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Etwas Besonderes soll er werden, der erste richtige Jagdausflug des elfjährigen Jungen mit seinem Vater, seinem Großvater und einem Freund des Vaters. In Vorfreude darauf, seinen ersten Hirsch zu schießen, bricht er mit den Männern auf. Als sie das Jagdrevier der Familie erreichen, sehen sie in der Ferne einen Wilderer. Der Vater lässt den Jungen durchs Zielfernrohr seines Jagdgewehrs auf den Eindringling blicken – doch statt nur zu beobachten, drückt der Junge ab. Und wirkt dabei befremdlich unberührt. Bestürzung über die eigene Tat, Tränen oder Reue bleiben aus. Ist ihm die Tragweite seiner Tat nicht bewusst? Hat er kein Mitgefühl? Was als Ausflug geplant war, wird zu einem archaischen Ringen, das die Männer an ihre Grenzen bringt.

Ein Roman, der »die Wucht einer Gewehrkugel« hat (The Economist), verstörend, atemberaubend und ergreifend. Ein Roman, der ans Äußerste geht und den Leser sprachlos zurücklässt.

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt mit seiner Frau in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England. Zuletzt erschien 2013 sein Roman Dreck.

www.davidvann.com

Miriam Mandelkow wurde 1963 in Amsterdam geboren und lebt heute in Hamburg und Arkadien, Griechenland. Sie arbeitet als Übersetzerin und Lektorin; neben den Romanen von David Vann hat sie u.a. Bücher von Martha Gellhorn, Richard Price und Patrick Hamilton ins Deutsche übertragen.

David Vann

Goat Mountain

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Miriam Mandelkow

Suhrkamp Verlag

Für meinen Großvater, den Cherokee Roy Ivory Vann (1904-1991),

der Jahr für Jahr auf Goat Mountain jagte,

und all seine Vorfahren, unter ihnen die Häuptlinge

David Vann, James Vann und Joseph Vann

Staub wie Puder auf der Luft und der Tag eine rötliche Erscheinung. Geruch von Staub und Kiefern, Geruch von Wolfsmilch. Der Pick-up eine gelenkige Kreatur, der Kopf vom Körper weggedreht. Eine scharfe Kurve, und ich fiel beinahe über die Seitenkante.

Auf einer Matratze kniend, die an die Ladefläche gebunden war, darunter die gesamte Campingausrüstung. Nordkalifornien 1978. Festhalten in Mulden und Kurven, das Metall schon morgens warm. In Serpentinen die Straße hinauf. Ich hatte einen Schuhkarton mit Steinen, und auf geraden Strecken nahm ich mir einen und warf ihn im Vorbeifahren nach einem Baum. Wurf und Krümmung, seitliche Flugbahn, ein trommelndes Geräusch, kreiselnd und scharfkantig durch die dichte Luft, vom eigenen Impuls getrieben. Vom Kurs abgedrängt, in einen Bogen gezwungen, übers Ziel hinausgeschleudert. Ich hatte bereits ein Gespür für diesen Bogen, berechnete ihn voraus, zielte weit dahinter. Boxte in die Luft, wenn ein Stein ins Fleisch schnitt. Der dumpfe Aufschlag über dem Motorengebrumm, vielleicht sogar etwas abgeplatzte Borke.

Der Himmel senkte sich, der Tag heizte auf, die Luft wurde dichter und noch mal dichter, presste alle Gerüche aus. Metall, Abgase, Öl, Staub, Kraut, Kiefern und jetzt eine Weile trockenes, gelbes Gras, ein Tal mit Zuckerkiefern, ein Tal, das anzeigte, dass wir vorankamen, den See hinter uns gelassen hatten. Jeden Herbst diese Jagd, jeden Herbst diese Rückkehr.

Wir machten Rast in Bartlett Springs. Hielten im flüchtigen Zwielicht unserer eigenen Staubwolke, mein Vater stieß die Tür auf, noch bevor die Luft wieder klar war, trat hinaus, ein großer, hagerer Schatten, und schulterte sein Gewehr. Mein Vater, selbst im Schatten leuchtend und scharf umrissen, ein vom Rest der Welt abgesetztes Wesen, allzu präsent. Lief los, den Pfad hinauf zu den Quellen.

Auf der anderen Seite stieg mein Großvater mit einer Tüte Zitronen aus der Fahrerkabine und danach Tom, der beste Freund meines Vaters, der sich in die Mitte gequetscht hatte. Seit frühester Erinnerung dabei, so gut wie Familie. Er trug eine Brille, die beim Hochsehen aufblitzte, selbst in dieser staubigen Ödnis. Wir sind da, sagte er.

Ich sprang auf der Seite meines Vaters hinunter. Griff in die Fahrerkabine, hinter den Sitz, nach meinem Gewehr, einem .30-30-Winchester-Unterhebelrepetierer mit Kimme und Korn. Kaltes Metall, noch nicht aufgeheizt vom Tag, kein Schulterriemen, also trug ich es in der Hand zu den Quellen. So, wie ich war und immer sein würde, dachte ich, mit dem Gewehr in der rechten Hand, den Lauf tief nach unten gerichtet. Geneigte Nadel, dieses Gewehr, geneigter Planet, der mich anschob.

Die Bartlett Hot Springs längst geschlossen, vor Jahrzehnten schon, abgesperrt, eingezäunt, verlassen. Ein Relikt aus früheren Zeiten. Der Pfad ein Schleichweg, ein Steig durch graue Felsbrocken, auf die Flechten gestanzt waren in Schwarz, Orange, Grün und Weiß, kleine Scheiben, Räder und Rosetten, die Künftiges vorhersagten und alles Vergangene festhielten. Welt auf Welt gedruckt in unendlicher Wiederholung.

Niedrige, tote Äste, die gegen uns schlugen. Immer ein wachsames Auge auf Klapperschlangen. Doch der Weg so kurz, dass wir bald auf einer Art Terrasse standen. Alter Rasen, überwuchert von Gras und Unkraut, alter Beton, in Einzelblöcke zerbrochen, große zugewachsene Flächen. Ein verwunschener Ort für mich und nur für mich, weil ich zu jung war, um mich zu erinnern, deshalb konnte er in meiner Vorstellung aufblühen.

Frauen mit Sonnenhüten, Spitze und Rüschen, Männer in Mehrteilern mit Taschenuhren und Spazierstöcken. Hier in dieser Oase, um in den Quellen zu baden und daraus zu trinken. So malte ich es mir aus, und meine Familie mit von der Partie, älter, vornehmer. Es hätte Musik gegeben, eine Kapelle in einem Pavillon und abends Windlichter in den Bäumen. Alte Eichen, dick und knorrig, doch mit viel Raum dazwischen. Und Tanz.

Mein Großvater ließ sich gegen eine niedrige Betonmauer sacken, überwuchert und beinahe nicht zu sehen. Ein kleiner Wasserhahn, salzverkrustet. Kostprobe gefällig?, fragte er mich.

Mein Mund zog sich unwillkürlich zusammen. Das Wasser würde nach Schwefel schmecken. Klar, sagte ich. Mein Großvater wuchtig, ein aufgeblähter Bauch unter braunem Jagdhemd und brauner Jacke. Immer diese Jacke, sogar bei der Hitze.

Er hatte ein Glas mitgebracht, schnitt die Zitrone und drückte zwei Scheiben aus, während ich zusah, den Hahn öffnete und das Wasser laufen ließ, erst rostbraun, dann klar. Ich bekam stets den ersten Schluck, und ich fragte mich, ob sich seit dem letzten Mal etwas geändert hatte, das Wasser giftig geworden war, nicht nur im Geschmack.

Bartlettsekt, sagte mein Vater und schmunzelte mit einem Mundwinkel. Hohe Wangen, wie mein Großvater.

Alle drei beobachteten mich, belustigt und bemüht, es nicht zu zeigen. Das Glas gefüllt, funkelnd im Licht, Wasser, das vor sich hinschwappte, Zitronenscheiben, die zerfielen. Der Geruch in der Luft. Schwefel aus tiefsten Erdfalten.

Ich nahm das Glas, das sich kühl anfühlte, obwohl ich es mir warm vorgestellt hatte, radioaktiv, schnupperte am Rand, hustete und bereute es, während die Männer leise glucksten. Dann stürzte ich es hinunter. Der Erdfurz, gasig und geballt durch meilenweite Höhlen und Krustenfäulnis.

Ihre Augen tränenfeucht von unterdrücktem Gelächter, ich konnte es sehen. Kommt schon, sagte ich, lacht ruhig. Ich weiß, dass ihr lacht.

Mein Vater mühsam beherrscht, Augen geschlossen, Mund verkniffen, doch Brust und Bauch wogten unter seinem dreckigen weißen T-Shirt. Das Prusten von Toms aufgestautem Lachen, sein abgewandtes Gesicht. Entschuldigung, sagte er schließlich. Aber dein Gesicht.

Mein Vater schlug die Hand vor den Mund.

Wie ein Frosch, der versucht, ein Pferd zu schlucken, sagte Tom und zog seine verzerrte Unterlippe himmelwärts.

Mein Großvater konnte nicht mehr und band schnaubend, mit bebendem Bauch die Plastiktüte mit den Zitronen zu.

Was machst du mit den Zitronen?, fragte ich. Ihr seid doch auch noch dran.

Mein Vater kniff vor lauter Erheiterung die Augen zusammen, und ich begriff, dass sonst keiner trinken würde. Schön, sagte ich, nahm mein Gewehr und ging zum Pick-up zurück.

Ich kletterte auf die Matratze und behielt mein Gewehr bei mir, weil ab jetzt jeder Hirsch, den wir entdeckten, Freiwild war, und ich wollte gern auf etwas schießen.

Ich hörte ihr Gelächter von oben, doch als sie näher kamen, verstummten sie, stiegen schweigend ein, und wir fuhren weiter. Der Wind kühl, weil ich schweißnass war, mein T-Shirt klamm. Handflächen auf der Kabine, Gewehr unter ein Bein geklemmt.

Auf der Suche nach Hirschen. Nach gebogenen Geweihen zwischen toten, trockenen Zweigen auf einem Strauchhang, nach einem braunen Flecken Fell, aufrecht unter einer Zuckerkiefer oder im Schatten liegend. Farben und Formen von Wild überschaubar, der Rest Hintergrund. Ein geübter Blick blendete den Hintergrund aus, ein geübter Blick ließ die Welt so verschwinden, dass nur das Ziel übrig blieb. Elf Jahre alt, und seit zwei Jahren hatte ich dieses Gewehr, seit ich denken konnte, hielt ich Ausschau, aber auf dieser Jagd durfte ich zum ersten Mal töten. Offiziell illegal, nach dem Familiengesetz alt genug.

Die Welt war beinahe leer. Das wusste ich schon. Die Gegend hatte kaum etwas zu bieten. Eine Wüste. Aber mein Vater erzählte Geschichten von Seen voller Enten, Wäldern voller Wild, und es gab Fotos von Dutzenden erlegter Enten, Dutzenden Fischen nebeneinander auf dem Gras, sortiert nach Größe und Art, Fotos von meinem Vater und Großvater und Tom und ihren Freunden, die zusammen mit ihren Hirschen posierten, je zwei, zehn Stück an einem Wochenende, mit prima Kopfschmuck. Also schien es möglich, dass diese Wüste einst belebt und ich zu spät geboren war. In Zehntausenden von Menschenjahren war ich fünfundzwanzig Jahre zu spät aufgetaucht, und das machte mich wütend, selbst mit elf, wütend über mein verpasstes Erbe.

Der Wind jetzt warm, mein T-Shirt trocken, und es ließ sich nicht ermessen, wie hoch wir waren. Oben in den Bergen, aber in einer Senke, die Luft heiß und dicht. Und obwohl ich jedes Jahr über diese Straße fuhr, gab es Abschnitte, die mich noch immer erstaunten, die sich weiter dehnten als in meiner Erinnerung. Es würde noch zwei Stunden dauern, bis wir unser Stück Land erreichten, und das war eine ordentliche Strecke.

Ich war der Wachposten über der Fahrerkabine, aber meine Augen waren vom Wind ausgetrocknet, blinzelten jetzt, und über Meilen hin entdeckte ich kein einziges Lebewesen außer Vögeln. Die Vögel waren noch da. Flimmernde Sturzflüge, die Flügel weit und weiß gebändert. Blauhäher und Buschhäher, lauter sogar als Motor und Räder. All die kleinen braunen Vögel, namenlos, nutzlos, direkt an der Straße. Tauben von einem blassen Cremegrau, Wachteln, die die Straße entlangliefen, dann aufflatterten. Hin und wieder ein Greifvogel, vielleicht Zeichen für mehr, zumindest Kleines, das im trockenen Gras ablebte. Reste. Tauben und Wachteln würde ich töten und, wenn die weg waren, Feldmäuse und die kleinen braunen Vögel.

Der Pick-up wurde langsamer, und wir bogen ab zu einem Wasserlauf, auf einen Strand mit großen, glatten Steinen. Wir hielten ohne Staubwolke. Der Bach nicht mal kniehoch, aber ziemlich breit, mindestens zehn Meter. Die Steine farbenfroh unter Wasser, blau und tief leberrot, eine Abwechslung nach gelbem Gras, brauner Erde und Borke, grünen Nadeln, blassblauem Himmel. Sattere Farben. Glitzerndes Narrengold an den seichten Rändern, im Sand.

Wir knieten auf den Steinen, schnupperten erst am Wasser, misstrauisch, was stromaufwärts gerade verwesen mochte, aber dann tranken wir. Kalt und klar und schwer. Je kälter es war, desto schwerer wurde es, drückte sich dicht an die Steine, floss tief dem Erdinnern zu wie Quecksilber. In jedem von uns ein Abwärtssog. Ich reinigte mich vom Geschmack nach Bartlett und Zitrone.

Jeder von uns eine Art Magnet. Davon war ich überzeugt. Jeder von uns wurde gezogen. Keine Tat folgenlos. Jeder Schritt ein weiterer Schritt auf ein Ende zu. Das wusste ich, seit ich Erinnerung besaß.

Wir stiegen wieder ein und fuhren durch den Bach, das andere Ufer hinauf, Kabine und Pritsche wanden sich, und ich klammerte mich an eine schmale Leiste über dem Seitenfenster, wurde nach hinten gezogen. Dachte an Pferde, an eine Zeit, da wir mit Pferden übergesetzt hätten, vornübergebeugt in unseren Sätteln, tief über die Mähne, und mit Bitterkeit dachte ich daran, dass ich diese Zeit verpasst hatte. Die ganze moderne Welt eine Verirrung. Fernseher statt Pferd, ein schrecklicher Betrug.

Die Straße schmal und tief an einem Hang entlang, dann quer hinüber. Durch Wäldchen, dann wieder in die pralle Sonne. Die Luft dünner in den kühlen Abschnitten, geballter im Licht. Der Tag schritt voran, und ich wurde geröstet. Gewehr unter ein Bein geklemmt, aber keinerlei Anzeichen von Wild. Fels und Gras und Unterholz.

Der Chaparral wie eine Plage über dem Land, dicht und endlos, wo zweifellos einmal Bäume gestanden hatten. Das Wild lag tagsüber im Gebüsch in Deckung, außer Sichtweite. Trockene braune Strünke überall, perfekte Tarnung für Geweih.

Der Blick verkürzte sich, die Straße führte von Senke zu Senke, Täler öffneten und schlossen sich, irgendwann aber begannen wir mit dem seichten Aufstieg über Bergketten, die zu unserem Jagdrevier führten. Weitere Grate in Sicht, weitere Berge in der Ferne, die Welt tat sich auf mit ihren Möglichkeiten.

Die Straße wand sich in die Höhe und schnitt dann tiefer in den steilen Abhang. Fiel zu meiner Rechten ab und verengte sich zu weniger als einer Spur, kleine Steine prasselten unter den Rädern weg, und mein Vater fuhr langsamer, lenkte instinktiv vom Abhang weg, die Räder links hinauf, dass der Pick-up sich einem langen, tiefen Canyon entgegenneigte. Nur noch fünf Meilen pro Stunde, langsam um Steine und Huckel herum.

Vor uns ein Hangrutsch, Boden, der weggesackt war, die Straße unterbrochen. Mein Vater wurde langsamer und blieb etwa zwanzig Meter davor stehen. Kein Platz zum Wenden. Vielleicht mussten wir zurücksetzen. Ich sah mich um, der Pfad, über den wir gekommen waren, steil und schmal. Gängigeres Gelände war weit weg.

Mein Vater stieg aus, Tom nach ihm. Mein Großvater blieb sitzen, auf der Hangseite. Tja, sagte mein Vater. Das sieht nicht gut aus.

Mir wurde schwindlig, also sprang ich mit meinem Gewehr von der Pritsche, zur Felswand hin. Lose Steine zu meinen Füßen, kantig, hart und frisch, dunkelgrau, flechtenlos, kürzlich freigelegt, herabgefallen vom langen, narbigen Berghang. Keine Vegetation, nur Trümmer. Durch Geröll zu fahren, quer über eine Schutthalde, das war genau mein Alptraum, seit Jahren, an einer steilen Bergwand entlangzufahren, von der Steine herunterfallen, diese unaufhaltsame Wucht, auch wenn es im Traum eher Sand war, feinkörniger, und ich im Schulbus saß statt auf einem Pick-up. Die Wirklichkeit trotzdem zu nah am Traum. Ich fühlte dasselbe wie im Traum, nämlich dass wir hinweggefegt würden, hinunter in den Tod im Canyon.

Mein Vater legte den Arm um mich. Keine Sorge, das wird schon. Ist schon öfter passiert.

Nicht sehr beruhigend, zu hören, dass der Traum sich im richtigen Leben wiederholte.

Tom blickte den Hang hinauf. Kommt alles runter, sagte er. Ein paar Jahre noch, dann gibt es hier keine Straße mehr.

Mein Vater sah prüfend hoch. Kann sein, sagte er. Eine neue Straße wird nicht billig. Aber das steht hier unter Forstverwaltung. Die sind dazu verpflichtet.

Schon. Und was machen wir jetzt?

Mein Vater atmete aus und blies ein wenig die Backen auf. Sehen wir uns das mal an.

Wir gingen vor zum Felssturz, zu dritt hintereinander auf der kaputten Straße. Etwa zur Hälfte weggebrochen und den Hang hinuntergerutscht. Frische Erde, ein dunkleres Braun, noch nicht von der Sonne gebleicht. Der Stein fast schwarz. Ich blickte auf verwüstete Bäume hinunter, entwurzelt, entrindet und umgeworfen, weiterer Schaden über die Schutthalde hinaus bis in den Wald. Die Wucht eines Brockens, Hunderte von Metern hinabgeschleudert und beim Aufprall zerschmettert, dabei jede Zelle um sich herum aufsprengend in langer, bleicher Folge wie Dominosteine. So dachte ich damals, als könnte ich ins Fleisch der Bäume blicken.

Zum Berg hin ist Luft, sagte mein Vater. Der Wagen hat Platz.

Aber der Winkel, sagte Tom. Das ist ziemlich steil.

Schon. Aber so schnell rollt man nicht runter.

Wir könnten uns auf die Bergseite setzen, um sie etwas schwerer zu machen.

Gut.

Ich blickte zum Pick-up zurück. Mein Großvater kam auf uns zu, über denselben Pfad wie wir. Er sah uns nicht an, seine Augen blickten nie irgendwohin, immer nur vage geradeaus. Sein Gesicht ausdrucksleer. Ein Fuß vor den anderen, schwere, zähe Bewegung, die über drei Schritte oder drei Tage gehen konnte, ein Gang, der ein Ziel haben konnte oder auch nicht. Kein Blick auf die Verwüstung unter ihm. Mein eigener Großvater so fremd wie nur irgendwer.

Zu viert standen wir da ohne ein Wort, und das war’s. Keine weitere Diskussion. Mir gefiel das gar nicht. Wir stiegen wieder in den Pick-up, Tom und ich bergseitig auf der Matratze, mit baumelnden Beinen, während mein Vater langsam Richtung Hangrutsch fuhr und mein Großvater auf dem Beifahrersitz verharrte. Offenbar war es ihm recht, zusammen mit zwei weiteren Generationen den Berg hinunterzustürzen, wenn es sein musste.

Zum Berg gewandt konnte ich nicht sehen, was auf der anderen Seite passierte. Rutschten die Räder ab, würde ich es erst mitbekommen, wenn ich kippte, und dann war es zu spät. Ich könnte noch versuchen, abzuspringen, aber da wäre ich schon in der Luft. Die Schwerkraft das Beängstigendste auf der Welt, der Sog der Leere.

Mein Vater rollte langsam in niedrigem Allradantrieb, keine fünf Meilen pro Stunde. Der Wagen hob ab wie auf einer Welle, hob ab und neigte sich, und ich beugte mich vor, sah den Radkasten wachsen, je mehr Gewicht vom Reifen genommen wurde, und ich fragte mich, wie mein Vater oder Großvater rechtzeitig rauskommen wollten. Sie wären in der Kabine gefangen.

Ich fühlte, wie der Berg unter uns wegrollte, die Schwerkraft jetzt von der Seite zog. Ein Pendel und wir vier samt diesem Pick-up sein Anker.

Aber der Wagen senkte sich, die Welt ebnete sich wieder, und wir waren nicht gefallen.

Na, das war ja haarig, sagte Tom. Der Pick-up hielt, und er stieg wieder in die Fahrerkabine. In ein paar Tagen mussten wir auf demselben Weg zurück, aber bis dahin konnte sich die Straße verändert haben.

Die Männer in der Kabine, ich auf dem Posten, und wir waren jetzt oben auf einer Bergflanke, einem offenen, geschwungenen Abhang ohne Baumbestand. Nur niedriges Gesträuch und trockenes Gras, alle anderen Hänge zu weit weg zum Hirscheschießen, also gab es nichts abzusuchen als den Bergbuckel vor uns, auf Geweihe zu warten, die sich vor dem Himmel abzeichneten, und ein blitzartiges Huschen.

Ein sonniger, wunderschöner Tag mit blauem Himmel und Brise und Vögeln, und unser Pick-up kurvte auf das Tor zu, gleich im nächsten Waldstück würde es kommen. Ich spürte die Aufregung, die ich bei jeder Ankunft spürte, weil dieser Ort ein ganz besonderer war. Hierher kehrten wir immer wieder zurück, seit Generationen. Dies war der Ort, der uns gehörte, zu dem wir gehörten und der unsere Geschichte barg, alle Vorfahren und alle Geschehnisse, und alles würde im Laufe dieser Jagd abermals erzählt werden, und wenn ich einen Hirsch fand, kam meine Geschichte zum ersten Mal hinzu.

Eine letzte Strecke durch gerodete Böschungen und Bärentraube, ein Abschnitt, an den ich mich nie erinnerte. Als wir da durch waren, sahen wir Goat Mountain vor uns. Wir fuhren an der südlichen Flanke hoch, ein Grat erhob sich zu unserer Rechten über die oberen Lichtungen und auf steile Felshalden, auf denen wir nie jagten. Darunter dichter Wald, in dem irgendwo unser Camp samt Quelle und Wiese lag, darunter der Stausee und die Bärensuhle und die unteren Lichtungen und Serpentinen und die Brandstelle, wo ein Feuer durchgezogen war, und alles, was uns sonst noch eingeschrieben war.

Hier hielten wir immer an, um uns umzusehen, um zu sehen, wer wir waren. Sechshundertvierzig Morgen gemeinsam mit zwei Partnern aus dem Central Valley. Weit weg von allem. Entlang einer ganzen Bergflanke in mehrere Geländepartien aufgeteilt, fast bis hinunter zu dem langen schmalen Tal und Cache Creek.

Keiner sprach. Wir hätten ewig stehen bleiben können, aber der Pick-up rollte langsam weiter, das Camp rief, und der Weg hangelte sich zwischen den Bäumen hinab, wo alle Sicht verloren war und das Laub bereits von den Eichen fiel, trockene, glatte, stachlig gesäumte Blätter. Das Rot und Grün der Bärentraube. Ein Buschhäher mit seinem schroffen Ruf und dann eine Explosion von Wachteln direkt an der Straße, plumpe braune Körper, die sich in flache Flugbahnen warfen, wacklig und unentschieden, hinein ins nächste Unterholz und die Bäume dahinter. Man hatte mir beigebracht, zum Gewehr zu greifen und zu schießen, und es juckte mich, diese dunklen Knäuel ins Visier zu nehmen, als die Vögel bei der Landung ihre Flügel auffächerten. Sie würden innehalten, nacheinander, mein Blick einen Moment starr, zielen, abdrücken, ein vollkommener Moment, aber hier durfte ich keine Vögel töten. Keine Schüsse, die das Wild verschrecken könnten. Also verschwanden die Wachteln wieder im Gebüsch, und der Pick-up rollte weiter, und ich verspürte ein dumpfes Bedauern. Etwas in mir wollte einfach töten, dauernd und ohne Ende.

Die Luft jetzt kühler, die Straße ganz im Schatten, Schattenmuster auf dem steilen Hang, der zur Linken abfiel. Und dann waren wir endlich da. Das Tor vor uns aus dickem Stahl, gestrichen in der Farbe von getrocknetem Blut. Schwere Rohrkonstruktion, die kein Pick-up verbiegen konnte, zu beiden Seiten zwei Meter tief in Beton verankert, und ein Schlosskasten so dick, dass man ihn nicht aufschießen konnte. Selbst eine Gewehrkugel würde bloß streifen und abprallen. Eine Evolution von Toren über die Jahre, hier das Endprodukt, von meinem Vater eingebaut, ein Tor, das kein Wilderer zerstören konnte, ein Tor, das nie ersetzt werden musste.

Ich sprang hinunter und folgte meinem Vater, der unter dem Schlosskasten auf der Erde lag und mit beiden Händen in einen engen Stahlschacht griff. Dieser verhinderte, dass man mit einem Bolzenschneider oder einem Gewehr an das Schloss herankam, allerdings blieb auch kaum Platz für einen Schlüssel, da musste man sich blind reinfummeln. Mein Vater mit verzerrtem Gesicht, Schultern über dem Boden. Verdammte Wilderer, sagte er. Der Schlüssel geht nicht rum. Leg dich hinter mich auf den Boden.

Also legte ich mich mit dem Gesicht nach unten auf Erde, Kies und Blätter, mein Vater drückte sich von mir ab, und dann hörte ich, wie das Schloss aufsprang.

Endlich, sagte er und angelte den Schlüssel wieder heraus.

Ich stand auf und klopfte mir Erde und Blätter ab, während mein Vater das Tor öffnete. Tom und mein Großvater standen jetzt da und blickten den Hang entlang. Wir haben einen Wilderer, sagte Tom.

Ich ging zu ihnen, blickte hoch und sah in weiter Ferne auf einem Felsaufschluss eine orangefarbene Jagdweste.

Wie ist er da raufgekommen, wenn nicht durchs Tor?, fragte Tom.

Bestimmt Motocrossmaschinen, sagte mein Vater. Um sie übers Tor zu heben, sind die zu schwer, aber von der Hauptstraße gibt es inzwischen wahrscheinlich irgendwelche Pfade dort rüber.

Ich weiß nichts von Pfaden, sagte mein Großvater.

Eröffnungswochenende, sagte Tom. Ballern rum und verschrecken alles am Eröffnungswochenende. Und was schert es sie überhaupt, wann sie jagen? Verstoßen doch eh gegen das Gesetz, dann können sie sich genauso gut im Juni was schießen.

Wenn sie die Beute einmal hier rausgeschafft haben, weiß keiner mehr, wo sie herkommt, sagte mein Vater.

Stimmt.

Dann wollen wir mal sehen, sagte mein Vater und ging zur Fahrerkabine zurück. Ich wusste nicht, was er meinte, aber er kam mit seiner .300 Magnum zurück. Stellte sich hin, legte das Gewehr an die Schulter, nahm den Wilderer ins Visier. Großes, schwarzes Zielfernrohr. Es war ein schönes Gewehr, geöltes schwarzes Holz. Ein Gewehr für die Bärenjagd, zu groß für Wild, aber mein Vater benutzte es trotzdem, irgendwo in ihm ein Zerstörer. Das Gewehr hatte einem Hirsch einmal fast die ganze Schulter weggerissen, als die Kugel auf der anderen Seite wieder rauskam.

Der hat ja vielleicht Nerven, sagte mein Vater. Genießt den Sonnentag und lässt den Blick über unser Land und unsere Hirsche schweifen.

König der Welt da oben, sagte mein Großvater.

Bringt den Wagen her, sagte mein Vater.

Tom ging hin und löste die Handbremse, ließ den Pick-up langsam zu uns heranrollen.

Mein Vater legte erneut an, stützte allerdings diesmal die Ellbogen auf die Motorhaube. Er lud eine Patrone in den Lauf. Mal sehen, ob er das hört. Ich will, dass er hier rüberguckt und sieht, was ihn im Visier hat.

Doch soweit ich erkennen konnte, hatte sich der Wilderer nicht bewegt und nicht in unsere Richtung geblickt. Er war weit weg, vermutlich über zweihundert Meter, also konnte ich sein Gesicht nicht genau erkennen, aber er schien den Hang weiter vorn hinunterzublicken.

Tom hatte sein Gewehr jetzt auch rausgeholt und visierte den Wilderer an. Ich hatte leider bloß einen Diopter an meiner .30-30.

Hier, guck mal, sagte mein Vater, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich hielt das Gewehr und stützte meine Ellbogen auf die Motorhaube des Pick-ups. Der Geruch von Waffenöl wie bei meiner .30-30, aber sonst alles ganz anders. Schwerer und vollkommen, glattes Holz und dunkelblaues Metall miteinander verschmolzen, als wären sie in einem Stück auf die Welt gekommen, und die Balance, als ich den Schaft an die Schulter legte, war auch vollkommen, es wollte und konnte mühelos Teil von mir werden.

Das Zielfernrohr leuchtend scheinbar ohne Quelle, ein direkter Blick in die Welt, mein eigenes besseres Auge. Auf zweihundert Meter Entfernung deutliche Maserung des Steins, über zwei Fußballfelder weit weg. Dunkler Stein, verwittert mit Narben, Höckern und Riffeln, eine breite Felsplatte, ich folgte ihr nach links, wo der Wilderer auf der Kante saß, baumelnde Stiefel, Gewehr auf dem Schoß. Jeans und weißes T-Shirt in der Sonne, die orangefarbene Jagdweste. Orangefarbene Baseballmütze. Er wollte gesehen werden. Hier in der Weite, auf unserem Land. Lange Koteletten, hellbraun. Gesicht und Hals rosa von der Sonne.

Ich fuhr mit dem Fadenkreuz über einen Arm, aufwärts vom Ellbogen zur Schulter. Der Wilderer schien es zu spüren, absolut unheimlich. Er drehte sich nach links und sah mich direkt an, ins Fernrohr, dann zog er die Beine nach, bis er geradeaus blickte. Er hatte uns gesehen, etwas gesehen. Farbe von der Motorhaube oder die Spiegelung auf einem Zielfernrohr. Seine Hände hoben den Feldstecher, der ihm um den Hals hing, und große dunkle Augen blickten mich direkt an.

Meine Hand legte sich fester um den Schaft, und ich hielt die Luft an. Das Fadenkreuz schwebte zwischen den Linsen. In der Zeit gefangen mit diesem Mann, in diesem verhaltenen Augenblick.

Langsam ausatmen, mit Bedacht, wie ich es gelernt hatte, und langsam den Abzug betätigen. Da war kein Gedanke. Ganz sicher. Da war nur mein Wesen, der, der ich bin, jenseits von Verstehen.

Die Welt barst aus irgendeinem Kern, und ich wurde durch die Luft geschleudert und landete im Dreck. Der Nachhall in meinen Ohren, das Pulsieren von Blut. Mein Herz ein Presslufthammer. Das Gewehr neben mir auf der Erde, meine rechte Hand noch immer am Kolben.

Mein Vater zog mich am Hemd hoch und warf mich nach hinten, und ich landete nicht dort, wo der Boden hätte sein sollen. Ich segelte über den Straßenrand, und die Erde senkte sich, und ich fiel immer weiter, gegen einen Baumstamm oder Ast und noch einen und noch einen, weiter durch die Luft, mit einer Drehung, und sah nur von rechts einen Schatten über mir, bevor ich mit der rechten Schulter auf Erde und Blätter knallte und mich überschlug und mit dem linken Bein einen Stamm rammte und herumgewirbelt wurde, mit Kopf und Nacken auf den Boden traf, dann aufrecht weiter fiel, Blick geradeaus, als würde ich den Hang hinunterrennen, und ich breitete instinktiv die Arme aus und zuckte zur Seite, als mich der nächste Stamm an einer Schulter erwischte, und wurde unerträglich weitergeworfen, bis ich durch Blätter schlitterte und endlich liegen blieb, ohne zu wissen, wie es mich geben konnte oder was nun kam.