunst ist eine schmutzige Angelegenheit, man kann sie nicht säubern, ohne dass sie ihre Farbe verliert.

Jacobo Montes

PROLOG

Ein verborgenes Geräusch

Mit einem Taschentuch vor dem Mund betrat ich den Raum. Schon nach wenigen Metern musste ich stehen bleiben. Der Gestank war unerträglich. Die Fäulnis drang durch jede einzelne Hautpore ein. Mir drehte sich der Magen um, und ein bitterer Geschmack stieg langsam meine Kehle hinauf. Ich schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, um mich nicht zu übergeben. Ich versuchte, meinen Atem so lange wie möglich anzuhalten. Fünf Sekunden, zehn, fünfzehn, zwanzig, dreißig … noch ein bisschen, vierzig, fünfzig … bis die Übelkeit nachließ und mein Körper sich allmählich an den Geruch gewöhnte. Erst dann war ich in der Lage, die Augen zu öffnen und meinen Blick auf die Mitte des Raumes zu richten. Endlich sah ich die Kiste, theatralisch beleuchtet stand sie in der Dunkelheit.

Die etwa ein Meter hohe und anderthalb Meter breite Konstruktion war aus Holz mit Winkelverstärkungen aus Metall. Daneben standen zwei kleine Bildschirme, auf denen unterschiedliche Filmsequenzen liefen. In der ersten stieg eine Person in eine Holzkiste. Nach ihr kam eine andere Person und machte den Deckel zu. Diese Handlung wiederholte sich in einem fort. Der zweite Bildschirm zeigte die verschlossene Kiste. Niemand legte sich in sie hinein oder stieg aus ihr heraus. Die Kiste stand einfach da. Es war dieselbe, die den Geruch verströmte, bei dem sich mir der Magen umdrehte. Dieselbe, die nun im Pariser Centre Georges Pompidou vor mir stand. Dieselbe, neben der auf einem kleinen Schild zu lesen war: Jacobo Montes, Fluchtversuch, 2003.

Das Werk war Teil der Ausstellung, die die Saison des Kulturzentrums eröffnete. Ein verborgenes Geräusch. Was die Kunst verheimlicht. Mehr als fünfzig Werke, von den historischen Avantgarden bis hin zur Gegenwart, die aufzeigen wollten, dass die Kunst unseren Blicken immer etwas entzieht. Verborgene, verschleierte, ausgemusterte, verdeckte, verhüllte, verschwommene und sogar zerstörte Kunstwerke. Duchamp, Manzoni, Morris, Christo, Acconci, Beuys, Richter, Salcedo … Und zu guter Letzt, wie sollte es anders sein, Jacobo Montes, der große gesellschaftskritische Gegenwartskünstler.

Ich war nach Paris gefahren, um ein Buch zu Ende zu schreiben. Das Bildungsministerium hatte mir einen Fahrtkostenzuschuss gewährt, und ich hatte vor, endlich die Forschung abzuschließen, mit der ich mich die letzten zehn Jahre meines Lebens beschäftigt hatte: der Bruch mit dem visuellen Vergnügen in der Gegenwartskunst. Diesem Thema hatte ich meine Doktorarbeit gewidmet. Die meisten Texte, die ich seither verfasst hatte, kreisten um genau dieses Problem. Aber sie waren überall verstreut, in Zeitschriften, in Katalogen, und ich fand nicht den richtigen Weg, dem Ganzen eine Form zu geben. Nach Jahren frenetischer Arbeit war der Moment gekommen, alles zusammenzuführen, es umzuschreiben und das Buch endgültig abzuschließen. Die Ausstellung war das perfekte Alibi für einen Neuanfang. Und der Aufenthalt sollte mir dazu dienen, der Angelegenheit die nötige Zeit zu widmen.

Ich wusste seit langem, dass die Ausstellung in Paris eröffnet würde. Und ich richtete alles so ein, dass mein Aufenthalt mit der Vernissage zusammenfiel. Dass ein Kulturzentrum wie das Centre Pompidou eine Ausstellung über das Versteckspiel und das Verheimlichen in der Kunst organisierte, bestätigte die fortwährende Aktualität meiner Arbeit über das Nicht-Sehen. Die Ausstellung passte genau zu meinem Forschungsgebiet. Das Verstecken und Aus-dem-Blickfeld-Nehmen ist nichts anderes als eine Enttäuschung des Zuschauerblickes. Verheimlichen, ausmustern, verhüllen, einschließen … das Sehvergnügen zerstören.

Ich fuhr nach Paris, um ein Buch zu schreiben. Das sagte ich zumindest in der Universität. Und das sagte ich auch mir selbst. Aber im Grunde wusste ich, dass es nicht die ganze Wahrheit war. Da war noch etwas. Und ich war sicher, dass ich es an diesem Ort antreffen würde. Etwas, das ich jetzt vor mir hatte und bei dem sich mir der Magen umdrehte. Jacobo Montes, der Künstler, um den man nicht herumkam, der Umjubelte, die alles bestimmende Gestalt der Gegenwartskunst. Und sein Meisterwerk, Fluchtversuch, nach dem ich so oft gesucht hatte, mit dem mich zu konfrontieren ich vor zehn Jahren noch nicht gewagt hatte, das mich seit damals ununterbrochen verfolgte.

Ich war nicht allein in der Ausstellung. Die Besucher umringten die Kiste und versuchten dem, was sie sahen, irgendeinen Sinn abzugewinnen. Sie überlegten, was sich wohl im Innern dieses mysteriösen Objektes befinden mochte. Sie suchten nach einem Zusammenhang zwischen den gezeigten Videos und dem, was sie vor Augen hatten. Sicher fragten sie sich, ob die Person, die in die Kiste gestiegen war, immer noch darin lag, ob der unerträgliche Verwesungsgeruch etwas mit dem Körper zu tun hatte, der nirgends mehr auftauchte. Ich wusste, dass ihnen diese Möglichkeit durch den Kopf ging, dass sie dachten, dass da etwas nicht stimmte, dass im Grunde alles ein einziger Widerspruch war, ein Spiel … Ein Kunstwerk eben. Ich ahnte es, ich erkannte ihre Blicke wieder, verstand ihre Fragen. Ich hatte sie mir selbst tausendmal gestellt. Immer wieder. Wie sie. Weil auch ich nicht wusste, was sich in der Kiste befand.

Aber es gab etwas, das ich wusste und die anderen nicht. Die Geschichte der Kiste, ihre Vergangenheit, ihre Herkunft. Ich kannte sie besser als jeder andere im Raum. Besser als der Museumsdirektor, der Kurator der Ausstellung und die Kunstkritiker der Fachzeitschriften. Besser als sie alle. Ich kannte sie, weil ich dabei gewesen war. Weil ich damals vor zehn Jahren das Privileg genossen hatte, Zeuge dieses Fluchtversuchs zu sein.

Jetzt, während ich den Besuchern zuschaute, wie sie Vermutungen darüber anstellten, was sie vor Augen hatten, kamen mir die Bilder wieder in den Kopf. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass dort drinnen noch ein Teil von mir steckte. Auch wenn ich vor der Kiste stand, meine Geschichte war darin eingeschlossen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem ich den Namen Montes zum ersten Mal hörte. Ich erinnerte mich daran wie an einen dumpfen Schlag. Montes. Ein Hammerschlag. Ein gleißender Blitz, der meine Netzhaut pulverisierte. Montes. Ein hölzerner Schrei.

Und alles tat sich wieder vor mir auf.

Wie ein Fächer entfaltete sich die Vergangenheit vor mir. Vorlesungsende 2003, Montes, Helena, die Stadt, Lügen, Enttäuschungen, flüchtige Eindrücke, Schatten, Fluchtversuche … Und Omar, der unglückliche Omar. Alles war da, verschwommen, diffus, freiwillig in einem Winkel des Gedächtnisses verstaut. Eine dichte Wand aus Bildern hatte mir die Sicht verstellt. Aber der Anblick der Kiste, der Gestank, der bittere Geschmack, das zurückgehaltene Erbrechen, der verkrampfte Magen … all das verbündete sich an diesem Abend, um das Erlebte in die Gegenwart zurückzuholen.

Mit einem Paukenschlag öffnete sich die Bilderkiste.

Und wie ein unaufhörliches Rauschen lebte die Geschichte wieder in meinem Kopf auf. Ein verborgenes Geräusch, das ich nicht mehr abstellen konnte.

I.

Flüchtige Eindrücke

1

Am Anfang war das Bild. Die Eichel in Nahaufnahme auf einem Brett. Dann der brutale Akt. Der Hammer, der Nagel, der dumpfe Schlag, der das Stück Fleisch durchbohrt und an das Holzstück nagelt. Das Bild, ein Blitz auf der Leinwand, der mich taumeln ließ. Und etwas später die Stimme: »Wer zu empfindlich ist, kann gerne den Raum verlassen.« Die Warnung, wie immer, nach dem Bild. Erst der verstörende Anblick, dann die warnenden Worte. Zu spät. Wie immer.

Das Bild, der dunkle Hörsaal, die letzte Kunstvorlesung und Helena, ihre Stimme, die vor der Grausamkeit der Bilder warnt und dem gezeigten Film einen Titel gibt: SICK: The Life and Death of Bob Flanagan, Supermasochist. Kirby Dick. 1997.

Nailed, die auf die Leinwand projizierte Aktion von Bob Flanagan, drang auch in meine Pupillen ein wie ein Nagel und blieb dort für immer stecken. Der Hammerschlag durchlöcherte meine Netzhaut, wie sicherlich auch die meiner Kommilitonen. Einige wandten das Gesicht ab. Andere kniffen sogar die Augen zu. Niemand konnte den Anblick der durchbohrten Eichel ertragen. Und wenn doch noch jemand auf die Leinwand schaute, wurde ihm schwarz vor Augen, als ein paar Blutstropfen auf die Kamera spritzten, die die Aktion aufzeichnete.

Das Bild war Teil des Films. Außerhalb dieses Zusammenhangs war es nicht zu verstehen. Und der Kontext, Bob Flanagans Leben, das die Bilder darstellten, zeigte, dass der Künstler den Schmerz liebte, dass er ihn genoss. Er war seine Rettung. Die Qualen der Krankheit – die Mukoviszidose, an der der Künstler seit seiner Kindheit litt – überstand er durch seinen eigenen Schmerz. Einen selbst zugefügten Schmerz, der ihm nicht nur Lust bereitete, sondern ihn auch lebendig machte. Der Schmerz der Krankheit roch nach Tod, Eiter und Schleim. Der Schmerz des Blutes der zugefügten Wunde war pure Lebenskraft. Als Flanagans Lebensgefährtin ihm an einer anderen Stelle des Films mit einem Messer in die Hoden schneidet, ihm eine Stahlkugel in den After einführt und ihm mit einem Seil die Kehle zuschnürt, bis er fast erstickt, scheint sich der Künstler befreit zu fühlen. Und sein lustvolles Stöhnen zerstört das chirurgische Ambiente der inszenierten Autopsie.

Die meisten Mukoviszidosekranken sterben vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr. Flanagan hatte die vierzig erreicht. Sein Schmerz, der gewaltige Schmerz, hatte ihn am Leben erhalten. Zumindest bis zum Ende des Films. Denn zum Schluss, wie konnte es anders sein, starb Flanagan im Krankenhaus bei dem Versuch, der Rolle des Künstlers zu entkommen, die er einen Großteil seines Lebens gespielt hatte.

In diesem Moment kam mir Flanagan wie ein Wunder vor.

Ein makabres Wunder.

Als der Film zu Ende war, schaltete jemand das Licht an. Neben der Leinwand, an den Tisch gelehnt, stand sie da, Helena, ganz in Schwarz gekleidet, mit dunklem Haar, langem Pony, schmalem Gesicht, blasser Haut, zerbrechlich, schwach, mit Augenringen, als wäre sie krank, als wäre sie einer Performance von Flanagan entflohen.

Mit brüchiger Stimme hauchte sie:

»Reaktionen?« Sie sah in den Hörsaal und wartete auf eine Antwort. Niemand sagte etwas.

Noch einmal:

»Fällt euch nichts dazu ein?«

Nur vereinzeltes Gemurmel. Unverständlich. Dann kamen die Worte.

»Völlig krank.«

»Der gehört eingesperrt.«

»Die Welt ist voll von Verrückten.«

Alle schienen einer Meinung zu sein. Flanagan sei ein Geisteskranker. Er sei verrückt. Er sei kein Künstler. So etwas dürfe nicht gezeigt werden. Ich verstand ihre Kommentare. Etwas an den Bildern brachte jeden aus der Fassung. Aber ich spürte auch, dass da etwas war, das über bloße Verrücktheit hinausging. Etwas, das es wert war. Ich sah es vor mir, ich war mir sicher. Deshalb beschloss ich, mich zu äußern.

Ich notierte mir ein paar Argumente auf einem Blatt, als wollte ich einen Vortrag halten, meldete mich und begann zu sprechen, wobei ich mehr Angst als sonst etwas empfand:

»Also«, sagte ich, »meiner Meinung nach überrascht und empört uns das Bild, weil wir es nicht erwartet haben. Ganz im Gegensatz zu den grausamen Bildern im Fernsehen. An das Leben mit ihnen haben wir uns längst gewöhnt.«

Meine Kommilitonen sahen mich an. Nur wenige teilten meine Ansicht. Ich schaute zu Helena. Zumindest sie schien meiner Argumentation zu folgen. Also fuhr ich fort. Ich führte an, dass diese schrecklichen Bilder ein wesentlicher Bestandteil unserer Ernährung seien und vielleicht schon niemand mehr ohne die tägliche Darbietung hungernder Kinder, leidender Mütter und verstümmelter Körper normal verdauen könne. Dass wir unser Essen ohne diese würzenden Zutaten möglicherweise nicht so gut vertragen würden. Salz, Essig, Öl und, natürlich, Blut, Eingeweide, Arme, Beine und Wehklagen. Irgendeine innerliche Befriedigung mussten uns diese Bilder offenbar verschaffen, wenn wir sie weiterhin ansähen, wenn wir weiteräßen, als wäre nichts dabei, und nicht zur Waffe griffen und anfingen, auf der Straße herumzuballern und für Ordnung zu sorgen.

Ich hatte mich in Fahrt geredet. Eigentlich wollte ich längst aufhören, wusste aber nicht, wie. Es war mir schon immer schwergefallen, das Wort zu ergreifen, noch schwerer aber, mich wieder zu bremsen.

»Ich glaube nicht, dass wir durch Bilder abstumpfen und darum nichts mehr sehen«, fuhr ich fort, »nicht die Medien betrügen uns. Wir sind selbst daran schuld, im Grunde wollen wir diese Bilder beim Essen im Hintergrund haben. Wir sind Vampire, erfreuen uns am Blut und denken, unser Dasein hat nur dann einen Sinn, wenn wir merken, dass der andere völlig am Arsch ist und ein ums andere Mal im Dreck versinkt. Vor dem Bildschirm fühlen wir uns sicher. Und manchmal geben wir vor, echtes Mitleid zu empfinden. Aber wir empfinden einen Scheiß. Manchmal vergießen wir sogar eine Träne. Und die Träne fällt in die Suppe. Dann essen wir weiter und stellen fest, dass die Suppe jetzt noch leckerer ist und mit unseren Tränen alles besser schmeckt. Aber es sind nicht unsere Tränen. Es ist das Blut des anderen, das vergossene Blut. Das ist nämlich richtig salzig. Das gibt erst die volle Würze. Unsere Tränen sind ein Scheißdreck gegen dieses würzige Blut.«

Nachdem ich das gesagt hatte, war ich so erschöpft, als hätte ich etwas aus meinem Innern hervorgeholt, das ich schon lange mit mir herumgetragen hatte. Niemand sagte etwas. Nur ein Schnauben war zu hören. Auf das Pult gerichtete Blicke. Ein paar Sekunden Stille. Eine halbe Ewigkeit. Und erst ganz zum Schluss bedankte sich Helena für den Beitrag.

Die restlichen Neonlampen gingen an – bis dahin hatten wir im Halbdunkel gesessen –, und ich packte langsam meine Notizen ein. Inmitten des Tumults hörte ich wieder Helenas Stimme.

»Einen Moment noch«, sagte sie. »Morgen ist die letzte Sitzung. Wir schließen den Kurs mit dem Werk von Jacobo Montes ab. Wenn euch Bob Flanagan extrem vorkam, bin ich gespannt, was euch zu Montes einfällt.«

Jacobo Montes. Ich hörte den Namen zum ersten Mal.

Damals wusste ich noch nicht, dass ich ihn nie wieder aus meinem Kopf bekommen würde.

2

»Ich bin’s. Ich wollte dich an was erinnern. Du weißt schon. Und diesmal kannst du dich nicht drücken«, sagte die Frauenstimme durch die Gegensprechanlage.

Ich erkannte Sonia sofort und konnte mir auch schon denken, an was sie mich erinnern wollte, auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob ich mich drücken sollte oder nicht. In der nächsten Woche begann die Prüfungszeit, und bevor alle in Klausur gingen, stand die letzte große Party an.

»Wie geht’s? Was machen die anderen?«, fragte sie, nachdem sie hereingekommen war und es sich auf dem Wohnzimmersofa bequem gemacht hatte, mit übereinandergeschlagenen Beinen wie eine Hollywoodschauspielerin.

»Keine Ahnung. Ist mir auch egal«, antwortete ich. Und das war die Wahrheit. Die »anderen« waren meine Mitbewohner. Ich wohnte zwar mit ihnen zusammen, aber im Grunde war es, als ob ich alleine wohnen würde. Ich kannte ihre Namen und nur wenig mehr von ihnen: dass der eine Spanisch studierte und der andere versuchte, sein Geographiestudium zu beenden. Mehr musste ich nicht wissen. Wir hatten uns miteinander arrangiert. Ich wohnte dort, es gab gemeinsame Räume, und manchmal begegneten wir uns auf dem Flur. Das war’s. Mehr war nicht nötig.

Was damals für mich zählte, war nur, dass sie mir Platz zum Atmen ließen und mich nicht störten, wenn ich die Jalousie runterließ und mich zum Lesen, Musikhören, Filme-am-Computer-Sehen oder zum Nachdenken auf dem Bett in meinem Zimmer einschloss. Dass sie mich unter keinen Umständen störten. Denn das hatte ich in dieser Wohnung gesucht, weit weg von meinem Dorf, von den ständigen Unterbrechungen durch meine Mutter, von der Überwachung durch die Nachbarn und von dieser Art häuslichem Flur, in den sich meine Straße verwandelt hatte.

Weniger klar ist mir, warum ich die Störungen von Sonia zuließ. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir nur ein, dass sie die Einzige war, die wusste, wann sie störte. Und es machte ihr nichts aus zu gehen, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Vielleicht waren wir so gute Freunde geworden, weil sie begriff, was bis dahin nie jemand verstanden hatte: wann ich Zeit für mich allein brauchte. Aber sie spürte auch – und ich weiß immer noch nicht, wie –, wann man zwar Nein sagte, aber eigentlich Ja meinte. Wenn man etwas nicht machte, ohne genau zu wissen, warum, obwohl man es eigentlich gerne machen würde. Und so ging es mir oft. Trotzdem war ich mir inzwischen sicher, dass ich am nächsten Tag nicht auf die Party gehen wollte. Deshalb versuchte ich, sie auf ein anderes Mal zu vertrösten.

»Kommt überhaupt nicht infrage. Diesen Donnerstag lässt du mich nicht hängen. Und wenn ich dich mit Gewalt aus deinem Zimmer zerren muss. Sieh dich doch mal an, du hast ja schon gar keine Farbe mehr im Gesicht.«

»Sonia, ich habe wirklich keine Lust. Ich hab’s dir doch schon so oft gesagt. Das ist nichts für mich. Mir gefällt die Musik nicht, ich vertrage keinen Alkohol, und am nächsten Tag bin ich völlig erledigt.«

»Aber manchmal wirst du richtig lustig, und am Ende hast du doch deinen Spaß.«

»Das ist nicht wahr. Und das weißt du auch. Ich fühl mich unwohl. Und ich … ich lande doch eh bei keiner. Ich habe es satt, um die Häuser zu ziehen und am Ende als Einziger leer auszugehen.«

»Das verstehe ich echt nicht.«

»Was verstehst du nicht?«

»Dass du keine rumkriegst. Mit diesem Engelsgesicht …«, sagte sie und kniff mir in die Backe.

»Ja, ich weiß, total süß. Hast du mich mal richtig angeguckt?« Und einen Moment lang betrachtete ich meinen Körper von außen. Als ich klein war, sagte meine Mutter immer, dass ich hübsch wie ein Mädchen wäre und aussähe wie ein Engel von Salzillo. Aber wenn man als junger Mann noch immer dasselbe Gesicht und fast dieselbe Größe, dazu ein Gewicht von hundert Kilo, eine rasend zunehmende Kurzsichtigkeit und eine angehende Glatze hat, sieht die Sache schon etwas anders aus. Und wenn man sich dann auch noch schwarz kleidet, im Glauben, das würde schlank machen, und Hemden anzieht, die zwei Nummern zu groß sind, damit sich die Speckröllchen nicht abzeichnen, dann ergibt das nicht gerade das Bild eines Verführers. Deshalb war ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren noch Jungfrau und überzeugt, dass die Nacht nichts für mich war.

»Beschwer dich nicht, so übel bist du gar nicht.«

»Das sagst du. Du bist schließlich …«

»Was? Eine Lesbe?«, entgegnete sie, ohne mich ausreden zu lassen. Und sofort wurde mir klar, dass ich ins Fettnäpfchen getreten war. Aus irgendeinem Grund hatte es Sonia nicht so gern, wenn man sie daran erinnerte. Nur wenige wussten davon, selbst einige enge Freunde ahnten nichts. Und ihre Mutter pries in der Gemeinde immer noch ihre hübsche, ledige Tochter an.

»Ich wollte sagen … du bist schließlich meine Freundin.« Meiner Lüge bewusst, hob ich das letzte Wort hervor.

»Ist ja auch egal. Wir haben alle unsere Probleme. Es ist nicht immer leicht.«

»Tut mir leid, entschuldige.«

»Schon gut, also am Donnerstag … du weißt schon. Und wenn ich mit einer ganzen Armee antreten muss, Sahnetörtchen, ich hol dich hier raus!«

»Du hast gewonnen«, gab ich mich schließlich geschlagen. Sonia küsste mich auf die Wange und schaute mich noch eine Weile an.

»Ach ja, noch was, du bist seit heute fertig, stimmt’s?«

»Nein, morgen erst. Mir fehlt noch die letzte Vorlesung in Gegenwartskunst.«

»Die hält Helena, nicht wahr? Du hast echt Schwein gehabt. Ich hatte diesen unfähigen Navarro. So ein Vollidiot.«

»Ich weiß, den musste ich im ersten Semester ertragen. Helena ist anders. Heute hat sie uns Bilder gezeigt, da ist es mir eiskalt über den Rücken gelaufen. Sagt dir Bob Flanagan was?«

Sonia schüttelte den Kopf.

»Willst du was Abgefahrenes sehen?«

Wir gingen in mein Zimmer und setzten uns vor den Computer. Ich suchte im Internet ein paar Fotos von Flanagan und zeigte sie ihr.

»Krass«, entfuhr es ihr, als sie Flanagans aufgeschlitzten Penis sah. »Wie manche Leute austicken!«

»Na ja, man muss das alles im Kontext sehen.« Für mehr Argumente fehlte mir die Kraft.

Ich suchte nach einem Video von Flanagans Performance, aber die meisten waren offenbar zensiert. Ich fand nur den Schlussteil des Films, der Flanagans Tod im Krankenhaus zeigte. Da er weder Sex noch explizite Gewalt enthielt, war dieser Teil problemlos im Netz zu finden. Interessanterweise fand ich diese Bilder am schrecklichsten. Und Sonia wohl auch, ihre Gesichtszüge erstarrten nach den ersten paar Sekunden.

»Ich glaube, ich habe genug gesehen. Das reicht mir für heute.«

Da fiel mir ein, woran ich hätte denken müssen, bevor ich ihr so etwas zeigte. Sonias Vater hatte das ganze Jahr im Krankenhaus verbracht, er hatte Lungenkrebs, und obwohl der Tumor zurückgegangen zu sein schien, war es verständlich, dass sie auf Krankenhäuser empfindlich reagierte.

»Ich schalte es sofort aus, kein Problem.«

»Egal, ehrlich, ich wollte eh gehen, es ist schon spät. Außerdem will ich dich nicht weiter aufhalten.«

»Wie du meinst.«

»Wir sehen uns ja morgen. Geh du mal früh ins Bett und bereite dich auf die Party vor.«

Sie umarmte mich und verließ das Zimmer, als wäre sie bei sich zu Hause. Dann hörte ich die Tür ins Schloss fallen.

Ich blieb im Halbdunkel meines Zimmers sitzen, umgeben von nackten Wänden, an denen weder eine Zeichnung noch ein Bild oder ein Poster hing. Ich hatte nur Bücher. Viele Bücher, als würde hier ein Literaturstudent hausen und kein angehender Künstler. Manchmal fragte ich mich, warum ich am Ende bei Kunst hängengeblieben war. Und fand keine Antwort darauf. Mir gefielen Bilder, mir gefiel, sie zu interpretieren, zu verstehen, aber nicht, sie selbst zu machen. Es gab schon viel zu viele auf der Welt, es mussten nicht noch mehr werden.

Ich legte mich auf das Bett, nahm den Laptop auf meinen Schoß und sah mir noch einmal den letzten Teil von Sick an. Was ich sah, ergriff mich wieder so stark wie während der Vorlesung.

Der Tod ist zweifellos die radikalste Geste, zu der ein Künstler fähig ist. Flanagan hatte das absolute Kunstwerk erschaffen: Ein Künstler stellt seine Krankheit und seinen eigenen Tod aus. Viele andere haben an Werken über Tod und Krankheit gearbeitet. Aber niemand ist bis zum wirklichen Tod gegangen, wie Flanagan. Niemand ist so weit gegangen, sich selbst als Leichnam auszustellen.

Im Film sieht man, wie Flanagan von uns geht. Man erkennt deutlich, wie sich im Moment des Todes sein Gesicht verzieht. Das ist der grausamste Augenblick. Nicht der zerteilte Penis, nicht die durchstochenen Brustwarzen, nicht die Wunden, nicht die Kacke, der Urin oder das Blut. Nichts ist schrecklicher als das Gesicht des mit dem Tod ringenden Künstlers. Dort geschieht es. Eine wahrhaftige, vollkommene Pietà.

Im Dunkeln meines Zimmers betrachtete ich an diesem Abend Flanagan auf seiner Krankenliege und, an seiner Seite, seine Lebensgefährtin Sheree Rose. Und mir fiel auf, dass Flanagan an einen Punkt gelangt war, an dem er nichts mehr darstellte. Er war nur noch ein Körper. Ein Körper, dem die Kamera zum ersten Mal gleichgültig war. Er schauspielerte nicht mehr, noch nicht einmal für sich selbst. Zum ersten Mal war sein Schmerz real, ganz und gar real, ungeteilt, distanzlos, ohne dem Zuschauer diesen – von Mal zu Mal kleineren, aber immer gegenwärtigen – Teil vorzuenthalten.

An diesem Abend wurde mir klar, dass Flanagan nichts vortäuschte. Was man von seiner Lebensgefährtin nicht behaupten konnte. Sie war reine Fiktion, sie war die Darstellerin, die nötig war, damit die Szene weiterging. Sie steuerte die Inszenierung bei und sorgte dafür, dass alles weiterhin ein Kunstwerk blieb. Ich hatte das Gefühl, dass sie von Anfang an alles nur vorgetäuscht hatte. Sie hatte sich bei Flanagans Tod und bei seiner Beerdigung als jemand ausgegeben, der sie nicht war. Und das hatte sie auch getan, als sie später die Überreste des Künstlers in die Kamera hielt, seinen Eiter, seinen Schleim, die Rückstände, die sie, wie eine Art scheußliche Reliquie, beschlossen hatte aufzubewahren.

Ja, sie tat so, als ob. Was er nicht mehr konnte. Und an diesem Abend dachte ich, dass vielleicht sie die wahre Künstlerin war. Denn ein Künstler tut immer so, als ob. Der Künstler ist ein Subjekt. Und Subjekte tun so, als ob. Doch Flanagan verwandelte sich in ein Objekt, in Roses Material. Und deswegen hörte er auf, Künstler zu sein. Weil ein Objekt kein Künstler sein kann. Vielleicht war Flanagan damals das Kunstwerk. Das Objekt, das Material, die Form. Und Rose die Künstlerin. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war Flanagan Subjekt und Objekt zugleich, Künstler und Kunst, so wie eine Prostituierte zugleich Verkäuferin und Ware ist, Subjekt und Objekt, Wille und Stein. Aber Prostituierte verschleißen nicht oder verschleißen weniger. Flanagan hingegen nutzte sich ab. Obwohl, genau genommen nutzen sich Prostituierte auch ab. Nur dass das Objekt Flanagan schon abgenutzt war. Oder, besser gesagt, das Subjekt hatte sich abgenutzt. Es hatte sich abgenutzt und in ein einfaches Objekt verwandelt. In einen erbärmlichen Leichnam. In das absolute Kunstwerk. Das Leben als Kunstwerk. Und in den Tod, vor allem in den Tod, die letzte Grenze, die noch niemand zu überschreiten gewagt hatte. Die Grenze, die Flanagan überwunden hat. Oder auch nicht, vielleicht war alles nur ein frustrierter Versuch und gar keine Kunst mehr. Vielleicht war es auch einfach zu spät geworden, und ich konnte schon nicht mehr klar denken. Deshalb fuhr ich den Laptop herunter und stellte ihn auf den Nachttisch.

Erst später, schon im Halbschlaf, fiel mir Montes ein. Ich hatte vergessen, etwas über ihn im Internet zu suchen. Es wäre gut gewesen, vor der Vorlesung am folgenden Tag einen Blick auf sein Werk geworfen zu haben. Aber es war schon spät. Der Schlaf hatte mich übermannt, und ich hatte keine Lust, ihn abzuschütteln. Egal. Montes konnte warten. Schlaf war wichtiger.

3

In schwindelerregendem Tempo folgte ein Bild aufs andere. Ich hatte kaum Zeit, die Haken zu erkennen, zwei oder drei hängende Körper und am Boden etwas Blut.

»Keine Sorge, gleich ergibt es mehr Sinn«, sagte Helena, während sie prüfte, ob ihre Präsentation in Ordnung war und alle Videos richtig funktionierten. Ich nickte leicht und trank meinen Kaffee aus, den ich gerade am Automaten gekauft hatte.

Donnerstags kam ich früh zur Vorlesung, um die Staus an der Campuseinfahrt zu umgehen. So konnte ich Helenas Ritual miterleben. Es war immer dasselbe, das ganze Semester, als folgte sie einem Schema, das ich nicht durchschauen konnte. Fünfzehn Minuten vor der Vorlesung betrat sie, in Schwarz gekleidet, mit ihrer Ledertasche den Hörsaal und grüßte zurückhaltend. Sie holte ihren Laptop heraus, legte ihn auf den Tisch, schloss ihn an den Projektor an und ging, nachdem sie überprüft hatte, ob alles funktionierte, alle Bilder, die sie in der Vorlesung projizieren wollte, noch einmal einzeln durch. Dabei glich sie sie mit ihren Notizen ab, als müsste sie alles neu lernen, und sah jede einzelne Folie der Powerpoint-Präsentation mehrmals durch.

Das Merkwürdige war, dass diese scheinbare Unsicherheit völlig verschwand, sobald sie in der Vorlesung zu sprechen begann. Auf einmal klang ihre leise, brüchige Stimme, die mich seit dem ersten Tag an die von Najwa Nimri in Öffne die Augen erinnerte, selbstsicher, kräftig und überzeugend, als hätte sie alles Gesagte nicht gelesen oder gelernt, sondern selbst erlebt, als würde sie tatsächlich an die Kraft der Bilder glauben, die sie zeigte.

Und vielleicht war das die Wahrheit. Was das wirkliche Leben betraf, hatte Helena nämlich viel Erfahrung. Unsere Vorlesung war ihre einzige an der Universität. Die restliche Zeit arbeitete sie als Koordinatorin einer städtischen Galerie. Sie kannte die Kunstszene von innen, nicht wie die anderen Dozenten, die von Kunst gerade so viel verstanden, wie sie sich in Büchern angelesen hatten. Und manche nicht einmal das.

Helena war das Einzige, was sich an dieser Fakultät lohnte. Und ich konnte nicht aufhören, sie fasziniert zu betrachten. Trotz ihrer jungen Jahre – sie war noch keine fünfunddreißig – wusste sie viel mehr, als ich vermutlich jemals wissen würde. Sie war in Ländern und an Orten gewesen, von denen ich nur träumte. Sie hatte Künstler kennengelernt, die ich bewunderte. Sie hatte Dinge erlebt, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte – und die ich mir zuweilen ausmalte. Deswegen fragte ich mich manchmal, warum sie in der Provinz geblieben und nicht in die Hauptstadt zurückgekehrt oder ins Ausland gegangen war oder an irgendeinen anderen Ort als diesen, der eindeutig zu klein für sie war.

Nach zehn Minuten höflichen Wartens schaltete Helena das Licht aus und begann ihre Vorlesung im Dunkeln: »Ich wollte nicht, dass dieser Kurs zu Ende geht, ohne euch das Werk von Jacobo Montes vorgestellt zu haben, dem, wie ich finde, wichtigsten, genialsten und umstrittensten spanischen Künstler der letzten Jahrzehnte. Ein Künstler, der allerdings von den meisten Kritikern unseres Landes nicht beachtet wurde. Deshalb habt ihr vielleicht noch nicht sehr viel von ihm gehört, obwohl sein Werk in letzter Zeit ständig internationale Aufmerksamkeit genießt, vor allem weil sein Werdegang die Entwicklung eines Großteils der fortschrittlichsten Tendenzen in der Kunst seit den Achtzigerjahren repräsentiert und sein Werk heute einen entscheidenden Punkt der Reife und Anerkennung erreicht hat.«

Ich zückte meinen Kugelschreiber, schob die Blätter zurecht und war bereit, Notizen zu machen. Der Moment war gekommen, an dem ich erfahren sollte, wer Montes war.

Helena sprach zunächst von der Herkunft des Künstlers und merkte an, dass er zwar in Madrid geboren war, aber in den Vereinigten Staaten studiert hatte, wo er jetzt auch lebte. Er hatte sich während der Achtzigerjahre stark für eine Bewegung engagiert, bei der die Kunst als Werkzeug diente, Rechte einzuklagen, also praktisch als politische Waffe. Seine Anfänge standen allerdings in enger Verbindung zu einer Gruppe kalifornischer Künstler, die später als »Modern Primitives« bekannt wurden.

Während sie sprach, erschienen auf der Leinwand die Bilder, die ich zuvor im Schnelldurchlauf gesehen hatte. Ein nackter Mann durchstach sich die Brustwarzen mit Haken, die an Metalldrähten von einem Baum hingen. Dann ging er langsam um den Baum herum, sodass sich die Haut seiner Brust immer mehr spannte, bis zu dem Punkt, an dem sie zu zerreißen schien. Das Bild erinnerte mich an eine Szene aus einem Western, den ich mir vor einiger Zeit mit meinem Vater angeschaut hatte.

»Was ihr hier seht«, sagte Helena, »ist eine Performance, die den ›Sonnentänzen‹ als Hauptbestandteil eines bewusstseinserweiternden Rituals vieler primitiver Stämme nacheifert. Der Fakir Musafar, den ihr hier mit einem Schwert im Gesicht seht« – ein neues Bild erschien auf der Leinwand –, »war eine der Leitfiguren bei der Überführung dieser Praktiken in den künstlerischen Kontext. Ein ehemaliger Manager aus Silicon Valley, der sein bequemes, bürgerliches Leben leid war und nach spiritueller Erhebung durch Selbstkasteiung suchte, wozu er verschiedene Techniken der orientalischen Fakire imitierte.«

Helena projizierte noch ein paar Bilder von suspensions auf die Leinwand. Mit Haken durchbohrte Personen, die von Bäumen oder von irgendwelchen Konstruktionen hingen, Vorführungen und große Veranstaltungen, bei denen die spirituellen Erhebungen in Gruppen praktiziert wurden. Eine Art Blut- und Schwerelosigkeitstaufe.

»Im Grunde geht es darum«, fuhr sie fort, »die Füße vom Boden zu lösen und zu schweben, aber diesmal wirklich und physisch. Das ist eine der fixen Ideen der Künstler in der Moderne gewesen: die spirituelle Erhebung. Und einige haben sie erreicht oder zumindest nach ihr gesucht, indem sie ihren Körper vom Boden lösten, also im Kampf gegen die Schwerkraft. Schwerelosigkeit als Ziel, der Flug als Levitation. Von Malewitsch mit seinen Flugzeugbildern zu den Levitationen des Illusionisten David Blaine oder von Francesca Woodmans Schwebefotos bis zu Philippe Petits Drahtseilakt zwischen den Türmen des World Trade Centers. Fliegen, sich erheben, fliehen … Aus der Welt entschwinden, die uns an die Erde fesselt, den Kopf dicht über dem Boden.«

Helena sprach von der Elevation und zögerte den Auftritt von Montes heraus. Ich wurde ungeduldig. Wo war er? Gab es keine Bilder von seinen Werken? Einen Moment lang dachte ich, der Name sei vielleicht nur ein Vorwand, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Aber dieser Gedanke verflog schnell wieder.

Ein nackter Körper, umgeben von einem Gestrüpp aus Kabeln und Seilen, hing von einem Balken. Unter seinen Füßen hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Sein Gesicht war kaum zu erkennen.

»Das ist Montes«, sagte Helena endlich. »Anfang der Achtziger ließ er sich von Musafar zu suspensions inspirieren, und bald darauf trat er in Kontakt mit Flanagan. In dieser Zeit erwachte sein Interesse für den Masochismus als Instrument einer besseren Weltkenntnis. Das zeigt auch eines seiner berühmtesten Werke: Dialektik der Illumination

Auf dem Bild führte eine in Leder gekleidete Frau eine Reihe von Kerzen in Montes After ein, jede einzelne hatte in etwa den Durchmesser einer Münze. Alle zusammen waren größer als ein menschlicher Kopf. Nach wenigen Sekunden begann der After zu bluten. Und als das Blut auf den Boden tropfte, zündete die Domina die Kerzen an, die herunterbrannten, bis sie die Gesäßhälften des Künstlers anschmorten, dessen Gesicht die ganze Zeit über ausdruckslos blieb. Aus seinem mit einer Lederkugel zugestopften Mund drang höchstens ein leichtes Grunzen.

»Wie ihr seht, behandelt Montes die Frage nach Leere und Erleuchtung auf eine wörtliche, körperliche Art. Manche Formen des Masochismus sind nicht vollständig erklärbar, ohne auf zentrale Fragen der Philosophie hinzuweisen. Hier ist natürlich leicht eine körperliche Kritik am berühmten Kant mit Sade von Jacques Lacan zu erkennen.«

Helena sprach völlig ungerührt, als würde sie eine minimalistische Skulptur beschreiben. Ihr zufolge hatte Montes diese Art von Arbeiten bis Ende der Achtzigerjahre durchgeführt, als er sich langsam bewusst wurde, dass diese Aktionen im Grunde genommen so solipsistisch waren wie Selbstbefriedigung. Sie verschafften ihm Lust und Erkenntnis, aber den anderen brachten sie nichts.

In diesem Moment hörte ich den Kommentar eines Kommilitonen am Tisch hinter mir: »Ich hab’s ja gesagt, die holen sich mental einen runter.«