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Karte

Handelnde Personen

Yvolar

ein alter Druide

Alphart

ein Wildfänger

Leffel Gilg

ein Bauer aus dem Unterland

Erwyn

Ventars Erbe

Urys

ein Zwerg

Mux

ein Kobling

Rionna

Prinzessin von Iónador

Calma

ihre Zofe

Galfyn

Häuptling des Falkenclans

Herras

sein Waffenmeister

Barand

Marschall von Iónador

Alwys

König der Zwerge

Gaetan

Bürgermeister von Seestadt

Walkar

ein Bärengänger

Fyrhack

der letzte Feuerdrache

Kaelor

ein Eisriese

Lorga

Anführer der Erle

Klaigon

Fürstregent von Iónador

Éolac

sein Seher

Muortis

Herrscher des Eises

18

Galfyn, der junge Häuptling des Falkenclans, hatte gerufen – und alle waren sie seinem Ruf gefolgt.

Die Krieger des Bärenstammes. Die Wolfskämpfer. Die Eber. Die Hirsche. Die Füchse. Die Krähen. Die Biber. Selbst die Schlangenkrieger, die erbitterten Feinde der Falken, hatten eine Abordnung zum Heiligen Hain geschickt, in dessen Mitte die Flamme Fynrads loderte, zum ersten Mal seit undenklich langer Zeit.

Einst war die Flamme das Symbol der Einheit gewesen, das immer dann entzündet worden war, wenn sich Feinde näherten und der Friede des Waldes bedroht war. Nach dem Krieg gegen das Bergvolk jedoch hatten sich die Stämme untereinander entzweit – bis zu diesem Tag.

Indem er Fynrads Feuer entzündete, hatte Galfyn gehofft, ein wenig von dem Geist wiederzuwecken, der sein Volk einst stark gemacht hatte und es gegen den gemeinsamen Feind hatte zusammenstehen lassen – niemals hätte er jedoch zu hoffen gewagt, dass so viele Clans, darunter selbst seine ärgsten Feinde, kommen würden. In seinen Augen war es der Beweis dafür, dass sich alle Clans des Waldes nach etwas sehnten, das sie in der Vergangenheit verloren hatten: Stärke, Einheit und Stolz.

Nach Stämmen getrennt versammelten sich die Waldkrieger auf dem von uralten Eichen gesäumten Platz, der einst ein Ort der Mysterien gewesen war. Hier hatten sich die Druiden zu ihren Beratungen getroffen, und hier war einst das Bündnis Fynrads geschmiedet worden. Vielleicht, dachte Galfyn, würde in dieser Nacht ein weiterer Bund geschlossen werden … Der junge Häuptling wartete, bis jedes Clansmitglied seinen Platz eingenommen und sich die Unruhe im Hain gelegt hatte. Die Gesichter, in die er blickte, waren feindselig. Weder die langhaarigen Kämpfer des Bärenclans noch die in graue Felle gehüllten Wolfskrieger machten ein Hehl aus ihrem Argwohn. Die Schlangenkämpfer hatten sich die Gesichter mit blauer Farbe bemalt, was von alters her als Zeichen der Kampfbereitschaft galt und etwaige Angreifer erschrecken sollte.

In alter Zeit hätte niemand es gewagt, den Heiligen Hain bewaffnet zu betreten – in dieser Nacht jedoch hatte keiner der Krieger sein Schwert abgelegt. Zu erbittert war die Feindschaft, die über Generationen gewachsen war, zu groß das Misstrauen unter den Clans.

Galfyn war klar, dass in dieser angespannten Lage schon ein falsches Wort genügte, um ein blutiges Massaker heraufzubeschwören. So griff er an die Schließe seines Waffengurts, löste sie und legte sein Schwert demonstrativ zu Boden, ehe er in die Mitte des Haines trat, wo das Feuer der Einheit brannte.

Die übrigen Häuptlinge zögerten und wechselten verunsicherte Blicke mit ihren Untergebenen. Geltar, der Anführer des Schlangenclans, war der Erste, der Galfyns Beispiel folgte – weniger, um seine friedfertigen Absichten zu beweisen, als vielmehr, um zu zeigen, dass er nicht weniger mutig war als der Häuptling der Falken. Unbewaffnet trat auch er in die Mitte des Hains, und nach und nach gesellten sich die übrigen Anführer hinzu.

»Ich danke euch, meine Brüder, dass ihr dem Ruf von Fynrads Flamme gefolgt seid«, sprach Galfyn. »Das Feuer der Einheit ist also noch lebendig in den Herzen unseres Volkes.«

»Du nennst uns Brüder«, konterte Geltar. »Mit welchem Recht?«

»Mit dem Recht, Fynrads Erbe zu sein, so wie ihr alle. Er war es, der die Stämme einst einte und gegen unsere Feinde führte.«

»Das ist lange her, Galfyn«, wandte Baras ein, der hünenhafte Anführer des Bärenclans. »Viel Unrecht ist seither unter den Stämmen begangen worden, und viel Blut ist geflossen.«

»Wir haben einander bekämpft, das ist wahr«, stimmte Galfyn zu. »Aber dies, meine Brüder, ist vorbei. Wir stehen am Anbeginn eines neuen Zeitalters, das mit furchtbarer Gewalt über uns hereinbricht.«

»Wir haben gehört, was deinem Stamm widerfahren ist«, sagte Geltar, »und zweifellos hast du uns gerufen, weil du herausfinden willst, wer von uns den Frevel begangen hat. Aber lass dir gesagt sein, Galfyn, dass nicht wir es waren. Die Schlangenkrieger mögen eure Feinde sein, aber sie meucheln nicht wehrlose Frauen und Kinder.«

»Die Bären ebenso wenig!«, rief Baras.

»Auch nicht die Biber!«

»Die Eber sind tapfere Krieger! Sie haben es nicht nötig, ihre Feinde im Schlaf zu überfallen!«

»Seid unbesorgt«, beschwichtigte Galfyn. »Ich weiß, dass es keiner von euch gewesen ist.«

»Du … weißt es?«

»Allerdings.«

»Warum hast du uns dann rufen lassen?«, erkundigte sich Baras verwundert.

»Weil ich euch etwas zeigen möchte«, sagte Galfyn. Er hob die Hand und winkte Herras zu sich, seinen treuen Berater und Waffenmeister. Der alte Krieger kam herbei, in den Händen einen schmutzigen Fetzen Stoff. »Dies«, erklärte Galfyn, »haben wir in den schwelenden Trümmern unseres zerstörten Dorfes gefunden.«

Vor aller Augen entfaltete Herras das Stück Stoff, woraufhin ein Raunen durch die versammelte Menge ging.

»Das Banner der Goldenen Stadt!«, rief Geltar aus.

»Die Farben Iónadors«, fügte ein anderer hinzu.

»So ist es«, bestätigte Galfyn bitter. »Nach so vielen Jahren des Friedens haben unsere Feinde erneut zum Schwert gegriffen. Und sie haben uns nicht den Krieg erklärt oder sind uns in ehrlichem Kampf gegenübergetreten, sondern haben sich heimtückisch angeschlichen und jene gemeuchelt, die sich nicht wehren konnten.«

»Blutfrevel!«

»Diese Untat schreit nach Rache!«

»Das bedeutet Krieg!«

»Deshalb habe ich euch gerufen«, sagte Galfyn. »Allein kann ich nicht gegen Iónador ziehen. Wenn unsere Rache die Schuldigen treffen soll, brauche ich eure Hilfe, Brüder.«

»Du willst, dass wir für dich gegen Iónador ziehen?«, fragte Geltar ungläubig. »Aus diesem Grund wurde Fynrads Flamme entfacht?«

»In der Tat.« Galfyn nickte. »So wie in alter Zeit.«

»Aber das ist nicht möglich«, wandte Baras ein. »Die Stämme des Waldreichs haben lange nicht mehr Seite an Seite für eine Sache gekämpft. Wir sind einander fremd geworden.«

»Dann wird es Zeit, unsere Rivalitäten zu begraben und zusammenzustehen gegen den gemeinsamen Feind«, erwiderte Galfyn. »Es ist möglich, meine Brüder, wenn wir nur wieder lernen, einander zu vertrauen. Fynrad hat es uns einst gezeigt.«

»Das ist lange her«, gab Kolman von den Krähen zu bedenken, ein gefürchteter Krieger, dessen Wort auch bei seinen Feinden Gewicht hatte. »Ein solcher Schritt muss wohlüberlegt sein, Galfyn, denn allzu leicht kann er den Untergang bringen. Fynrad war ein Held, aber auch er ist an den Mauern Iónadors gescheitert.«

»Weil er verraten wurde«, erklärte Galfyn. »Wir jedoch werden nicht scheitern, weil wir zusammenstehen, Seite an Seite.«

»Warum sollten wir dies tun?«, fragte Geltar herausfordernd. »Warum sollten wir dem Falkenclan helfen? Unser Gebiet ist es schließlich nicht, das bedroht wird. Unsere Dörfer sind sicher.«

»In trügerischer Ruhe wähnst du dich, Schlangenmann«, konterte Galfyn. »Auch wir glaubten uns sicher, bis unser Dorf überfallen und unsere Frauen und Kinder in der Nacht gemeuchelt wurden.«

»Und nun willst du Rache, und wir alle sollen dein Werkzeug sein. Weshalb, Galfyn? Nicht mit uns hat Iónador Krieg begonnen, sondern mit dir.«

Zu seiner Bestürzung sah Galfyn, dass ringsum beifällig genickt wurde. Jähe Wut überkam ihn und ließ ihn jede Zurückhaltung ablegen. »Ist das alles, was übrig geblieben ist vom Mute Fynrads?«, rief er so laut, dass alle im Hain es hören konnten. »Spricht so die Seele eines Waldkriegers? Was ist nur aus euch geworden, dass ihr das Andenken an unsere Vorfahren mit Füßen tretet?«

In Geltars Miene zuckte es. Der Gewohnheit folgend, griff er an seinen Gürtel – aber das Schwert war nicht da.

»Nun greifst du zur Waffe, da es um deine Ehre geht«, spottete Galfyn. »Aber was ist deine Ehre noch wert, Geltar, wenn du einem Bruder in Not nicht zur Seite stehst?«

»Die Schlangen sind der Stamm, zu dem ich gehöre«, widersprach der Häuptling. »Mit den Falken habe ich nichts zu schaffen.«

»Denkst du das wirklich? Wir alle entspringen derselben Wurzel, Geltar. Wir teilen denselben Glauben und dieselbe Vergangenheit. Und wir alle leben in diesem Wald, dessen Bäume uns Schutz bieten und Heimat sind. Wenn du es auch nicht wahrhaben willst – wir alle sind Fynrads Erben, Söhne eines Volkes, und wenn auch nur ein Einziger von uns von äußeren Feinden bedroht wird, so sollten wir unseren Streit begraben und zusammenstehen, wie es sich für Brüder geziemt.«

»Aber die Biber sind unsere erbitterten Feinde«, wandte Dugan vom Eberclan ein. »Erst vor einem halben Mond haben sie uns acht Pferde gestohlen.«

»Nachdem uns die Eber die Wintervorräte gestohlen haben«, kam die Antwort prompt.

»Ich weiß, dass es nicht einfach ist zu vergeben«, räumte Galfyn ein. »Was geschehen ist, ist geschehen. Auch ich bin im Schatten der Stammeskämpfe aufgewachsen und kenne nichts anderes, genau wie ihr. Aber wenn wir unseren Zwist nicht beenden, werden wir untergehen. Glaubt ihr denn wirklich, Iónador hätte es nur auf die Falken abgesehen? Sie wissen nicht einmal, was uns unterscheidet, denn für sie sind wir alle nur Barbaren. Die Falken haben ihnen so wenig getan wie ihr, dennoch sind sie gekommen, mit Feuer und Schwert, und haben ein ganzes Dorf ausgelöscht. Es wäre töricht zu denken, dass ihr Eroberungsdrang damit gestillt ist. Die Herren der Goldenen Stadt wollen mehr. Sie wollen den Wald. Sie wollten ihn schon immer, um seine Bäume zu fällen und damit Häuser zu bauen und Kriegsmaschinen, Brücken und Dämme, um die Flüsse zu überwinden und die Natur zu bezwingen. Wir alle sind in Gefahr, meine Brüder, ohne Ausnahme. Der Krieg, der vor so langer Zeit begann, ist noch nicht zu Ende.«

Galfyn blickte in die Runde der Häuptlinge und sah Betroffenheit. »Wir sind diejenigen, die unser Volk verteidigen müssen«, fuhr er fort. »Kein anderer wird uns diese Aufgabe, diese Pflicht abnehmen. Aus diesem Grund müssen Fynrads Söhne wieder zusammenstehen – und diesmal werden sie siegen. Verbündet euch mit mir, meine Brüder, und ich verspreche euch, dass die Falken euch zur Seite stehen werden bis in den Tod.«

Damit streckte Galfyn seinen rechten Arm aus, die Handfläche nach unten, und wartete. Die anderen Stammesführer zögerten. Manche wandten sich mit fragendem Blick zu ihren Kriegern um, andere blickten unschlüssig zu Boden.

Der grimmige Dugan war der Erste, der vortrat und seine Rechte auf die Galfyns legte. »Für deine Jugend hast du weise und klug gesprochen, Häuptling der Falken. Der Eberclan erkennt die Zeichen der Zeit und tritt dem Bündnis bei. Lasst uns gemeinsam gegen das Bergvolk kämpfen und den Sieg erringen.«

Als die anderen Häuptlinge sahen, dass die Eber auf die Seite Galfyns traten, kam Bewegung in die Runde. Die Biber wollten vor ihren Rivalen nicht zurückstehen, und auch die Hirsche, die Fuchskrieger und die Wolfskämpfer traten vor und bekundeten ihren Willen, gegen den gemeinsamen Feind in den Kampf zu ziehen. Baras und Kolman berieten sich eine Weile mit ihren Kriegern. Als sie in die Mitte des Hains zurückkehrten, schlossen sich auch der Bärenstamm und der Krähenclan dem Bündnis des Waldvolks an.

»Und was ist mit dir, Geltar?«, wandte sich Galfyn an den Anführer der Schlangen, der als Einziger noch unentschlossen war. »Werden die Schlangenkrieger an unserer Seite stehen? Oder ist ihr Herz so verbittert und ihr Stolz so maßlos, dass sie auch in der Stunde der Not nicht vergeben können?«

Noch einen Augenblick stand Geltar unentschlossen. Dann trat auch er vor, streckte seine Rechte aus und erklärte feierlich: »Im Namen des Schlangenclans trete auch ich, Geltar, dem Bündnis bei. Auf dass es die Feinde des Waldvolks zerschmettere und die Frevler bestraft werden.«

»Und was gewesen ist, soll vergessen sein?«, fragte Galfyn.

Geltars nickte zögernd. »Es soll vergessen sein«, bestätigte er, »zum Wohl unserer Völker, die fortan wieder ein Volk sind.«

»Dann ist es beschlossen«, verkündete Galfyn laut. »Die Söhne Fynrads haben wieder zusammengefunden. Sie sprechen mit einer Stimme und kämpfen mit einer Klinge – und schwören den Feinden des Waldvolks Tod und Verderben!«

»Tod und Verderben«, erscholl es ringsum. Die Waldkrieger zückten die Schwerter, doch anstatt sie gegeneinander zu erheben, wie sie es lange Zeit getan hatten, stießen sie die Klingen empor und bestätigten so Galfyns Schwur.

Ein Sänger der Wölfe war es, der ein Lied aus den Tagen Fynrads anstimmte, das in den Jahren des Streits und der Zwietracht fast in Vergessenheit geraten war. In diesem schicksalhaften Augenblick jedoch erklang es erneut, und der rauschende Wind nahm es auf und trug es empor zu den hohen Kronen der Bäume, die den Heiligen Hain umgaben.

Entsprungen sind wir einst von einem einz’gen Stamm,

dieZeit ist nun gekommen, zu stehen all’ zusamm’.

Die Zeit, sie ist gekommen, zu schließen einen Bund,

zu kämpfen und zu siegen ist es nun die Stund’.

Des Krieges heißen Flammen, des Hasses roter Glut

wollen wir begegnen mit unserm kühlen Blut.

Zu schützen das, was unser, für jetzt und alle Zeit,

ziehen wir gemeinsam in den letzten Streit …

19

Sie verließen Damasia auf demselben Weg, auf dem sie gekommen waren: durch den alten Geheimgang, der durch den Fels des Urbergs führte. Sie erreichten den Dunkelwald, und als würde die Wanderer nun, da ein Druide bei ihnen weilte, ein unsichtbarer Schutz umhüllen, ließen sich die Wölfe nicht mehr blicken.

Alphart blieb dennoch wachsam, während sie sich im Gänsemarsch durch das dämmrige Dickicht schlugen. Unheimliche Geräusche waren allenthalben zu hören, und leuchtende Augenpaare starrten aus dem Unterholz, um rasch zu verschwinden, wenn sich die Wanderer näherten.

Yvolar ging der kleinen Gruppe voraus. Auf einen mit reichen Schnitzereien verzierten Eschenstab gestützt, schritt der alte Mann kräftig aus. In seinem weißen Gewand und mit dem purpurfarbenen Umhang, dem Erkennungszeichen seiner Zunft, bot er einen eindrucksvollen Anblick, der selbst die Bestien des Waldes abzuschrecken schien. Er trug einen Leinensack über der Schulter, in dem sich, so nahm Alphart an, Misteln und andere Kräuter befanden, denen magische Wirkung nachgesagt wurde.

Dem Druiden folgten Rionna und Leffel. Alphart bildete die Nachhut. Misstrauisch schaute er sich immer wieder um. Doch er behielt nicht nur das sie umgebende Dickicht im Auge, sondern auch Yvolar.

Wahrsager, Hexenmeister, Giftmischer – mit all diesen Bezeichnungen bedachte er insgeheim den Druiden. Der einzige Grund, weshalb er sich mit ihm einließ, war der, dass er sich von ihm Hilfe erhoffte im Kampf gegen die Erle. Darüber hinaus hatte Alphart nicht vor, sich näher mit dem Alten zu befassen oder gar Freundschaft mit ihm zu schließen. Yvolar verkörperte all das, was einem Wildfänger verdächtig war, und Alphart empfand kein Bedauern darüber, dass es nicht mehr viele von seiner Sorte gab. Einst mochten die Druiden zahlreich und mächtig gewesen sein, aber ihr Zeitalter war zu Ende, und das war gut so …

Obwohl es heller Tag war, drang kaum Licht bis zum Boden des Waldes. Riesige Tannen ragten so hoch und standen dabei so dicht, dass man ihre Wipfel nicht zu sehen bekam, dazwischen wucherten Beerensträucher und Farne. Und wo die Tannen ihnen genügend Platz ließen, standen moosbewachsene Eichen und Ulmen, denen geheimnisvolle Kräfte nachgesagt wurden. Mächtige Wurzeln durchzogen den Boden, zwischen denen hier und dort noch Reste der alten Königsstraße zu erkennen waren.

Alphart fiel auf, dass es völlig still geworden war im Wald. Der von Tannennadeln, Laub und Moos bedeckte Boden dämpfte ihre Schritte, sodass ohnehin nur die Laute der Tiere zu hören gewesen wären. Doch die waren verstummt, sodass unheimliches Schweigen herrschte.

Auch Yvolar schien es zu bemerken. Er blieb stehen und lauschte in das modrige Dunkel.

»Was ist los?«, fragte der Gilg unbedarft. »Warum …?«

Ein strenger Blick des Druiden brachte ihn zum Schweigen.

Alphart hob den Bogen, legte in einer fließenden Bewegung einen Pfeil auf die Sehne und zielte ins Unterholz, als erwartete er, dass jeden Augenblick ein Gegner daraus hervorbrechen würde.

Der Feind, der ihm nach dem Leben trachtete, stand in Wahrheit jedoch hinter ihm, verborgen im Dunkel des Waldes. Bis zum Ohr hatte er die Sehne des Bogens zurückgezogen und zielte auf den ungeschützten Rücken des Jägers. Schon wollte der gedungene Mörder den Pfeil losschnellen lassen – als etwas Unerwartetes geschah.

Urplötzlich wich die Dunkelheit des Waldes hellem Licht, und aus dem oberen Ende von Yvolars Druidenstab stach ein greller, gezackter Lichtblitz. In hohem Bogen zuckte er über die Gefährten hinweg und schlug ins Unterholz ein. Ein gellender Schrei erklang, und Alphart fühlte, wie nur wenige Handbreit neben ihm etwas durch die Luft schwirrte und in den Stamm einer mächtigen Tanne schlug – ein Pfeil!

Der Jäger fuhr herum, aber es war schon vorbei. Der Blitz war so plötzlich erloschen, wie er aufgeflammt war. Rauch schwelte zwischen den Bäumen, und aus dem Unterholz kippte der leblose Körper des feigen Meuchelmörders. Der Mann war groß und bärtig und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Sein lederner Waffenrock war zerfetzt, in seiner Brust klaffte eine tiefe Wunde, die von dem Blitz herrührte.

»Morkar!«, rief Rionna erschrocken.

»Du kennst diesen Mann?«, fragte Yvolar, der unbewegt stand und sich auf seinen Stab stützte, dessen Spitze noch rauchte.

»Er ist der Attentäter, den mein Onkel aussandte, euch drei zu töten.«

»Nun ist er selbst tot«, stellte Alphart fest, der zu dem Leichnam hingegangen war und sich gebückt hatte, um ihn zu untersuchen. Der Wildfänger biss sich auf die Lippen, dann sandte er Yvolar einen undeutbaren Blick. »Sein Pfeil hat mich nur um Haaresbreite verfehlt. Du … du hast mir das Leben gerettet, alter Mann.«

»So sieht es aus«, sagte der Druide beiläufig.

»Ich stehe in deiner Schuld«, flüsterte Alphart, während er sich wieder erhob, und es war ihm anzusehen, wie viel Überwindung es ihn kostete, die Worte auszusprechen.

»Kaum.« Yvolar schüttelte sein kahles Haupt. »Was dich gerettet hat, war die Kraft des Druidenstabs. Aber da du an dergleichen Dinge nicht glaubst, brauchst du dich auch nicht dafür zu bedanken.«

Alphart brummelte etwas Unverständliches, dann nahm er die Waffen des Meuchelmörders in Augenschein. Neben einem kurzen, kräftigen Bogen, wie er in Iónador seit Díurans Tagen Verwendung fand, hatte Morkar auch einen mit Pfeilen gefüllten Köcher bei sich gehabt. Alphart zog eines der Geschosse hervor, schnupperte an der Spitze und zuckte zurück, als ihm ein beißender Gestank in die Nase drang.

»Gift«, murrte er. »Klaigon wollte wohl ganz sicher gehen.«

»Fragt sich nur, weshalb«, wandte Yvolar ein.

»Um Unruhen im Land zu verhindern«, glaubte Rionna zu wissen. »Mein Onkel fürchtet, dass sich Panik ausbreiten könnte, wenn bekannt wird, dass der Druide vom Urberg herabgestiegen ist. Er will Frieden in seinem Reich.«

»Dann soll er die verdammten Erle umbringen lassen und nicht uns«, knurrte Alphart mürrisch.

»Ich billige das Vorgehen meines Onkels nicht, deshalb bin ich euch gefolgt«, brachte Rionna in Erinnerung. »Aber bei all seinen Fehlern hat Klaigon stets das Wohl seines Volkes vor Augen. Er würde alles tun, um Schaden von Iónador und Allagáin abzuwenden.«

»Das hast du schon mehrmals behauptet«, sagte Yvolar, dessen Stimme ehrliche Sorge verriet. »Doch bist du dir da wirklich sicher, mein Kind?«

»Warum fragt Ihr, ehrwürdiger Druide?«

»Vielleicht sind Klaigons Absichten nicht so lauter, wie Ihr denkt. Solches« – er deutete auf den Giftpfeil in Alpharts Hand – »ist nicht das Werk eines treu sorgenden Regenten. Es trägt die Handschrift des Bösen, und ich befürchte Schlimmes für Iónador.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Dass es möglicherweise bereits zu spät sein könnte, um die Goldene Stadt retten«, sagte Yvolar. »Eine finstere Ahnung hat mich beschlichen. Was, wenn der Fürstregent von Iónador nicht mehr Herr seiner Entscheidungen ist?«

»Wa-was sagt Ihr da?«, fragte Rionna entgeistert.

»Muortis ist das personifizierte Böse«, erklärte der Druide, »und zu allen Zeiten hat es Sterbliche gegeben, die sich seinen Verlockungen nicht entziehen konnten und sich ihm unterworfen haben, in der falschen Annahme, diese Unterwerfung wäre ein Bündnis unter Gleichgestellten.«

»Nicht mein Onkel!«, war Rionna überzeugt. »Klaigon mag manchmal grausam erscheinen in der Wahl seiner Mittel. Aber er ist kein Diener des Bösen. Niemals!«

»Auch Talwyn dachte einst so, ehe sie verraten wurde von Durban dem Schlächter. Die Sterblichen streben nach Reichtum und noch viel mehr nach Macht. Gier verdirbt ihre Herzen, und das Böse hat mit ihnen leichtes Spiel.«

»Ihr irrt Euch«, beharrte Rionna mit Trotz in der Stimme, »und ich werde es Euch beweisen!«

»Indem du zurück nach Iónador gehst?«, fragte Alphart. »Noch immer bin ich der Meinung, dass dies kein guter Einfall ist. Du hast die Pläne deines Onkels verraten und wirst damit seinen Zorn auf dich ziehen.«

»Mein Onkel neigt zu Zornausbrüchen, das ist wahr. Aber er zeigt sich auch rasch wieder versöhnlich.«

»Die Sache gefällt mir nicht«, wandte Yvolar ein. »Nicht von ungefähr nannte man mich einst den Propheten vom Urberg. Doch nicht Druidenkraft verlieh mir die Gabe, die Zukunft vorherzusehen, sondern mein Wissen um die Natur des Menschen. Und dieses Wissen, mein Kind, sagt mir, dass dir in Iónador Gefahr droht.«

»Dennoch werde ich dorthin zurückkehren.«

»Das kann ich nicht gestatten.« Der Druide schüttelte den Kopf.

»Was soll das heißen? Ich bin Prinzessin und von edlem Geblüt und das Mündel des Fürstregenten. Niemand kann mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

»Dann bitte ich dich, bei uns zu bleiben und nicht nach Iónador zurückzukehren«, sagte Yvolar versöhnlich.

»Was soll das Gerede?«, blaffte Alphart. »Wenn sie unbedingt gehen und in ihr Verderben rennen will, lass sie ziehen. Für eine hochwohlgeborene Dame haben wir ohnehin keine Verwendung.«

Sie wandte den Kopf und schaute ihn aus blitzenden Augen an. »Ach, so siehst du das, Wildfänger!«

»Allerdings.«

»Ich verstehe«, sagte Rionna und ließ die drei Männer einfach stehen und schritt davon. Alphart, Leffel und der Druide tauschten konsternierte Blicke, ehe sie ihr folgten. Den Leichnam Morkars ließen sie zurück – der Wald würde sich um ihn kümmern.

Sie waren gut eine weitere Stunde auf den Überresten der Königsstraße unterwegs, als sie ein Schnauben vernahmen. Kurz darauf entdeckten sie Morkars Pferd. Er hatte es an den Stamm einer Eiche gebunden, in der Nähe der alten Straße, und war dann zu Fuß weitergeschlichen.

Rionna näherte sich dem nervösen Tier und tätschelte seinen Hals, worauf es sich ein wenig beruhigte. »Wir werden es mitnehmen«, entschied die Prinzessin.

Alphart nickte nur.

»Und diesmal wird es nicht an die Wölfe verfüttert«, mahnte Rionna streng.

Der Wildfänger grinste schief. »Prinzessin, ich bin nicht ganz so hartherzig, wie Ihr glaubt.«

»Dann muss ich mich sehr in dir täuschen«, beschied sie ihm schnippisch.