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Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2014
Originalcopyright Text © Julian Sedgwick, 2013
Originalverlag: Hodder Children’s Books, a division of Hachette Children’s Books
First published in Great Britain in 2013
Originaltitel: Mysterium. The Black Dragon
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Bildelemente Umschlag: Junge: shutterstock/Alexander Yakolev
Rahmen/Hintergrund: shutterstock/Chistophe Boisson
Ketten: shutterstock/Volodymyr Krasyuk
Stadt: shutterstrock/Kanuman
Karte Vorsatz: Christian Schneider
Lektorat: Nina Horn
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8489-6014-9

Für Joe und Will. Wen sonst?

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EINS

Sternchen-Vignette

Wie man überlebt

Danny Woo öffnet die Augen.

Das linke ist glitzernd grün, das rechte von einem tiefen Kastanienbraun. Düster und wachsam blickten sie in den Oktobermorgen.

»Heh, Woo! Wie wäre es, wenn du uns noch mal deinen blöden Kartentrick zeigst?«

Danny stöhnt insgeheim, als Jamie sich über ihn beugt. »Jetzt sofort?«

»Lass dir Zeit, du Spinner. Oder hast du Angst, das Klingeln zu verpassen?«

Danny schüttelt den Kopf und holt das Zauberkartenspiel aus der Hosentasche. Sein Herz schlägt schneller, während er mischt und einen Teil der Karten abnimmt. Es muss klappen, denkt er, denn sonst werden mich Jamie und seine Freunde noch schlimmer mobben. Er weiß noch, wie sein Vater ebendiese Karten gekonnt durch seine Finger gleiten ließ. Aber das ist lange her. Konzentration, Danny!

Er holt tief Luft und versucht die Hände ruhig zu halten, während sich die anderen neugierig um ihn versammeln. Der heisere Lärm im Umkleideraum weicht erwartungsvoller Stille.

»Gut. Zieh eine Karte«, sagt er und fächert das Blatt auf, legt es mit dem Gesicht nach unten, und – ja – die »Kraft« wirkt genau im richtigen Moment. Jamie greift zum Pik-König, als würde dieser ihn magnetisch anziehen. Gut. Alles läuft nach Plan.

»Merk dir die Karte«, sagt Danny. »Jeder von euch muss sie sich merken.«

Dies verschafft ihm die entscheidende halbe Sekunde, die er braucht, um das Gummiband hinter dem Blatt zu platzieren.

»Und jetzt zurückstecken. An eine beliebige Stelle.« Aber das stimmt nicht. Denn es muss die richtige Stelle sein.

Jamie schiebt die Karte zurück und versucht dabei, Danny zu verwirren, aber dieser bringt den kleinen Finger in Position – ein gut verstecktes Lesezeichen – und lässt das Gummiband um eine Kartenecke des Pik-Königs schnellen. Er drückt das Blatt zusammen. Ob das Gummiband richtig sitzt? Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.

»Denk an deine Karte. Sag ihren Namen immer wieder still vor dich hin.« Er hält das Blatt auf Armlänge von sich und starrt die Rückseiten der Karten an. Dann zieht er, unbemerkt von den anderen, den kleinen Finger blitzartig zu sich hin. Aber das Gummiband rutscht ab, und der Pik-König springt nicht hinaus, sondern ruckt nur etwas nach vorn. So ein Mist.

Danny zieht die Karte aus dem Blatt. Als er sie den anderen zeigt, bemüht er sich um eine selbstbewusste Miene. »Pik-König, richtig?«

»Ja, richtig.« Jamie schürzt die Unterlippe, um zu verbergen, dass er beeindruckt ist. »Erraten. Und jetzt noch einmal, du Spinner.«

»Nein«, sagt Danny, der daran denkt, was sein Vater sagen würde. Keine Wiederholungen. Keine Erklärungen …

»Jetzt zeige ich dir meinen Trick, Woo«, sagt Jamie, der sich das Blatt schnappt und in die Luft wirft. »Man nennt ihn auch Fünfzig-Fliegende-Karten! Fang sie!«

Die anderen lachen, während Danny auf dem Fußboden des Umkleideraums herumkrabbelt und die Karten einsammelt. Die Fliesen riechen nach Desinfektionsmittel, schal und kalt. Er ist jetzt ein Jahr in Ballstone und findet es immer noch fürchterlich. Wie schön war es im Mysterium! Es hatte dieses ganz besondere Aroma: von feuchtem Gras, Trockeneis, brennendem Paraffin, Kanonenschlagrauch, Schminke – und dazu der eindringliche, lebhafte Geruch, den das Zirkuszelt verströmte, wenn es an einem neuen Ort aufgestellt wurde. Doch all das gehört jetzt der Vergangenheit an, daran muss er sich gewöhnen.

Er sammelt die Karten auf, eine nach der anderen, und zählt sie durch, um sicherzugehen, dass keine fehlt.

Er wird zu spät zum Unterricht kommen.

Danny rennt den anderen hinterher, denn wenn er sich nicht beeilt, wird man ihm wieder stumpfsinniges Nachsitzen aufbrummen. Seine drahtige Gestalt flitzt über den großen Hof. Er überholt Jamie und die anderen und schaut auf die Uhr – kurz nach halb elf. Er müsste es gerade noch schaffen.

Über ihm krächzen Krähen, die zu ihren Nestern in den Ulmen fliegen. Danny will gerade nach der Türklinke greifen …

… als das Gebäude durch eine Explosion in seinen Grundfesten erschüttert wird.

Ein greller Blitz blendet ihn.

Sekundenbruchteile später folgt die Druckwelle, sie schießt durch den Flur, bläst die Türen aus den Angeln, schleudert ihn über den Boden. Er weiß, wie man fallen und sich abrollen muss, aber es erwischt ihn eiskalt, und er knallt mit dem Gesicht auf den Asphalt und dreht sich noch zwei Mal um die eigene Achse, bevor er benommen liegen bleibt und hört, wie der Explosionskrach mit lang gezogenem Knurren verhallt.

Vor seinen Augen tanzen Sterne. Die Luft ist von Rauch und dem Gestank verschmorter Elektrokabel erfüllt – und er hat das Gefühl, als wäre ihm das letzte bisschen Luft aus den Lungen gesogen worden.

Er hat den Eisengeschmack von Blut im Mund und betastet seinen Kopf. Als er die Finger wegzieht, sind die Kuppen rot gefärbt. Er richtet sich auf, und sobald er wieder klar denken kann, versucht er zu begreifen, was passiert ist. Es dauert eine gute Minute, bis ihm wieder einfällt, wo er sich befindet. Er sieht Jamie und die anderen, die ebenso verwirrt durch die Gegend stolpern wie er selbst.

Zettel vom schwarzen Brett segeln überall durch die Luft wie riesige, verkohlte Schneeflocken. Ein halb verbranntes Blatt streift seine Wange, und er greift instinktiv danach. Es hat weder das Schullogo noch den üblichen Briefkopf, sondern ist fast leer – bis auf ein kleines Diagramm, das mitten darauf gezeichnet wurde: ein ordentliches Raster aus schwarzen Punkten, in sieben senkrechte und sieben waagerechte Reihen gegliedert. Eine davon – die zweite Reihe von unten auf der linken Seite – ist rot umkringelt worden.

Die Punkte verschwimmen, denn seine Augen werden feucht.

Unter der Tabelle hat jemand notiert: »1030«. Der Schreiber dieser Zahlen hat einen dicken Stift benutzt und sehr kräftig aufgedrückt.

Das ist alles.

Danny starrt die Zahlen eine Weile an, aber sie kommen ihm genauso sinnlos vor wie viele andere Dinge in seinem derzeitigen Leben. Er faltet den Zettel geistesabwesend zusammen und steckt ihn hinten in die Hosentasche.

Durch den Qualm kann er die Krähen erkennen, die von der Explosion aufgescheucht worden sind. Sie krächzen und kreischen, zerzauste schwarze Kreuze vor strahlend blauem Himmel.

ZWEI

Sternchen-Vignette

Wie man ganz lebendig ist

Durch einen Zufall war der große Flur zum Zeitpunkt der Explosion menschenleer, und deshalb gibt es keine Schwerverletzten – nur Schnitte und Abschürfungen durch herumfliegende Trümmerteile und einige unter Schock stehende Schüler. Sie sitzen wie benebelt auf dem Hof, in Decken gehüllt, während die Leute vom Rettungsdienst alles mit gelbem Flatterband abriegeln. Das statische Knistern ihrer Funkgeräte erfüllt die Luft.

Danny wird von einer Sanitäterin untersucht. Sie will wissen, ob er sich den Kopf gestoßen hat. Er muss ihrem Finger mit dem Blick folgen, dann richtet sie eine Taschenlampe auf seine Augen.

»Die Pupillen weiten sich ganz normal. Hübsche Farben!«, fügt sie lächelnd hinzu. »Hast du die von deinen Eltern? Von jedem eine?«

Danny gibt sich größte Mühe, ihr Lächeln zu erwidern, aber als die Sanitäterin seine Wunde versorgt, merkt sie, dass er nur mit dem Mund lächelt, nicht mit den Augen. Sein Gesicht ist wie erstarrt.

»Geht es dir auch wirklich gut?«

»Ja. Danke.«

»Du solltest dich erst mal schonen, junger Mann. Und darauf achten, ob du Symptome eines Schocks bemerkst.«

»Und wie sehen die aus?«

»Man fühlt sich wie festgenagelt. Kann sich nicht vom Fleck rühren.«

Er nickt. Aber hat er sich während der letzten anderthalb Jahre nicht jeden Tag so gefühlt?

Der Unterricht fällt bis auf weiteres aus, und Danny zieht sich in die Geborgenheit seines Zimmers zurück, das er zum Glück ganz für sich allein hat. Er lässt sich aufs Bett fallen und starrt die Risse unter der Decke an. Wenige Minuten früher und … Nein, dieser Gedanke ist unerträglich, und er versucht ihn abzuschütteln.

Aber ihn belastet noch etwas anderes. Der beißende Gestank der Explosion, die Kälte, das Eintreffen der Rettungsdienste – all das hat sich verschworen, um ihn an jenen schrecklichen Tag vor zwanzig Monaten zu erinnern: der dichte Schneefall in Berlin, der Schock, der ihn innerlich zu zerreißen drohte, der Polizist, der ihn von den verkohlten Trümmern ihres Wohnanhängers wegzog. Der Rettungswagen, aus dem man Tragen für seinen Vater und seine Mutter lud. Oder für das, was von ihnen übrig war.

Danny erschaudert. Versucht diese Gedanken zu verdrängen und wegzusperren. Wie sonst auch.

Aber dieses Mal ist alles anders.

Die Erinnerungen lassen sich nicht vertreiben, und er ahnt, dass die Explosion etwas in ihm geweckt hat. Er wird immer wieder von tiefen Gefühlen aufgewühlt – als sollte er aus einem langen, aber unruhigen Schlaf gerissen werden. Und er empfindet den immer stärkeren Impuls, in Aktion zu treten, zu handeln. Da er keine Ruhe findet, läuft er im Zimmer auf und ab, wie sein Vater es tat, wenn er das Essen rasch hinter sich bringen wollte, um endlich wieder in den Übungsring zurückkehren zu können.

»Woo!« Jamie rauscht herein, ohne anzuklopfen, und wirft sich in einen Sessel. Das herablassende Grinsen scheint ihm vergangen zu sein. »Schon gehört? Es war ein Gasleck, und jetzt ist die Heizung hin. Der alte Kircher hat das vorzeitige Ende des Schuljahres verkündet. Wir haben Ferien. Cool, oder?«

»Was hast du in meinem Zimmer zu suchen? Was willst du?«

Jamie ignoriert diese Fragen. »Wenn ich nicht deine blöden Karten in die Luft geworfen hätte …« Er lässt die Worte kurz in der Luft hängen. »Ich habe dir das Leben gerettet, Woo! Du kannst mir dankbar sein.«

»Klar. Danke.«

»Hattest du Angst?«

»Eigentlich nicht.« Und das ist sonderbarerweise die Wahrheit, denkt Danny.

»Ich hätte mir fast in die Hose gemacht!«

Jamie schaut sich im Zimmer um, und sein Grinsen kehrt zurück. Sein Blick bleibt an einem Foto hängen. Es steht auf Dannys Schreibtisch und zeigt einen kräftig gebauten Zwerg, der neben einer riesigen Kanone steht. Er ist gekleidet wie ein Astronaut, mit raspelkurzen Haaren, seine Muskeln beulen den silberfarbenen Raumanzug aus. Unter einem Arm trägt er einen Helm mit einem großen, roten Z darauf.

Danny folgt Jamies Blick. Als das Foto entstand, war er elf Jahre alt. Er steht lächelnd und locker neben dem kleinen Mann. Das war vor anderthalb Jahren, eine Zeitspanne, die ihm vorkommt wie ein ganzes Jahrhundert. Sogar sein dunkler Schopf wirkt auf dem Foto widerspenstiger.

»Wer ist der kleine Kauz neben dir?«

»Major Zamora. Unser Muskelmann«, antwortet Danny, der seine Verärgerung hinunterschluckt. »In seiner alten Rolle als Captain Solaris, die menschliche Kanonenkugel.«

»Ich wette, man hat ihn gefeuert«, sagt Jamie und lacht über seinen eigenen Witz.

Als wäre er als Erster darauf gekommen! Wie soll er einem Idioten wie Jamie Gunn nur erklären, was Zamora ihm bedeutete: Als Freund von Kindesbeinen an, als Vertrauter und Patenonkel – alles auf einmal. Danny vermisst Zamora fast ebenso sehr wie seine Eltern. Und ihre letzte Begegnung ist eine Ewigkeit her. Er hätte Zamora auf einer Tournee von dessen neuem Arbeitgeber, Circo Micro, treffen können, aber Danny fand den Gedanken unerträglich, der Zirkuswelt wieder so nahe zu sein.

»Und was ist er? Ein Liliputaner?«, fragt Jamie.

»Ein Kleinwüchsiger. Liliputaner klingt abfällig.«

»Das war also euer Zirkus? Auftritte von Sonderlingen und grausame Kunststücke mit Tieren?«

»Nein! Noch nie was von Archaos gehört? Oder dem Cirque du Soleil?«

»Nee.«

»Das ist der ›neue Zirkus‹. Und so einer waren wir auch. Waghalsig und kunstvoll. Riskante Nummern. Keine Tiere …«

»Zirkus ist Kinderkram«, sagt Jamie mit einem Schnauben. »Was haben deine Leute so gemacht?«

»Die coolsten Sachen …«

Danny hat sich in der Betrachtung des Fotos verloren. Im Hintergrund ist ein Teil des Wohnanhängers zu sehen, in dem sie gelebt haben, und die Erinnerungen sind sofort wieder da – sowohl gute als auch schlechte. Wie soll er die wilde Schönheit des Mysteriums und seiner Truppe von Exoten, Einzelgängern und Träumern beschreiben? Jamie würde sowieso nichts kapieren, und deshalb kann er sich die Mühe sparen. Man musste es mit eigenen Augen gesehen haben, um es zu glauben.

»Ich muss los, du Spinner«, sagt Gunn und steht auf. »Was machst du in den Sonderferien?«

»Ich werde wahrscheinlich bei Tante Laura sein.«

»Tja, dann viel Spaß.«

Das klingt viel zu nett für Jamie. Noch eine Merkwürdigkeit an diesem Tag.

Der vorzeitige Ferienbeginn wird telefonisch bekannt gegeben, und Danny geht in den Gemeinschaftsraum, um dort auf Tante Laura zu warten. Aus irgendeinem Grund hat man die Fenster mit Brettern vernagelt. Will man jemanden fernhalten – oder festhalten? Durch einen Spalt sieht Danny die matschigen Sportplätze und dahinter die hohe, im Nebel liegende Mauer, die das Schulgelände umgibt.

Er findet keine Ruhe und geht nach draußen, um auf der Eingangstreppe zu warten. Vielleicht hat er noch zu viel Adrenalin im Körper, das bei der Explosion ausgeschüttet wurde. Gut möglich. Aber da ist noch etwas anderes, das tiefer liegt und ihn drängt, etwas zu tun, zu handeln. Komm schon, Laura. Beeil dich.

Schließlich braust sie auf den Hof. Ihr alter Citroën knirscht über den Kies der Einfahrt. Danny schaut zu, wie Laura bremst und haarscharf zwischen einem Rettungswagen und einem teuren Jaguar durchfährt.

Sie springt aus ihrem Auto und betrachtet mit besorgter Miene die Rauchsäule, die über dem hinteren Teil der Schule aufsteigt. Dann geht sie quer über die Feuerwehrschläuche auf Danny zu und drückt ihn an sich, ohne daran zu denken, dass er das peinlich finden könnte. Sie nimmt ihre Aufgabe als Vormund sehr ernst und legt ihre ganze Kraft in die Umarmung.

»Danny! Mein Gott. Geht es dir gut?«

»Ja, bestens«, antwortet er und befreit sich aus ihren Armen.

»Und warum der Verband?«

Sie verstummt, legt ihre Hände auf seine Schultern und schiebt ihn von sich fort. Sie ist zwar eine Journalistin, die keine Angst kennt, hartnäckig nachforscht und sich durch nichts und niemanden aufhalten lässt, aber jetzt wirkt sogar sie etwas erschüttert. Das hat nicht einmal ihr kurzer Aufenthalt im Gefängnis bewirkt.

»Wie schrecklich! Eine Minute früher und …«

»Mir geht es gut«, sagt er. »Können wir los?«

»Zuerst muss ich eurem verdammten Direktor den Kopf waschen. Wie heißt er noch gleich?«

»Mr Kircher.«

»Kircher. Genau! Du packst inzwischen deine Sachen.«

»Tante Laura …«, ruft er ihr nach, aber es ist zwecklos. Sie stürmt durch den Haupteingang, um dem Direktor den Marsch zu blasen.

»Auf ein Wort, Mr Kircher, wenn Sie erlauben. Nein, ich kann nicht warten! Seien Sie froh, dass wir Sie nicht wegen Vernachlässigung Ihrer Aufsichtspflicht verklagen. Wie fänden Sie es, wenn das in der Zeitung stünde? Sie würden sich an Ihren verdammten Cornflakes verschlucken!«

Kein Widerspruch.

Der Direktor weicht furchtsam zurück, als Tante Laura kehrtmacht. Das sieht ihr schon ähnlicher – explosiv wie ein Feuerwerkskörper und stets bereit, es mit allem und jedem aufzunehmen.

Auf dem Weg zu seinem Zimmer überlegt Danny, was er mitnehmen will. Vielleicht sollte ich die Plakate mit den Bildern meiner Eltern nach meiner Rückkehr unter dem Bett hervorholen, denkt er. Und aufhängen. Vielleicht würde es mir dann besser gehen. Aber Typen wie Jamie würden sich bloß das Maul darüber zerreißen. Und der Anblick der Bilder ist vielleicht immer noch zu schmerzhaft.

Besser, sie bleiben, wo sie sind, aufgerollt in den Pappröhren, geschützt und gut verstaut: Mama auf dem Hochseil unter der höchsten Stelle der mitternachtsblauen »Hemisphäre« des Mysteriums, Knallfrösche in die Tiefe werfend, dazu die Aufschrift: LILY WOO in der WUNDERKAMMER.

Und das wunderschön gemalte Plakat mit Papa, der in der Zwangsjacke am brennenden Seil hängt und ins Publikum lächelt, obwohl die Flammen gefährlich nach seinen Knöcheln züngeln. DER BERÜHMTE HARRY WHITE, lautet die Aufschrift. DER MANN, DER SICH AUS JEDER FALLE BEFREIT!

Nur stimmt das leider nicht ganz.

Danny beginnt, die Karten, Zauberbücher und Klamotten für zu Hause in seine alte Zirkustruhe zu packen. Sie ist mit dem gleichen Dunkelblau bemalt wie das große, alte Zirkusdach und trägt die Aufschrift MYSTERIUM.

Darunter prangt das Logo: ein schneeweißer, aber halb verdunkelter Schädel, den hellblaue und rote Schmetterlinge umflattern. Dannys Vater erklärte, es sei ein Vanitas-Symbol, das sowohl für den Tod als auch für das stets gefährdete Leben stehe und daran erinnern solle, dass sich alles verändere und nichts beim Alten bleibe. Und eines Tages für immer verschwinde.

»Ein Wimpernschlag entfernt vom Nichts, Danny.«

»Warum ist er dann unser Logo?«

»Weil es genau darum geht. Ganz lebendig zu sein! Nie zu vergessen, wie froh man darüber sein kann, überhaupt am Leben zu sein!«

Danny streicht mit einem Finger über die goldenen Lettern. Alles verändert sich. Unaufhörlich. Vielleicht wäre es besser, Eltern zu haben, die zur Arbeit pendeln, einen ständig wegen der Hausaufgaben nerven, ganz normale Dinge tun und von ihren Kindern das Gleiche erwarten.

Er seufzt. Ja, vielleicht.

Er holt das Notizbuch seines Vaters aus der untersten Schreibtischschublade und legt es auf seine Klamotten. Das Buch hat ungefähr DIN-A4-Format und ist vollgestopft mit Arbeitsnotizen, Zeichnungen, Zeitungsausschnitten, Fotos, Diagrammen und Listen. Auf dem Einband steht in kräftigen Großbuchstaben:

MYSTERIUM

DAS BUCH DER FLUCHTEN

GEHEIM!

Danny klappt den Deckel zu und lässt das Vorhängeschloss einrasten. An den Seiten der Truhe kleben die Sticker jener Städte, die er mit dem Zirkus besucht hat: Rom, Athen, Budapest, Bordeaux, Lissabon, Paris, Buenos Aires, Santiago, München und so weiter und so fort – eine Tournee nach der anderen. Und irgendwo dazwischen der letzte Aufkleber: Berlin.

Danach war Schluss.

»Startklar, Danny?«, fragt Laura fröhlich und streckt den Kopf zur Tür herein. »Dann los! Ich habe eine Überraschung für dich.«

DREI

Sternchen-Vignette

Wie man ein Upgrade umsonst bekommt

Auf der Fahrt nach Cambridge verstummt Laura. Danny ahnt, dass sie über etwas nachdenkt, denn sie neigt ihren Kopf abwechselnd leicht nach links und nach rechts – wägt die Möglichkeiten gegeneinander ab. Sie beschleunigt, um eine Lkw-Kolonne zu überholen, und schaut ihn danach wieder an.

»Und? Welche Überraschung hast du für mich?«, fragt er.

»Tja, ich habe gerade darüber nachgedacht. Wie wäre es mit einem Tapetenwechsel? Damit du auf andere Gedanken kommst? Ich habe die Recherchen für meine Hongkong-Story hier vor Ort abgeschlossen.« Sie ringt sich ein Lächeln ab und wischt sich die blonden Haare aus den Augen. »Also überlege ich, früher hinzufliegen und … Na ja, du könntest mich begleiten. Wer weiß, ob der Unterricht zum geplanten Zeitpunkt wieder aufgenommen werden kann. Ich habe da meine Zweifel.«

»Hongkong?«

»Warum nicht? Willst du nicht schon lange dorthin? Um Lilys Geburtsort kennenzulernen – Gott schenke ihrer Seele Frieden. Das wäre vielleicht heilsam.«

»Ich weiß nicht.«

Einerseits will er nur seine Ruhe haben. Die Schulferien wie üblich gemütlich und in aller Stille genießen, umgeben von den aus dem Mysterium geretteten Dingen. Sich mit einer Houdini-Biografie in sein Dachbodenzimmer verkrümeln und auf YouTube Clips mit David Blaine und ähnlichen Leuten sehen. Nachmittags im Buch der Fluchten schmökern und versuchen, die vielen verschlüsselten Einträge zu knacken.

Andererseits – Hongkong, der Geburtsort seiner Mutter? Das wäre mal etwas anderes, als zu Hause zu hocken und alte Wunden zu lecken.

»Und ich habe gedacht, du würdest sofort anbeißen«, sagt Laura.

Der Gedanke an eine Reise entspricht tatsächlich seinem neu erwachten Tatendrang und dem Wunsch, etwas in Bewegung zu setzen.

»Ich würde mich über deine Gesellschaft freuen, Danny! Manche Banden, zu denen ich Nachforschungen anstelle, sind mordsgefährlich.«

»Ich soll dir also helfen?«

»Um Gottes willen, nein. Du schaust dir die Stadt an. Und amüsierst dich.«

»Ganz allein?«

»Du bräuchtest einen Begleiter«, sagt Laura und spielt ihren Trumpf aus. »Einen Aufpasser. Eine vertrauenswürdige Person. Jemanden, auf den wir bauen können.« Ein Lächeln umspielt ihre Lippen. »Zum Beispiel jemanden wie … Major Zamora?«

Danny hatte schon eine Ahnung. Immerhin geht es hier um einen Zwerg, der ein Motorrad über seinen Kopf stemmen kann! Ja, auf so jemanden kann man bauen. Danny hat die Postkarten, die Zamora von seinen wechselnden Engagements schickte, im Schlafzimmer an die Wand gepinnt. Bilder von Paris, von der Akropolis in Athen, dem Trevi-Brunnen in Rom.

Und jetzt? Etwas Neues, das nichts mit dem Mysterium zu tun hat? Dannys Miene hellt sich auf. Und er würde endlich Hongkong kennenlernen …

Laura wirft ihm wieder einen Blick zu. »Darf ich dein Lächeln als Zustimmung deuten?«

Sie tritt das Gaspedal durch, und der Citroën macht einen Satz in die Dämmerung.

»Ja!«

Danny greift nach dem Talisman, der an einem Schnürsenkel um seinen Hals hängt: Der Bund mit den Dietrichen seines Vaters – eine der wenigen Gegenstände, die den Brand überstanden haben. Fünf schmale Haken und ein ausklappbarer Spanner in einem Griff aus rostfreiem Stahl. Der Himmel allein weiß, wie viele Schlösser sein Vater damit geknackt hat. Danny betrachtet den Spanner, der sich am Schnürsenkel langsam dreht, und geht im Stillen die Namen der Werkzeuge durch: Rake, Halbdiamant, Schlange, Schneemann. Namen, die wie ein Gebet klingen. Eines, in dem er darum bittet, sich aus jeder Lage befreien zu können. Vielleicht wird es ja erhört.

Als sie zu Hause ankommen, ist es schon dunkel. Laura lässt einen Parkplatz direkt vor der Tür links liegen.

»Da hätten wir parken können.«

»Mist«, seufzt sie und fährt auf einen anderen, zwanzig Häuser weiter die Straße hinauf. »War wohl abgelenkt.«

Bevor sie die Haustür aufschließt, blickt sie kurz über die Schulter. Ihr Blick ist sehr wachsam. Hält sie etwa nach irgendjemandem oder nach irgendetwas Ausschau? Danny freut sich zwar, wieder zu Hause zu sein – in seinen eigenen vier Wänden –, aber ihr nervöser Blick entgeht ihm nicht.

»Komm schon, Danny!«, ruft Laura und schaltet die Alarmanlage aus.

Danny dreht sich um und lässt einen Blick über die Straße schweifen. Niemand da. Er sieht nur die vereisten Windschutzscheiben der Autos. Vielleicht geht die Fantasie mit mir durch, denkt er und wendet sich ab, um zu seinem Zimmer hinaufzugehen.

»Du kannst deine Schuluniform in den Korb tun«, sagt Laura. »Ich wasche sie nach unserer Rückkehr.«

Tief in der hinteren Hosentasche steckt der Zettel mit dem Diagramm. Er hat ihn ebenso vergessen wie die Frage, die er dazu stellen wollte.

Zwei Tage später stehen sie im Terminal 5 von Heathrow Airport in der Schlange, um einzuchecken.

Alles läuft wie am Schnürchen, denn Laura hat die Reise ungewöhnlich glatt und geräuschlos organisiert. Normalerweise wird sie hektisch, verlegt etwas und telefoniert danach wie wild in der Gegend herum, nur um das Gesuchte urplötzlich in irgendeiner Ecke wiederzufinden. Danny ahnt, dass alles – die Umbuchung des Fluges und das zusätzliche Ticket für ihn – längst geplant war. Ja, Lauras Verhalten ist echt sonderbar, und obwohl er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig aufgeregt und lebendig fühlt, behält er sie im Auge.

Laura studiert das E-Ticket und zieht eine Grimasse. »Mann, ich wünschte, die Zeitung hätte Geld für die Premium-Economy-Klasse lockergemacht. Ich muss arbeiten. Und eine Runde schlafen.«

Sie betrachtet Dannys kleine, auf dem Fußboden stehende Tasche. »Hast du auch wirklich alles dabei?«

»Ich nehme immer nur das Nötigste mit. Papa meinte, zu viele Dinge …«

»… sind nur Ballast im Leben. Ja, ja, das kenne ich. Und ich habe es einmal zu oft gehört.«

Danny hat tatsächlich nur das Nötigste dabei: Spielkarten, iPod, ein paar Klamotten. Er wollte auch das Buch der Fluchten einpacken, fand aber, dass es zu Hause besser aufgehoben sei. Er wird nach seiner Rückkehr über den verschlüsselten Geheimnissen brüten.

Laura wirft einen skeptischen Blick auf ihre Taschen, die bis zum Platzen mit Notizbüchern, Fotoausrüstung und Akten gefüllt sind. Während sie sich langsam zum Schalter vorarbeitet und dabei eine Reisetasche mit dem Fuß vor sich herschiebt, dreht sie sich wiederholt um. Schon wieder dieser wachsame und angespannte Blick. Irgendetwas stimmt nicht. Was mag das sein? Danny folgt ihrem Blick, aber in der großen, hellen Halle fällt ihm nichts auf.

»Alles in Ordnung mit dir, Tante Laura?«

»Perfecto. Ah, wir sind dran.«

Die Angestellte von British Airways schenkt Danny ein geübtes Zahnpastalächeln, während sie das Passbild mit seinem Gesicht vergleicht.

»Danny Woo? Du fliegst also nach Hause?«

Was soll er darauf antworten? Der Wohnanhänger im Mysterium war sein Zuhause, wenn auch eines, das jede Woche an einem anderen Ort stand. Aber das ist nun vorbei. Ballstone ist definitiv kein »Zuhause«. Und Tante Lauras Haus? Auch nicht wirklich. Ich bin nicht mehr der Junge, der ich einmal war, der Zirkusjunge, der Mama und Papa und den anderen zugeschaut hat. Und ein Ballstone-Schüler bin ich schon gar nicht.

In der Schule muss er sich ständig dagegen wehren, als schräger Außenseiter oder als todtrauriges Waisenkind wie aus einem viktorianischen Roman abgestempelt zu werden.

Wenn ich nirgendwo hinpasse, fragt er sich, wer bin ich dann überhaupt?

»Du wirst doch wohl wissen, wo du zu Hause bist, junger Mann!«

Die Frau ist etwas zu überheblich, und das reizt ihn zu einem Experiment. Gut, denkt er, ich tue Laura einen Gefallen und mache es wie mein Vater – ich werde sie durch meine Mimik für mich einnehmen.

»Ja, in gewisser Weise fliege ich nach Hause«, sagt er. »Ich habe den Nachnamen meiner Mutter. Dort, wo sie herkommt, wird man traditionell nach der Mutter benannt.«

»Ach, wirklich? Und woher stammt sie?«

»Aus einem chinesischen Zirkus.«

»Wie ungewöhnlich!«

»Unser Zirkus war allerdings europäisch. Das Mysterium«, sagt er und fixiert ihren Blick, damit sie die strahlenden Farben seiner Augen wahrnimmt.

»Meine Güte.«

»Wir waren überall. Deutschland, Italien, Amerika …«

Er beginnt, die Bewegungen ihrer Augen und Augenbrauen nachzuahmen. Wenn sie sich an der Stirn kratzt, kratzt er sich auch an der Stirn, wenn sie die Hände auf die Tastatur senkt, ahmt er sie nach.

Laura wühlt derweil in ihrer ledernen Umhängetasche. »Wo zum Teufel habe ich meinen Pass hingetan?«

Die Dame von British Airways zögert und wirft Danny einen verunsicherten Blick zu. Das ist der richtige Moment. Er reißt die Augen weit auf, schaut ihr tief in die Pupillen und schwenkt dann eine Hand vor ihrem Gesicht. »Wir haben gestern ein Upgrade gemacht. Buchungsnummer IS4JS«, sagt er.

Die Frau schaut auf ihren Bildschirm, und während sie dies tut, klopft er mit den Fingerknöcheln laut auf den Tresen des Schalters. »Zur Business-Class«, sagt er mit fester Stimme.

Laura öffnet den Mund, aber er tritt ihr auf den Fuß – und sie zückt stumm ihren Pass. Die Angestellte blinzelt mehrmals, tippt auf der Tastatur, blinzelt dann wieder.

»… Ja, richtig. Glaube ich. Business-Class. Wie schön für Sie. Hier sind Ihre Bordkarten.«

Sie gehen zur Sicherheitsschleuse und lassen die Frau zurück, die verwirrt ihren Bildschirm anstarrt. Danny bemerkt, dass ihn eine unbändige Freude erfüllt. Er geht so federnd, als wäre er gerade um mehrere Zentimeter gewachsen. Ich habe es geschafft, denkt er. Und es war ein Kinderspiel.

»Böser Junge«, sagt Laura lächelnd. »Ein Trick deines Vaters, nehme ich an?«

»Das ist die ›Spiegelkraft‹. Man imitiert den Atem und die Bewegungen seines Gegenübers, bis er ganz entspannt ist.« Er zuckt mit den Schultern. »Und dann überrumpelt man ihn mit seinem Anliegen. Funktioniert leider nicht bei Lehrern.«

»Und bei deinen Freunden?«

Danny legt den Bund mit den Dietrichen in die Plastikschale. Er zuckt wieder mit den Schultern. Freunde? In der Schule gibt es ein paar Jungen, mit denen er reden kann, aber niemanden, den er als »Freund« bezeichnen würde. Freunde, wie er sie im Mysterium hatte, gibt es dort nicht. Im Zirkus sei Freundschaft eine ernste und bedeutsame Sache, sagte seine Mutter immer. Denn man müsse sich auf die anderen verlassen können – und umgekehrt –, wenn man über ein Hochseil balanciere oder von seinem Ehemann in der Mitte durchgesägt werde.

Laura schaut zu, wie er tief in Gedanken versunken durch die Schleuse des Metalldetektors geht. Hinten auf seinem T-Shirt stehen die Termine der schicksalhaften letzten Tournee des Mysteriums – die mit der WUNDERKAMMER-Show. Eine Liste europäischer Städte, alle in Blockbuchstaben, die verrät, wo sie aufgetreten sind. In Berlin war dann Schluss, in den nachfolgenden Orten waren sie nicht mehr. Nach der Tragödie löste sich die Truppe auf. Sie lebt nur noch in der Erinnerung.

Laura legt ihre Stirn in tiefe Falten und versucht ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Dann folgt sie Danny durch die Schleuse. Sie würde gern glauben, dass sie mit dieser Reise nach Hongkong das Richtige tut, aber ein leiser Zweifel bleibt.