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Hinter den Dingen

Thomas Vogel

Hinter den Dingen

Ein Roman

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Inhalt

Der dumme Bub

Der Löwe

Juden

Die Beule

Die erste Gitarre

Ein halbes Jahrhundert später

Spuren

Die Taschenbibel

Hermes

Le Juif errant

»Keep singing«

Die Mundharmonika

Die Fünf-Schekel-Münze

Trotzdem

Weiteres E-Book des Autors

Ich ist ein anderer
RIMBAUD

Der dumme Bub

Wenn du zwei Wochen zu spät und dann noch mit einer Beule auf dem Kopf zur Welt kommst, dann bist du einfach anders. Schon von Geburt an bist du anders.

Auch wenn diese Beule sich alsbald eines Besseren besann und wieder verschwand, irgendwas blieb. Bei den anderen und dann irgendwie auch bei dir. Zum Beispiel die Befürchtung, ihr, der Beule, könnte es gelegentlich einfallen wiederzukommen. Also starren sie dich an, beäugen dich, streicheln dir feinfühlig und doch abtastend über den Kopf, du weißt nicht warum, ahnst aber nichts Gutes. Und sie begleiten dich mit ihrer unendlichen Sorge, packen dich in Watte und stecken dich in einen bedrückenden Mantel ihres Umsorgens, und irgendwann spürst du, dass Fröhlichkeit und jede Form von Leichtigkeit gelegentlich etwas kontaminiert sind und dass nichts in deinem kleinen Leben unbeschwert sein kann oder sein darf, und nach und nach wird dir immer bewusster, dass du eben anders bist, zum Beispiel ein notorischer Spätzünder und ein geborener Angsthase sowieso. Oder schlicht einer, der es halt nötig hat, aufzufallen. Der Sonnenschein. Scheinbar.

Kurzum: Jener kleine Kerl also, nennen wir ihn mal Tom, war damals noch ein etwas dummer Bub.

Damals eben, in den schrecklichen Fünfzigerjahren des noch schrecklicheren zwanzigsten Jahrhunderts. Das dann später – zugegeben – in seinen letzten paar Jahrzehnten auch ein gutes Jahrhundert wurde, seines ja auch, in dem er nach der Einübung in die Kunst des Scheiterns dann ja auch langsam gescheiter wurde. Und geschickter mit sich umzugehen lernte. Ein Jahrhundert, in dem er wunderbare Menschen getroffen hat. Von einigen wird die Rede sein.

Aber zurück zu jenen unguten Fünfzigerjahren. Und zu ihm, dem naiven Buben, den man von Geburt an wie eine zerbrechliche Christbaumkugel behandelt hatte, und der so nie gelernt hat, mit Widerstand umzugehen; der lieber nachplapperte als nachfragte, der viel Lehrgeld zahlen musste, schmerzlich viel, bis es ihm nach und nach zu Bewusstsein kam, dass einer, der nachfragt, weder aufmüpfig ist noch durch sein kritisches Nach- oder Hinterfragen deshalb ins Gefängnis muss. Aber zuerst einmal hat er nicht nachgedacht, sondern nachgeplappert. Nach der Schule beim Mittagessen zum Beispiel. Sprach von der »Bombenstimmung« und zitierte wortwörtlich seinen Klassenlehrer, den alten Schleim, einen Tatzen austeilenden, gallig dreinschauenden Sadisten, der als einziger in einem weißen Apothekermantel herumlief, dabei sein rechtes Bein nachzog, was alle, die hinter ihm gingen, dann zur allgemeinen Belustigung nachmachten, kurz: den alle hassten, und der den kleinen Tom »bis zur Vergasung« Schönschreiben üben ließ. Zuhause hieß es dann: »So was sagt man nicht!«

»Aber der Schleim hat es so gesagt.«

Der dumme Bub ist nicht auf die Idee gekommen, nachzufragen. Er hat nicht nachgefragt, warum man das nicht sagen soll, er hat sich mit dem Deutschlehrer gerechtfertigt, einem alten Nazi, den man im Schnellverfahren entnazifiziert hatte, damit er auf dem Goldberggymnasium, das im Dritten Reich Adolf Hitler-Gymnasium hieß, woran sich aber nach dem Krieg keiner erinnern konnte, damit dieser also den Zwölfjährigen Deutsch und Musik beibrachte. Schulunterricht im Gleichschritt, Marsch! Des dummen Buben persönliche Gnade der späten Geburt.

Aber Gott sei Dank gab es da ja das wandelnde Korrektiv in Gestalt eines Großonkels mütterlicherseits. Der wichtige Onkel, der weise, der mit einem klugen, oft vielsagenden Lächeln begabte Onkel, der ihn zur Seite nimmt, der ihn aufklärt, und ihm erklärt, woher der Begriff »Vergasen« kommt, nämlich aus der Physik. Durch den Holocaust aber, bei dem Millionen Juden von den Nazis in die Gaskammern geschickt wurden, habe dieser Begriff eine zweite, negative Bedeutung bekommen. Als erster und einziger spricht dieser Onkel also mit ihm über die Verbrechen der Nazis an den Juden und damit letztlich am eigenen Volk. Was dem dummen Buben den nächsten Schlamassel einbringt. Als der Deutschlehrer ihn wieder »bis zur Vergasung« Schönschreiben lässt, rutscht ihm wichtigtuerisch vor versammelter Klasse raus, das sei Nazideutsch. Das hat dem hinterhältigen Schleim, dessen heimtückische Gesichtszüge ihn an eine Schnake denken ließen, die den Schlaf nächtlings in eine qualvoll dahinkriechende Höllenfahrt verwandelt, gar nicht gefallen, dass er das zu hören kriegt. Die Schulkameraden feixen. Der dumme Bub macht sich zum Kasper und kassiert einen Eintrag ins Klassenbuch, wegen Frechheit und wiederholtem Stören des Unterrichts. Er fühlt sich gedemütigt, hilflos, wagt nicht, zuhause davon zu erzählen. Im Zeugnis steht zum ersten und bei weitem nicht zum letzten Mal: »Verhalten unbefriedigend.« Er muss es dem Großonkel, dem mit dem gütigen, verstehenden Lächeln, beichten, der mit ihm spazieren geht. Und der ihm daraufhin zum ersten Mal ausführlich von sich erzählt, warum er kurz vor dem Krieg Deutschland verlassen hat, warum einer seiner Brüder zum Nazi wurde, die beiden anderen in die kommunistische Partei gingen, und die Schwestern in die pietistische Stund’. Wie der Nazibruder letztlich verhindern konnte, dass seine kommunistischen Brüder ins Lager transportiert wurden und wie nach dem Krieg der Kommunistenbruder dann den Nazibruder vor der Verfolgung durch die Alliierten schützte. Eine unglaubliche Geschichte, die der naive Bub in ihrer monströsen Dimension erst langsam und so nach und nach begriffen hat. Es hat Jahre, wenn nicht Jahrzehnte gedauert, bis aus den Bruchstücken, aus dem Gemunkel und den Halbsätzen sich sukzessive ein einigermaßen schlüssiges Gesamtbild ergab. Allmählich begann er zu verstehen, was da abgelaufen war, welche Rolle die einzelnen Familienmitglieder gespielt hatten, welches Regiment die sanften und frommen Schwestern geführt hatten und mit welchen Mitteln es ihnen gelungen war, die zänkischen Brüder in Schach zu halten, ihnen unmissverständlich zu verstehen gaben, dass an erster Stelle immer die Familie steht. Die Familie und sonst gar nichts, zumindest lange nichts. Bei der Politik waren sich die Schwestern einig: es würde böse enden. Und damit behielten sie recht. Sie führten das Regiment, dekretierten, dass zuhause nicht politisiert wird! Mit diesem Erbe ist viele Jahre später auch er, der kleine Bub, aufgewachsen.

Zum Glück also gab es den Großonkel, den einzigen seiner Generation, der nicht wie seine Brüder und Schwestern in kleinen, zum Ersticken engen und muffigen Stuben wohnte, in die man über steile Holzstiegen kam, und in denen die Ahnen mit finsteren Mienen von den Wänden blickten, in denen es alttantenhaft nach Rosenwasser und Nivea roch, und wo den brav auf ihren Stühlen sitzenden Kindern die Leidenszeit quälend langsam dahin kriechender Dämmerstunden mit einem klebrigen Himbeerbonbon versüßt wurde, das man sich in die Backe steckte, wo es nicht so schnell dahinschmolz, bis man es dann irgendwann krachend mit den Backenzähnen vollends zerbiss. Dieser Großonkel also, der viel im Ausland war, weltoffen lebte, war ihm mit seiner verständnisvollen Freundlichkeit viel näher und auch viel lieber als die viel jüngeren direkten Onkels, bei denen immer vom Ärmelhochkrempeln und Zupacken die Rede war, und die bei den Familienfeiern mit mächtig geschwollenem Kamm herumgockelten und mit erhobenen Zeigefingern grundsätzlich alles besser wussten. Irgendwann damals hatte Tom beschlossen, Menschen lächerlich zu finden, die sich ihre eigene Bedeutung glaubten bescheinigen zu müssen. Das sollte so bleiben. Toms Großonkel dagegen war ein bescheidener Onkel, der vor allem eins konnte: Zuhören. Er verstand es, aus den unbeholfen formulierten Gedanken seines Großneffen das Richtige herauszuhören, um mit Bedacht dann Worte zu finden, mit denen Tom etwas anfangen konnte.

»Irgendwann, wenn du groß bist, musst du Wurzeln schlagen. Aber genauso wichtig wird es sein, dass dir Flügel wachsen.«

Dann erklärte der Onkel, was er damit sagen wollte, und Tom fand solche Überlegungen gut. Das ist Philosophie, dachte er. Verwurzelt sein und gleichzeitig beflügelt sein, das beschäftigte ihn, dazu machte er sich Gedanken, fand Beispiele in der Sprache, notierte alles in ein Heft und überlegte, wie er das für sich anstellen könnte, das mit Wurzeln schlagen und das mit Flügel kriegen.

Dieser kluge Großonkel war auch der einzige, der ihm gegenüber von der Judenverfolgung durch die Nazis sprach, von den Konzentrationslagern, und davon, dass Millionen Menschen umgebracht wurden. Dass der Bürgermeister Gruber wenige Jahre zuvor seinen Vorgänger, den Bürgermeister Pfitzer zum Ehrenbürger ernannt habe, obwohl der doch mitschuldig sei an der Vertreibung der Juden und Zigeuner und Zeugen Jehovas aus Sindelfingen.

Der Bub war inzwischen vielleicht elf, zwölf Jahre alt, er hatte die ganze Zeit nichts gesagt und nicht weiter nachgefragt, kam bedrückt nach Hause mit dem Gefühl, jetzt lauter Geschichten zu kennen, die man besser nicht kennen, oder von denen man möglichst gar nichts wissen sollte. Abends vor dem Einschlafen fielen ihm diese Tabugeschichten wieder ein, und er konnte sich nicht vorstellen, wie das mit dem Vergasen gemeint war, er kannte ja nur den Gasherd in der Küche mit den vier Flammenkränzen, den sie als Kinder nicht bedienen durften, es könnte ja was passieren, und Tom konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man damit Menschen umbringt. Was hätte er vor dem Einschlafen ohne Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar gemacht! Mit ihnen kam er von Bagdad nach Stambul. Mit ihnen würde die Reise garantiert ein gutes Ende finden. Sie waren seine Rettung vor einer diffusen Angst, die sich bedrohlich breitmachte, sobald es dunkel wurde, sie nahmen ihn mit in die Wüste und in den Zauber eines nach süßen Spezereien duftenden Orients. Ihn und natürlich seinen Löwen!

Der Löwe

Der Löwe! Es gibt ja so etwas wie Konstanten im Leben, Dinge, die dich ein Leben lang begleiten, verfolgen, immer wieder einholen, im Guten wie im Schlechten. Sie sind dir treu wie ein Muttermal. Mal sitzen sie dir im Genick, mal kannst du sie auf die leichte Schulter nehmen. Den einen folgst du, auch wenn sie dir die kalte Schulter zeigen. Andere wiederum offerieren dir großherzig ihre breite Schulter, zum Anlehnen. Dazu bestellen sie wärmende Sonnenstrahlen, den Duft der Garrigue, ein Bouquet aus Rosmarin, Lavendel und Großzügigkeit, und versetzen dich so in den dichtest möglichen Aggregatzustand. Für einen kleinen Augenblick schaut dann die Ewigkeit vorbei, für diesen einen Augenblick lang bist du unsterblich.

Bei Tom war es ein Löwe. Und wie es sich im Schwäbischen gehört, hatte der einen Knopf im Ohr, für Tom ein Zeichen seiner Domestizierung. Sie seien, so sagte man ihm, in etwa gleich alt, er und sein Löwe. Inzwischen ein durchaus kampferprobter Löwe, der schon viel erfahren hat in seinem Leben, auch Federn, pardon: Mähne hat lassen müssen und so stellenweise etwas gerupft daherkommt. Immerhin, soweit Tom zurückdenken kann, besitzt er ihn, ist er sein Begleiter, vornehmlich ein Bettgenosse. Aber was das Wichtigste ist: er hört ihm zu. Natürlich hat er ihn immer noch. Auch er ist gealtert, genauer gesagt, auch er ist gut gealtert, immer noch recht ansehnlich, mal abgesehen von ein paar Narben und einer kleineren Verbrennung, als ihm mal die Birne der Nachttischlampe zu sehr auf den Pelz gebrannt hatte …

Wie gesagt: Dieser Löwe war sein Weggefährte, ganz und gar nach Art der Löwen. Meist lag er untätig herum, schien müde und gelangweilt und war doch hellwach. Dieser Löwe war sein Begleiter, noch bevor er, Tom, es selber hätte entscheiden können, wahrscheinlich, weil er im Sternzeichen des Löwen geboren wurde, und weil man immer behauptete, bei ihm würde das genau zutreffen: er sei der typische Löwe. Letztlich ist es aber völlig egal, wie was anfing, irgendwann war der Löwe halt da und seither begleitet er ihn, treu, anstandslos und im Guten. Bis heute hat ihn noch kein Löwe gebissen, im Gegensatz etwa zu Hunden und Katzen und Liebhaberinnen, ganz zu schweigen von sadistischen, auf den leisesten Schenkeldruck ihrer Vorgesetzten reagierenden Wadenbeißern. Der eine glotzt durch dicke Brillengläser, die auf einem überdimensional großen, ständig geröteten Zinken über dem lippenlosen falschen Lächeln sitzen, und der andere heuchelt mit leiser, sanfter Stimme Freundlichkeit und tiefes Verständnis. Vorne herum … Was beide verbindet: ein Händedruck wie eine weiche Windel. So etwa das genaue Gegenteil zur Löwenpranke. Aber von solch tristen Gestalten wird hier nicht die Rede sein.

Deshalb zurück zu Erfreulicherem: mit Löwen hat er, wie gesagt, bis heute nur beste Erfahrungen. Natürlich brüllen sie, so wie der von Metro Goldwyn Meyer, natürlich reißen sie ihr Maul auf, so wie die im Zirkus, natürlich sind sie Meister der majestätischen Geste, aber das ist, weil sie spielen wollen, weil sie beeindrucken wollen, Löwen wollen gefallen, Löwen lieben es, im Mittelpunkt zu stehen und an heißen Sommertagen im Schatten unter einem Baum zu liegen, in der Mittagshitze zu dösen, zu träumen und die anderen im Ungewissen darüber zu lassen, was in ihnen vorgeht.

Tom träumte viel. Am Tag und erst recht in der Nacht. Was er nächtens träumte, war meist beim ersten Wimpernschlag nach dem Aufwachen schon wieder vergessen. Einmal war es anders. Das ist schon sehr lange her, aber heute noch so präsent wie am ersten Tag damals beim Aufwachen. Er träumte von einem Landhaus im Süden, das Meer nicht weit. Es ist Abend. Im großzügigen Salon brennt im Kamin ein Feuer. Davor liegt, auf einem edlen Teppich, in majestätischer Pose ein Löwe mit prächtiger Mähne. Zwischen ihm und Tom ein Schachbrett. Schwarze und weiße Figuren gleichmäßig über das ganze Brett verteilt. Keine Ahnung, wer da gewinnt. Nicht wichtig. Wichtig ist nur die Behaglichkeit. Sooft ihm dieses Bild einfällt, überströmt ihn Wohlgefühl. Schachspiel mit Löwe.

Viele Jahre früher schon sammelte er Löwengeschichten. Die ersten fand er in der Kinderbibel. Immer wieder stieg er mit Daniel in die Löwengrube, der mit Hilfe seines Gottes die Löwen bezwang. Immer wieder las er die Geschichten vom Hirtenjungen David, der stark wie ein Löwe war, und der König wurde von Juda. Dann hörte er in der Kinderkirche, dass man vor zweitausend Jahren die ersten Christen in Rom den Löwen vorwarf. Entweder, dachte er, entweder diese Christen hatten den falschen Gott, oder sie sind nicht so stark wie die Juden.

Er überlegte, ob es nicht vielleicht sinnvoll wäre, Jude zu werden, so wie David oder Daniel.

Vorläufig aber wollte er Dirigent werden. Denn Dirigenten, das hatte er gesehen, haben eine Mähne, und müssen diese beim Dirigieren immer wieder mit einer majestätischen Kopfbewegung nach hinten werfen. Und Dirigenten stehen im Mittelpunkt, ganz ohne Gewalt gehorcht ihrem Taktstock ein ganzes Orchester. Ein Dirigent ist ein mächtiger Mann, dachte er sich. Also müsste er dirigieren. Nicht raufen, nicht sich mit den Stärkeren im Schulhof herumbalgen, um sich eine blutige Nase zu holen und ausgelacht zu werden.

Dirigieren, das war’s. Und so übte er. Regelmäßig abends vor dem Schlafengehen, vor dem Plattenspieler der Eltern hat er dirigiert, Mozart, Haydn, Schubert, Eine kleine Nachtmusik, das Kaiserquartett, das Forellenquintett. Kaum in der Schule, erzählt er dem Lehrer, er lerne dirigieren, vor der Klasse auch noch, er darf zeigen, wie es geht, fuchtelt mit den Armen, Trockenübungen ohne Musik, die Klasse ist sprachlos, der Lehrer auch. Dann darf er sich wieder setzen und der Lehrer zeigt, wie ein Dreivierteltakt geht. Seither weiß er das. Wenigstens das. Dabei ist es geblieben. Der Rest war Theater.

»Willst du immer noch Dirigent werden?«, wollte einige Zeit später sein Lehrer grinsend von ihm wissen. Tom verneinte.

»Und warum nicht, hahaha?«

»Weil …«, Tom zögerte, schlug etwas verlegen die Augen nieder, »weil Dirigenten doch nichts zu sagen haben.«

»Was meinst du mit ›nichts zu sagen haben‹?«

»Sie sind sprachlos, die reden ja nichts, das ist langweilig, wenn man nichts sagen darf«, sagte Tom.

»Aha, interessant! Hahaha. Und was willst du dann werden?«

»Schauspieler«, sagte er.

»Ja, da hast du nicht Unrecht«, meinte sein Lehrer verständnisvoll, »die haben das Wort. Und das gefällt dir?«

Der Bub nickte. Seine Augen strahlten.

Juden

Jahre später, er erinnert sich noch genau, da war im Geschichtsunterricht am Rande von den Juden die Rede. Da fragte der dumme Bub, ob es denn in Sindelfingen auch welche gegeben hätte und ob die Nazis sie vergast hätten. Sein Geschichtslehrer, dessen nervöses Zucken im Gesicht er noch vor sich sieht, dessen Namen er aber warum auch immer vergessen hat, schaute ihn an, als wolle er ihn würgen. Tom grinste, nicht überheblich, eher verlegen, wusste auch nicht, war’s Mut oder war’s Frechheit? Oder vielleicht sogar Interesse. Auf alle Fälle bereute er seine Frage. Der Geschichtslehrer stotterte irgendwas, von wegen dass er davon nichts wisse, und wenn es denn welche gegeben hätte, dann wären sie weggezogen. Verärgert fügte er hinzu, dass das jetzt überhaupt gar nichts mit dem Mittelalter zu tun hätte. Das würden sie später schon noch ausführlich erfahren. Weder aus dem Später noch aus dem Ausführlich ist für Tom je etwas geworden. Erst 2006, mehr als sechzig Jahre nach dem Holocaust, ist er auf die Arbeit von ein paar Schülern gestoßen, die Licht in dieses Kapitel der Sindelfinger Gegenwartsgeschichte gebracht haben. Sie durchforsteten Gemeinderatsprotokolle aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Erst so erfuhr er, was damals in dem ach so beschaulichen Städtchen mit seinen achteinhalb tausend Einwohnern wahrscheinlich jeder gewusst hatte, dass es nämlich zwei jüdische Familien gegeben hatte, die seit Jahrzehnten in Sindelfingen ansässig gewesen waren.

1923 hatte die jüdische Familie Ullmann in der Oberen Vorstadt 1 ihr Haus bezogen. Die beiden Brüder Siegfried und Sigmund waren Viehhändler. Die Familie ihres Bruders Emil wiederum betrieb eine Herrenschneiderei. Bei der Volkszählung 1933 kam man auf insgesamt acht Familienmitglieder. Sie waren Sindelfinger, jeder hat sie gekannt. Das sollte sich ändern, spätestens nach Hitlers Machtübernahme. Im August 1938 musste die Viehhandlung Ullmann ihren Betrieb einstellen. Und Emil Ullmann musste im darauf folgenden März seine Schneiderei aufgeben.

Mit massiven Repressalien versuchte der damalige Bürgermeister Pfitzer, der bereits 1906 als Steuerratsschreiber in Sindelfingen angefangen hatte und 1932 zum Bürgermeister der Gemeinde gewählt wurde, die Familie Ullmann wirtschaftlich auszuschalten und zu vertreiben, was aus den Sitzungsprotokollen der Jahre 1937/38 hervorgeht. Danach sollte von Juden gekauftes Vieh nicht mehr versichert werden. Dann, im April 38, informiert das NSDAP-Mitglied Pfitzer die Ratsmitglieder, dass er den Juden den Zutritt zu den Sindelfinger Viehmärkten ganz und gar verbieten will.

Im Herbst 1941 werden Siegfried und Lily Ullmann in ein Sammellager nach Haigerloch verfrachtet, später in Stuttgart interniert, von wo aus sie »auf Transport« nach Osten geschickt und nach Riga in ein Todeslager gebracht werden. Sigmund, Bella, Irene und Emil Ullmann werden im April 1942 deportiert und ebenfalls ermordet.

Nur Edith und Helmut Ullmann, die von ihren Eltern Sigmund und Bella bereits in den Dreißigerjahren in die USA geschickt worden waren, haben überlebt. In einem Gespräch mit den Schülern der Projektgruppe erinnerte sich Helmut Ullmann an die Zeit, als Hitler an die Macht kam, damals, als er sechs Jahre alt war und in der ersten Klasse saß: »Es kamen Freunde zu mir und sagten: ›Helmut, wir dürfen nicht mehr mit dir sprechen.‹ Außerdem wurde ich in der Schule von meinen Klassenkameraden oft geschlagen. Die Propaganda hat eben gewirkt. Dem Lehrer Dunz verdanke ich, dass es nicht noch schlimmer war, er hat mich beschützt.«

Den alten Dunz hat Tom auch noch gekannt, als dieser bereits pensioniert war, schließlich war er der Schwiegervater seines bereits erwähnten Lieblingsonkels.

Fast zwangsläufig erfährt er so auch vom Schicksal der 25-köpfigen Sinti-Großfamilie Reinhardt aus Sindelfingen. Einige Familienmitglieder hielten sich durch Hausierhandel über Wasser, einige haben beim Daimler gearbeitet, andere schlugen sich als Musiker durch. Die Auskünfte des Tübinger Nervenarztes Robert Ritter, der den Zigeunern rassische Minderwertigkeit bescheinigte, lieferten die Argumente für den Abtransport. Verzweifelt richtete sich Katharina Reinhardt im Juli 1939 an Bürgermeister Pfitzer: »Ich bitte ihne sind Sie so gut und sind Sie mir behilflich, dass mein Mann und Sohn wiederkommen kann, indem dass ich keinen Ernährer habe. Wenn mein Mann da ist, so übergeb ich mein Grundstück der Gemeinde über und verzichte auf Sindelfingen.«

Ob die verzweifelte Katharina je eine Antwort auf ihr Schreiben bekommen hat, konnte er nicht in Erfahrung bringen. Dafür aber vermeldet die Chronik, dass am Morgen des 16. März 1943 sämtliche Mitglieder der Familie Reinhardt »abgeholt« und mindestens 17 von ihnen, vermutlich in Auschwitz, ermordet wurden. Das jüngste Kind war drei Jahre alt. Bürgermeister Pfitzer wurde 1949 in den Ruhestand verabschiedet. 1953 verlieh ihm der damals amtierende Bürgermeister Arthur Gruber nach einstimmigem Gemeinderatsbeschluss die Ehrenbürgerwürde. Als Verdienst hob Gruber in seiner Laudatio unter anderem den Bau einer Kläranlage hervor …

Tom war noch klein und noch ein dummer Bub und hat von all dem nichts mitgekriegt – oder zumindest keine Erinnerungen daran. Seine Welt war die der Familie und der Verwandtschaft und leider auch der Schule. Wichtig waren die Geschwister, die Cousinen und Cousins, die Onkel und die Tanten, Familienfeste und endlose Monopoly-Turniere. Man spielte Tischtennis im Garten oder verschwand im Kinderzimmer. Er spielte mit der Märklin-Eisenbahn oder mit der vom künstlerisch begabten Großvater mütterlicherseits hyperrealistisch bis ins kleinste Detail gebauten Ritterburg. Vom Taschengeld kaufte er sich Elastolin-Ritter der Firma Hausser. Mit dem dazu passenden Lesefutter über Richard Löwenherz, über Saladin und Ivanhoe versorgte er sich einmal wöchentlich in der Stadtbücherei.

Gott sei Dank gab es die Parallelwelten!

Und die brauchst du ein Leben lang. Ob die mit der Modelleisenbahn oder die mit der Ritterburg. Aber vor allem brauchst du die in den selbst erfundenen Geschichten. Und deshalb – unter anderem – wünschst du dir ja auch Kinder, und nach den Kindern irgendwann die Enkel. Um mit ihnen dann »Eisenbahn« zu spielen und um ihnen eine Ritterburg zu bauen. Und vor allem, um ihnen und dem Löwen – es darf auch ein Teddybär oder ein Püppchen sein – bis zum Einschlafen Geschichten zu erzählen. Solche, die einem später irgendwann wieder einfallen, hoffentlich, dann, wenn man sie brauchen kann.

So einfach.

Die Beule

Plötzlich war sie wieder da. Heiß und kalt lief es ihm den Buckel hinunter. Er wusste es, er war sich sicher, todsicher. Die Beule war wieder da. Er rannte ins Bad vor den Spiegel: nichts zu sehen, absolut nichts. Er fühlte ängstlich mit den Fingern, fuhr mit der Rechten über seinen Kopf: es war nichts zu tasten, absolut nichts. Und trotzdem glaubte er sie zu spüren, sie war da, unbestimmt und unsichtbar, aber dennoch da. Ein Phantom. Und es machte ihm Angst.

Man ging mit ihm zum Hausarzt, der ihn gründlich befragte, mit kritischem Blick untersuchte, abtastete, abhörte, Blut abnahm. Nach zwei Tagen, in denen Tom nichts anderes denken und noch weniger schlafen konnte, waren die Ergebnisse aus dem Labor endlich da. »Kein Befund, mein Lieber, du bist kerngesund«, meinte der Hausarzt, der zu den Eltern noch was von »vegetativer Labilität« sagte und wieder zu ihm gewandt hinzufügte: »Wenn’s wieder mal wo zwickt, einfach ignorieren!« Tom war erleichtert. Bloß: das hielt nicht lang. Denn er wusste doch, dass sie da war, seine Beule, mal als pochender Schmerz im Kopf, mal stichelte sie ihn da, wo er das Herz vermutete, mal drückte sie im Bauch, mal fuhr sie ihm ins Kreuz. Als er ernsthaft versuchte, dem ärztlichen Rat zu folgen und sie zu ignorieren, da wurde es erst recht schlimm, da wurde sie plötzlich bockelhart und drückte aufs Gemüt.

Er sprach mit seinem Löwen darüber. Das half. Der schaute traurig und verständnisvoll.

Es muss etwa zu der Zeit gewesen sein, da bekam er eines Tages ein altes Kinderliederbuch in die Finger, das seiner Mutter gehört hatte, als sie noch klein war. Darin entdeckte er ein seltsames Lied, das ganz harmlos klang, und das er, obwohl ihn der Inhalt sehr ärgerte, immer und immer wieder lesen musste. Es handelt von einem Mädchen, das in sein Gärtchen geht, um Blumen zu gießen, und dabei regelmäßig von einem kleinen buckligen Männlein gestört wird. Plötzlich meinte der Löwe in seiner Ecke: »Siehste wohl, andere haben auch ihren Störenfried.«

Richtig: Es gibt so etwas wie Konstanten im Leben, so treu wie ein Muttermal. Aber das hatten wir. Und sein Löwe hatte ja gar nicht so unrecht. Es gibt treue Begleiter, im Guten wie im Schlechten, die einen willst du an dich binden, die anderen abschütteln, ein für allemal loswerden. Aber du kannst nicht aus deiner Haut, keiner kann das.

Tom hatte als ständigen Begleiter seinen Löwen. Und dazu noch ein Phantom, das mal als buckliges Männlein, mal als Beule wie aus dem Nichts bei ihm auftauchte, mit seiner Angst kopulierte und Bilder des schlechten Geschmacks auf die Leinwand seiner Seele projizierte. Ein Phantom, das plötzlich auftauchte und störte und genauso plötzlich wieder untertauchte und wie vom Erdboden verschluckt verschwunden war.

Er sann auf Abhilfe.

Die erste Gitarre