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Michaela Holzinger

Laurenz und der Stein der Wahrheit

Neue Rechtschreibung 2006

Umschlagillustration: Verena Körting
Satz: Barbara Herrmann, Freiburg

© Obelisk Verlag, Innsbruck · Wien 2012
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-85197-663-2

2. Auflage

www.obelisk-verlag.at

Michaela Holzinger

Laurenz
und der
Stein der Wahrheit

Mit Illustrationen von Verena Körting

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Inhalt

Initium Es geschah vor 3 × 777 Jahren

Das Haus am Rande des Berges

Im Bann der singenden Steine

Die Stimme aus dem Nichts

Die Baumburg am Seeufer

Die seltsame Botschaft

Im Reich der Dunkelheit

Das Erbe des Wahrheitssteins

Der vergessene Turm

Zurück zum Anfang und doch auf der Spur

Tunen taunen techten Tat

Lapis veritatis

In der Alten Welt

Der geheimnisvolle Schatten

Der Plan

Die Rache des Berges

Exitus – Das Ende

Für Roland, Maximilian und Katharina,
die auf wunderbare Art und Weise
einen wichtigen Grundstein hierfür gelegt haben:

Magische Augen, Mogag, Mumm

Diese drei Dinge stammen von ihnen.

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„... und wer die Runen zu deuten versucht, soll wissen, dass jede von ihnen unglaublich große Macht besitzt. Und nur der, der würdig ist, den Schlüssel zu finden, wird eintauchen in die Welt der Magie.“

Rufus von Moosbach, vor 3 × 77 Jahren

Initium

Es geschah vor 3 × 777 Jahren

„Wir haben eine Menge Zauberpflanzen gesammelt“, verkündete Flora stolz. Sie saß auf den Schultern ihres kräuterkundigen Menschenfreundes und flatterte vergnügt mit den Elfenflügeln. „Ruad wird begeistert sein, wenn sie sieht, was wir alles gefunden haben.“

Vor Freude hüpfte sie an den Rand des Buckelkorbes, den der Mann auf den Rücken geschnallt hatte und spähte über den Korbrand. „Ah, was für ein Duft! So viele Heilkräuter. Und erst die Zauberbohne, wie die funkelt ...!“ Sie klatschte in ihre Hände. „Nie hätte ich mir träumen lassen, dass ich mal eine Zauberbohne finde ... huch!“, machte sie, als der Wegerich ruckartig stehen blieb. „Was hast du denn? Bin ich dir etwa zu schwer?“ Sie lachte. „Soll ich lieber neben dir herfliegen?“

Der Mann schüttelte den Kopf. Dann legte er erschrocken die Hand auf seine Brust, auf der ein sonderbares Amulett ruhte. „Der magische Stein ... er hat zu singen angefangen!“, murmelte er und sah besorgt zu der kleinen Elfe, die vor seinem Gesicht auf und ab zu flattern begann. Er presste die Lippen zusammen. „Es stimmt also, was Ruad vorhergesehen hat. Und jetzt ... jetzt fängt es an!“

Eilig schwang er den Buckelkorb von seinem Rücken und nahm eine Zauberbohne heraus. „Hier“, sagte er zu seiner magischen Freundin und überreichte ihr die Bohne. „Nimm sie – du wirst sie brauchen!“

Doch Flora schüttelte den Kopf. „Nein“, flüsterte sie. „Die Zauberbohne ist für Ruad.“

Durchdringend sah der Kelte sie mit seinen stechend blauen Augen an. „Vertrau mir!“, drängte er und deutete als Beweis auf das Amulett, an deren Kette der magische Stein baumelte. „Nimm die Zauberbohne. Sie wird dich vor der kommenden Finsternis beschützen. Bei meinem Weib am Moosbach wirst du in Sicherheit sein. Sie wird dir ein Heim gewähren – so lange, bis das Unheil überstanden ist. Und jetzt flieg!“

Flora sah zuerst auf den Stein, dann wanderte ihr Blick in das sorgenvolle Gesicht des Kelten. Schließlich tat sie, was ihr der kräuterkundige Mensch befohlen hatte. Sie griff nach der Bohne, drehte dem Wegerich den Rücken zu und flog Richtung Moosbach davon.

Als sie dort einen sicheren Platz gefunden hatte, verdunkelte sich der Himmel. Die vernichtende Finsternis kroch aus den Tiefen des Traunsteins. Die kleine Elfe nahm die Zauberbohne, schluckte sie und versank alsbald in einen tiefen, langen Schlaf.

Das Haus am Rande des Berges

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Das Gewitter kam so plötzlich, dass es gespenstisch war. Bedrohlich rollten dicke Wolken über den Gipfel des Traunsteins hinweg, gefolgt von Blitz und Donner. Es dauerte nicht lange und die ersten schweren Regentropfen prasselten gegen die Fensterscheiben des Dachzimmers.

Dam, dam, dam, machten sie. Dann immer schneller: damdam damdamdamdam.

Laurenz lag zusammengerollt auf dem Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Ab und zu lugte er aus einem kleinen Spalt hervor und betrachtete das fremde Zimmer, das sich vor ihm im Blitzlicht ausbreitete.

Er hasste es. So, wie er Gewitter hasste. Na ja, eigentlich war das Dachbodenzimmer gar nicht so übel. Immerhin war es größer und gemütlicher, als sein eigenes in Wien. Ganz zu schweigen von der muffigen Schlafkammer im Internat. Dieses Zimmer war nicht nur groß, es lag auch abseits von den anderen, und die Dachfenster boten einen fabelhaften Ausblick auf den See.

Trotzdem, er hasste es!

Vor allem aber hasste er seine Eltern. Dafür, dass sie ihn den Sommer über zur Großmutter nach Gmunden geschickt hatten. Einfach so! Ohne vorher zu fragen!

Denn seine Eltern, Moritz und Greta Moosbach, waren vielbeschäftigte Rechtsanwälte. Beide sehr wichtige Leute, jedenfalls betonten sie das ständig. Und weil sie so wichtig waren, sollten sie auch diesen sensationellen Fall in Amerika übernehmen. Ausgerechnet in den Sommerferien. Ganze zwei Monate lang. Zwei Monate, in denen das Internat geschlossen war. Zwei Monate, die Laurenz gerne mit ihnen in den USA verbracht hätte. Aber davon wollten seine Eltern nichts wissen.

„Das geht nicht. Wir sind dort ständig am Arbeiten“, hatte sein Vater gemeint.Und Mutters Reaktion war auch nicht viel besser: „In Gmunden bei der Großmama bist du viel besser aufgehoben. Wenn du erwachsen bist, wirst du das verstehen: So eine Chance bekommen wir nie wieder.“

Pah, von wegen! Laurenz verstand überhaupt nichts. Schon gar nicht seine blöden Eltern. Zornig wickelte sich Laurenz enger in die Decke und unterdrückte mühsam eine Träne. Es war ja nicht so, dass er sie vermissen würde. Außerdem war es im Sommer in der Stadt ohnehin brütend heiß und stinklangweilig. Dennoch – sie hätten ihn fragen müssen!

Wieder krachte es. Das Gewitter brüllte mit aller Gewalt gegen das alte Gemäuer. Es schien, als ob Wind, Blitz und Donner um die alleinige Herrschaft kämpften. Entweder heulte es oder es blitzte oder es donnerte. Oder alles zugleich.

Ein Kampf zwischen Gut und Böse, dachte Laurenz einen Augenblick lang und war froh, bei dem Wetter nicht im Freien sein zu müssen. Hatte er überhaupt schon jemals ein so starkes Unwetter erlebt? Fast schien es, als ob ihn das Gewitter mit aller Kraft aus Gmunden vertreiben wollte ...

... und dann kam es ihm vor, als ob der Wind seinen Namen heulte. Ganz lang und ganz schaurig: Lauuuurrreeeenz ... Lauuuurrreeeenz ...

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Denk an etwas anderes, befahl er sich und hielt sich schnell die Ohren zu, weil das unheimliche Sturmheulen nicht aufhören wollte.

Da ertönte, wie auf Kommando, die Stimme seiner Mutter, die in solchen Momenten gerne zu sagen pflegte: „Ich weiß nicht, woher das Kind diese Fantasie hat. Von meiner Familie jedenfalls nicht! Er hat das sicher von Urururonkel Rufus väterlicherseits geerbt, diesem komischen Kauz. Der Moosbachvorfahre soll ja auch stets mehr gesehen haben, als normal war ...“

Und schon war sie wieder da: Diese Wut im Bauch, die Laurenz gerade recht kam. Sie würde ihn von der unheimlichen Gewitternacht ablenken. Jedenfalls hoffte er das. Und so grübelte er noch lange nach. Über viele Dinge. Auch darüber, warum er in den ganzen elf Jahren seines bisherigen Lebens seine Großmutter aus Gmunden kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Das war schon ziemlich merkwürdig! Bis vor kurzem hatte er nicht einmal davon gewusst, dass er eine Großmutter hatte. Erst als seine Eltern plötzlich mit dieser Amerikasache rausrückten, kam sie ins Spiel. War die Großmutter etwa eine so schreckliche Frau? Noch strenger als seine Eltern?

Laurenz’ Magen krümmte sich bei dem Gedanken wie ein Igel zusammen. Wie sollte er nur die Sommerferien hier heil überstehen?

Ihm war wirklich zum Heulen zumute und deshalb merkte er erst spät, dass sich das Gewitter in der Zwischenzeit längst getrollt hatte. Nur von fern hörte man noch ein dumpfes Grollen, das allmählich vom gleichmäßigen Prasseln des Regens abgelöst wurde und ihn in einen unruhigen Schlaf sinken ließ.

Doch auch der Schlaf brachte Laurenz keine Ruhe. Kaum hatte er seine Augen geschlossen, fing er an, wirr zu träumen. Und der Traum war noch weitaus unheimlicher als die grollende Gewitternacht ...

... das Feuer knisterte wild und spuckte glühende Funken, als sich eine Frau in einer Höhle über den Flammen erhob. Zitternd streckte sie die Hände empor und fing an, sich langsam hin und her zu bewegen. Leise schaukelte sie sich in Trance, während zwei dunkle Schatten das Geschehen beobachteten.

Als die Flammen heller wurden und nach der Höhlendecke züngelten, fiel ein Lichtschein auf die beiden Gestalten.

Der eine, groß und hager, trug einen langen weißen Druidenumhang. Zwischen den buschigen Brauen blitzten zwei hellblaue Augen hervor, die wachsam auf das Feuer blickten. Sein Bart, leuchtend weiß, zitterte dabei vor Aufregung.

Der andere Schatten hingegen reichte dem weißbärtigen Druiden gerade einmal bis zum Gürtel, den der Alte um den Umhang geschnürt hatte. Und auch sonst sah er anders aus: Mit der großen Mütze auf dem Kopf und den kurzen, sichelförmigen Beinchen wirkte er eher wie ein Gartenzwerg. Mehr aber verriet dieser winzige Schatten nicht, der bewegungslos in einer Felsennische an der Höhlenwand kauerte.

Plötzlich durchbrach ein Schrei die Nacht, und der weißbärtige Druide machte einen schnellen Schritt auf die Frau am Feuer zu.

Ruad, sag mir, was du siehst“, flüsterte er mit beruhigender Stimme.

Die Hexe sah ihn mit leerem Blick an, so als ob sie in die Ferne sehen würde. Dabei bewegten sich ihre Lippen mühsam: „Er wird kommen ... aber ... ich kann ihn nicht sehen ... nur ihm ist es möglich, das Tor zu öffnen ... wenn er scheitert, dann ist die Alte Welt für immer verloren ...“ Ihre Stimme brach ab. Schweißperlen begannen sich auf der Stirn der Hexe zu bilden.

Wann wird er kommen? Ruad, sag mir, wann er kommen wird?“, drängte der Weißbärtige, als er sah, dass die Frau am Feuer zu wanken begann. Kurz schien es, als ob ein eigenartiges Mal auf ihrer Stirn aufleuchten würde. Es war leuchtend blau und bewegte sich. Dann aber kippten die feuerroten Locken der Hexe darüber und entzogen es weiteren Blicken.

Bald!“ Ihre Stimme wurde brüchig. „Bald“, krächzte sie und sank zur Seite.

Hastig beugte sich der Druide über die leblose Frau und kramte aus einem Lederbeutel eine Bohne hervor, die geheimnisvoll im Schein des Feuers schimmerte.

Vorsichtig schob er der Frau die Zauberbohne in den Mund. Da fing sich abermals etwas auf der Stirn der Hexe zu regen an, und mit dieser Bewegung kam auch Leben in den Körper zurück. Ihre Lippen bebten. „Es wird ein Menschenjunge sein, der kommen wird“, dröhnte sie mit Grabesstimme. „Ja, ein Menschenjunge ist es! Noch kein Dutzend Leben alt ...

Der Druide erschrak. „Ein Menschenjunge, sagst du? Bist du dir sicher? Das ist unmöglich! Niemals könnte er ...“ Doch ehe er noch etwas hinzufügen konnte, sah der Druide, wie das blaue Etwas auf ihrer Stirn endgültig zu verschwinden begann. Also schwieg er, denn er wusste, dass er nun keine Antwort mehr bekommen würde.

Als Ruad schließlich erwachte, blickte sie erschöpft um sich. Ihre Augen blieben am Gesicht des Weißbärtigen hängen. „Und?“, flüsterte sie. Ihre Stimme klang heiser. Erschöpft.

Der Weißbärtige blickte betreten zu Boden.

Was?“, stöhnte sie, als sie das bekümmerte Gesicht des Druiden sah. „Er wird nicht kommen? Dann war meine Mühe, den magischen Stein der Wahrheit zu formen, umsonst?“ Sie wurde kreidebleich.

Nein“, antwortete der Druide schnell. „Er wird kommen!“ Kurz erhellte sich sein Gesicht zu einem Lächeln, dann aber verfinsterte es sich wieder. „Aber es wird ein Menschenjunge sein – kein Dutzend Jahre alt – und er hat eine schwere Bürde zu tragen.

Der fremde Schatten in der Felsenspalte indessen lauschte gespannt auf die Worte der beiden. Als er genug gehört hatte, schlich er sich unbemerkt aus der Höhle und verschwand in der Dunkelheit.

Am nächsten Morgen lag Laurenz völlig zerknautscht im Bett, als ihm etwas Feuchtes ins Gesicht klatschte. Verschlafen rieb er sich die Augen. Er richtete sich auf und ... blickte in zwei riesige gelbe Kulleraugen.

Mit einem Schlag war er wach. Bei des Teufels Klobrille – was war das?

Über ihn beugte sich ein riesiges grau-zotteliges Vieh mit treuherzigem Blick, schwarzer Nase und einer enorm langen Zunge, die mit Begeisterung sein Gesicht leckte.

„IGITT!“, stöhnte Laurenz und wischte sich schnell mit dem Pyjamaärmel die Riesenviehspucke aus dem Gesicht. Das Ungetüm fing an zu bellen und wedelte mit dem Schwanz. Anscheinend freute es sich, Laurenz wach bekommen zu haben.

„Ah, jetzt weiß ich, was du bist“, brummte Laurenz. „Du bist ein Hund – oder?!“ Grübelnd betrachtete er das Vieh von allen Seiten. Oder war es gar ein Wolf? Oder doch ein Schaf? Oder beides? Es schien einfach ein Riesenknäuel aus grau-zotteligem Fell zu sein, das bellen konnte. Vorsichtig tastete er nach dem Wuschelfell, woraufhin ihm das Ungetüm mit der Schnauze die Decke wegzog.

„Ich steh ja schon auf“, lachte Laurenz, schlüpfte in Hose und T-Shirt und marschierte danach in Richtung Badezimmer. Das Ungetüm folgte ihm.

Zum Glück hatte seine Großmutter Laurenz das Badezimmer bereits gezeigt, ansonsten hätte er bei den vielen Zimmern und Türen im Obergeschoß lange danach suchen müssen. Aber so war er mit Zähneputzen schnell fertig. Auch seine kinnlangen blonden Haare waren schnell gebändigt. Und als er kurz darauf die große Treppe hinunter ging, trottete das Wolf-Schaf-Riesenvieh hinter ihm her.

Großmutters Haus war bestimmt über zweihundert Jahre alt, vermutete Laurenz. An den Wänden hingen alte Gemälde mit vergoldeten Rahmen. Kostbare Teppiche in allerlei Formen und Farben lagen auf den alten Holzdielen. Sogar eine verbeulte Ritterrüstung lehnte in einer Ecke. Alles war sehr vornehm eingerichtet. Und trotzdem machte das Haus nicht denselben steifen Eindruck wie das Zuhause in Wien.

Nein, Großmutters Haus war anders! Ganz anders! Die alte Ritterrüstung diente als Kleiderständer (dem alten Herrn stand Großmutters knallroter Regenmantel ausgezeichnet). Neben der schweren Eingangstür lagen ein Paar dreckige Gummistiefel. Und auf den antiken Kommoden türmte sich allerlei Krimskrams, wie Pfefferminzkaugummis, Taschentücher, Wäscheklammern, einzelne Socken, Zündholzschachteln, ein Paar alte Gummihandschuhe, ein angenagter Hundekauknochen, dazwischen ein Schlüsselbund. Am besten fand er aber die vielen grellen Sonnenhüte, die vom Kronleuchter herunterbaumelten und wie ein kleines Sonnensystem im Raum schwebten.

Laurenz grinste. Bei so einem Chaos wäre seine Mutter ausgerastet!

Zwischen all dem Gewurstel und Gerümpel stieg ihm der leckere Duft von gebratenen Eiern und Speck in die Nase, der aus der Küche kam. Auch der Riesenhund hatte den appetitlichen Morgengruß gewittert und schob sich durch die Küchentür.

Mit einem lauten Knall sprang sie auf. Peng, machte es und Laurenz zuckte zusammen. Seine Großmutter aber war von dem lauten Knall nicht sonderlich beeindruckt. Mit einem riesigen Kochlöffel in der Hand stand sie am Herd und hielt dem Riesentier eine Speckschwarte hin. Im nächsten Moment war der Leckerbissen hinuntergeschlungen.

Unschlüssig blieb Laurenz in der Tür stehen.

Seine Großmutter, Seraphine Moosbach, war eine hoch gewachsene, knochige Frau mit kurzem weißem Haar. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt. Fast wie Leder spannte sie sich über die Wangenknochen. Die alte Frau drehte sich um und lächelte. Ihre blauen Augen leuchteten freundlich. „Ah, schon ausgeschlafen! Ich hoffe, es war dir nicht unangenehm von Zottel geweckt zu werden. Ich hatte es ihm eigentlich verboten. Doch der Hund hat seinen eigenen Kopf. Das wirst du bald merken. Außerdem ist er furchtbar neugierig!“

Liebevoll tätschelte sie Zottels Kopf, dessen Schnauze damit beschäftigt war, in Richtung vollbeladenen Teller zu wandern. Schmunzelnd schob sie ihn beiseite und deutete mit dem Kochlöffel auf die schmutzigen Teller am Küchentisch. „Sie sind schon weg. Hatten es sehr eilig. Tja...“

Laurenz nickte stumm. Er hatte sich zwar am Vorabend bereits von seinen Eltern verabschiedet – nichtsdestotrotz fühlte er sich mit einem Mal einsam.

Doch die Großmutter schien Laurenz Gedanken erraten zu haben, denn als sie seine betrübte Miene sah, sagte sie: „Lass uns erstmal frühstücken“, und stellte Laurenz den beladenen Teller mit Eier und Speck vor die Nase.

Gehorsam nahm er auf einem der antiken Sessel Platz. Als sie zu essen begannen, fragte sie: „Möchtest du vielleicht etwas von mir wissen?“

Klar, es hätte viele Dinge gegeben, die Laurenz über seine Großmutter wissen wollte, doch just in dem Augenblick fiel ihm keine einzige vernünftige Frage ein. „Eigentlich nicht, – ähm ... Großmutter?“

Seraphine Moosbach lächelte milde. „Du brauchst mich nicht Großmutter zu nennen. Und schon gar nicht Oma, oder Großmama! Ich kann mir denken, dass das alles ziemlich ungewohnt für dich sein muss. Für mich übrigens auch“, fügte sie augenzwinkernd hinzu. „Was hältst du davon: Meine Freunde nennen mich Fanny. Das kommt von Seraphine.“

Laurenz nickte. Passt gut, fand er. So, wie das englische Wort: funny – lustig!

„Das ist schön!“ Sie nickte ebenfalls. „Ich freue mich übrigens sehr über deinen Besuch. Auch wenn die Umstände ein bisschen – naja, sagen wir – komisch sind. Aber ich bin mir sicher, dass wir das hinkriegen werden, oder?“

Laurenz hob den Kopf und sah seiner Großmutter ins Gesicht. Ihre Augen hatten dieselbe Farbe wie seine eigenen. Dieses seltsame stechende Blau!

Und als er diese kleine Ähnlichkeit entdeckt hatte, spürte er, wie sich ein wunderbar warmes Gefühl in seinem Magen ausbreitete und den Igel daraus vertrieb.

Laurenz hatte zwar keine Ahnung, warum seine Eltern ihm nie die Gelegenheit gegeben hatten, seine Großmutter kennen zu lernen. Nun aber war sie da – die Gelegenheit – und er fand sie schön. Deshalb fragte er: „Fanny, was ist Zottel eigentlich? Ich meine, welche Rasse?“

„Er ist ein reinrassiger irischer Wolfshund“, erklärte sie. „Eigentlich heißt er Agar von der hohen Burg. Aber wer will schon Agar heißen! So ein bescheuerter Adelsname ist doch wirklich keinen Pfifferling wert.“

Laurenz schmunzelte. Fanny, seine Großmutter, war wirklich super! Denn genau dasselbe dachte auch er. Während seine Eltern nicht häufig genug betonen konnten, echte Nachkommen der „von Moosbachs“ zu sein, ging ihm dieses Getue über die adelige Abstammung ziemlich auf die Nerven. Immerhin hatte ihm genau diese Sache schon oft Arger im Internat eingebrockt ... Doch ehe Laurenz weitergrübeln konnte, riss ihn die fröhliche Stimme seiner Großmutter aus den Gedanken.