Karin Bruder

Zusammen allein

Roman

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Dank

Zu Dank verpflichtet bin ich dem Förderkreis Deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg und der Frau Ava Gesellschaft für Literatur für die finanzielle und moralische Unterstützung. Ich danke Elvine und Gicu Maracinaru für ihre Gastfreundschaft und Inspiration, und Karl Arthur Ehrmann von der Saxonia Stiftung für die geleisteten Informationen. Ich danke Frau Dr. Vera Ehgartner, meiner Mutter, Liane Tittes und Christa Degen.

Die Sonne und der Nordwind schlossen eine Wette ab, wem es gelänge, einem Bauern den Mantel auszuziehen. Der Nordwind blies und blies, aber der Bauer schnürte den Mantel noch enger. Die Sonne lächelte ihn nur an – und schon warf er den Mantel ab.

Dan Desliu

Für Jürgen

1

Mein Vater ging als Erster. Nach langen Streitereien. Mit lange meine ich zehn, zwölf Jahre. Seit ich denken kann, nichts als Streit zwischen Mamusch und Tata.

Tata wollte in den Westen, da wollten alle hin. Fast alle. Mamusch wollte nicht.

»Warum nicht?«, fragte mein Vater. »Alle sind sie drüben, und hier wird das Leben unerträglich.«

»Das Tragische an den Unzufriedenen ist ihre Unzufriedenheit! Das hat ein Philosoph herausgefunden. Ich weiß nicht mehr, wer es war«, erklärte meine Mutter.

Ich fand den Satz nicht besonders philosophisch.

Tata wurde ernst. Sein Profil gleicht dem eines Adlers. Seine Nase, spitz und gekrümmt, fordert Respekt. Wenn auch noch die Augen etwas Raubtierhaftes annahmen, sah er zum Fürchten aus.

»Joi, bilde ich mir das Unglück etwa ein?«, posaunte er los. »Man kann es greifen, man kann es sehen.« Demonstrativ fuhrwerkte er mit seinen langen Armen durch die Luft, stieß dabei auf lauter Unglück, denn seine Mundwinkel zuckten. »Und es wird immer größer.«

»Aber du bist Lehrer, du hast Verantwortung.« Mamusch holte tief Luft. »Und sie lassen dich sowieso nicht raus. Wir haben immer noch keine Angehörigen ersten Grades drüben.«

Mit drüben war der Westen gemeint. Mit Westen Westdeutschland. Mit Westdeutschland das Schlaraffenland. Das Land, das wir aus Erzählungen und aus der Bunten kannten. In der Bunten sahen nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge glücklich aus. Autos, Margarine, Unterwäsche. Unglaublich. Schlug man die Bunte auf, bekam man den Mund nicht mehr zu.

Warum sich meine Mutter so stur stellte, begriff niemand.

»Bleibst du wegen der Hure hier?«, schrie mein Vater. Er wusste nicht, dass ich im Türrahmen stand. »Wenn wir uns nicht beeilen, sind drüben die Arbeitsplätze weg.«

Meine Mutter kämpfte gegen aufsteigende, nein, gegen flutende Tränen an und schluckte sichtbar.

»Nenn Puscha nicht immer Hure.«

»Du hast sie selbst so genannt.«

»Das ist lange her. Sie hat für alles bezahlt.« Die Schleusen öffneten sich, meine Mutter fing an zu weinen. Tata ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Wenn sie nicht mitkommen will, dann ist das ihre Sache. Du hast gelernt, ohne sie zu leben.«

»Es ist nicht wegen ihr, das weißt du.«

»No, worum geht es dann?«

»Hier kenn ich mich aus. Wer weiß, wie es drüben wirklich ist.«

»Wir fahren«, unterbrach sie Tata. »Wir haben lange genug gewartet. Hier schließen die deutschen Schulen, die Kirchen sind leer.«

»Je kleiner die Gemeinde, desto wichtiger der Einzelne. Die Sachsen sind seit achthundert Jahren im Land. So schnell geben wir nicht auf.« Wie ein Profiboxer wich meine Mutter seinen Schlägen aus, verteidigte sich mit kleinen Ablenkungsmanövern. Aber ich spürte, dass dieser Kampf sie überforderte. Sie wirkte müde und resigniert. Leise schnäuzte sie ihren Kummer ins Taschentuch, und ich ging zu Bett.

Im Sommer 1986 bekam Tata die lang ersehnte Besuchserlaubnis. Um seinen Cousin Erwin wiederzusehen. Sechs Monate hatte er warten müssen, und gekostet hatte ihn das zahlreiche Wartestunden auf dem Amt, einen fast neuen Füllfederhalter, drei Päckchen Westkaffee und sechs Paar Seidenstrumpfhosen. Vom Bargeld nicht zu reden.

Erwin lebte seit siebzehn Jahren im Westen. Auf der Drabender Höhe, bei Köln. Ihm und seiner Familie ging es sehr gut. Sie hatten alles. Butter und Wurst und Autos. Mehrzahl. Und eine große Wohnung mit Balkon. Ein Haus noch nicht, das wurde aber gerade gebaut.

»Die Sachsen kratzen sich drüben alles wieder zusammen, was sie durch die Kommunisten verloren haben«, sagte Tata beim Mittagessen.»Zu dem vielen Neuen brauchen sie auch das Alte. Aus Nürnberg die gute Bratwurst von einem siebenbürgischen Metzger, an Hochzeiten Baumstriezel von einem Baumstriezelbäcker. No, und Erwins Mutter ist im siebenbürgischen Altersheim. Stell dir vor, sie hat sich einen Spaten besorgt und damit den gepflegten Rasen umgegraben. Jetzt wachsen vor der Heimterrasse Zwiebeln, Knoblauch und Paradeiserstauden. Im Westen ist das Paradies«, wiederholte Tata mit einer Überzeugung, die aus Beton gegossen schien.

Die Suppe war kalt geworden, da er immer weitere Beispiele dafür fand, warum eine Übersiedlung essenziell war.

»Was heißt essenziell?«, wollte ich wissen.

»Liebe Agnes, mit fünfzehn Jahren weiß man das, oder man weiß es nie.«

Mein Vater kam nicht zurück.

Essenziell, dieses harte Vaterwort, nahm ich nie wieder in den Mund.

Ein Jahr später hielt es meine Mutter nicht mehr aus, sie reiste ihm nach.

Servus, sagte sie zu mir. Und ich dachte, sie meint Servus: bis bald. Neben ihr stand der Handballtrainer, sie fuhr zu einem Freundschaftsspiel nach Ungarn. Doch die Mannschaft kehrte ohne sie zurück.

Das Wort Servus benutze ich weiterhin. Es ist ein sehr schönes Wort. Im Mittelhochdeutschen gibt es den Ausdruck »serwe«, was so viel wie bewaffne, rüste dich bedeutet. Ich bewaffnete mich. Mit einem Hasspanzer.

Die Erikatante rief mich am 15. Mai 1987 an, zehn Tage nach meinem sechzehnten Geburtstag. Ich erinnere mich genau. Die Kastanien im Park trugen ihre Blüten wie Kommunionkerzen, voller Stolz und Zuversicht. Erikatante hatte keinen Telefonanschluss und musste zur Nachbarin gehen. Im Hintergrund verkündete eine Radiosprecherin:

Der Kapitalismus und Imperialismus wird in Rumänien keine Chance haben.

»Ein Brief für dich, komm vorbei.«

Tante Erikas Stimme klang sehr rau. So klingen Krankenschwestern oder Ärzte, bevor sie einem die schreckliche Diagnose überbringen.

Um Zeit zu gewinnen, fragte ich: »Wer spricht da?«

»Eri, deine Godi.« Die Telefonleitung vibrierte. »Es geht um einen Brief, er ist von deiner Mutter.«

»Wieso Brief? Mamusch ist in Ungarn, sie macht Ferien.«

»Deine Mutter ist im Westen, sie kommt nicht zurück.«

Ich legte den Hörer vorsichtig auf, als wäre er ein rohes Ei und ich ein Elefant. Ich wäre gern ein grauer Riese gewesen. Elefanten strahlen Stärke und Zufriedenheit aus. In der Literaturgruppe sollten wir uns ein Tier überlegen, in dessen Haut wir schlüpfen wollten. Wir sollten einen Text dazu schreiben. Die halbe Klasse verwandelte sich in Vögel und Insekten, die in wunderschön lyrischen Wortbildern den Himmel eroberten; der Rest war zu Raubkatzen mutiert, die sich vor niemandem fürchteten. Meine Elefantengeschichte kam nicht gut an. Zu grau, urteilte Herr Döring.

Für Sekunden stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn meine Menscheneltern unter meinem rechten Elefantenvorderfuß zu liegen kämen. Ich hatte eine bestimmte Zirkusnummer aus einem bestimmten Film vor Augen. Sie hätten keine Gelegenheit zu schreien, wären auf der Stelle tot.

»Deine Mutter ist jetzt im Westen, sie kommt nicht zurück.« Den Satz schleppte ich wie einen Zementsack mit in mein Zimmer. Tisch, Stuhl, Bett, das Übliche. Aber kein Kasten, nur eine Kleiderstange, die durch einen Rosenvorhang verborgen wurde. Der Raum kam mir kleiner vor als sonst. Egal, mir gehörte ja jetzt die ganze Wohnung. Ich war elternlos und frei. Gespannt wartete ich auf aufkeimende Freude. Als die Freude nicht keimen, erst recht nicht wachsen wollte, schürfte ich in Erinnerungen. Es gab viele Geschichten über Kinder, deren Mütter oder Väter in den Westen geflohen waren. Nach fünf, manchmal auch schon nach drei Jahren durften die hier Verbliebenen nachreisen. 10 000 Mark kostete eine Ausreise, pro Kopf. Ich erinnerte mich aber an keine Erzählung, in der beide Elternteile drübengeblieben waren. War ich etwas Besonderes? Würden sie mit dem Finger auf mich zeigen? Schaut, da kommt sie! Warum hatte Mamusch den Brief nicht an unsere Adresse geschickt, wenigstens das?

Mit zusammengekniffenen Augen stellte ich mir Tante Erikas Küche vor. In dem dunklen Raum wären alle anwesend, Gicuonkel, die Zwillinge, der halbseitig gelähmte Großvater. Alle würden mir dabei zuschauen, wie ich den Brief entgegennahm. Das Wortalle erreichte eine beängstigende Dimension. Es glich einem Felsen, der mich zu Boden drückte. Eine Ameise konnte sich nicht kleiner, nicht unbedeutender fühlen. Doch schließlich holte ich tief Luft, leckte mir über die Lippen, tat es ein zweites Mal – mit Zuversicht. Hatte ich es nicht längst geahnt, hatte Mamusch mich nicht viel zu lange und viel zu heftig umarmt? Unschlüssig zog ich den geblümten Vorhangstoff zur Seite, besah meine Garderobe. Zwei Röcke teilten sich einen Bügel, daneben hingen vier Blusen, das Konfirmationskleid und die zweite Schuluniform. Eine Jeans, eine echte Westjeans würde hinzukommen. Das Wort Westjeans rettete mich. Schlagartig ging es mir besser. Lächelnd zog ich den hellroten Rock an und kämmte mir die Haare. Dann zog ich den Rock wieder aus und schlüpfte in die Schuluniform. Das dunkle Blau des Trägerkleides bot mehr Halt.

Von Zeiden aus fuhr ich mit dem Bus in die Stadt. Zum zweiten Mal an diesem Tag. In der Langgasse stieg ich in einen Trolleybus um, das letzte Stück musste ich zu Fuß zurücklegen.

Staunend betrachtete ich das Straßenpflaster. Ich sah die Löcher im Trottoir. Ich sah die Kippen, die bis auf den letzten Millimeter abgeraucht waren. In der Karl-Marx-Straße entdeckte ich eine halb verweste Ratte im Gullydeckel. Sie muss fett gewesen sein, war stecken geblieben. Ich dachte an meinen Vater, auch er war fett geworden. Das letzte Foto zeigte einen dicken Mann neben einem frisch polierten Mercedes. Die beiden sahen aus wie Freunde. Mein Tata lächelte, wie Westpolitiker lächeln, mit blitzenden Zähnen. In seinen Paketen hatten nur Lebensmittel Platz gefunden. Vielleicht weil seine Anstellung als Lehrer nicht geklappt hatte und er eine Ausbildung zum Altenpfleger machen musste. Meine Mutter würde einfühlsamer sein, hoffte ich, Geld hin oder her. Immer noch begleitete mich das Wort Westjeans wie ein Schatten. Dabei hing keine Sonne über mir, nur die Erinnerung an die morgendliche Helligkeit.

Als wäre ich zwei Schritte vor, einen zurück gegangen, kam ich erst eine Stunde später bei der Erikatante an. Ein braunes Holztor öffnete sich zu einem Gang, an dessen Ende man einen Innenhof erahnen konnte. Treppen führten nach rechts, führten nach links. Wohnungseingänge überall. Rumänen und Sachsen wohnten hier. Duran neben Schuster, Mederus neben Iliescu. Ich klopfte an die Tür, doch niemand öffnete. Von der Nachbarin erfuhr ich, dass es in der Alimentara Eier geben würde. Alle hatten sich mit Netzen aufgemacht, wie zum Fischfang. Wenn man es schaffte, drei oder sogar vier Familienmitglieder im vorderen Bereich der Schlange zu platzieren, konnte man auf eine ansehnliche Zahl von Eiern kommen.

»Verfluchter Körper.« Die Alte zeigte auf ihren bandagierten Fuß, »ich kann nicht stundenlang stehen, sonst wäre ich auch gegangen. Dabei habe ich mir schon lange abgewöhnt, nach dem alten Liesskochbuch zu kochen. ›Man nehme sechs Eier‹, wer hat das heutzutage schon.« Mitleidheischend sah sie mich an, doch ich widerstand ihren listigen Augen und tat, als würde ich nicht verstehen.

»Dann warte ich.« Entschlossen drehte ich mich um.

In dem kleinen Innenhof stand eine Bank. Doch sie war bereits besetzt. Eine Horde Kinder hatte sich darauf und davor zusammengerottet. Ihren erschrockenen Blicken zufolge taten sie etwas Verbotenes. Wispernd unterhielten sie sich in drei Sprachen. Rumänisch, Ungarisch und dem siebenbürgischen Dialekt, den meine Mutter manchmal benutzte.

Gigi war der Anführer. Er hatte Zigarettenkippen gesammelt, die Kleinen mussten die Filter entfernen. Anschließend wickelte er den Tabak in Zeitungspapier. Er stellte sich dabei sehr geschickt an. Hinter der Wäscheleine stehend rauchten und husteten, husteten und rauchten sie. Auch mir boten sie die Zigarette an, aber ich lehnte ab. Aus dem Alter war ich raus. Warum lange herumreden: Ich fühlte mich erwachsen.

Der Küchentisch war gedeckt. Schwarzbrot, Ikre, Paprika, Paradeis. Keine Wurst, keine Butter. Erikatante ist die einzige noch lebende nahe Verwandte meines Vaters. Tata und sie sind Zwillinge, trotzdem gehörte sie nicht zu seinem Kränzchen.

»Die da ist mit der Schere auf mich los«, hatte er oft erzählt, »hat mir büschelweise Haare ausgerissen. Ich habe die Dresche bekommen, weil sie jämmerlich geheult hat. No, war sie kleiner als ich.« Außerdem hatte sie einen Rumänen geheiratet.

Erikatante zog an einer billigen Zigarette und lachte ihn aus. Den riesigen Busen schob sie dabei nach vorn, als wolle sie ihn als Waffe einsetzen. Oft parkte sie den Aschenbecher auf ihren Brüsten. Auch wenn sie lachte, geriet er nicht ins Wanken. Unter dem Busen wölbte sich eine Zwischenwulst, erst danach kam der Bauch. Die Vorstellung, dass sie und mein Vater in meiner kleinen, vor Kurzem verstorbenen Großmutter Platz gefunden hatten, amüsierte mich.

»So greif doch zu«, Gicuonkel stand am Herd und wendete die Brotscheiben, die auf der gusseisernen Herdplatte aufgebacken wurden. Er hatte bei der Post gearbeitet. Aber weil er sich einen staatsfeindlichen Witz in Versform nicht hatte merken können und die Notiz während einer Kontrolle in seinem Spind gefunden worden war, musste er jetzt Hausmeisterarbeiten erledigen und verdiente nur noch die Hälfte. Gicu behauptete zwar, dass er nicht wegen des Zettels, sondern wegen eines dummen Vorgesetzten in Ungnade gefallen sei, doch keiner aus der Familie glaubte ihm.

»Ja, zier dich nicht, Mädchen.« Meine Tante wedelte mit dem Brief vor meiner Nase. »Mit vollem Bauch lassen sich Nachrichten besser verdauen.«

»Sunt satulă …«, log ich. Weil Gicu dabei war, sprachen wir rumänisch.

Die Zwillinge und der Großvater waren nicht zu Hause, sie standen immer noch wegen Eiern an. Kein Mensch wusste, ob das Gerücht stimmte und ob wirklich Eier geliefert worden waren oder erst nächste oder erst übernächste Woche eintreffen würden.

»Wie konnten sie mir das antun?«, platzte es aus mir heraus.

»Lies erst einmal den Brief.«

»Ich will nichts davon wissen.« Mit Tränen in den Augen drehte ich mich zur Wand. Dabei berührte ich den Duschvorhang, der zur Seite geschoben worden war. Er roch spakig. Die aufgedruckten Hasen hatten sich durch die schwarzen Schimmelränder in sechsfüßige und zweimündige Monster verwandelt. Da fiel mir wieder ein, dass der Tisch kein Tisch war, sondern eine Badewanne, auf die nach dem wöchentlichen Badegenuss ein langes Brett montiert wurde. Mit großen rostigen Zwingen, die Hummerscheren glichen. Ich wollte weg.

»Warum bist du dann gekommen?«

Gicu hatte recht. Ich zuckte die Schultern und fing erneut an zu weinen.

Geduldig warteten die beiden, bis ich fertig war. Sie sagten nichts, sie taten nichts. Ich fand das großartig, aber ich verachtete sie auch. Sie waren so anders, so wenig herzlich, so unnahbar.

»Der Brief«, stotterte ich, »warum kam er zu euch?«

»Warum wohl, sie wollten nicht, dass du alleine bist, wenn du es erfährst. Wir sind jetzt deine Familie.« Mit einem Seitenblick schaute sie zu Gicu, der immer noch am Herd stand, obwohl es längst kein Brot mehr zum Wenden gab. Es aß ja doch niemand. Ich las mit angehaltenem Atem.

Mein liebes Kind,

ich kann ohne Deinen Vater nicht leben. Er war zuerst da. Dann kamst Du. Er kommt an erster Stelle, auch wenn ich Dich sehr liebe.

Erstaunt schaute ich von dem Brief auf. Es roch plötzlich intensiv nach Wurst. Gicu war an die Kredenz herangetreten und fingerte an den Gläsern herum, als wolle er Ordnung schaffen. Seine linke Backe beulte sich leicht aus, doch er kaute nicht, sondern beobachtete mich.

Ich bin erst angekommen und muss sehen, wie es weitergeht. Wir werden sofort einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Du wirst bald nachkommen.

»Geld«, sagte ich laut in das fast geräuschlose Kauen von Gicu hinein. »Wovon soll ich leben?«

»Hat sie nichts geschrieben?«, wollte meine Tante wissen.

»Ich hab noch nicht fertig gelesen.«

Gicu holte tief Luft, aus einer Zahnlücke drang ein Zischen.

»Dann tu es, du Schaf!«

Halbherzig brachte Erikatante ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. In der Luft lag etwas, das ich von zu Hause nicht kannte, eine Unehrlichkeit, die mir Angst machte. Erikas Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, sie bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir kameradschaftlich zu.

Du kannst der Eri vertrauen. Sie wird Dir helfen. Bleib in unserer Wohnung, so lange es geht. Wenn jemand Fragen stellt, sag nichts. Die Briefe schicke ich weiterhin an die Eri.

Ich konnte nicht mehr weiterlesen. Mein Herz klapperte lauter als ein Traktor. Ratatata, machte mein Traktorenherz, und ich hatte den Eindruck, dass in meinem Innern Dinge passierten, für die sich ein Arzt interessiert hätte.

Erikatante nahm mir den Brief aus der Hand.

»›Kopf hoch, mein Engel‹«, las sie laut vor. »›Wir lieben dich. Viele Pussi, Deine Mamusch‹.«

Papier knisterte, der Brief kam in den Umschlag zurück. »Das mit dem Geld wird sich regeln«, verabschiedete mich die Erikatante.

Ich stand schon an der Tür, als die Zwillinge mit leeren Einkaufsnetzen heimkamen. Lachend boxten sie sich in die Seite, während sie in die Wohnung stolperten. Es gab keinen Flur, man stand gleich in der Küche, die früher ein Badezimmer gewesen war. Das Haus hatte meiner Urgroßmutter gehört, die es teilweise vermietet und an einen Gastwirt verpachtet hatte. Als die Kommunisten das Haus beschlagnahmten und sie auf die Straße setzten, erlitt meine Urgroßmutter einen Herzinfarkt. Ihre Tochter hat diesen Schock nie überwunden. Trotzdem ist sie und später wiederum ihre Tochter Erika in dem Haus wohnen geblieben. Sie hatten einen anderen Nachnamen als meine Urgroßmutter, sonst wären auch sie vertrieben worden.

Adi, der größere der Zwillingsbrüder, rempelte mich an, quietschte dann wie ein Kleinkind.

»Ach, du.«

Ich kann Kleinkinder nicht leiden. Ich kann meine Cousins nicht leiden.

»Seid nett zu Agnes. Sie wird bei uns wohnen, bis ihre Eltern sie nachholen.«

Empört drehte ich mich um, fixierte die hinter dicken Brillengläsern lauernden Augen meiner Tante.

»Wieso, ich bleib in unserer Wohnung.«

»Red nicht, du bist viel zu jung. Aber fahr erst einmal heim, ich komm morgen vorbei, dann schauen wir weiter.« Wieder dieses Klimpern, wieder sandten ihre Augen Botschaften, die ich nicht verstand.

Schulterzuckend stieß ich Adi von der Tür weg und ging hinaus. Ich nahm den Geruch von Wurst mit, die es offiziell nicht gab.

»Wo ist der Alte?«, hörte ich Gicu fragen. Er redete von seinem Vater.

»Oh!« Eine Pause entstand, dann hörte ich klatschende Geräusche. Die beiden Strohköpfe hatten ihren Großvater vor dem Laden vergessen.

Es dauerte nur drei Tage, dann wussten es alle. Die ganze Schule, meine ich. Meine Mutter würde nicht zurückkommen. Ich war das Kind von Verrätern.

Herr Honigberger, mein Biologielehrer, rief mich nach vorne.

»Agnes Tausch, sei so gut.«

Alle anderen drängten sich an mir vorbei, hinaus in den Flur. Keiner wusste, wohin er schauen sollte. Auch Herr Honigberger nicht. Schüchtern hielt er mir einen Zettel entgegen. Ich griff nicht sofort danach, er musste erst meine Hand mit dem Papier streicheln. Kurz sahen wir uns in die Augen, dann eilte ich den anderen hinterher. Den Zettel hielt ich in den Falten meiner Uniform versteckt. Obwohl der Kalender Mai anzeigte, war es sehr warm, sommerwarm. Das dunkelblaue Uniformkleid kratzte auf der nackten Haut. Meine Mitschüler starrten mir neugierig nach, als ich wortlos auf dem Klo verschwand.

Auf dem Zettel stand:

Tauschensis’ sind scheue und zurückhaltende Bodenbrüter,

die am Fuße der Karpaten siedeln.

Durch die lange Adoleszenzphase

kommt es immer wieder vor,

dass Elternpaare frühzeitig die Jungbrut verlassen

und sich in weit entfernten Siedlungsgebieten

einem neuen Nestbau zuwenden.

So bleiben vereinzelt Jungtiere allein zurück,

die sich jedoch zumeist arttypisch weiterentwickeln.

Diese gut gemeinten Worte verwandelten sich in der Einsamkeit der Klokabine in stabile Fischgräten, die sich mir quer in den Hals legten. Ich weinte nicht, blieb sitzen und kam erst heraus, als ich draußen keine Schritte mehr hörte. Die versteckte Botschaft war nicht schwer zu begreifen. Das Vogeljunge war ich. Ich konnte noch nicht fliegen, konnte mich nicht selbst ernähren, konnte noch gar nichts, aber ich würde überleben.

Am nächsten Tag fragte Herr Honigberger, wo ich jetzt wohnen würde.

»In dem verlassenen Nest«, antworte ich. »Sie haben es sehr treffend beschrieben.«

Als Kommentar lachte er herzlich und nahm mich in den Arm. Neben uns fiel ein Stück Mörtel von der Wand. Das Schulhaus musste dringend saniert werden. Sehr langsam, als müsste ich überlegen, ob ich das auch wirklich wollte, kamen ein paar Tränen. Aber Salzwasserflecken trocknen schnell. Als der Unterricht anfing, sah man keine Spur mehr von mir auf Herrn Honigbergers kariertem Hemd. Es war ein wirklich hässliches Hemd, doch es wurde von einem wirklich netten Menschen bewohnt. Für den Nachmittag hatte er mich zu sich nach Hause eingeladen.

Er, seine Frau und die zwei Kinder lebten im Valea Cetatii, einem neuen Ortsteil von Kronstadt. In einem absurd hässlichen Block. Während unser Block ein Dorfhochhaus war und alleine zwischen grünen Feldern und der Durchgangsstraße stand, ragte im Valea Cetatii ein Block am anderen in den wolkenverhangenen Himmel. Innerhalb von fünfzehn Jahren war aus dem ehemaligen Agrarland ein Industrieland geworden. Keine Industrie ohne Fabriken, keine Fabriken ohne Arbeiter, keine Arbeiter ohne Wohnraumbedarf. Unser großer Chef hatte es so bestimmt. Er wusste über alles Bescheid. Er war oberster Planer und Entwickler und Vordenker. Kopf aller Köpfe. Seit ich denken konnte, war ich stolz auf den sozialistischen Weg gewesen. Meine Begeisterung hatte sich im Lauf der Jahre verbraucht – ein riesengroßes Glas Marmelade, dessen Inhalt einem nach und nach über wird. Doch an diesem Tag beschloss ich, dem Verband der Werktätigen Jugend beizutreten.

Die Blocks, erst wenige Jahre alt, verfielen bereits, und daran gab ich niemand anderem die Schuld als meinen Eltern. Meinen Eltern und den anderen Verrätern, die unser schönes Land im Stich gelassen hatten.

Mit der Frage: Was will ich? kam gleichzeitig die Antwort. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass mein Heimatland wieder gesundete. Wie ein Kranker, so stellte ich mir vor, sollte es sich aus dem Bett erheben, von neuen Kräften beseelt. Dann würden meine Eltern zurückkehren, und alles wäre gut. Ich durfte nicht wegschauen, ich musste mithelfen, den Traum von der Verwirklichung des Kommunismus zu, ja was? … zu verwirklichen.

So viel zu meinem aufflammenden Kampfgeist. Wenige Minuten später bröckelte mein Mut, der Atem quietschte, ich weinte und jammerte. Die beiden goldigen Kinder, mein netter Lehrer und seine hübsche Frau hörten mir zwischen selbst gebackenen Cremeschnitten und einem Glas Leitungswasser aufmerksam zu. Schließlich räusperte sich Herr Honigberger.

»Ein aktives territoriales Verhalten ist den Menschen angeboren und bietet für gewöhnlich ausreichend Schutz gegenüber Feinden. Aber, Agnes, du musst deine Eltern verstehen, im vorliegenden siebenbürgischsächsisch geschwächten Fall reicht das leider nicht aus.«

Dass es keinen Kaffee gab, nahm ich Herrn Honigberger nicht übel, aber dass er gegen mein Unglück nichts ausrichten konnte, schon.

Es hatte geregnet. Die Straßen glänzten nass, das Gras lag zerquetscht. Hungrig drang die Sonne durch die Wolkendecke. Als ich in Zeiden den Bus verließ, stieg Dampf vom Trottoir auf und die Vögel benahmen sich wie blöd, jagten sich am Himmel, kämpften um die besten Badeplätze. Ich ging langsam, schlenderte zur Alimentara, kaufte ein und ergatterte sogar noch ein Brot.

Auf der Theke lag der Neue Weg. Weil er aufgeschlagen worden war, konnte ich die Meldung auf der vierten Seite lesen. Sie galt dem Freundschaftsbesuch des neuen Kreml-Chefs. Von Herzlichkeit war die Rede. Dabei hatten sie im Fernsehen gezeigt, dass Michail Gorbatschow Ceauşescu zum Bruderkuss überreden musste.

Zu Hause – die Ernüchterung. Die Eingangstür stand einen Spaltbreit offen. Noch bevor ich eintrat, wusste ich: Es war eingebrochen worden.

Mein Einkaufsnetz wurde schwer. Ich ließ es fallen. Konserven kullerten durch das Treppenhaus, zwei Zwiebeln, das kostbare Brot. Meine Nachbarin Rodica kam aus ihrer Wohnung. Ihr schmales Gesicht hielt sie mit beiden Händen eingerahmt, als wolle sie es schützen. Sie lachte immer, wenn sie mich sah, doch heute war ihr das Lachen zwischen den Händen stecken geblieben.

»Sie sind noch nicht lange weg«, flüsterte sie, wie um böse Geister nicht zu wecken.

»Ja.« Zitternd starrte ich auf das aufgebrochene Schloss, traute mich nicht hinein.

»Polizei in Zivil, hat die alte Duran gesagt, ich bin erst jetzt nach Hause gekommen. Es tut mir alles so leid.« Rodica war groß, doch sie streckte sich, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

»Hat sie noch mehr erzählt, die Duran?«

»Ob sie einen Schlüssel hat, haben sie gefragt.« Betonung auf dem sie. Ein harter Zischlaut, voller Verachtung und Angst.»Die Duran hat ihn nicht hergegeben, da haben sie eure Tür aufgebrochen. Es tut mir so leid«, wiederholte Rodica. »Ich bin zu spät gekommen.«

»Wozu zu spät? Sie tun doch nur ihre Pflicht, ich bin nun mal das Kind von Flüchtlingen.«

Gemeinsam schauten wir uns die Bescherung an. Hand in Hand, wie jung Verliebte. Die Schubladen waren aufgerissen, die Betten hochkant gestellt worden. Wertvolles fehlte, Fernseher, Telefon, Eiskasten, aber auch Bücher, Schallplatten, selbst meine Geige.

»Ich gehe mit dir zur Polizei«, schlug Rodica vor, »lass mich nur rasch Nicolaie Bescheid sagen.« Nicolaie war ihr Mann. Er arbeitete in der Tractoru, Kinder hatten sie keine. Deshalb füllte ich die Kinderrolle aus. Die beiden hatten mich oft zum Essen eingeladen.

»Nein«, rief ich aus. Auf gar keinen Fall wollte ich meine Geige wiederhaben. Entschieden lehnte ich ihre Dienste ab, doch Rodica brachte mich mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen.

»Du bist das Opfer willkürlicher Bürokratie, und ich werde dich verteidigen.«

Auf dem Polizeirevier kämpfte sie wie eine Löwin. Sie drohte mit einem Anwalt, sie drohte damit, ihre Arbeit niederzulegen, sie drohte damit, das Land zu verlassen. Die Polizisten zuckten mit den Achseln und befahlen uns heimzugehen.

»Es gibt genügend anständige Menschen in diesem Land«, sagte der kleinste der vier anwesenden Polizisten. »Die Wohnung ist schon weitervermietet. In zwei Tagen muss sie geräumt sein.« In der Hand hielt er einen Schlagstock. Vielleicht hielt auch der Stock den Menschen. Die Hand wippte, der Schlagstock wippte.

Wir gingen heim.

»Wenn ich weitergeredet hätte, wäre auch meine Wohnung weg gewesen«, tuschelte Rodica im Bus. Sie tuschelte in meinen Blusenausschnitt, das kitzelte, trotzdem lachte ich nicht. »Du kannst bei uns wohnen.« Sanft drückte sie meinen Arm, und da wusste ich, dass sie mehr als meinen Arm wollte. Sie wollte mich ganz.

»Die Erikatante wartet bereits auf mich.«

Doch das stimmte nicht, niemand wartete auf mich.

Es war ein schneller Abschied vom Landleben. Gicuonkel kam mit einem geliehenen Lastwagen, sammelte die restlichen Möbel aus unserer Blockwohnung ein und karrte sie und mich in das ehemalige Haus meiner Urgroßmutter.

Obwohl ich in Kronstadt zur Schule ging, sah ich die Stadt plötzlich mit anderen Augen. Sie war groß, sie war hässlich, ein Tier, dem man ein staubiges Fell übergezogen hatte. In der Karl-Marx-Straße fuhren die Busse und Trolleybusse im Minutentakt. Dicke Rauchwolken hingen über den Häusern. Kein Baum, kein Strauch zeigte seine natürliche Färbung, alles war von einer graugrünbraunen Patina überzogen. Die Häuserfassaden wirkten einheitlich grau, nur an einer einzigen Stelle unterbrach eine Baulücke, schwarz, die Zeile, wie ein fehlender Zahn.

Emsig wurde ein Bett für mich aufgestellt. Im Zimmer der Jungen, das gleichzeitig auch den Durchgang bildete zwischen Bad/Küche und Elternschlafzimmer. Das gleichzeitig auch als Speisekammer diente, für gehortete Lebensmittel. Da der Raum kein Fenster hatte, war es im Sommer kühl, im Winter fielen die Temperaturen nicht so stark wie in den angrenzenden Zimmern. Die Nahrungsmittel versöhnten mich mit dem erzwungenen Umzug. Ich musste nur die Hand heben, um die Einmachgläser mit Gogoşar, Salzgurken und Marillenkompott zu erreichen. Das tat ich auch, die Jungs schliefen tief und fest, und ich aß nachts bei Kerzenschein die Regalbretter leer. Der Sommer hatte sich bereits angemeldet, wozu das alte Zeug aufbewahren? Trotzdem stellte ich die leeren Gläser nach hinten, die vollen nach vorn. Dabei fand ich mehrere Zeitschriften mit barbusigen Frauen und einen Neckermannkatalog aus dem Jahr 1978. Der Besitz war verboten und konnte mit einer Geldstrafe belegt werden. Ob das auch für elf Jahre alte Exemplare galt, entzog sich allerdings meiner Kenntnis. Trotzdem: In der Waschküche zündete ich ein Feuer an und verbrannte den Mist. Meine Angst, dass eine Hausdurchsuchung dazu führen könnte, dass ich wieder heimatlos wurde, war einfach zu groß.

2

»Was hast du getan?«, fragte Gicuonkel drei Wochen später.

Ich dachte an die leeren Gläser, ich dachte an die verbrannten Zeitschriften. Wenigstens den Katalog hätte ich leben lassen sollen.

»Du blöde Kuh hast in der Schule herumerzählt, dass du bei uns wohnst, der Hausmeister hat es mir erzählt.« Erstaunt schaute ich vom Abendessen auf. Selbst der halbseitig gelähmte Großvater vergaß seinen Getreidebrei zu löffeln.

»Joi, sowieso wissen sie es. Wieso dieser Wind?«, bremste ihn meine Tante. »Oder glaubst du, dass irgendetwas in diesem Land passiert, von dem sie nichts wissen? In jeder Kakerlake steckt eine Wanze.«

Doch ihr Mann, dem ich beleidigt den Titel: »Mein ehemaliger Onkel« verliehen hatte, war nicht zu bremsen. Wie ein Auto mit gelöster Handbremse rollte er den Berg hinunter, direkt auf mich zu. »Die können es von mir aus wissen, doch die ganze Stadt muss es nicht erfahren. Ich bin Briefbote gewesen, man kennt mich, man wird mich schräg anschauen, wenn ich eine Saboteurin beherberge.«

»Was redest du, du Depp? Ihre Eltern haben nur das Land verlassen, wie du das am liebsten auch machen würdest.«

»So, würde ich das, woher willst du das wissen? Und red noch lauter, damit es auch die Nachbarn hören. Damit ich meine Stelle wieder wechseln muss. Ihr Sachsen seid unser Untergang. Aber jetzt sind wir die Herren, klar?« Sein Blick traf mich wie ein Messer. »Klar?«, wiederholte er lautstark. Alle Nachbarn konnten es hören.

Die Zwillinge bissen sich auf die Lippen, sie grinsten ein bisschen, sie fürchteten sich ein bisschen. Die Hand ihres Vaters war schnell, und man wusste nie, wo sie landen würde.

»Wasch isch insch disch gefahrschen?«, nuschelte der halbseitig gelähmte Großvater. Keiner verstand ihn. Ich duckte mich unter Gicus rumänischem Worthagel, der immer noch andauerte.

»Du gehörst zur Familie, du bist unser Gast, du tust, was ich dir sage. Und du lässt die Finger von meinem Plattenspieler.«

»Das war ich nicht.«

»Wie sie lügt, es ist unglaublich. Nicht rot, sondern lila wird sie dabei.«

Ein Blick zu den Zwillingen bewies, dass es ihre Gesichter waren, die sich dunkel verfärbt hatten.

»Was willst du eigentlich von mir?« Ich war aufgesprungen, was ein Fehler war. Meine Beine zitterten.

»Keinen Ärger. Die Gäste, die man nicht bemerkt, sind mir die liebsten«, plusterte er sich auf.

Nun reichte es auch meiner Tante. Auch sie erhob sich, versuchte zu beschwichtigen, versuchte einzulenken. Nichts sei geschehen, absolut nichts, betonte sie, und ihre Stimme nahm jene Festigkeit an, die zu ihrer Körpermasse passte. Doch dann holte mein ehemaliger Onkel zu einem neuen Schlag aus und beendete jede mögliche Versöhnung.

»Aber sie frisst für zwei, dabei bekommen wir nur für eine bezahlt und das auch noch sehr knapp. Hast du gehört, knapp. Ihre Eltern sind Geizhälse. Sie sitzen wie die Maden im Speck, und uns haben sie vergessen.« Mit einem Ruck wandte er sich wieder mir zu. Seine Achselhaare stachen wie borstige Stacheln unter den Rändern seines Unterhemdes hervor. »Hast du schon ein Paket bekommen, hast du? Ich jedenfalls hab keins gesehen?«

»Mamusch ist erst seit ein paar Wochen weg. Sie wird Pakete schicken, sie wird Geld schicken.«

»Hoffentlich bald, sonst …«

»Was sonst?«

»Sonst kannst du zu deiner Großmutter, der Hure, ziehen, kapiert. Die weiß sowieso nicht, wohin mit ihrem Zaster.«

Es war heraus, das lang gehütete Familiengeheimnis. Ein Zischen machte die Runde am Tisch. Erst zischte meine Tante, dann stieß der Großvater, von dem ich angenommen hatte, dass er kaum etwas verstand, Luft zwischen einer seiner Zahnlücken aus. Am Schluss entließ sogar mein ehemaliger Onkel einen merkwürdig dumpfen Laut.

So erfuhr ich bei einem verpatzten Abendessen, drei Wochen nachdem ich zu fast hundert Prozent Vollwaise geworden war, dass eine meiner Großmütter, die den Beinamen »die Hure« trug, noch lebte, dass sie in Kronstadt lebte und dass sie reich war.

Noch am selben Abend, als sich die Ränder der Altstadt unter der Hohen Zinne duckten, stand ich mit meinem hässlichen Koffer vor ihrer Tür. In der Burggasse 67, keine dreihundert Meter von der Schwarzen Kirche entfernt. Ich würde morgens zu Fuß in die Schule gehen können.

An dem rostigen Metalltor hing ein Schild. George & Hertha Busac, entzifferte ich. Das Schild, aus massivem Holz, war groß und hässlich, die Schrift teilweise abgeblättert. Vom Haus sah man nichts, es war das einzige in der Reihe, das nach hinten versetzt lag.

Obwohl ein Hund bereits beim ersten Klingeln zu bellen begann, dauerte es lange, bis sich Schritte näherten. Ein Schlüssel klapperte im Schloss, dazu fluchte eine Frauenstimme.

»Futute.« Dann eine kurze Pause und große Augen. »No seich, wie hei kit.«

Eine aufgetakelte Alte nahm mir den Koffer ab, hieß mich das Tor schließen und ging voraus, über einen schmalen Pfad, auf das zweistöckige Gebäude zu. Ein Schmuckstück, von dem ich jedoch nur wenig erkennen konnte. Die Fensterläden waren grün gestrichen, und an der Hauswand wucherte Wein.

»Kamm schien«, winkte die Fremde mich heran und hielt mir die Haustür auf. Nach meinem Namen und dem Grund meines Erscheinens hatte sie nicht gefragt. Behutsam, als vermutete sie Eier in dem Koffer, stellte sie mein Gepäck neben einer Kredenz im Flur ab und trat durch eine offen stehende Tür.

»Hei kost ta awer net bleiwen.«

Die Hure sprach Sächsisch. Es wäre besser gewesen, ich hätte den Dialekt nicht verstanden. Sie hatte mich gerade ausgeladen. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

»Hoi, bist du beleidigt? Immerhin hast du Kurasch.« Sie lachte. »Nenn mich Puscha.«

Hertha Busac, die Puscha genannt werden wollte, war 64 Jahre alt, als ich sie kennenlernte, doch ihr sorgfältig frisiertes Haar, das farbenprächtige Kleid, vielleicht auch ihr Gehabe, ließen sie jünger erscheinen. Sie trug an jedem Handgelenk zwei Armbänder, und ihr Hals war mit zahlreichen Perlen- und Silberketten behängt.

Obwohl es spät war, hatte sie Besuch. Mehr Weingläser standen auf dem Küchentisch, als Personen anwesend waren. Ein Mann, alt, ein Mann, jung, waren die letzten Gäste. Vater und Sohn, wie ich erfahren sollte. Puscha stellte mich als ihre Enkeltochter vor. Woher sie mich kannte und warum sie über mein Erscheinen nicht verwundert schien, verriet sie nicht. Es wurde Deutsch und Rumänisch gesprochen. Man bot mir einen Platz an, und einer der Männer befreite mich von meinem Anorak, obwohl ich fror.

»Einen Spitznamen haben sie dir nicht gegeben, nicht wahr«, sprach mich meine Großmutter an. Sie schaffte es mit wenigen Worten, Vorwürfe zu stabilen Mauern aufzutürmen. »Gut, nennen wir dich also Agnes. Obwohl das ein schrecklicher Name ist.« Schmollend stülpte sie ihre rot geschminkten Lippen vor. Die Männer lachten und prosteten mir zu. Rotwein war nachgeschenkt worden.

Ich lehnte ab. Meine Augen interessierten sich nur für Puscha. Einer Königin gleich thronte sie am oberen Ende des Tisches, unterstrich ihre Sätze mit weit ausholenden Gesten, entzog dem jungen Mann, er hieß Petre, das Wort, als er sich nach meinem Wohlbefinden erkundigen wollte. Wie konnte es sein, dass sie keinerlei Anzeichen von Rührung oder Freude oder von was auch immer zeigte? Enttäuscht starrte ich sie an und begriff nicht, warum sie mich wie eine alte Bekannte behandelte. Eine Bekannte, die man lange nicht gesehen, aber auch nicht vermisst hatte. Ihr Gesicht wirkte entspannt, sie trank den Wein in kleinen Schlucken. Dennoch erhaschte ich einen Blick in ihren Gaumen, die Zunge war lilafarben, was nicht gesund aussah. Und in mir stieg die Sorge auf, sie zu verlieren. Sie sprach über alles Mögliche, nur nicht über mich und warum sie von meiner Existenz wusste, ich aber nicht von ihrer.