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Gustave Flaubert

Die Erziehung des Herzens

oder auch: Die Schule der Empfindsamkeit

Gustave Flaubert

Die Erziehung des Herzens

oder auch: Die Schule der Empfindsamkeit

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Luise Wolf
EV: J.C.C. Bruns Verlag Minden, 1915
2. Auflage, ISBN 978-3-954181-28-5

www.null-papier.de/erziehung

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Zwei­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

Drit­ter Teil

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

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Erster Teil

1.

Von »der Vil­le de Mon­te­reau«, die am 15. Sep­tem­ber 1840 ge­gen sechs Uhr mor­gens zur Ab­fahrt be­reit vor dem Quai-Ber­nard lag, wir­bel­te dich­ter Dampf auf.

Atem­los eil­ten Leu­te her­bei; Fäs­ser, Taue, Wä­sche­kör­be hin­der­ten den Ver­kehr. Die Ma­tro­sen ga­ben nie­mand eine Ant­wort. Man stieß sich; die Ge­päck­stücke häuf­ten sich zwi­schen den bei­den Lu­ken, und der Lärm ver­lor sich in dem Zi­schen des ent­wei­chen­den Damp­fes, der al­les in eine weiß­li­che Wol­ke hüll­te, wäh­rend die Glo­cke vorn am Bug un­abläs­sig läu­te­te.

End­lich stieß das Schiff ab, und die bei­den Ufer, durch La­ger­häu­ser, Werf­ten und Hüt­ten­wer­ke be­lebt, glit­ten vor­über wie zwei brei­te Bän­der, die man auf­rollt.

Ein jun­ger Mann von acht­zehn Jah­ren mit lan­gem Haar und einen Al­bum un­ter dem Arm stand un­be­weg­lich am Steu­er­rad. Durch den Ne­bel blick­te er auf Kirchtür­me und Ge­bäu­de, de­ren Na­men er nicht kann­te; dann warf er einen letz­ten Blick auf die In­sel Saint-Louis, die Stadt, Notre-Dame, und stieß einen tie­fen Seuf­zer aus, als Pa­ris bald dar­auf ver­schwand.

Frédéric Mo­reau kehr­te, nach­dem er kürz­lich das Bac­ca­lau­re­at er­hal­ten hat­te, nach No­gent-sur-Sei­ne zu­rück, wo er zwei Mo­na­te schmach­ten soll­te, ehe er sei­ne Rechts­stu­di­en in An­griff nahm. Sei­ne Mut­ter hat­te ihn, mit den not­wen­di­gen Mit­teln ver­se­hen, zum Be­such ei­nes Oheims nach Ha­vre ge­schickt, auf des­sen Erb­schaft sie für ihn hoff­te. Er war am vor­her­ge­hen­den Abend von dort zu­rück­ge­kehrt; und da er nicht in der Haupt­stadt blei­ben konn­te, ent­schä­dig­te er sich, in­dem er auf ei­nem Um­we­ge heim­kehr­te.

Der Tu­mult leg­te sich; alle hat­ten ihre Plät­ze ein­ge­nom­men; ei­ni­ge wärm­ten sich an der Ma­schi­ne, und der Schorn­stein spie mit lang­sam rhyth­mi­schem Stöh­nen den schwar­zen Rauch aus wie einen Fe­der­busch. Über die Mes­sing­be­schlä­ge ran­nen klei­ne Tau­tröpf­chen; das Deck er­zit­ter­te un­ter ei­ner lei­sen in­ne­ren Er­schüt­te­rung, und in ra­pi­der Dre­hung schlu­gen die bei­den Rä­der das Was­ser.

Der Fluss war von fla­chen, san­di­gen Ufern be­grenzt. Man be­geg­ne­te Holz­flö­ßen, die durch die Wel­len des Kiel­was­sers ins Schwan­ken ge­rie­ten, oder ei­nem Boot ohne Se­gel, in dem ein Mann saß und fisch­te. Dann zer­teil­te sich der wei­chen­de Ne­bel, die Son­ne kam her­vor; die Hü­gel­ket­te, die sich am rech­ten Ufer der Sei­ne hin­zog, senk­te sich all­mäh­lich, und eine an­de­re tauch­te ganz nah am ge­gen­über­lie­gen­den Ufer auf.

Bäu­me krön­ten sie zwi­schen nied­ri­gen Häu­sern mit ita­lie­ni­schen Dä­chern. Da­vor wa­ren ab­schüs­si­ge Gär­ten, durch neue Mau­ern von­ein­an­der ge­trennt, mit Ei­sen­git­tern, Ra­sen­plät­zen, Treib­häu­sern und in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den Gera­ni­um­va­sen auf Ter­ras­sen, wo man sich aus­ru­hen konn­te. Beim An­blick die­ser ko­ket­ten, fried­li­chen Be­sit­zun­gen er­sehn­te mehr als ei­ner, ihr Ei­gen­tü­mer zu sein und dort mit ei­nem gu­ten Bil­lard, ei­nem Boot, ei­ner Frau oder sonst ei­nem Traum bis ans Ende sei­ner Tage zu le­ben. Das völ­lig neue Ver­gnü­gen ei­ner Was­ser­fahrt brach­te die Leu­te ein­an­der nä­her. Die Spaß­ma­cher be­gan­nen schon mit ih­ren Pos­sen. Vie­le san­gen; alle wa­ren hei­ter. Man trank sich ge­gen­sei­tig zu.

Frédéric dach­te an das Zim­mer, das er zu Haus be­woh­nen wür­de, an den Ent­wurf ei­nes Dra­mas, an Su­jets für Ge­mäl­de, an künf­ti­ge Lieb­ha­be­rei­en. Er fand, dass ein durch die Vor­treff­lich­keit sei­nes Her­zens wohl ver­dien­tes Glück all­zu lan­ge auf sich war­ten ließ. Er sprach Ver­se vor sich hin; er ging mit schnel­len Schrit­ten über das Deck, kam bis ans Ende ne­ben die Glo­cke; – und in ei­nem Krei­se von Ma­tro­sen und Pas­sa­gie­ren sah er einen Herrn, der mit ei­ner Bäue­rin schön tat, wo­bei er das gol­de­ne Kreuz auf ih­rer Brust be­rühr­te. Es war ein le­bens­fro­her Mensch von etwa vier­zig Jah­ren mit krau­sem Haar. Sei­ne kräf­ti­ge Ge­stalt steck­te in ei­ner schwar­zen Samt­ja­cke, in sei­nem Ba­tisthemd leuch­te­ten zwei Sma­rag­de, und die lan­gen wei­ßen Bein­klei­der fie­len auf son­der­ba­re rote Stie­fel aus Juch­ten­le­der mit blau­en Mus­tern her­ab.

Die An­we­sen­heit Frédérics stör­te ihn nicht. Er zwin­ker­te ihm mehr­mals zu; dann bot er al­len Um­ste­hen­den Zi­gar­ren an. Al­lein of­fen­bar lang­weil­te ihn die­se Ge­sell­schaft und er ent­fern­te sich. Frédéric folg­te ihm.

Die Un­ter­hal­tung dreh­te sich an­fangs um ei­ni­ge Ta­bak­sor­ten, dann na­tür­lich um die Frau­en. Der Herr in den ro­ten Stie­feln gab dem jun­gen Mann gute Ratschlä­ge; er ent­wi­ckel­te Theo­ri­en, er­zähl­te An­ek­do­ten, stell­te sich selbst als Bei­spiel auf und trug das al­les in ei­nem vä­ter­li­chen Tone, mit der Nai­vi­tät ei­ner er­götz­li­chen Ver­derbt­heit vor.

Er war Re­pu­bli­ka­ner, war viel ge­reist, kann­te die Thea­ter, die Re­stau­rants, die Jour­na­le, alle be­rühm­ten Künst­ler, die er ver­trau­lich bei ih­ren Vor­na­men nann­te; Frédéric ver­trau­te ihm bald sei­ne Plä­ne an und wur­de von ihm er­mu­tigt. Al­lein bald hielt er inne, be­ob­ach­te­te den Schorn­stein, stell­te mur­melnd eine lan­ge Be­rech­nung auf, »wie viel je­der Kol­ben­stoß bei so und so vie­len in der Mi­nu­te kos­te­te und so wei­ter.« – Und als er die Sum­me ge­fun­den hat­te, be­wun­der­te er eif­rig die Land­schaft, schätz­te sich glück­lich, den Ge­schäf­ten ent­ron­nen zu sein.

Frédéric emp­fand einen ge­wis­sen Re­spekt vor ihm und konn­te dem Wunsch nicht wi­der­ste­hen, sei­nen Na­men zu er­fah­ren. Der Un­be­kann­te er­wi­der­te in ei­nem Atem­zu­ge:

»Jac­ques Ar­noux, In­ha­ber der Kunst­hand­lung Bou­le­vard Mont­mar­tre.«

Ein Die­ner mit gold­be­treß­ter Müt­ze kam, ihn zu fra­gen:

»Ob der Herr her­un­ter­kom­men möch­te, das klei­ne Fräu­lein wei­ne.«

Er ver­schwand.

Die Kunst­hand­lung war ein Eta­blis­se­ment, das die Aus­ga­be ei­ner Kunst­zeit­schrift mit dem Ver­kauf von Ge­mäl­den ver­band. Frédéric hat­te den Ti­tel öf­ter in Buch­händ­leraus­la­gen sei­ner Hei­mat auf un­ge­heu­ren Pro­spek­ten ge­se­hen, wo der Name Jac­ques Ar­noux sich prot­zig breit mach­te.

Die Son­ne warf jetzt senk­rech­te Strah­len, un­ter de­nen das Ei­sen an den Mas­ten, die Plat­ten der Schiffs­ver­schan­zung und die Ober­flä­che des Was­sers hell auf­leuch­te­ten; am Bug des Schif­fes teil­te es sich in zwei tie­fe Fur­chen, die sich bis zum Ran­de der Wie­sen hin­zo­gen. Bei je­der Bie­gung des Flus­ses er­blick­te man im­mer wie­der die­sel­be Wand blei­cher Pap­peln. Die Ge­gend war völ­lig öde. Am Him­mel stan­den klei­ne wei­ße Wol­ken, – und die Lan­ge­wei­le, die sich ver­brei­te­te, schi­en die Fahrt des Schif­fes zu ver­lang­sa­men und das Aus­se­hen der Rei­sen­den noch un­be­deu­ten­der zu ma­chen.

Au­ßer ei­ni­gen Bür­gers­leu­ten wa­ren es meist Ar­bei­ter und klei­ne Kauf­leu­te mit ih­ren Frau­en und Kin­dern. Da man sich da­mals auf Rei­sen schlecht zu klei­den pfleg­te, tru­gen fast alle alte Frei­heits­müt­zen oder ver­schos­se­ne Hüte, schä­bi­ge, schwar­ze, im Büro ab­ge­nutz­te An­zü­ge oder längst aus­ge­dien­te Über­rö­cke mit durch­ge­scheu­er­ten Knöp­fen; hier und da sah man un­ter ei­ner Tuch­wes­te ein baum­wol­le­nes Hemd mit Kaf­fee­fle­cken. Unech­te Gold­na­deln steck­ten in zer­fetz­ten Kra­vat­ten, das Schuh­zeug wur­de nur noch von den Ho­sen­ste­gen zu­sam­men­ge­hal­ten; zwei oder drei Strol­che, die Bam­bus­stö­cke mit Le­der­schlin­gen tru­gen, war­fen ver­däch­ti­ge Bli­cke um­her, und Fa­mi­li­en­vä­ter ris­sen die Au­gen auf, wenn sie Fra­gen stell­ten. Sie plau­der­ten oder hock­ten auf ih­rem Ge­päck, ei­ni­ge schlie­fen in den Ecken, meh­re­re im Ste­hen. Das Deck war schmut­zig von Bir­nen- und Nuss­scha­len, Zi­gar­ren­stum­meln, Über­res­ten der in Pa­pier mit­ge­brach­ten Fleisch­wa­ren; drei Kunst­tisch­ler in Blu­sen hat­ten sich vor der Kan­ti­ne nie­der­ge­las­sen, ein zer­lump­ter Har­fen­spie­ler ruh­te, auf sein In­stru­ment ge­stützt. In Zwi­schen­räu­men ver­nahm man das Ge­rat­ter der Stein­koh­len in der Ma­schi­ne, Lärm von Stim­men, ein La­chen; – und der Ka­pi­tän wan­der­te auf der Brücke un­auf­hör­lich von ei­ner Luke zur an­de­ren. Frédéric stieß das Git­ter zur ers­ten Klas­se auf, um an sei­nen Platz zu ge­lan­gen und be­läs­tig­te da­bei zwei Jä­ger mit ih­ren Hun­den.

Es war wie eine Er­schei­nung:

Sie saß mit­ten auf ei­ner Bank, ganz al­lein; oder we­nigs­tens konn­te er, von dem An­blick ge­blen­det, nie­mand wei­ter un­ter­schei­den. In dem Au­gen­blick, als er vor­über­ging, hob sie den Kopf; un­will­kür­lich ver­beug­te er sich; und nach­dem er sich in ei­ni­ger Ent­fer­nung an der­sel­ben Sei­te nie­der­ge­las­sen hat­te, be­trach­te­te er sie.

Sie trug einen großen Stroh­hut mit rosa Bän­dern, die hin­ter ihr im Win­de flat­ter­ten. Schwar­ze Schei­tel, die ihr Ge­sicht bis zu den Spit­zen der lan­gen Brau­en ein­rahm­ten und sehr tief her­ab­fie­len, schie­nen sich zärt­lich dem Oval ih­res Ant­lit­zes an­zu­schmie­gen. Ihr hel­les, mit klei­nen Tup­fen ge­mus­ter­tes Mus­se­lin­kleid bausch­te sich in zahl­rei­chen Fal­ten. Sie war mit ei­ner Sti­cke­rei be­schäf­tigt, und ihre ge­ra­de Nase, ihr Kinn, ihre gan­ze Ge­stalt zeich­ne­te sich scharf von der blau­en Luft ab.

Da sie in der­sel­ben Stel­lung ver­harr­te, ging er mehr­mals links und rechts vor­über, um sei­ne Ab­sich­ten zu ver­ber­gen, stell­te sich dar­auf dicht ne­ben ih­ren Son­nen­schirm, der an der Bank lehn­te, und gab sich den An­schein, als be­ob­ach­te­te er eine Scha­lup­pe auf dem Fluss.

Noch nie­mals hat­te er eine so herr­lich brau­ne Haut­far­be ge­se­hen, eine so ver­füh­re­ri­sche Ge­stalt wie die ihre, noch nie eine sol­che Zart­heit der Fin­ger, durch die das Licht hin­durch­schim­mer­te. Mit Stau­nen, wie et­was Wun­der­ba­res, be­trach­te­te er ih­ren Ar­beits­korb. Wie war ihr Name, ihr Wohn­ort, ihr Le­ben, ihre Ver­gan­gen­heit? Er hat­te das Ver­lan­gen, die Mö­bel ih­res Zim­mers zu ken­nen, alle Klei­der, die sie ge­tra­gen, die Leu­te, mit de­nen sie um­ging; und selbst der Wunsch nach ih­rem kör­per­li­chen Be­sitz wich ei­nem viel tiefe­ren Be­geh­ren, ei­ner schmerz­li­chen Neu­gier, die kei­ne Gren­zen kann­te.

Eine Ne­ge­rin in ei­nem sei­de­nen Kopf­tuch er­schi­en mit ei­nem klei­nen Mäd­chen an der Hand. Das Kind, aus des­sen Au­gen Trä­nen roll­ten, war eben er­wacht. Sie nahm es auf den Schoß. »Ein Fräu­lein von bald sie­ben Jah­ren und gar nicht ar­tig; Mut­ter kann es nicht mehr lieb ha­ben, die Lau­nen wer­den ihm zu oft ver­zie­hen.« Und Frédéric be­rei­te­te das An­hö­ren die­ser Din­ge eine Freu­de, als hät­te er eine Ent­de­ckung ge­macht, ein Ge­schenk er­hal­ten.

Er ver­mu­te­te, dass sie von an­da­lu­si­scher Ab­kunft, viel­leicht Kreo­lin war; ob sie die­se Ne­ge­rin von den In­seln mit­ge­bracht hat­te?

Ein lan­ger Schal mit vio­let­ten Strei­fen lag hin­ter ih­rem Rücken auf der Kup­fer­plan­ke. Sie moch­te sich wohl oft­mals auf ho­her See, an feuch­ten Aben­den dar­in ein­gehüllt, die Füße da­mit be­deckt, dar­un­ter ge­schla­fen ha­ben! Aber von den Fran­sen her­un­ter­ge­zo­gen, glitt er all­mäh­lich her­ab, droh­te ins Was­ser zu fal­len. Mit ei­nem Satz fing Frédéric ihn auf.

»Ich dan­ke Ih­nen, mein Herr,« sag­te sie.

Ihre Bli­cke be­geg­ne­ten sich.

»Frau, bist du fer­tig?« rief Ar­noux, der un­ter dem Dach der Trep­pe er­schi­en.

Die klei­ne Mar­the lief ihm ent­ge­gen, um­klam­mer­te sei­nen Hals und zer­zaus­te ihn am Bart. Die Töne ei­ner Har­fe er­klan­gen, sie woll­te die Mu­si­kan­ten se­hen, und bald be­trat der Spie­ler, von der Ne­ge­rin ge­führt, das Deck der ers­ten Klas­se. Ar­noux er­kann­te ein al­tes Mo­dell in ihm; er duz­te ihn zur Ver­wun­de­rung der Um­ste­hen­den. End­lich warf der Har­fen­spie­ler sein lan­ges Haar über die Schul­ter zu­rück, brei­te­te die Arme aus und be­gann zu spie­len.

Es war eine ori­en­ta­li­sche Ro­man­ze, in der von Dol­chen, Blu­men und Ster­nen die Rede war. Der Mann in Lum­pen sang sie mit schril­ler Stim­me; die Stö­ße der Ma­schi­ne un­ter­bra­chen die Me­lo­die in falschem Takt, er spiel­te lau­ter: die Sai­ten schwirr­ten, und ihre me­tal­li­schen Töne klan­gen wie ein Schluch­zen, wie eine Kla­ge stol­zer, be­sieg­ter Lie­be. Von den bei­den Flus­sufern neig­ten sich die Wäl­der bis zum Ran­de des Was­sers; ein fri­scher Luft­zug strich vor­über; Ma­da­me Ar­noux blick­te un­ge­wiss ins Wei­te. Als die Mu­sik ver­stumm­te, hob sie zö­gernd die Li­der, als er­wa­che sie aus ei­nem Traum. De­mü­tig nä­her­te sich der Har­fen­spie­ler. Wäh­rend Ar­noux Geld her­aus­such­te, streck­te Frédéric die ge­schlos­se­ne Hand aus, öff­ne­te sie ver­schämt und leg­te einen Louis­d’or in die Müt­ze. Nicht Ei­tel­keit trieb ihn dazu, vor ihr die­ses Al­mo­sen zu ge­ben, son­dern das Ver­lan­gen, Wohl­ta­ten zu spen­den, mit ei­ner fast re­li­gi­ösen Her­zens­re­gung ver­bun­den.

Ar­noux for­der­te ihn freund­lich auf, mit hin­un­ter­zu­ge­hen, in­dem er ihm den Weg zeig­te. Frédéric ver­si­cher­te, er kom­me eben vom Früh­stück, da­bei ver­ging er vor Hun­ger; und er hat­te kei­nen Pfen­nig mehr in der Bör­se.

Dann sag­te er sich, dass er wie je­der­mann das recht hat­te, sich im Sa­lon auf­zu­hal­ten.

Es wur­de an run­den Ti­schen ge­speist, ein Kell­ner ging hin und her; Mon­sieur und Ma­da­me Ar­noux sa­ßen rechts im Hin­ter­grund; er setz­te sich auf die lan­ge Samt­pols­ter­bank, nach­dem er eine Zei­tung auf­ge­nom­men hat­te, die dort lag.

Sie woll­ten in Mon­te­reau die Post nach Châlons neh­men. Ihre Rei­se in die Schweiz soll­te einen Mo­nat wäh­ren. Ma­da­me Ar­noux mach­te ih­rem Gat­ten Vor­wür­fe über sei­ne Schwä­che ge­gen das Kind. Er flüs­ter­te ihr et­was ins Ohr, eine Lie­bens­wür­dig­keit of­fen­bar, denn sie lä­chel­te. Da­rauf be­müh­te er sich, den Fens­ter­vor­hang hin­ter ihr zu schlie­ßen.

Die nied­ri­ge, ganz wei­ße De­cke warf das Licht grell zu­rück. Frédéric konn­te von ge­gen­über den Schat­ten ih­rer Wim­pern un­ter­schei­den. Sie nipp­te an ih­rem Gla­se und zer­krü­mel­te Brot­krus­te zwi­schen den Fin­gern; zu­wei­len schlug das Me­dail­lon von La­pis­la­zu­li,1 das mit ei­ner Gold­ket­te an ih­rem Hand­ge­lenk be­fes­tigt war, ge­gen ih­ren Tel­ler. Die an­de­ren alle schie­nen sie gar nicht zu be­mer­ken.

Zu­wei­len sah man durch die Fens­ter­lu­ken eine Bar­ke vor­über­glei­ten, die das Schiff an­lief, um Rei­sen­de auf­zu­neh­men oder ab­zu­set­zen. Die Leu­te an den Ti­schen neig­ten sich aus den Öff­nun­gen und nann­ten die Na­men der Ort­schaf­ten am Fluss.

Ar­noux be­klag­te sich über die Kü­che; er be­schwer­te sich laut über die Rech­nung und ließ sie kür­zen. Dann führ­te er den jun­gen Mann vorn auf das Schiff, um dort Grog zu trin­ken. Aber Frédéric kehr­te bald un­ter das Zelt zu­rück, wo Ma­da­me Ar­noux sich nie­der­ge­las­sen hat­te. Sie las in ei­nem win­zi­gen Bänd­chen in grau­em Ein­band. Ihre bei­den Mund­win­kel zo­gen sich mit­un­ter em­por, und ein Strahl von Hei­ter­keit er­hell­te ihre Stirn. Er war ei­fer­süch­tig auf den­je­ni­gen, der die Din­ge er­dacht hat­te, mit de­nen sie be­schäf­tigt schi­en. Je län­ger er sie be­trach­te­te, de­sto mehr emp­fand er, wie die Kluft zwi­schen ihm und ihr sich ver­tief­te. Er dach­te dar­an, dass er sie bald ver­las­sen muss­te, un­wi­der­ruf­lich, ohne ihr ein Wort ent­lockt zu ha­ben, selbst ohne ihr eine Erin­ne­rung zu las­sen!

Zur Rech­ten dehn­te sich eine Ebe­ne, links stie­gen Wei­de­plät­ze die Hü­gel hin­an, auf de­nen man Wein­ge­län­de, Nuss­bäu­me, eine Müh­le im Grü­nen be­merk­te, und von dort aus klei­ne Pfa­de, die im Zick­zack über den wei­ßen Fel­sen führ­ten, der zum Him­mels­rand em­por­rag­te. Welch ein Glück muss­te es sein, Sei­te an Sei­te mit ihr, den Arm um sie ge­schlun­gen, dort hin­auf­zu­stei­gen und, wäh­rend ihr Kleid über die ver­gilb­ten Blät­ter feg­te, un­ter dem Leuch­ten ih­rer Au­gen ih­rer Stim­me zu lau­schen! Das Boot konn­te an­hal­ten, sie brauch­ten nur aus­zu­stei­gen; und den­noch war die­se ein­fa­che Sa­che nicht leich­ter, als die Son­ne zu be­we­gen!

Et­was wei­ter­hin ent­deck­te man ein Schloss mit spit­zem Dach und ecki­gen Tür­men. Ein Blu­men­gar­ten dehn­te sich vor der Fassa­de; und un­ter den ho­hen Lin­den ver­tief­ten die Al­leen sich wie dunkle Ge­wöl­be. Er dach­te sie sich an der Weiß­bu­chen­he­cke vor­über­ge­hend. In die­sem Au­gen­blick sah man eine jun­ge Dame und einen jun­gen Mann auf dem Al­tan2 zwi­schen den Oran­ge­kü­beln. Dann ver­schwand al­les.

Das klei­ne Mäd­chen spiel­te ne­ben ihm. Frédéric woll­te es küs­sen. Es ver­barg sich hin­ter sei­ner Wär­te­rin; und die Mut­ter schalt, dass es un­freund­lich ge­gen den Herrn sei, der ih­ren Schal ge­ret­tet habe. War das eine in­di­rek­te Ein­lei­tung?

»Wird sie mich end­lich an­spre­chen?« frag­te er sich.

Die Zeit dräng­te. Wie war eine Ein­la­dung zu Ar­noux zu er­lan­gen? Ihm fiel nichts Bes­se­res ein, als ihn auf die Far­be des Herbs­tes auf­merk­sam zu ma­chen und hin­zu­zu­fü­gen:

»Bald kommt der Win­ter, die Zeit der Bäl­le und Di­ners!«

Ar­noux je­doch war vollauf mit sei­nem Ge­päck be­schäf­tigt. Die Küs­te von Sur­ville wur­de sicht­bar, die bei­den Brücken nä­her­ten sich, sie ka­men an ei­ner Sei­le­rei vor­über, dar­auf an ei­ner Rei­he nied­ri­ger Häu­ser; wei­ter un­ten sah man Teer­kes­sel, Holz­späh­ne und Gas­sen­bu­ben, die im San­de Rad schlu­gen. Frédéric er­kann­te einen Mann in ei­nem Wams und rief ihm zu:

»Be­ei­le dich!«

Sie lan­de­ten. Mit Mühe fand er Ar­noux in der Men­ge der Pas­sa­gie­re, und die­ser er­wi­der­te, ihm die Hand schüt­telnd:

»Viel Ver­gnü­gen, mein Lie­ber!«

Auf dem Quai an­ge­langt, dreh­te Frédéric sich um. Sie stand dicht am Steu­er­rad. Er sand­te ihr einen Blick, in den er sei­ne gan­ze See­le zu le­gen ver­such­te; sie blieb un­be­weg­lich, als wäre nichts ge­sche­hen. Dann rief er, ohne den Gruß sei­nes Die­ners zu be­ach­ten:

»Wa­rum hast du den Wa­gen nicht bis hier­her ge­bracht?«

Der Mann ent­schul­dig­te sich.

»Wel­che Un­ge­schick­lich­keit! Gib mir et­was Geld!«

Und er ging in ein Gast­haus, um zu es­sen. Eine Vier­tel­stun­de dar­auf ver­spür­te er Lust, wie zu­fäl­lig in den Post­hof ein­zu­tre­ten. Ob er sie noch se­hen wür­de?

»Doch wozu?« sag­te er sich.

Und der Wa­gen fuhr mit ihm da­von. Die bei­den Pfer­de ge­hör­ten nicht sei­ner Mut­ter. Sie hat­te sie von Mon­sieur Cham­bri­on, dem Steuer­ein­neh­mer, ge­lie­hen, um sie dem eig­nen Wa­gen vor­zu­span­nen. Isi­do­re, der tags zu­vor auf­ge­bro­chen war, hat­te bis zum Abend in Bray ge­ras­tet und in Mon­te­reau über­nach­tet, so­dass die er­frisch­ten Tie­re flink da­hin­trab­ten.

Ab­ge­mäh­te Fel­der zo­gen sich end­los hin. Zwei Rei­hen Bäu­me säum­ten den Weg ein, wo Kie­sel­stein­hau­fen sich an­ein­an­der reih­ten; und nach und nach kam er an Vil­le­neu­ve-Saint-Ge­or­ges, Ablon, Châtil­lon, Cor­beil und den üb­ri­gen Ort­schaf­ten vor­über. Sei­ne gan­ze Rei­se kam ihm so deut­lich wie­der in Erin­ne­rung, dass er jetzt ganz neue De­tails und in­ti­me­re Ein­zel­hei­ten ent­deck­te. Un­ter dem letz­ten Vo­lant ih­res Klei­des lug­te ihr Fuß in win­zi­gen, kas­ta­ni­en­brau­nen Sei­dens­tie­fel­chen her­vor; das Se­gel­tuch­zelt bil­de­te einen Bal­da­chin über ih­rem Kopf, und die klei­nen ro­ten Quas­ten der Bor­dü­re zit­ter­ten un­auf­hör­lich im Win­de.

Sie glich den Frau­en aus ro­man­ti­schen Bü­chern. Er hät­te ih­rer Per­son nichts zu­fü­gen, nichts von ihr fort­las­sen mö­gen. Das Wel­tall hat­te sich plötz­lich er­wei­tert. Sie war der Glanz­punkt, in dem alle Din­ge zu­sam­men­flos­sen; – und von dem Schwan­ken des Wa­gens ein­ge­wiegt, die Li­der halb ge­schlos­sen, den Blick in den Wol­ken, über­ließ er sich ei­ner träu­me­ri­schen, schran­ken­lo­sen Freu­de.

In Bray war­te­te er nicht, bis die Pfer­de Ha­fer be­kom­men hat­ten, er ging vor­aus, die Land­stra­ße hin­auf, ganz al­lein. Ar­noux hat­te sie »Ma­rie!« ge­nannt. Er rief ganz laut »Ma­rie!« Sei­ne Stim­me ver­hall­te in der Luft.

Tie­fe Pur­pur­far­be flamm­te am west­li­chen Him­mel auf. Hohe Korn­scho­ber, die sich mit­ten in den Stop­pel­fel­dern er­ho­ben, war­fen rie­sen­haf­te Schat­ten. Fern­ab in ei­nem Hof fing ein Hund an zu bel­len. Von ei­ner grund­lo­sen Un­ru­he er­fasst, er­schau­er­te er.

Als Isi­do­re ihn ein­ge­holt hat­te, setz­te er sich auf den Bock, um zu kut­schie­ren. Sei­ne Schwä­che war vor­über. Er war fest ent­schlos­sen, sich auf ir­gend­ei­ne Art bei Ar­noux ein­zu­füh­ren, in Ver­kehr mit ih­nen zu kom­men. Sie führ­ten wohl ein an­ge­neh­mes Haus, ihm ge­fiel Ar­noux; und dann, wer konn­te wis­sen? Eine Blut­wel­le stieg ihm ins Ge­sicht: sei­ne Schlä­fen häm­mer­ten, er ließ die Peit­sche knal­len, riss an den Zü­geln und trieb die Pfer­de zu ei­ner sol­chen Gan­gart an, dass der alte Kut­scher wie­der­holt aus­rief:

»Lang­sam! aber lang­sam! Sie kom­men au­ßer Atem!«

All­mäh­lich be­ru­hig­te sich Frédéric und hör­te dem Plau­dern des Die­ners zu.

Man er­war­te­te den jun­gen Herrn mit großer Un­ge­duld. Ma­de­moi­sel­le Loui­se hat­te ge­weint, weil sie nicht mit­fah­ren durf­te.

»Wer ist Ma­de­moi­sel­le Loui­se?«

»Die Klei­ne von Mon­sieur Ro­que, Sie wis­sen doch?«

»Ah! Ich ver­gaß!« er­wi­der­te Frédéric nach­läs­sig.

Al­lein die Pfer­de konn­ten nicht wei­ter. Sie hin­k­ten alle bei­de, und es schlug neun Uhr von Saint-Lau­rent, als sie auf der Place d’Ar­mes vor dem Hau­se sei­ner Mut­ter an­lang­ten.

Die­ses ge­räu­mi­ge Haus mit dem nach der Land­sei­te ge­le­ge­nen Gar­ten er­höh­te noch das An­se­hen von Ma­da­me Mo­reau, die die ge­ach­tets­te Per­sön­lich­keit in der Ge­gend war.

Sie ent­stamm­te ei­ner al­ten, jetzt er­lo­sche­nen Adels­fa­mi­lie. Ihr Mann, ein Bür­ger­li­cher, mit dem ihre El­tern sie ver­hei­ra­tet hat­ten, war in­fol­ge ei­nes De­gen­sto­ßes wäh­rend ih­rer Schwan­ger­schaft ge­stor­ben und hat­te sie in un­si­che­ren Ver­mö­gens­ver­hält­nis­sen zu­rück­ge­las­sen. Drei­mal wö­chent­lich emp­fing sie Gäs­te und gab von Zeit zu Zeit ein gu­tes Di­ner. Doch die Zahl der Ker­zen wur­de vor­her be­rech­net, und sie er­war­te­te mit Un­ge­duld ih­ren Pacht­zins. Die­se Geld­ver­le­gen­hei­ten, die sie wie ein Las­ter ver­heim­lich­te, mach­ten sie ernst. In­des­sen übte sie Wohl­tä­tig­keit ohne jede Bit­ter­keit. Ihre ge­rings­ten Al­mo­sen wa­ren wie große Spen­den. Man zog sie bei der Wahl der Dienst­bo­ten zu Rate, bei der Er­zie­hung der jun­gen Mäd­chen, der Kunst des Ein­ma­chens, und Hoch­wür­den stieg auf sei­nen bi­schöf­li­chen Rei­sen bei ihr ab.

Ma­da­me Mo­reau heg­te großen Ehr­geiz für ih­ren Sohn. In ei­ner Art vor­aus­se­hen­der Klug­heit lieb­te sie es nicht, die Re­gie­rung ta­deln zu hö­ren. An­fangs wür­de er Pro­tek­ti­on brau­chen; dann aber dank sei­ner Fä­hig­kei­ten Staats­rat, Bot­schaf­ter, Mi­nis­ter wer­den. Sei­ne Er­fol­ge auf dem Gym­na­si­um recht­fer­tig­ten die­sen Stolz; er hat­te den Ehren­preis da­von­ge­tra­gen.

Als er in den Sa­lon trat, er­ho­ben sich alle sehr ge­räusch­voll; sie um­arm­ten ihn, und dann bil­de­te sich mit Ses­seln und Stüh­len ein großer Kreis um den Ka­min. Mon­sieur Gam­b­lin frag­te ihn so­fort um sei­ne Mei­nung über Ma­da­me La­far­ge. Die­ser Pro­zess, die Sen­sa­ti­on der da­ma­li­gen Zeit, ver­fehl­te nicht, eine hef­ti­ge Dis­kus­si­on her­bei­zu­füh­ren. Ma­da­me Mo­reau un­ter­brach sie je­doch zum Be­dau­ern von Mon­sieur Gam­b­lin; er hielt sie für den jun­gen Mann in sei­ner Ei­gen­schaft als zu­künf­ti­gen Ju­ris­ten sehr nütz­lich und ver­ließ ge­kränkt den Sa­lon.

Von ei­nem Freun­de des Va­ter Ro­que konn­te nichts über­ra­schen! Von die­sem üb­ri­gens kam die Rede auf Mon­sieur Dam­breu­se, der so­eben die Do­mai­ne de la For­tel­le er­wor­ben hat­te. Aber der Steuer­ein­neh­mer hat­te Frédéric bei­sei­te ge­zo­gen, um zu hö­ren, was er von Mon­sieur Gui­zets letz­tem Werk hal­te. Alle wünsch­ten Ein­blick in sei­ne An­ge­le­gen­hei­ten; Ma­da­me Be­noit wand­te sich di­rekt an ihn und er­kun­dig­te sich nach sei­nem Oheim.3 Wie ging es die­sem gu­ten Ver­wand­ten? Er ließ nichts mehr von sich hö­ren. Hat­te er nicht einen jun­gen Nef­fen in Ame­ri­ka?

Die Kö­chin mel­de­te, dass das Es­sen für den jun­gen Herrn auf­ge­tra­gen sei. Rück­sichts­voll ent­fern­ten sich alle. Als sie al­lein wa­ren, frag­te die Mut­ter mit lei­ser Stim­me:

»Nun?«

Der alte Mann hat­te ihn sehr herz­lich emp­fan­gen, aber ohne ihm sei­ne Ab­sich­ten zu of­fen­ba­ren.

Ma­da­me Mo­reau seufz­te.

»Wo mag sie jetzt sein?« träum­te er.

Der Post­wa­gen roll­te wei­ter, und in ih­ren Schal gehüllt, lehn­te sie wohl schlum­mernd ih­ren schö­nen Kopf ge­gen das Wa­gen­pols­ter.

Als sie in ihr Zim­mer hin­auf­gin­gen, brach­te ein Bur­sche aus dem Cy­g­ne de la Croix ein Bil­let.

»Von wem ist das?«

»Des­lau­ri­ers wünscht mich zu spre­chen,« sag­te er.

»Ah, dein Ka­me­rad!« sag­te Ma­da­me Mo­reau mit ver­ächt­li­chem Lä­cheln. »Die Stun­de ist gut ge­wählt, wahr­lich!«

Frédéric zö­ger­te. Aber die Freund­schaft war stär­ker. Er nahm sei­nen Hut.

»Blei­be we­nigs­tens nicht lan­ge!« sag­te die Mut­ter.


  1. na­tür­lich vor­kom­men­des, tief­blau­es Ge­stein; oft als Schmuck­stein ver­wen­det  <<<

  2. ab­ge­stütz­ter Austritt an ei­nem Ge­bäu­de  <<<

  3. On­kel  <<<

2.

Charles Des­lau­rier­s’ Va­ter, ein al­ter, 1818 ab­ge­dank­ter Haupt­mann der Li­nie, war nach No­gent zu­rück­ge­kom­men, um sich zu ver­hei­ra­ten, und hat­te die Mit­gift dazu be­nutzt, das Amt ei­nes Ge­richts­voll­zie­hers zu er­wer­ben, das kaum für sei­nen Le­bens­un­ter­halt ge­nüg­te. Ver­bit­tert durch lan­ge Un­ge­rech­tig­kei­ten, an sei­nen al­ten Wun­den lei­dend und in Trau­er um den Kai­ser, ließ er sei­nen Zorn, an dem er zu er­sti­cken droh­te, an sei­ner Um­ge­bung aus. We­ni­ge Kin­der wur­den mehr ge­prü­gelt als sein Sohn. Der Jun­ge füg­te sich nicht, trotz der Schlä­ge. Sei­ne Mut­ter wur­de, wenn sie ver­such­te, sich ein­zu­mi­schen, an­ge­fah­ren wie er. Schließ­lich steck­te er ihn in sei­ne Schreib­stu­be und ließ ihn den lie­ben lan­gen Tag, über das Pult ge­beugt, Ak­ten ab­schrei­ben, wo­durch sei­ne rech­te Schul­ter sicht­lich stär­ker her­vor­trat als die lin­ke.

Im Jah­re 1833 gab der Haupt­mann, der Auf­for­de­rung des Prä­si­den­ten fol­gend, sein Amt auf. Sei­ne Frau war am Krebs ge­stor­ben. Er sie­del­te nach Di­jon über. Dann ließ er sich als See­len­ver­käu­fer in Troy­es nie­der, und nach­dem er für Charles eine hal­be Frei­stel­le er­hal­ten hat­te, brach­te er ihn auf das Gym­na­si­um zu Sens, wo Frédéric ihn ken­nen lern­te. Aber der eine war zwölf Jah­re alt, der an­de­re fünf­zehn; über­dies trenn­ten sie tau­send Ver­schie­den­hei­ten des Cha­rak­ters und der Her­kunft.

Frédéric be­saß in sei­ner Kom­mo­de al­ler­lei Schät­ze, zum Bei­spiel ein Toi­let­ten-Ne­ces­saire. Er lieb­te es, mor­gens lan­ge zu schla­fen, die Schwal­ben zu be­ob­ach­ten, Thea­ter­stücke zu le­sen, und ohne die An­nehm­lich­kei­ten des El­tern­hau­ses fand er das Schul­le­ben hart.

Der Sohn des Be­am­ten fand es schön. Er lern­te so gut, dass er be­reits am Ende des zwei­ten Jah­res in die drit­te Klas­se kam. Doch sei­ner Ar­mut oder sei­ner Streit­sucht we­gen wa­ren alle feind­lich ge­gen ihn ge­sinnt. Als ihn aber ein Die­ner ein­mal auf of­fe­nem Schul­hof einen Bet­tel­jun­gen nann­te, sprang er ihm an die Keh­le und hät­te ihn ge­tö­tet, wenn nicht drei Leh­rer da­zu­ge­kom­men wä­ren. Von Be­wun­de­rung hin­ge­ris­sen, schloss Frédéric ihn in die Arme. Von die­sem Tage an war die Ver­traut­heit voll­kom­men. Die Zu­nei­gung ei­nes Gro­ßen schmei­chel­te dem Klei­nen of­fen­bar, und der an­de­re nahm die ihm dar­ge­bo­te­ne Freund­schaft wie ein Glück an.

Sein Va­ter ließ ihn wäh­rend der Fe­ri­en in der Schu­le. Eine zu­fäl­lig of­fen da­lie­gen­de Über­set­zung des Pla­to be­geis­ter­te ihn. Er ver­tief­te sich in me­ta­phy­si­sche Stu­di­en und mach­te schnel­le Fort­schrit­te, denn er wid­me­te sich ih­nen mit dem En­thu­si­as­mus der Ju­gend und ei­nem Ver­ständ­nis, das ihn stolz mach­te; Jouf­froy, Cou­sin, Laro­mi­guiè­re, Ma­le­bran­che, die Schot­ten, al­les, was die Biblio­thek ent­hielt, kam her­an. Er hat­te den Schlüs­sel steh­len müs­sen, um sich die Bü­cher zu ver­schaf­fen.

Frédérics Zer­streu­un­gen wa­ren nicht so erns­ter Art. Er zeich­ne­te die Stamm­ta­fel Chris­ti, die an ei­nem Pfos­ten in der Rue Trois-Rois in Holz ge­schnitzt war, und dar­auf das Por­tal der Ka­the­dra­le. Von den Dra­men des Mit­tel­al­ters ging er zu den Me­moi­ren über: Froiss­art, Co­mi­nes, Pier­re d’E­stoi­le, Brantô­me.

Die Bil­der, die sich sei­nem Geist durch die­se Lek­tü­re auf­dräng­ten, be­schäf­tig­ten ihn so stark, dass er das Be­dürf­nis emp­fand, sie wie­der­zu­ge­ben. Er streb­te da­nach, einst der Wal­ter Scott Frank­reichs zu wer­den. Des­lau­ri­ers er­sann ein um­fas­sen­des Sys­tem der Phi­lo­so­phie, das die aus­ge­dehn­tes­te An­wen­dung fin­den soll­te.

Sie plau­der­ten von al­le­dem wäh­rend der Pau­sen auf dem Hof, an­ge­sichts der ge­mal­ten mo­ra­li­schen In­schrift un­ter der Uhr, flüs­ter­ten da­von in der Ka­pel­le des hei­li­gen Lud­wig mit dem Bart, und träum­ten da­von im Schlaf­raum. Auf den Spa­zier­gän­gen rich­te­ten sie es so ein, dass sie hin­ter den an­de­ren gin­gen und re­de­ten ohne Ende.

Sie spra­chen von dem, was sie spä­ter tun woll­ten, wenn sie das Gym­na­si­um ver­las­sen ha­ben wür­den. Für das ers­te nah­men sie sich vor, mit dem Gel­de, das Frédéric bei sei­ner Groß­jäh­rig­keit von sei­nem Ver­mö­gen er­hal­ten soll­te, eine große Rei­se zu ma­chen, dar­auf nach Pa­ris zu­rück­zu­keh­ren, zu­sam­men zu ar­bei­ten und sich nie­mals zu tren­nen; – und zur Er­ho­lung von ih­rer Ar­beit wür­den sie Lieb­schaf­ten mit Prin­zes­sin­nen in sei­de­nen Bou­doirs ha­ben oder glän­zen­de Or­gi­en mit be­rühm­ten Kur­ti­sa­nen fei­ern. Dem Un­ge­stüm ih­rer Hoff­nun­gen folg­ten Zwei­fel. Nach Kri­sen wort­rei­cher Fröh­lich­keit ver­fie­len sie in tie­fes Schwei­gen.

An Som­mer­aben­den, nach­dem sie lan­ge auf stei­ni­gen We­gen am Ran­de von Wein­gär­ten oder auf der Land­stra­ße mit­ten durchs freie Feld ge­gan­gen wa­ren, wenn das Korn in der Son­ne wog­te, wäh­rend himm­li­sche Düf­te die Luft durch­zo­gen, über­fiel sie eine Art Be­klem­mung, und sie streck­ten sich trun­ken, wie be­täubt, auf dem Rücken aus. Die an­de­ren turn­ten in Hem­d­är­meln am Bar­ren oder lie­ßen Dra­chen stei­gen. Der be­auf­sich­ti­gen­de Leh­rer rief sie her­an und sie kehr­ten zu­rück, an Gär­ten vor­über, durch die klei­ne Bä­che rie­sel­ten, dann die von al­ten Ge­mäu­ern be­schat­te­ten Bou­le­vards ent­lang; in den öden Stra­ßen hall­ten ihre Schrit­te wi­der; das Git­ter öff­ne­te sich, sie stie­gen die Trep­pe hin­auf und wa­ren nie­der­ge­drückt, wie nach großen Aus­schwei­fun­gen.

Der In­spek­tor be­haup­te­te, dass sie sich ge­gen­sei­tig ex­al­tier­ten. Doch wenn Frédéric in den obe­ren Klas­sen ar­bei­te­te, so ge­sch­ah es in­fol­ge der Er­mah­nun­gen sei­nes Freun­des; und in den Fe­ri­en 1837 nahm er ihn zu sei­ner Mut­ter mit.

Der jun­ge Mann miss­fiel Ma­da­me Mo­reau. Er aß au­ßer­ge­wöhn­lich viel, wei­ger­te sich, Sonn­tags dem Got­tes­dienst bei­zu­woh­nen, und hielt re­pu­bli­ka­ni­sche Re­den; end­lich glaub­te sie zu wis­sen, dass er ih­ren Sohn in ver­ru­fe­ne Häu­ser führ­te. Ihr Ver­kehr wur­de be­wacht. Sie lieb­ten sich in­fol­ge­des­sen umso mehr, und es war ein schmerz­li­cher Ab­schied, als Des­lau­ri­ers im fol­gen­den Jahr das Gym­na­si­um ver­ließ, um in Pa­ris die Rech­te zu stu­die­ren.

Frédéric rech­ne­te dar­auf, sich dort wie­der mit ihm zu ver­ei­ni­gen. Sie hat­ten sich seit zwei Jah­ren nicht ge­se­hen, und nach lan­ger Umar­mung gin­gen sie auf die Brücken, um un­ge­zwun­ge­ner plau­dern zu kön­nen.

Der Haupt­mann, jetzt In­ha­ber ei­nes Cafés in Vil­lenau­xe, war wü­tend ge­wor­den, als sein Sohn die Vor­mund­schafts­ab­rech­nung ver­lang­te, und hat­te ihm ein­fach jede Un­ter­stüt­zung ver­wei­gert. Aber da er sich spä­ter um eine Pro­fes­sur an der Hoch­schu­le be­wer­ben woll­te und kein Geld hat­te, nahm Des­lau­ri­ers die Stel­le ei­nes Ge­hil­fen bei ei­nem An­walt in Troy­es an. Durch Ein­schrän­kun­gen woll­te er vier­tau­send Fran­cs spa­ren, und wenn er das müt­ter­li­che Erb­teil nicht an­rühr­te, wür­de er im­mer et­was ha­ben, um drei Jah­re frei ar­bei­ten zu kön­nen, wäh­rend er auf eine An­stel­lung war­te­te. Sie muss­ten also ih­ren al­ten Plan, in der Haupt­stadt zu­sam­men zu le­ben, für jetzt we­nigs­tens, auf­ge­ben.

Frédéric senk­te den Kopf; das war der ers­te sei­ner Träu­me, der zu­sam­men­stürz­te.

»Trös­te dich,« sag­te der Sohn des Haupt­manns, »das Le­ben ist lang, und wir sind jung. Ich kom­me dir nach! Den­ke nicht mehr dar­an.«

Sie schüt­tel­ten sich die Hän­de, und um ihn ab­zu­len­ken, frag­te er ihn nach sei­ner Rei­se.

Frédéric hat­te nicht viel zu er­zäh­len. Aber bei der Erin­ne­rung an Ma­da­me Ar­noux schwand sein Kum­mer. Durch Scheu zu­rück­ge­hal­ten, sprach er nicht von ihr. Da­ge­gen brei­te­te er sich weit­läu­fig über Ar­noux aus, er­zähl­te von sei­nen Re­den, sei­nen Ma­nie­ren, sei­nen Ver­bin­dun­gen; und Des­lau­ri­ers riet ihm nach­drück­lich, die­se Be­kannt­schaft zu pfle­gen.

Frédéric hat­te in der letz­ten Zeit nichts ge­schrie­ben. Sei­ne li­te­ra­ri­schen An­sich­ten hat­ten sich ge­än­dert, er schwärm­te jetzt vor al­lem für die lei­den­schaft­li­chen Cha­rak­tere; Wer­ther, René, Franck, Lé­lia, Lara und an­de­re mit­tel­mä­ßi­ge­re be­geis­ter­ten ihn fast in glei­cher Wei­se. Zu­wei­len schi­en ihm die Mu­sik al­lein im stan­de, sei­nen in­ne­ren Aufruhr aus­zu­drücken; dann träum­te er von Sym­pho­ni­en; oder die äu­ße­re Er­schei­nung der Din­ge fes­sel­te ihn, und er woll­te ma­len. Er hat­te auch Ver­se ge­macht; Des­lau­ri­ers fand sie sehr schön, ohne je­doch um eine zwei­te Pro­be zu bit­ten.

Er selbst gab sich nicht mehr mit Me­ta­phy­sik ab. Na­tio­nal­öko­no­mie und die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­ti­on nah­men ihn ganz in An­spruch. Er war jetzt ein lan­ger ha­ge­rer Bur­sche von zwei­und­zwan­zig Jah­ren mit großem Mund und ent­schlos­se­ner Mie­ne. An die­sem Abend trug er einen schlech­ten Las­ting-Pa­le­tot,1 und sei­ne Stie­fel wa­ren weiß von Staub, denn er hat­te den Weg von Vil­lenau­xe zu Fuß ge­macht, um Frédéric noch zu se­hen.

Isi­do­re nä­her­te sich ih­nen, Ma­da­me las­se den jun­gen Herrn bit­ten, nach Haus zu kom­men, und in der Furcht, er kön­ne sich er­käl­ten, schi­cke sie ihm sei­nen Man­tel.

»Blei­be doch!« sag­te Des­lau­ri­ers.

Und sie gin­gen wei­ter, von ei­nem Ende zum an­de­ren der bei­den Brücken, die sich auf die schma­le, von dem Kanal und dem Fluss ge­bil­de­te In­sel stütz­ten.

Wenn sie an der Sei­te von No­gent gin­gen, hat­ten sie eine Grup­pe von Häu­sern vor sich; rechts sah man die Kir­che hin­ter den Sä­ge­müh­len, de­ren Schleu­sen ge­sperrt wa­ren; und links, längs des Flus­ses, um­säum­ten Sträu­cher­he­cken die Gär­ten, die kaum zu un­ter­schei­den wa­ren. Aber nach Pa­ris zu führ­te die Land­stra­ße ab­wärts in ge­ra­der Li­nie, und in der Fer­ne ver­lo­ren sich die Wie­sen im nächt­li­chen Dunst. Die Nacht war still und von weiß­li­cher Klar­heit. Der Ge­ruch feuch­ten Lau­bes stieg zu ih­nen em­por, und nur das Plät­schern der Brun­nen hun­dert Schritt wei­ter war wie das dump­fe Geräusch von Wel­len im Dun­keln.

Des­lau­ri­ers blieb ste­hen und sag­te:

»Wie die gu­ten Leu­te ru­hig schla­fen, es ist selt­sam! Aber Ge­duld! Ein neu­es 89 be­rei­tet sich vor! Man ist der Kon­sti­tu­ti­on, der Ver­fas­sungs­ur­kun­den, der Spitz­fin­dig­kei­ten und Lü­gen müde! Ah! hät­te ich ein Blatt oder eine Tri­bü­ne, wie woll­te ich das al­les durch­ein­an­der­rüt­teln! Al­lein um et­was zu un­ter­neh­men, was es auch sei, ist Geld nö­tig! Es ist ein Fluch, der Sohn ei­nes Schank­wirts zu sein und sei­ne Ju­gend auf der Su­che nach Brot zu ver­geu­den!«

Er senk­te den Kopf, biss sich auf die Lip­pen und zit­ter­te vor Käl­te in sei­nen dün­nen Klei­dern.

Frédéric warf ihm die Hälf­te sei­nes Man­tels um die Schul­tern. Sie wi­ckel­ten sich bei­de hin­ein und wan­del­ten, ein­an­der um­fas­send, Sei­te an Sei­te wei­ter.

»Wie soll ich ohne dich dort le­ben?« sag­te Frédéric, den die Bit­ter­keit sei­nes Freun­des eben­falls trau­rig stimm­te. »Mit ei­ner Frau, die mich liebt, wür­de ich et­was er­rei­chen kön­nen … Wa­rum lachst du? Die Lie­be ist die Nah­rung und gleich­sam die At­mo­sphä­re des Ge­nies. Au­ßer­or­dent­li­che Er­schüt­te­run­gen brin­gen er­ha­be­ne Wer­ke her­vor. Ich ver­zich­te üb­ri­gens auf die Mühe, eine nach mei­nem Ge­schmack zu su­chen! Und wenn ich sie je fän­de, sie stie­ße mich zu­rück! Ich ge­hö­re zu dem Stam­me der Ent­erb­ten und wer­de als Kö­nig oder Bett­ler en­den, was weiß ich.«

Ein Schat­ten reck­te sich auf das Pflas­ter und gleich­zei­tig ver­nah­men sie die Wor­te:

»Ihr Die­ner, mei­ne Her­ren!«

Der sie an­sprach, war ein klei­ner Mann mit ei­nem wei­ten brau­nen Über­rock und ei­ner Müt­ze, un­ter de­ren Schirm eine spit­ze Nase her­vor­sah.

»Mon­sieur Ro­que?« sag­te Frédéric.

»Der bin ich,« er­wi­der­te die Stim­me.

Er recht­fer­tig­te sei­ne An­we­sen­heit mit der Be­mer­kung, dass er von ei­ner Be­sich­ti­gung sei­ner Wolf­sei­sen in sei­nem Gar­ten am Ufer kom­me.

»Und Sie sind wie­der zu uns zu­rück­ge­kehrt? Sehr schön! ich habe es von mei­nem Töch­ter­chen ge­hört. Mit Ih­rer Ge­sund­heit geht es gut, hof­fe ich? Sie rei­sen doch noch nicht ab?«

Und er ging, au­gen­schein­lich durch Frédérics Empfang zu­rück­ge­schreckt.

Ma­da­me Mo­reau ver­kehr­te al­ler­dings nicht mit ihm; Va­ter Ro­que leb­te mit sei­ner Haus­häl­te­rin im Kon­ku­bi­nat und war we­nig ge­ach­tet, ob­wohl er Wahl­mann und Ver­wal­ter von Mon­sieur Dam­breu­se war.

»Des Ban­kiers in der Rue d’An­jou?« be­gann Des­lau­ri­ers wie­der, »weißt du, was du tun müss­test, mein Gu­ter?«

Isi­do­re un­ter­brach sie noch­mals. Er hat­te den Auf­trag, Frédéric end­lich mit­zu­brin­gen. Ma­da­me be­un­ru­hig­te sich we­gen sei­nes Aus­blei­bens.

»Gut! gut! er kommt gleich,« sag­te Des­lau­ri­ers, »er wird nicht drau­ßen schla­fen.«

Und nach­dem der Die­ner ge­gan­gen war:

»Du soll­test den Al­ten bit­ten, dich bei Dam­breu­se ein­zu­füh­ren. Nichts ist nütz­li­cher, als in ei­nem rei­chen Hau­se zu ver­keh­ren. Da du einen schwar­zen An­zug und wei­ße Hand­schu­he hast, nut­ze sie aus! Du musst zu die­sen Leu­ten ge­hen! Spä­ter führst du mich dann ein! Ein Mil­lio­när, be­den­ke! Sieh zu, ihm zu ge­fal­len und sei­ner Frau eben­falls. Wer­de ihr Ge­lieb­ter!«

Frédéric wehr­te leb­haft ab.

»Aber es gibt klas­si­sche Bei­spie­le da­für, sage ich dir. Den­ke an Ras­ti­gnac in der Comé­die hu­mai­ne! Du wirst si­cher Er­folg ha­ben!«

Frédéric hat­te so großes Ver­trau­en zu Des­lau­ri­ers, dass er schwan­kend wur­de, und in­dem er Ma­da­me Ar­noux ver­gaß oder sie in die auf die an­de­re ge­münz­te Pro­phe­zei­ung mit­ein­schloss, konn­te er sich ei­nes Lä­chelns nicht er­weh­ren.

Der Schrei­ber füg­te hin­zu:

»Der letz­te Rat: Ma­che dei­ne Exa­mi­na! Ein Ti­tel ist im­mer gut; und geh mir mit dei­nen ka­tho­li­schen und sa­ta­ni­schen Poe­ten, die in der Phi­lo­so­phie eben­so vor­ge­schrit­ten sind, wie man im XII. Jahr­hun­dert war. Dei­ne Verzweif­lung ist al­bern. Män­ner von Be­deu­tung ha­ben einen schwie­ri­ge­ren An­fang ge­habt, um mit Mi­ra­beau zu be­gin­nen. Über­dies, un­se­re Tren­nung wird nicht so lan­ge dau­ern. Ich wer­de mei­nem Gau­ner von Va­ter an die Keh­le müs­sen. Es ist Zeit, dass ich zu­rück­keh­re, adieu! Hast du fünf Fran­cs, mein Mit­ta­ges­sen zu be­zah­len?«

Frédéric gab ihm zehn Fran­cs, den Rest der am Mor­gen von Isi­do­re ent­nom­me­nen Sum­me.

Zwan­zig Schritt hin­ter den Brücken, am lin­ken Ufer, glänz­te in dem Dach­stüb­chen ei­nes nied­ri­gen Hau­ses Licht.

Des­lau­ri­ers be­merk­te es. Da rief er em­pha­tisch, in­dem er sei­nen Hut zog:

»Ve­nus, Him­mels­kö­ni­gin, sei ge­grüßt! Aber die Not ist die Mut­ter der Weis­heit! Hat man uns des­we­gen nicht ge­nug ver­läs­tert, dass Gott er­barm!«

Die­se An­spie­lung auf ein ge­mein­sa­mes Aben­teu­er stimm­te sie froh! Sie lach­ten laut auf der Stra­ße.

Dann, nach­dem er sei­ne Rech­nung im Gast­haus be­rich­tigt hat­te, be­glei­te­te Des­lau­ri­ers Frédéric bis zur nächs­ten Ecke; – und nach ei­ner lan­gen Umar­mung trenn­ten sich die Freun­de.


  1. leich­ter, zwei­rei­hi­ger Her­ren­man­tel  <<<

3.

Zwei Mo­na­te spä­ter be­schloss Frédéric, der ei­nes Mor­gens in der Rue Coq-Héron ge­lan­det war, so­gleich sei­nen großen Be­such zu ma­chen.

Der Zu­fall war ihm güns­tig ge­we­sen. Va­ter Ro­que hat­te ihm eine Rol­le Pa­pie­re ge­bracht und ihn ge­be­ten, sie selbst bei Mon­sieur Dam­breu­se ab­zu­ge­ben; und er füg­te der Sen­dung ein ver­sie­gel­tes Schrei­ben bei, in dem er sei­nen jun­gen Lands­mann emp­fahl.

Ma­da­me Mo­reau schi­en die­ser Schritt zu über­ra­schen. Frédéric ver­barg sei­ne Freu­de dar­über.

Mon­sieur Dam­breu­se hieß ei­gent­lich Graf d’Am­breu­se; al­lein, seit 1825, nach­dem er mit der Zeit sei­nen Adel und sei­ne Par­tei auf­ge­ge­ben, hat­te er sich der In­dus­trie zu­ge­wandt; und un­ter­rich­tet über alle Er­eig­nis­se, be­tei­ligt an al­len Un­ter­neh­mun­gen, bei al­len gu­ten Ge­le­gen­hei­ten auf der Lau­er, ver­schla­gen wie ein Grie­che und ar­beit­sam wie ein Au­ver­gnat, hat­te er ein Ver­mö­gen an­ge­sam­melt, das be­trächt­lich sein soll­te; au­ßer­dem war er Of­fi­zier der Ehren­le­gi­on, Mit­glied des Ge­ne­ral­rats der Aube, De­pu­tier­ter, nächs­tens Pair von Frank­reich; selbst gern ge­fäl­lig, er­mü­de­te er den Mi­nis­ter durch sei­ne be­stän­di­gen Bit­ten um Bei­stand, um Or­den, um Ta­bak­bü­ros, und in sei­ner Ab­nei­gung ge­gen die Re­gie­rung zur Lin­ken schloss er sich dem Zen­trum an. Sei­ne Frau, die hüb­sche Ma­da­me Dam­breu­se, die von den Mo­de­jour­na­len ge­nannt wur­de, prä­si­dier­te bei Wohl­tä­tig­keits­ver­ei­nen. In­dem sie den Her­zo­gin­nen schmei­chel­te, be­schwich­tig­te sie den Groll des vor­neh­men Fau­bourg und er­weck­te den Glau­ben, dass Mon­sieur Dam­breu­se sein Ein­drin­gen viel­leicht noch be­reu­en wer­de und ihm noch ein­mal Diens­te er­wei­sen könn­te.

Der jun­ge Mann war er­regt, als er zu ih­nen ging.

»Ich hät­te bes­ser ge­tan, mei­nen Frack an­zu­zie­hen. Sie la­den mich ge­wiss für die nächs­te Wo­che zum Ball ein? Was wer­den sie sa­gen?«

Die Zu­ver­sicht kehr­te ihm bei dem Ge­dan­ken zu­rück, dass Mon­sieur Dam­breu­se nur ein Bür­ger war, und ver­we­gen sprang er von sei­nem Ka­brio­lett auf das Trot­toir der Rue d’An­jou.

Nach­dem er durch das eine der bei­den Ein­fahrt­to­re ge­kom­men war, über­schritt er den Hof, stieg die Freitrep­pe hin­an und trat in ein Ves­ti­bül, das mit far­bi­gem Mar­mor aus­ge­legt war.

Eine ge­ra­de Dop­pel­trep­pe mit ro­tem Tep­pich und Mes­sing­stan­gen lief die hohe, mit rei­chem Stuck ver­zier­te Mau­er ent­lang. Am Fuß der Stu­fen stand ein Bana­nen­baum, des­sen brei­te Blät­ter auf die Sam­tram­pe fie­len. Zwei Bron­ze­kan­de­la­ber tru­gen Por­zel­langlo­cken, die an klei­nen Kett­chen hin­gen. Den Luft­lö­chern der Hei­zung ent­ström­te eine tro­ckene Hit­ze; und man ver­nahm nur das Tick­tack ei­ner großen Uhr, die am an­de­ren Ende des Ves­ti­büls un­ter ei­nem Pa­nop­lie1 stand.

Eine Glo­cke er­klang; ein Die­ner er­schi­en und führ­te Frédéric in einen klei­nen Raum, in dem man zwei Geld­schrän­ke mit Fä­chern vol­ler Map­pen ge­wahr­te. Mon­sieur Dam­breu­se schrieb in der Mit­te an ei­nem Zy­lin­der­bü­ro.

Er las flüch­tig den Brief Va­ter Ro­ques, schnitt mit sei­nem Ta­schen­mes­ser die Lei­nen­hül­le auf, die die Pa­pie­re um­schloss, und prüf­te sie.

Aus der Ent­fer­nung konn­te er sei­ner schmäch­ti­gen Ge­stalt we­gen noch jung er­schei­nen. Aber sei­ne spär­li­chen wei­ßen Haa­re, sei­ne kraft­lo­sen Glie­der und be­son­ders sein au­ßer­or­dent­lich fah­les Ge­sicht ver­rie­ten einen zer­rüt­te­ten Kör­per. Uner­bitt­li­che Ener­gie lag in sei­nen meer­grü­nen Au­gen, die käl­ter wa­ren als Glasau­gen. Er hat­te vor­ste­hen­de Ba­cken­kno­chen und Hän­de mit kno­chi­gen Ge­len­ken.

End­lich stand er auf und rich­te­te an den jun­gen Mann ei­ni­ge Fra­gen über Per­so­nen ih­rer Be­kannt­schaft, über No­gent, über sei­ne Stu­di­en; dann ver­ab­schie­de­te er ihn, in­dem er sich ver­neig­te. Frédéric ging durch einen an­de­ren Kor­ri­dor hin­aus und be­fand sich am un­te­ren Ende des Ho­fes bei den Stal­lun­gen.

Ein blau­es Coupé mit ei­nem Rap­pen vor­ge­spannt stand an der Freitrep­pe. Der Schlag öff­ne­te sich, eine Dame stieg ein, und der Wa­gen roll­te mit dump­fem Geräusch auf dem Kies da­von.

Frédéric lang­te von der an­de­ren Sei­te zu glei­cher Zeit mit ihr un­ter der Ein­fahrt an. Da der Raum nicht groß ge­nug war, sah er sich ge­zwun­gen zu war­ten. Die jun­ge Frau neig­te sich aus dem klei­nen Schie­be­fens­ter und sprach lei­se mit dem Pfört­ner. Er konn­te nichts wei­ter se­hen als ih­ren Rücken, den ein vio­let­ter Man­tel ver­hüll­te. In­des­sen mus­ter­te er das In­ne­re des Wa­gens, in blau­em Rips mit sei­de­nen Pas­se­men­te­ri­en und Fran­sen ge­hal­ten. Die Ge­wän­der der Dame füll­ten ihn ganz aus; dem klei­nen, ge­pols­ter­ten Kas­ten ent­ström­te Irispar­füm wie eine Duft­wo­ge weib­li­cher Ele­ganz. Der Kut­scher lo­cker­te die Zü­gel, das Pferd streif­te un­ge­stüm den Prell­stein, und al­les ver­schwand.

Frédéric ging zu Fuß die Bou­le­vards ent­lang zu­rück. Er be­dau­er­te, Ma­da­me Dam­breu­se nicht ge­se­hen zu ha­ben.

Et­was hin­ter der Rue Mont­mar­tre ver­an­lass­te ihn eine Wa­gen­sto­ckung, den Kopf zu wen­den, und an der an­de­ren Sei­te, ge­gen­über, las er auf ei­ner Mar­mor­plat­te:

Jac­ques Ar­noux.

Wa­rum hat­te er nicht frü­her an sie ge­dacht? Das war Des­lau­rier­s’ Schuld, und er ging auf den La­den zu, trat je­doch nicht ein, in der Er­war­tung, dass sie sich zei­gen könn­te.

Durch die ho­hen, durch­sich­ti­gen Spie­gel­schei­ben hat­te man den Blick auf eine ge­schmack­vol­le An­ord­nung von Sta­tu­et­ten, Zeich­nun­gen, Gra­vu­ren, Ka­ta­lo­gen und Num­mern der Kunst­hand­lung; und auf der Tür, in der Mit­te mit den Ini­tia­len des Her­aus­ge­bers de­ko­riert, wa­ren die Prei­se des Abon­ne­ments wie­der­holt. An den Wän­den lehn­ten große Ge­mäl­de, de­ren Fir­nis glänz­te, und im Hin­ter­grund sah man zwei Tru­hen mit Por­zel­lan, Bron­zen und lo­cken­den Ku­rio­si­tä­ten be­la­den; eine klei­ne Trep­pe, oben durch eine Samt­por­tie­re ge­schlos­sen, trenn­te sie; und ein al­ter Meiß­ner Kron­leuch­ter, ein grü­ner Tep­pich auf dem Fuß­bo­den, so­wie ein Tisch mit ein­ge­leg­ter Ar­beit ga­ben die­sem In­te­rieur eher das Aus­se­hen ei­nes Sa­lons als ei­nes La­dens.

Frédéric gab sich den An­schein, als mus­te­re er die Zeich­nun­gen. Nach end­lo­sem Zö­gern trat er ein.

Ein An­ge­stell­ter hob die Por­tie­re und er­wi­der­te, dass der Chef nicht vor fünf Uhr im Ma­ga­zin sein wer­de. Aber wenn der Auf­trag sich über­mit­teln lie­ße …

»Nein! ich wer­de wie­der­kom­men,« ent­geg­ne­te Frédéric freund­lich.

Die fol­gen­den Tage wur­den an­ge­wandt, um eine Woh­nung zu su­chen; und er ent­schied sich für ein Zim­mer in der zwei­ten Eta­ge ei­nes Ho­tel gar­ni in der Rue Saint-Hya­cin­the.

Mit na­gel­neu­en Hef­ten un­ter dem Arm be­gab er sich zur Er­öff­nung der Vor­le­sun­gen. Drei­hun­dert jun­ge Leu­te mit blo­ßen Köp­fen füll­ten ein Am­phi­thea­ter, in dem ein Greis in ro­ter Robe mit mo­no­to­ner Stim­me vor­trug; Fe­dern kratz­ten auf dem Pa­pier. Er fand in die­sem Saal den Staub­ge­ruch der Klas­se, ein Ka­the­der in glei­cher Form, die­sel­be Lan­ge­wei­le wie­der! Vier­zehn Tage lang ging er hin. Aber man war noch nicht bei Ar­ti­kel drei, als er das Stu­di­um des Bür­ger­li­chen Ge­setz­bu­ches im Stich ließ und die Vor­le­sun­gen auf­gab.

Die Freu­den, die er sich ver­spro­chen hat­te, blie­ben aus; und als er sich durch ein Le­se­ka­bi­nett durch­ge­ar­bei­tet hat­te, die Samm­lun­gen im Lou­vre durch­lau­fen und ver­schie­de­ne Thea­ter be­sucht hat­te, ver­fiel er völ­lig dem Mü­ßig­gang.

Tau­send neue Din­ge ver­mehr­ten sei­ne Nie­der­ge­schla­gen­heit. Er muss­te sei­ne Wä­sche zäh­len und den Haus­meis­ter, einen Gro­bi­an mit dem Ge­ba­ren ei­nes Kran­ken­wär­ters, dul­den, der nach Al­ko­hol roch und mor­gens mür­risch sein Bett mach­te. Sein Zim­mer, mit ei­ner Ala­bas­ter­uhr ge­schmückt, miss­fiel ihm. Die Zwi­schen­wän­de wa­ren dünn, er hör­te die Stu­den­ten Punsch be­rei­ten, la­chen, sin­gen.

Die­ser Ein­sam­keit müde, such­te er einen sei­ner Ka­me­ra­den na­mens Bap­tis­te Mar­ti­non auf, und er ent­deck­te ihn, über sei­ner Pro­zess­ord­nung büf­felnd, vor ei­nem Stein­koh­len­feu­er, in ei­ner klein­bür­ger­li­chen Pen­si­on der Rue Saint-Jac­ques.

Ihm ge­gen­über saß ein Mäd­chen in ei­nem Kat­tun­kleid und stopf­te St­rümp­fe.

Mar­ti­non war, was man einen sehr schö­nen Men­schen nennt: groß, voll, mit re­gel­mä­ßi­gen Ge­sichts­zü­gen und bläu­li­chen, schön­ge­schnit­te­nen Au­gen. Sein Va­ter, ein tüch­ti­ger Land­wirt, hat­te ihn zum Richter­stand be­stimmt, – und da er schon ge­setzt er­schei­nen woll­te, trug er einen Voll­bart.

Da Frédérics Ver­druss kei­nen ver­nünf­ti­gen Grund hat­te und ein Un­glück ihm aus­ge­schlos­sen schi­en, be­griff Mar­ti­non sei­ne be­stän­di­ge Un­zu­frie­den­heit nicht. Er selbst ging täg­lich zur Uni­ver­si­tät, mach­te dar­auf sei­nen Spa­zier­gang im Lu­xem­bourg, ging abends in ein klei­nes Café und fühl­te sich mit fünf­zehn­hun­dert Fran­cs jähr­lich und der Lie­be die­ses Mäd­chens voll­kom­men glück­lich.

»Welch ein Glück!« dach­te Frédéric bei sich.

Er hat­te auf der Uni­ver­si­tät eine an­de­re Be­kannt­schaft ge­macht, Mon­sieur de Cisy, Sohn ei­ner vor­neh­men Fa­mi­lie und in sei­nen Ma­nie­ren an­mu­tig wie ein Mäd­chen.

Mon­sieur de Cisy be­schäf­tig­te sich mit Zeich­nen, na­ment­lich lieb­te er Go­thik. Mehr­mals gin­gen sie zu­sam­men die Hei­li­ge Ka­pel­le und Notre-Dame be­wun­dern. Aber die Vor­nehm­heit des jun­gen Pa­tri­zi­ers barg eine höchst dürf­ti­ge In­tel­li­genz. Al­les ver­setz­te ihn in Er­stau­nen; er lach­te laut über den ge­rings­ten Scherz und zeig­te an­fangs eine so voll­kom­men nai­ve Un­schuld, dass Frédéric ihn zu­erst für einen Spaß­vo­gel hielt, ihn schließ­lich aber als Dumm­kopf be­trach­te­te.

Ein Ge­dan­ken­aus­tausch war also mit nie­mand mög­lich, und er er­war­te­te im­mer noch die Ein­la­dung der Dam­breu­se.

Am Neu­jahrs­tag sand­te er ih­nen Vi­si­ten­kar­ten, er aber er­hielt kei­ne.

Er war noch­mals in der Kunst­hand­lung ge­we­sen.

Er ging ein drit­tes Mal hin und sah end­lich Ar­noux, der in­mit­ten von fünf oder sechs Per­so­nen dis­pu­tier­te und sei­nen Gruß kaum er­wi­der­te; das ver­letz­te Frédéric. Doch über­leg­te er dar­um nicht we­ni­ger, wie er zu ihr ge­lan­gen könn­te.

An­fangs hat­te er die Idee, oft vor­zu­spre­chen, um nach Bil­dern zu fra­gen. Dann dach­te er dar­an, ei­ni­ge sehr kräf­ti­ge Ar­ti­kel in der Zei­tung an­zu­brin­gen, wo­durch Be­zie­hun­gen an­ge­knüpft wer­den könn­ten. Vi­el­leicht war es das bes­te, ge­ra­de auf sein Ziel los­zu­ge­hen und ihr sei­ne Lie­be zu er­klä­ren. Er ver­fass­te also einen Brief von zwölf Sei­ten voll ly­ri­scher Emp­fin­dun­gen und Apostro­phen, aber er zer­riss ihn, und – in der Furcht vor Mis­ser­folg tat er nichts und ver­such­te nichts.

Über dem La­den Ar­noux’ be­fan­den sich in der ers­ten Eta­ge drei Fens­ter, die je­den Abend er­leuch­tet wa­ren. Schat­ten be­weg­ten sich da­hin­ter, be­son­ders ei­ner, das muss­te der ihre sein – und er scheu­te die Mühe nicht, von weit her zu kom­men, um die­se Fens­ter zu se­hen und die­sen Schat­ten zu be­trach­ten.

Eine Ne­ge­rin mit ei­nem klei­nen Mäd­chen an der Hand, die in den Tui­le­ri­en an ihm vor­über­ging, er­in­ner­te ihn an die Ne­ge­rin von Ma­da­me Ar­noux. Sie muss­te wie die an­de­ren hier­her kom­men; je­des Mal, wenn er die Tui­le­ri­en durch­schritt, klopf­te sein Herz in der Hoff­nung, ihr zu be­geg­nen. An son­ni­gen Ta­gen setz­te er sei­nen Spa­zier­gang bis zu den Champs-Elysées fort.

Nach­läs­sig in Ka­le­schen sit­zend, fuh­ren Da­men, de­ren Schlei­er im Win­de weh­ten, un­ter dem fes­ten Tritt ih­rer Pfer­de mit un­merk­li­chem Schwan­ken, das das la­ckier­te Le­der knir­schen mach­te, dicht an ihm vor­über. Die Wa­gen wur­den zahl­rei­cher, und beim Aus­gang des Rond-Point lang­sa­mer wer­dend, nah­men sie die gan­ze Stra­ße ein. Mäh­ne stand dicht an Mäh­ne, La­ter­ne dicht an La­ter­ne; die stäh­ler­nen Steig­bü­gel, die sil­ber­nen Kinn­ket­ten, die Kup­fer­schnal­len wa­ren hier und dort leuch­ten­de Punk­te in­mit­ten der kur­z­en Ho­sen, der wei­ßen Hand­schu­he und dem auf das Wap­pen der Wa­gen­schlä­ge her­ab­fal­len­den Pelz­werk. Er fühl­te sich wie ver­lo­ren in ei­ner fer­nen Welt. Sei­ne Au­gen irr­ten über die Frau­en­köp­fe, und vage Ähn­lich­kei­ten brach­ten ihm Ma­da­me Ar­noux in Erin­ne­rung. Er stell­te sie sich mit­ten un­ter den an­de­ren vor, in ei­nem die­ser klei­nen Coupés wie dem von Ma­da­me Dam­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­