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Herausgegeben von
Thomas Koebner
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Philipp Reclam jun. Stuttgart
Filmgenres
Animationsfilm
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
© 2007, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2012
RECLAM und UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-960124-3
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-018405-9
Inhalt
Einleitung
Mancher Leser mag beim Blick auf den Titel dieses Buches verwundert fragen: Der Animationsfilm ein Genre? Gewisse Zweifel scheinen durchaus angebracht. In der Tat kann der Animationsfilm für sich kaum eine stete Wiederkehr bestimmter Topoi, Handlungsmuster oder Figurenkonstellationen reklamieren. Dafür ist seine Bandbreite schlicht zu groß. Unter dem Oberbegriff Animationsfilm versammelt sich eine Reihe sehr unterschiedlicher künstlerischer und technischer Gestaltungs- bzw. Produktionsformen. Bis vor kurzem firmierten diese im Deutschen meist unter dem Begriff »Trickfilm«. Ein etwas unglücklicher Terminus, denn letztlich ist jede Art von Film ein Trick. Beim »Realfilm«, der für sich in Anspruch nimmt, Wirklichkeit abzubilden, sorgt eine fotochemische Reaktion dafür, dass Bilder auf Zelluloid gebannt und anschließend mit 24 Bildern pro Sekunde abgespielt werden. So entsteht eine optische Illusion, die dem menschlichen Auge kontinuierliche Bewegung vorgaukelt. Dies ist das gleiche Prinzip, mit dem auch der Animationsfilm operiert. Beim Realfilm kommt aber noch eine weitere Illusion hinzu, nämlich die der Abbildung von Realität. Sie basiert auf filmsprachlichen Konventionen, die (fälschlicherweise) nahelegen, zwei aufeinanderfolgende, durch einen Schnitt getrennte Einstellungen stünden zwingend in einem Sinn- oder Kausalzusammenhang. Ein ziemlich imposanter Trick … Wer demgegenüber den Trickfilm in die Nähe des Spekulativen oder Halbseidenen rückt, vergisst zudem, dass kein Abbild der Realität jemals die Realität selbst getreu wiedergeben kann. Dies gilt auch für den Dokumentarfilm, der durch seine Motivauswahl, die Entscheidung für bestimmte Kameraperspektiven oder Bildausschnitte und vor allem durch die Montage in der Postproduktion weit davon entfernt ist, ungefilterte Wirklichkeit zu spiegeln. Der Animationsfilm strebt dieses Ziel gar nicht erst an. Im Übrigen nahm das Kino seinen Ursprung bekanntlich im Varieté und Jahrmarkttreiben, weshalb sich der Realfilm von Anfang an mit diversen Formen filmischer Tricks durchmischte. Tatsächlich waren viele frühe Filme nichts anderes als tricktechnische Umsetzungen von Vaudeville-Gags. Von der angesprochenen Durchmischung wird später noch zu reden sein.
Zu den verschiedenen Arten des Animationsfilms zählen Zeichentrick, Puppentrick, Silhouettenfilm und Legetrick (oder cut-out animation), bei dem mit aus Materialien wie Karton oder Papier ausgeschnittenen Figuren gearbeitet wird. Außerdem der Objekttrick – hierbei setzen sich Gegenstände scheinbar eigenständig in Bewegung – und als neuestes Mitglied die Computeranimation. Daneben existieren aber auch weniger bekannte Spielarten wie die Sandanimation, bei der der Künstler auf einer von unten beleuchteten Glasplatte den Sand modelliert; das Einritzen von Figuren, Formen und Zeichen direkt auf dem Zelluloid-Schwarzfilmstreifen; oder die Pixillation, bei der Menschen, Tiere oder Objekte einzelbildweise fotografiert und ihre Bewegungen bei der Projektion bewusst diskontinuierlich verzerrt dargestellt werden. Der Begriff »Animation« leitet sich ab vom lateinischen Verb animare, was so viel bedeutet wie ›Leben einhauchen‹ oder ›beseelen‹. Und genau darum geht es: unbelebte Objekte scheinbar in Bewegung zu versetzen. Rolf Giesen definiert Animation als »Folge von Einzelbildern, die den Eindruck eines Bewegungsablaufs vermitteln«. Zu ergänzen wäre noch, dass diese Einzelbilder, wie bereits erwähnt, fotografiert und in der Regel mit 24 Bildern pro Sekunde abgespielt werden. Bei aller Ähnlichkeit des Prinzips gibt es dabei einen entscheidenden Unterschied zum Realfilm: Beim Animationsfilm wird jedes Bild »Frame by Frame« (einzelbildweise, im Bereich der 3-D-Animation meist als Stop-Motion bezeichnet) separat aufgenommen, während im Realfilm mit der Kamera eine Folge von Bildern festgehalten wird. Beim Realfilm wird also echte Bewegung auf Zelluloid gebannt und später mittels der Projektion rekonstruiert. Beim Animationsfilm dagegen wird vom Künstler eine Reihe von Einzelbildern erschaffen und die Illusion der Bewegung somit erzeugt. Daraus folgt eine fundamentale Erkenntnis: In der Animation lassen sich jegliche beliebigen Bilderfolgen miteinander verknüpfen. Es herrscht völlige kreative Freiheit. Unmöglich ist nur, was sich nicht denken bzw. nicht zeichnen, modellieren oder im Computer berechnen lässt. »Der Trickfilm […] ist an nichts weiter gebunden als an die Grenzen der Fantasie seiner Schöpfer, an die Artistik von Zeichenstift und Radiergummi und an die Perfektion der Multiplankamera. Der Zeichenstift kann sich über alle Gesetze der Kausalität, der Schwerkraft, der Logik und der Natur hinwegsetzen. Es gibt kein Milieu, das der Trickfilm nicht auszumalen oder nicht noch zu intensivieren vermöchte. Es gibt keine realistische oder utopische Szenerie, keine psychologische Situation, vor der seine Realisierungskünste versagen müssten« (Giesen).
Mancher Regisseur hat aus diesen fast unbeschränkten Möglichkeiten auch eine besondere Verantwortung und vor allem ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein des Animationsfilms abgeleitet, der im Übrigen im Vergleich zu seinem prominenteren Bruder, dem Realfilm, sogar die ältere Kunstform ist (vgl. den Artikel über die Pioniere des Animationsfilms in diesem Band). Die britischen Trickfilmer Joy Batchelor und John Halas etwa ließen einmal verlauten: »If it is the live-action film’s job to represent physical reality, animated film is concerned with metaphysical reality – not how things look, but what they mean.« Der Animationsfilm ist also in der Lage, die Wirklichkeit zu transzendieren und sie mit einer neuen, weiterführenden Bedeutung aufzuladen. Hält man sich an ein viel zitiertes Wort des Trickfilmkünstlers Norman McLaren, entsteht die Magie dabei erst durch das, was zwischen den einzelnen Bildern passiert: »Animation is not the art of drawings that move, but rather the art of movements that are drawn. What happens between each frame is more important than what happens on each frame. […] Therefore, animation is the art of manipulating the invisible interstices between frames.« Will man den Animationsfilm nicht nur als filmische Gattung, sondern als Genre klassifizieren, muss man genau an diesem Punkt ansetzen. Ein Animator trifft pro Sekunde Film 24 Mal eine Entscheidung, wie er Bewegung von einem Bild zum nächsten darstellen möchte. Er kann zum Beispiel an einer Puppe einen Arm, ein Bein oder den Kopf anders ausrichten, er kann aber auch komplett neue Figuren und Objekte einfügen oder alles unverändert lassen. Was immer sich zwischen zwei Frames ereignet, bestimmt allein der Wille des Animators, es unterliegt keinerlei Gesetzen oder Konventionen. Es ist dieser nahezu grenzenlose gestalterische Freiraum des künstlerischen Zugriffs auf jedes einzelne Bild zur Darstellung von Bewegung – in Kombination mit den bereits erwähnten technischen Voraussetzungen –, der das heterogene Gebilde des Animationsfilms definiert und es zum Genre qualifiziert.
Der durchschnittliche Kinogänger freilich bekommt von diesen ungeahnten Möglichkeiten wenig mit, haben es doch in den vergangenen Jahrzehnten – mit einigen Ausnahmen – fast ausschließlich Disney-Filme und solche, die den Disney-Stil imitieren, auf die große Leinwand geschafft. Walt Disney ist unbestritten eines der größten Genies des Animationsfilms. Seine Karriere hatte er mit anarchischen Kurzfilmen begonnen. 1937 jedoch führte er durch den überwältigenden Erfolg des ersten langen Zeichentrickfilms der Kinogeschichte, Schneewittchen und die sieben Zwerge, den Animationsfilm mit Pauken und Trompeten aus seinem Nischendasein heraus – direkt in eine kreative Sackgasse. Disneys künstlerisches Credo wird üblicherweise unter dem Schlagwort »illusion of life« zusammengefasst. Die Figuren in seinen Filmen sollten, wenngleich sie oft mit übernatürlichen Phänomenen zu tun hatten oder es sich um Tiere handelte, hinsichtlich ihrer Gestik, Mimik und Bewegungen stets nach menschlichem Vorbild gestaltet sein. Auf diese Weise entstand ein dem Realfilm entsprechendes »wirklichkeitsnahes« visuelles Koordinatensystem, das Umberto Eco als Hyperrealismus bezeichnet. Dieser Hyperrealismus und der dazugehörige Anthropomorphismus bestimmten, ja monopolisierten geradezu den abendfüllenden Animationsfilm. Nimmt man noch die für Disney oft typische Tendenz zu Kitsch und Verniedlichung hinzu, mag es kaum verwundern, dass in der allgemeinen Wahrnehmung Kinder in der Regel immer noch als primäre Zielgruppe für Trickfilme angesehen werden. Wer sich diesbezüglich von der Computeranimation Abhilfe erhofft hatte, dürfte enttäuscht sein. Hier scheint sich die gleiche Entwicklung zu wiederholen. Wie wäre es sonst zu erklären, dass die Filme der Studios DreamWorks, Fox, Sony, Disney oder (mit Abstrichen) Pixar – so amüsant und gelungen die Filme im Einzelfall auch sein mögen – häufig mit einer ähnlichen Ästhetik und noch häufiger mit ähnlichen Figuren aufwarten: lustige Tiere, lärmende Sidekicks. Ausnahmen bestätigen wie üblich die Regel. Es sagt viel über die Originalität der Drehbuchautoren aus, dass mit Madagaskar (2005) von DreamWorks und mit Disneys erstem unabhängig von Pixar entstandenen Computer-Langfilm, Tierisch wild (2006), innerhalb eines Jahres zwei Filme den Weg ins Kino fanden, die einen fast identischen Plot haben, ohne dass es sich bei einem davon um ein Plagiat handeln würde. Dafür sind die Produktionszeiten für einen abendfüllenden Animationsfilm zu lang. Gibt es wirklich so wenige innovative Skriptideen und originelle gestalterische Einfälle? Hier wird offenbar gerade wieder eine große Chance vertan, vielfältigere künstlerische Ausdrucksweisen zu etablieren.
Die gerade skizzierte Entwicklung gilt indes nur für die westliche Hemisphäre. In Asien und besonders in Japan ist der Trickfilm, der dort Anime heißt und den größten Anteil der weltweiten Produktion von Animationsfilmen ausmacht, im nationalen kulturellen Bewusstsein fest verankert. Animes basieren recht häufig auf Manga, den japanischen Comics. Während hierzulande der Boom der sogenannten graphic novels wie Frank Millers Wiederbelebung des Superhelden Batman, The Dark Knight Returns, oder Alan Moores Watchmen die Comics erst in den 1980er Jahren allmählich für eine erwachsene Leserschaft salonfähig machten, waren in Tokio oder Osaka die U-Bahn-Waggons längst voll mit Geschäftsleuten, die sich auf dem Weg zu und von der Arbeit Manga zu Gemüte führen. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Animes, die sich auch inhaltlich meist an ein erwachsenes Publikum wenden. Oft geht es um politische Verschwörungen oder das Verhältnis von Mensch und Maschine als Reflexion über den rasanten Aufstieg des Landes zur industriellen Weltmacht und die daraus resultierende Sinnkrise des Individuums. Dabei sind freizügige Darstellungen von Gewalt und Sexualität nichts Außergewöhnliches. Daneben gibt es aber ebenso die vor Fabulierfreude schier überbordenden Filme von Hayao Miyazaki (z. B. Chihiros Reise ins Zauberland, 2001 oder Das wandelnde Schloss, 2005), die den Zuschauer in fantastische Welten entführen und eine Rückkehr zu Spiritualität und Umweltbewusstsein anmahnen. Und es gibt komplexe Dramen wie Die letzten Glühwürmchen (1988), die immer wieder ein nationales Trauma aufarbeiten, nämlich die Angst vor einer neuerlichen nuklearen Katastrophe, ausgelöst durch die Abwürfe der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch die visuelle Ästhetik des Anime hat sich seit Katsuhiro Otomos Akira (1988) weitgehend von den Disney’schen Parametern emanzipiert. Unterdessen blieb dem amerikanischen Multikonzern die steigende Popularität des Anime im Westen natürlich nicht verborgen. Auf die heraufdämmernde Konkurrenz aus dem Land der aufgehenden Sonne reagierte er, wie es sich für einen »Global Player« gehört: Zunächst sicherte man sich die Verwertungsrechte an Prinzessin Mononoke für den US-Markt und bereitete dem Film dort anschließend durch eine – vermutlich absichtlich – indiskutable Verleihpolitik ein stilles Grab. Später änderte Disney seine Strategie und kaufte kurzerhand Japans renommierteste Trickfilmschmiede, das von Hayao Miyazaki mitbegründete legendäre Studio Ghibli.
Wie groß die Bandbreite des Animationsfilms ist, wird schnell klar, wenn man einmal die Werke unter die Lupe nimmt, die auf den bedeutenden Trickfilmfestivals in Annecy, Stuttgart oder Zagreb zu sehen sind. Was dort an inhaltlicher und ästhetischer Vielfalt an Langfilmen, besonders aber an Kurzfilmen zu bewundern ist, macht deutlich, dass der Animationsfilm vor allem eines ist, nämlich ein »ernsthaftes künstlerisches Ausdrucksmittel, angesiedelt an einer imaginären Grenze zwischen Film und Bildender Kunst« (Thomas Basgier). Auf den weltweiten Festivals findet auch der experimentelle Animationsfilm seine verdiente Anerkennung. Er verweigert sich oft ganz bewusst denjenigen Faktoren, denen im Mainstream-Kino die größte Aufmerksamkeit gilt: einer linearen Geschichte, der Charakteranimation und natürlich der »illusion of life«. Stattdessen experimentiert er mit abstrakten Kategorien wie Rhythmus, Farbe, Bewegung und Licht. Solche Werke sind oft nur bedingt für ein Massenpublikum tauglich, wenngleich viele der genannten Elemente später Eingang in populäre Medien wie Musikvideos Eingang gefunden haben und wenngleich viele frühe experimentelle Animationsfilme Werbefilme waren. Dennoch tummeln sich auf Festivals genügend Filme, die in Design oder narrativer Struktur von der Konfektionsware abweichen und trotzdem eine stattliche Zuschauerzahl und internationale Anerkennung erreichen könnten, wenn sie denn einen Verleih fänden. Dies hat etwa Sylvain Chomets für den Oscar nominiertes Animationsabenteuer Das große Rennen von Belleville (2003) nachdrücklich bewiesen.
Eine weiße, waagerechte Linie, sonst nichts. Wie diese ominöse Apparatur im Krankenhaus, die fehlenden Herzschlag signalisiert. Doch dann kehrt plötzlich Leben ein: Die Linie schlägt nach oben aus, Kurven bilden sich, bis sich die Umrisse eines Männchens erkennen lassen. Es beginnt, die Linie entlangzulaufen. Aber bald schon stellen sich ihm Hindernisse in den Weg, was zu einer lautstarken Tirade von Flüchen führt. »Lui« (»Er«) heißt dieses cholerische Männlein schlicht, ausgedacht hat es sich 1972 der Italiener Osvaldo Cavandoli. Seine kurzen Abenteuer nannte er ebenso schlicht La Linea. Sie belegen, mit welch einfachen Mitteln der Animationsfilm unbegrenzte Fantasie entfalten kann. Von der weißen Linie bis zur detaillierten Ausgestaltung von Charakteren oder virtuellen Räumen ist es ein großer Schritt, und doch gehört beides zur Animation. Wo aber liegt die Grenze zwischen Trickfilm und Filmtrick? Sie scheint zunehmend zu verschwimmen. In Hollywood kommen Blockbuster kaum noch ohne digitale Effekte aus. Das gilt nicht nur für Fantasyfilme wie Der Herr der Ringe, sondern auch für in der Wirklichkeit angesiedelte Geschichten. Die Formel für Action-Reißer lautet: je teurer, desto bumm. Neben diesen Special Effects, oft pyrotechnischer Natur und für jedermann erkennbar, gibt es da aber auch noch die sogenannten Visual Effects, die es gerade auf Unsichtbarkeit anlegen, um die Kontinuität der Geschichte nicht zu stören (etwa digital animierte Regentropfen). An diesem Punkt setzt auch die Unterscheidbarkeit von Filmtrick und Trickfilm an. Als klassisches Beispiel kann King Kong herhalten, egal, ob von Willis O’Brien mit ungelenkem Charme per Stop-Motion (1933) oder von Peter Jacksons Computermagiern digital (2005) erweckt. Der Gorilla muss möglichst lebensecht wirken, weil er innerhalb der Geschichte als »real« akzeptiert werden soll, d. h., das Publikum soll ihn nicht als animatorische Meisterleistung wahrnehmen, sondern als Riesenaffen mit Liebeskummer. Sitzt aber zum Beispiel Wallace mit seinem Kumpel Gromit am Frühstückstisch, betrachten wir ihn bewusst als Knetpuppe, so britisch seine Wohnung und spießig sein Pullunder auch sein mögen. Dies gilt übrigens auch für die nach Analogie zur Wirklichkeit strebenden Zeichentrickfiguren Walt Disneys. Anders ausgedrückt: »Filmtrick subsumiert alle Verfahren, die einen realen Bildinhalt mit künstlichen Mitteln erweitern: alle visuellen und fotografischen sowie die mechanischen und pyrotechnischen Effekte, seien sie nun ›sichtbar‹ oder ›unsichtbar‹. Trickfilm hingegen meint ein total synthetisches Medium, nämlich das der Einzelbildanimation, anhand von Gegenständen (Modellanimation), Zeichnungen (Zeichenfilm), Flachfiguren (Legetrick) oder mit Hilfe eines Computers (Computeranimation)« (Rolf Giesen).
Vertrackt wird die Angelegenheit allerdings, wenn gar kein realer Bildinhalt mehr existiert, wenn er stattdessen komplett im Rechner erzeugt wird, wie z. B. in Immortal (2004) oder Sky Captain and the World of Tomorrow (2004), wo einige Schauspieler im Studio vor Greenscreen – eine grüne Wand als Bildhintergrund, der in der Postproduktion mit virtuellen Bildinhalten gefüllt wird – agieren und das gesamte Umfeld aus dem Computer kommt. Der Einsatz dieser immer leistungsstärker werdenden Wunderwaffe führt zu einer Aufweichung der Membran zwischen Real- und Animationsfilm (vgl. den Artikel über Special und Visual Effects Animation). In ihren Anfängen löste die CGI-Animation (computer generated images) viele Ängste auf Seiten traditioneller Trickfilmkünstler aus, die um ihre Existenz fürchteten. Nicht ganz zu Unrecht, bedenkt man, dass die Walt Disney Studios das eigentlich Undenkbare getan und ihre ruhmreiche Zeichentrickabteilung, vielleicht für immer, geschlossen haben. Offenbar ist niemandem in der Chefetage in den Sinn gekommen, dass die unbefriedigenden Einspielergebnisse der letzten Filme eher schlechten Drehbüchern als der falschen Animationsart geschuldet sein könnten. Gefahr scheint dem traditionellen Zeichentrick auch aus Japan zu drohen. Dort bestaunte man 2004 mit Appleseed den ersten Anime, der komplett im Computer entstand. Bemerkenswert daran ist, dass dabei das sogenannte cel shading zum Einsatz kam, eine Technik, die 3-D-Modelle aus dem Rechner zweidimensional wirken lässt, die also die Ästhetik des Zeichentrickfilms simuliert. Ansonsten jedoch haben sich Unkenrufe wie der von Jeffrey Katzenberg von DreamWorks, der wohl etwas vorschnell den baldigen Tod der 2-D-Animation prognostiziert hatte, bislang zum Glück als weitgehend unbegründet erwiesen. In Japan gehören klassisch gezeichnete Anime, insbesondere die Meisterwerke Hayao Miyazakis, zu den umsatzstärksten Filmen aller Zeiten, in Frankreich haben die Kiriku-Zeichentrickfilme (1998/2005) die Herzen der Zuschauer erobert, und auch die Puppenanimation konnte mit Wallace & Gromit: Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen (2005) oder Tim Burton’s Corpse Bride (2005) Erfolge verzeichnen. Dabei hat der Computer längst auch in traditionellen Animationsformen Einzug gehalten, weil mit seiner Hilfe viele Arbeitsschritte kostengünstiger und zeitsparender zu realisieren sind, vom Storyboarding in der Pre-Production bis zur digitalen Bildbearbeitung in der Postproduktion.
So schlecht ist es demnach wohl doch nicht um die altehrwürdigen Spielarten des Animationsfilms bestellt, wie selbst John Lasseter bestätigt, seines Zeichens Kopf der führenden Computeranimations-Schmiede Pixar: »Nie in der Geschichte des Kinos hat das Publikum Filme nicht sehen wollen wegen der Technologie. Als der Farbfilm aufkam, wollte das Publikum dennoch auch Schwarzweißfilme sehen. 2-D-Animation wird zum Sündenbock für schlechtes Geschichtenerzählen gemacht. Niemand beschwert sich über 35-mm-Kameras, nur weil damit schlechte Filme gedreht wurden.« Vielleicht sollte man sich eher fragen, ob die Computeranimation sich nicht auf einem Holzweg befindet, zumindest was den Mainstream-Bereich betrifft. Die inflationäre Verbreitung der knuffigen, witzigen Tiere und Fantasiewesen führt dazu, dass die Animatoren am Rechner mittlerweile enorme Fortschritte in dem Bemühen erzielt haben, die Texturen von Fell oder Kleidung der Wirklichkeit nachzuempfinden. Die Vermutung liegt allerdings nahe, dass dies nur Fingerübungen sind auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, nämlich der perfekten dreidimensionalen Nachbildung des Menschen. Versuche in dieser Richtung wie Final Fantasy (2001) oder Der Polarexpress (2004) hat es bereits gegeben, doch der Weg scheint noch lang: »Interessanterweise stellt gerade die rechnerische Perfektion des Digitalbildes die größte technische Hürde bei der Simulation des menschlichen Körpers dar. Haut und Haare oder auch der Faltenwurf eines Kleides reflektieren das Licht so unregelmäßig, dass die computergrafische Imitation stets wächsern wirkt, umweht von einem Hauch Madame Tussauds. Es hat eine gewisse Ironie, dass sich unser unordentliches, im wahrsten Sinne unberechenbares kleines Dasein immer noch störrisch der totalen Verpixelung entzieht« (Katja Nicodemus). Eines lässt sich jedenfalls eindeutig festhalten: Selbst falls man es irgendwann erreichen sollte, jeden anderen Teil des menschlichen Körpers virtuell vollendet herzustellen, wird dies nutzlos sein, wenn es nicht gelingt, das menschliche Auge realistisch zu animieren. Bekanntlich stehen die Augen im Ruf, der Spiegel der Seele zu sein, und obgleich animieren »beseelen« bedeutet, weigert sich dieser Spiegel hartnäckig, sein Geheimnis preiszugeben. Ist der lebende Mensch am Ende gar doch der Schönste im ganzen digitalen Wunderland? Wichtiger als die Frage nach den Möglichkeiten der perfekten Nachahmung von Realität scheint die nach dem Sinn dieses Unterfangens. Brad Bird, Regisseur von Die Unglaublichen – The Incredibles (2004), hat einmal gesagt, Animation imitiere nicht, sie übertreibe. Man könnte auch sagen, sie interpretiert und bereichert die Wirklichkeit. Dieser Mehrwert, den der Animationsfilm gegenüber der Realität schafft, ist einer seiner zentralen Wesenszüge. Wo also läge seine Existenzberechtigung, wenn er nichts weiter leistete, als die Wirklichkeit zu reproduzieren, und wo bliebe sein Zauber? Ein einziger Blick in die seelenlosen Augen von Aki Ross, der Protagonistin aus Final Fantasy, verrät es uns: Er bliebe auf der Strecke, und zwar auf jener Strecke ins emotionale Vakuum, die der Polarexpress mit Volldampf befährt.
Auf prähistorischen Wandzeichnungen in den Höhlen von Altamira in Spanien findet sich die Darstellung eines achtbeinigen Bisons – ein sehr früher Versuch, in einem Einzelbild Bewegung festzuhalten, und somit eine Art Vorläufer der Animation. Von dort war es ein langer Weg bis zur digitalen Revolution. Es steht außer Frage, dass nicht nur die Zukunft des Animationsfilms, sondern des Kinos insgesamt eng an die Entwicklung der Computertechnik gekoppelt sein wird. Den zunehmenden Einsatz digitaler Effekte in Großproduktionen mag man kritisch betrachten, weil er den einen oder anderen Regisseur dazu verführt, die zu erzählende Geschichte zu vernachlässigen. Und auf die kommt es schließlich an. Kein digitales Facelifting wird je ein schlechtes Drehbuch retten und ein gutes nur selten ruinieren können. Dem Computereinsatz bei Blockbustern steht im Übrigen auch die Tatsache gegenüber, dass die digitale Technik am finanziell anderen Ende der filmischen Nahrungskette ebenfalls ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Eine Digitalkamera ist mittlerweile für fast jedermann erschwinglich. Dadurch können junge Nachwuchsfilmer wesentlich einfacher und kostengünstiger erste Projekte realisieren, als das im analogen Zeitalter möglich gewesen wäre. Dies bietet die Gelegenheit zur Entdeckung vielversprechender neuer Talente, wie etwa die dänische Dogma-Bewegung belegt. Ähnliche Entwicklungen sind auch im Bereich der Animation zu beobachten. Mit handelsüblicher Software oder z. B. dem Dateiformat »Flash« lassen sich am heimischen PC einfache, auf Vektorgrafiken basierende Animationen herstellen, die über das Internet und multimediafähige Handys verbreitet werden. Die digitalen Technologien ermöglichen also auch Hobbytrickfilmern den Zugang zu künstlerischen Ausdrucksformen, die bislang professionellen Animatoren vorbehalten waren. Diese Tendenz, die von George Lucas gern mit dem Schlagwort »Demokratisierung der Medien« beschrieben wird, ist zwar prinzipiell zu begrüßen. Allerdings ist sie bei näherer Betrachtung eine durchaus ambivalente Angelegenheit. Denn wo keine Experten mehr am Werk sind, sondern jeder Amateur sich nach Herzenslust erproben kann, stößt man zwangsläufig nicht nur auf Talent, sondern vor allem auf ein gehöriges Maß an Dilettantismus.
Digitalisierung bedeutet jedoch noch weit mehr. Eine Aufnahme auf 35-mm-Film liefert ein materielles Bild, nämlich den Zelluloidstreifen, mit einem Bezug zur Realität. Das digitale Bild dagegen ist kein Bild im herkömmlichen Sinne mehr, sondern besteht lediglich aus Daten im Computer. Die Fragen nach dem Wahrheitsgehalt von Bildern, nach der Beschaffenheit der Realität an sich und die Angst vor einer Manipulation der Bilder sind so alt wie das Kino selbst. Durch die Digitalisierung allerdings werden sie in ihrer Dringlichkeit potenziert, denn Bilder sind nun beliebig austauschbar, ohne dass selbst ein Experte die Veränderung bemerken würde. Diese Möglichkeit lässt weniger für den eskapistischen Schutzraum der Lichtspielhäuser als für die – vor allem politische – Wirklichkeit Schlimmes befürchten. Doch auch das Kino ist von den bevorstehenden Umwälzungen entscheidend betroffen: »Durch die digitalen Technologien vollzieht sich im Kino ein grundlegender Wandel. Grob gesagt: Von einer künstlerischen Form, die – mit der Kamera – die Welt abbildet, wird das Kino zu einer Form, die – am Computer – imaginäre Welten abbildet. Statt im Wesentlichen fotografisch zu funktionieren, wird das Kino zu einer grafischen Kunst« (Susanne Weingarten). Damit nähern sich wiederum Realfilm und Animationsfilm einander an. Im Hinblick auf Filme wie Immortal oder Sin City (2005) spricht Wolfgang Borgfeld sogar von der »Geburtsstunde eines neuen Filmgenres: real life animation. Alles kommt aus dem Rechner, nur die Schauspieler nicht.« Wohin die Reise des Kinos im digitalen Zeitalter tatsächlich gehen wird, lässt sich heute noch nicht abschließend beurteilen. Der Animationsfilm jedenfalls wäre gut beraten, seine reichhaltigen traditionellen Spielarten vom Zeichentrick bis zum Puppentrick mit Stolz und Selbstbewusstsein auch in Zukunft zu pflegen und gleichzeitig die Computeranimation als ein weiteres Mitglied seiner großen Familie mit offenen Armen aufzunehmen.
Einige Worte abschließend zum Aufbau dieses Bandes: Der Kurzfilm leistet einen wesentlichen Beitrag zum Genre des Animationsfilms. Bislang wird dieser Beitrag jedoch meist nur von einem überschaubaren Kreis von Trickfilmbegeisterten und Fachpublikum auf internationalen Animationsfilmfestivals wahrgenommen. Angesichts dieser beiden Tatsachen stand schnell fest, dass es unumgänglich sein würde, die gewohnte Struktur der Reihe Filmgenres aufzubrechen. Neben den üblichen Beschreibungen einzelner abendfüllender Filme finden sich daher auch mehrere Artikel, die einen Überblick über die Entwicklung des internationalen Animations-Kurzfilms von seinen Anfängen bis heute geben. Außerdem wurden längere Texte über die frühen Cartoons der Hollywood-Studios, über Animationsserien im Fernsehen, über die reiche Kurzfilmtradition der DEFA-Studios sowie über aktuelle Entwicklungen in der Animation der Special und Visual Effects im Realfilm aufgenommen. Jeder dieser längeren Artikel enthält wiederum einen sogenannten »Special Focus«, der einen Regisseur oder Film innerhalb einer Epoche oder eines Themas näher beleuchtet. Zusammen mit den Beschreibungen der Langfilme soll sich daraus ein Gesamtbild der beeindruckenden Bandbreite der Animationsfilmproduktion ergeben. Auf Grund des begrenzten Umfangs des Bandes und der somit gebotenen Kürze können speziell die Überblicksartikel dabei nur einen skizzenhaften Eindruck vermitteln und selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Auswahl der abendfüllenden Filme versucht populäre Werke aus den Häusern Disney und Pixar oder aus der japanischen Anime-Schule ebenso zu berücksichtigen wie vielleicht weniger bekannte frühe und kleinere Produktionen.
Die in den Überblicksartikeln erwähnten im Ausland entstandenen Filme werden, soweit vorhanden, mit ihrem deutschen (Verleih-)Titel, andernfalls mit ihrem Originaltitel oder mit dem internationalen englischen Titel zitiert. Wo der Originaltitel ungenannt bleibt, ist er jedoch über das Register der Filmtitel jeweils – unter dem deutschen bzw. englischen Titel-Stichwort – in Erfahrung zu bringen.
Andreas Friedrich
Hinweis zur E-Book-Ausgabe
Die Szenenfotos der Buchausgabe werden aus urheberrechtlichen Gründen nicht in der E-Book-Version wiedergegeben.
Die angeführten Zitate entstammen folgender Literatur: Georges Sifianos: A Letter from Norman McLaren. In: Animation Journal. Spring 1995. – Thomas Basgier: Die Geschichte des deutschen Animationsfilms bis 1933. In: Bundesarchiv-Filmarchiv Berlin (Hrsg.): Alles Trick. Deutscher Animationsfilm bis 1945. Retrospektive zum Leipziger Festival 1998. Berlin 1998. – John Halas und Joy Batchelor zit. nach: Paul Wells: Understanding Animation. London / New York 1998. – Rolf Giesen: Lexikon der Special Effects. Von den ersten Filmtricks bis zu den Computeranimationen der Gegenwart. Berlin 2001. – Rolf Giesen: Lexikon des Trick- und Animationsfilms. Von Aladdin, Akira und Sindbad bis zu Shrek, Spider-Man und South Park. Filme und Figuren, Serien und Künstler, Studios und Technik – Die große Welt der animierten Filme. Berlin 2003. – John Lasseter zit. nach: Frank Arnold: Das Ende der Unschuld. Neue Tendenzen im amerikanischen Animationsfilm. In: epd Film (2004) Nr. 11. S. 18–21. – Wolfgang Borgfeld: Effekte machen ist Filme machen. Die Frankfurter eDIT: wie Effektkünstler die Kamera ersetzen. In: epd Film (2005) Nr. 12. S. 10–11. – Katja Nicodemus: Die Fabrik am Ende der Träume. In: Die Zeit. 30.12.2004. S. 43. – Susanne Weingarten: Was ist so schlimm am Leben in der Matrix? Anmerkungen zur Ästhetik des Digitalen im Film. In: epd Film (2004) Nr. 12. S. 18–21. Weitere Literatur zur Einführung: Giannalberto Bendazzi: Cartoons – One Hundred Years of Cinema Animation. London / Bloomington (Ind.) 1994. – Annika Schoemann: Der deutsche Animationsfilm. Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909–2001. Sankt Augustin 2003. (Filmstudien. 34.) – Peter Lord / Brian Sibley: Creating 3-D Animation: The Aardman Book of Filmmaking. New York 2004. – Julius Wiedemann (Hrsg.): Animation Now! Anima Mundi. Köln 2004.
Dank
Mein herzlicher Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, im Besonderen Thomas Basgier, Prof. Götz Gruner und Thomas Klingenmaier für ihre wertvollen Anregungen zur Filmauswahl und zur Struktur dieses Buches.
Folgende Abkürzungen wurden verwendet: R = Regie; B = Buch; K = Kamera; M = Musik; A = Animation; D = Darsteller; St = Stimmen; OF = Originalfassung; DF = Deutsche Fassung; s/w = schwarzweiß; f = farbig; min = Minuten; B = Belgien; BRD = Bundesrepublik Deutschland; CDN = Kanada; ČSSR = Tschechoslowakei; D = Deutschland; DDR = Deutsche Demokratische Republik; DK = Dänemark; F = Frankreich; GB = Großbritannien; I = Italien; JAP = Japan; LUX = Luxemburg; S = Schweden; SU = Sowjetunion; USA = Vereinigte Staaten von Amerika.
Pioniere des Animationsfilms
Die Waghalsigsten unter den Experten datieren die Anfänge der Animation bis in die Zeit der ägyptischen Pyramiden oder gar der Höhlenmalerei zurück. Das scheint – gelinde ausgedrückt – etwas unangemessen. Dennoch liegt der geschichtliche Ausgangspunkt jener filmischen Kunst der Belebung respektive Beseelung des Unbelebten weit vor der eigentlichen Erfindung des Kinos. 1645 erdachte der Jesuitenpriester Athanasius Kircher eine kastenähnliche Vorrichtung, die auf Glas gepinselte Bilder mittels einer Lichtquelle an die Wand warf. Die Laterna Magica war geboren und wurde einige Jahrzehnte später von Johannes Zahn in der Weise verbessert, dass die Glasminiaturen nun auf eine drehbare Scheibe montiert werden konnten, was die Illusion der Bewegung zwischen zwei Bildern erzeugte. 1824 lieferte der britische Physiologe Peter Mark Roget die theoretische Grundlage für solcherlei Phänomene und formulierte darüber hinausgehend erstmals Erkenntnisse, die quasi vorwegnahmen, auf welchem Prinzip der Wahrnehmung die Funktionsweise der Animation sowie des Films generell zukünftig basieren sollte. In seiner Schrift Persistence of Vision with Regard to Moving Objects macht Roget die Trägheit der Netzhaut dafür verantwortlich, dass bei einer Folge von Einzelbildern ab einer bestimmten Frequenz nicht mehr die singulären statischen Bilder wahrgenommen werden, sondern der Eindruck eines kontinuierlichen dynamischen Bewegungsablaufs entsteht. Als Resultat dieser Einsicht lässt sich ein sprunghafter Anstieg bei der Fabrikation optischer Apparaturen und Spielzeuge beobachten. Ihnen allen ist fast durchgängig gemein, dass sie nicht mit fotografischen Wirklichkeitsabbildern operieren. Die Auflösung kinetischer Vorgänge durch die serielle Fotografie wurde erst ab 1873 von Eadweard Muybridge etabliert. Zuvor beruhte die Suggestion von (künstlicher) Bewegung auf der Verwendung von gezeichneten oder malerischen Darstellungen, die sämtlich Bild für Bild einzeln verfertigt werden mussten. Die »Frame by Frame«-Technik, der (künstlerische) Zugriff auf die kleinste visuelle Einheit, verbindet die präkinematografischen Verfahren, wie sie die damaligen optischen Apparaturen verkörpern, im Gegensatz zum Realfilm hauptsächlich mit der Animation, was im Umkehrschluss bedeutet: Animation ist keineswegs eine Marginalie der Filmhistorie, vielmehr repräsentiert sie deren Ursprung und ist für mehrere Jahrzehnte identisch mit ihr. Ein Umstand, der den französisch-russischen Regisseur Alexandre Alexeïeff 1973 zu der Aussage veranlasste, das »reale« Kino sei nichts weiter als eine spezielle Abart der Animation, ein billiges, industriell produziertes Substitut, bestimmt dazu, die Kreativität von Künstlern durch Fotografien menschlicher Modelle in Bewegung zu ersetzen. Und weiter: Leider habe später der große Bruder des Kinos (also die Animation) seine Rolle als Junior klaglos akzeptiert.
Das Heranwachsen dieses »großen Bruders« ist im 19. Jahrhundert durch eine Reihe von Meilensteinen charakterisiert: die Bilder lernen erstmals wirklich laufen. 1826 konstruiert aller Wahrscheinlichkeit nach John Ayrton Paris (gefolgt von John Herschel, Charles Babbage und anderen) das erste Thaumatrop, eine Rundscheibe mit zwei unterschiedlichen Bildseiten (etwa ein Vogel und ein Käfig), die bei Rotation der Scheibe gegen die eigene Achse zu einem Bild verschmelzen. Dem fast blinden Belgier Joseph Antoine-Ferdinand Plateau gelingt 1832, nahezu gleichzeitig mit dem Österreicher Simon von Stampfer, die Erfindung des Phenakistoskops (auch Fantoskop oder Phantasmaskop genannt, von Stampfer als Stroboskop tituliert): eine mit Sehschlitzen und auf der Rückseite mit kreisförmig angelegten Zeichnungen versehene runde Platte wird durch einen Bolzen mit einer hinter ihr platzierten polierten Metallscheibe gekoppelt; dreht man beide Scheiben und blickt durch die Schlitze, spiegeln sich auf der metallenen Fläche die nun wie animiert wirkenden Figuren. Kaum zwei Jahre danach tüftelt der Mathematiker William George Horner das Daedalum oder Teufelsrad aus, das erst mit dreißigjähriger Verspätung, exakt ab 1867, von William Lincoln als Zoetrop oder Lebensrad zunächst in den USA popularisiert wird. Hier feiert der unabhängig von der Apparatur existierende Bildstreifen seine Premiere. Besagte Streifen sind beliebig austauschbar und werden vertikal in eine rotationsfähige Trommel eingelegt, deren Außenseite ebenfalls Guckschlitze aufweist. Voraussetzung für das Hervorrufen einer fließenden Bewegungsimpression war beim Teufelsrad sowie beim Phenakistoskop die jeweils relativ minimale Differenz zwischen zwei aufeinander bezogenen Einzelzeichnungen. Wurde diese Differenz zu groß, zerstörte dies den kinetischen Illusionscharakter.
Wie später bei der klassischen Animation, als der einstige »große Bruder« des fotobasierten Kinos längst zu dessen Junior geschrumpft war, so beruhte auch bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Erzielung animierter Effekte im Wesentlichen auf einem: auf Millimeterarbeit. Eher obskur muten heute die Experimente des Barons Franz von Uchatius an. Ab 1879 erwarb er sich als Rätseldichter einen Namen, im Dienste der k. u. k. Armee entwickelte er 1874 eine Stahl-Bronze-Legierung, die sich besonders für den Guss von Hohlmantelgeschossen eignete. Doch von 1834 bis 1853 galt seine geballte Leidenschaft den mobilisierten Bildern. Mit militärischem Eifer bemüht er sich in dieser Phase um eine Versuchsanordnung, die den Zauber der Laterna Magica und das Revolutionäre des Phenakistoskops synthetisieren sollte, also um einen »Apparat zur Darstellung beweglicher Bilder an der Wand«. Er reiht bis zu fünfzehn Laternae auf, lässt ihre Projektionen sich überlagern, variiert permanent die Lichtquelle und das Tempo ihres Aufleuchtens. Im Ergebnis gelangt er von einer projizierten Bildgröße von wenigen Zentimetern im Quadrat zu einer stattlichen Spielfläche von mehr als zwei auf zwei Meter. Und er verleiht seinen Arbeiten etwas, das über die pure Demonstration zweidimensionaler Objekte in ihrer potenziellen Mobilität hinausweist: nämlich eine narrative Qualität.
Auch wenn bei Uchatius Armeetechnologie und kinematografischer Fortschritt womöglich zum ersten, aber nicht zum letzten Mal Hand in Hand gehen (man denke nur an die »fotografische Flinte« des Etienne-Jules Marey von 1882), so ist nach ihm die Integration erzählerischer Momente (als eine Art Rückgriff auf die Laterna-Magica-Tradition) bald nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Im September 1868 lässt sich John Barnes Linnett den Kineograph patentieren. Hinter dem Begriff verbirgt sich nichts anderes als die schnell Beliebtheit erringenden »Flip Books«, Daumenkinos, die zumeist über einen Miniaturplot verfügten, konsumierbar in weniger als drei Sekunden. Quasi eine automatisierte Mammutversion des Daumenkinos realisiert 1888 ein Mann, der bei der Erfindung des Kinos eine bedeutende Rolle spielte, allerdings zum Teil die des tragischen Helden: Beim Mutoskop des Thomas Alva Edison werden sequentielle Bilder, in der Hauptsache Fotografien und oft annähernd hundert von ihnen, auf eine Rolle montiert, die mittels einer Kurbel in Drehung versetzt werden kann. Der Blick durch eine Linse erlaubt es dem Betrachter, zum Beispiel einer Kussszene oder noch dezidierteren erotischen Inhalten beizuwohnen. Die Funktion des Daumens übernimmt dabei ein nadelförmiger Stopper, der die Bildrolle auffächert und jede Einzelfotografie kurz arretiert. Das Stopp-Moment erweist sich als essentiell für den Prozess des Animierens sowie die Projektion von Film überhaupt. Als Edison 1893 das zwei Jahre zuvor bereits als Prototyp existierende Kinetoskop am Markt einführt, offenbaren sich Mängel: Es ist nur für jeweils einen Zuschauer zur selben Zeit konzipiert, der 1885 von Hannibal Goodwin erfundene und seit 1889 von George Eastman in Serie produzierte Nitratfilmstreifen wird nicht innerhalb der Apparatur entrollt, sondern über ein komplexes Räderwerk an einem Betrachterfenster vorbeimanövriert, und zwar ohne jede Verzögerung. An der Frage dieser Verzögerung, des intermittierenden Durchlaufs der Bilder im Vorführgerät, entschied sich letztlich der historische Wettstreit zwischen Edison und den Gebrüdern Lumière um die Massentauglichkeit des Kinos zu Gunsten der Franzosen: Während deren erster öffentlicher Vorstellung am 28. Dezember 1895 in Paris wurde ein perforierter (!) Zelluloidfilm über eine Transportkralle (Malteserkreuz) vor dem Objektiv entlanggesteuert, wobei die Greifzähne derart getaktet waren, dass der Streifen in steter Beschleunigung und Verlangsamung, also ruckartig durch den Projektor ratterte. Schon am 1. November allerdings hatte ein weiteres Brüderpaar, die Skladanowskys, mit ihrem Bioskop eine Vorführung in Berlin vor zahlendem Publikum organisiert. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf unsere heutige Kenntnis der Frühgeschichte des Films, dass theoretisch auch ein Louis Aimé Augustin Le Prince den Ruhm für sich beanspruchen könnte, der »Erste« gewesen zu sein – zumindest was interne Präsentationen anbetrifft.
Spätestens um 1880, als der Countdown zur eigentlichen Geburtsstunde des Kinos allmählich auf Touren kommt, lässt sich bei den optischen Apparaturen eine Dominanz des fotografischen Abbilds gegenüber dem grafisch-malerischen Bild konstatieren. Zu jenen Künstlern, die sich in ihrer visionären Tätigkeit konsequent der fotorealistischen Ausrichtung verweigerten, gehörte Emile Reynaud. 1877 hatte der ehemalige Lehrling in einem Geschäft für Präzisionsmechanik das Praxinoskop zum Patent angemeldet, eine Weiterentwicklung des Phenakistoskops, die keine Sehschlitze mehr benötigte, weil im Zentrum der Bildtrommel ein Zylinder rotierte, in dessen Verspiegelung die animierten Figurationen frei schwebten. Bezeichnenderweise adaptierte Eadweard Muybridge Reynauds Innovation in zügigem Tempo: Im Zoopraxiskop von 1879 sind es fotografierte Tiere, die ganz im Sinne von Muybridges Bewegungsstudien ins Laufen oder Springen geraten. Die unerwartete, Reynaud wohl absurd anmutende Konkurrenzsituation stachelte diesen zu fieberhaften Aktivitäten an. Aus seiner Sicht ging es in einem hilflosen Aufbäumen maßgeblich um die Bewahrung der auf individuellem Vermögen basierenden Kunstfertigkeit vor der Kapitulation gegenüber dem industriell genormten Kunsthandwerk. Reynaud fiel aus der Zeit und war ihr zugleich voraus – in anachronistischem Beharren perfektionierte er das Praxinoskop bis 1888 in mehreren Schritten, im Oktober des gleichen Jahres lud er Freunde zu einer Sondervorstellung ein und präsentierte: einen »Film«. Un bon bock (»Ein gutes Bier«) war das Resultat radikaler Metamorphosen des Praxinoskops, das von nun an unter dem Namen »théâtre optique« firmierte. Mit Hilfe einer Projektionsmaschine und eines ausgeklügelten Spiegelsystems, unter Verwendung eines von Hand bemalten, langen Zelluloidstreifens sowie einer Leinwand wurde ein magischer Augenblick zelebriert: die Kreation einer Kinosituation ohne Kinotechnik, die Aufführung eines Animationsfilms, bevor es den Film als selbständiges Medium gab.
1892 schließt Reynaud einen festen, allzu festen Vertrag mit dem in Paris ansässigen Musée Grévin, einem Wachsfigurenkabinett und Varieté: Hier zeigt er nun regelmäßig seine »pantomimes lumineuses« (darunter: Le clown et ses chiens, Pauvre Pierrot und Autour d’une cabine). Den Leinwandhintergrund steuert eine Laterna Magica bei, in ihr Bild werden Reynauds bewegte und erzählerisch charmante Filmsurrogate hineinprojiziert. Was nicht immer fehlerfrei verläuft: sämtliche Vorgänge sind allein manuell gesteuert. Im Jahr 1900 kündigt das Musée Grévin den Kontrakt des Magiers auf. Bis zuletzt war er unwillens, fotografische Aufnahmen in seinem optisch-animierten Theater zu verwenden. Tat er es in Einzelfällen doch, dann nur, um diese Aufnahmen konsequent zu übermalen oder zu überzeichnen. Nach dem Karriereende vernichtet Reynaud einen Großteil seiner Werke: Filmstreifen um Filmstreifen landet Tag für Tag in der Seine. Am 9. Januar 1917 stirbt Emile Reynaud – verarmt, vereinsamt, verbittert. Mit seiner Auffassung darüber, von welchen ideellen Säulen eine Kunst der Bewegtbilder getragen sein sollte – nämlich von der Eliminierung des rein Posenhaften, einhergehend mit der Herausbildung einer Erzähldramaturgie, die sich zeitlich kein Limit mehr auferlegen muss und bei der die kinetische Illusion vor allem als Vehikel für den Transport des Narrativen dient –, hat Reynaud als der relevante Vorreiter der theatralisch-irrealen Filme des Georges Méliès zu gelten. Von dessen über 500 Produktionen (C. W. Ceram behauptet gar, es seien über 4000 gewesen), entstanden zwischen 1896 und 1914, bemerkt Giannalberto Bendazzi zu Recht, beim Anschauen würden sie heute wirken wie Animationsfilme – ohne Animation. Tatsächlich erwecken die Bildkomposition, das Verhältnis von gemalten Hintergründen und ornamental aufgefassten Akteuren sowie die statische Kamera bei Méliès den Eindruck, als handele es sich bei seinen Arbeiten um eine Fortsetzung respektive Ausweitung des Reynaud’schen Universums mit den Hilfsmitteln des Kinos. Profitiert hat der einstige Illusionist und Impresario diverser Varietéshows für seine filmischen Fantasmagorien von einer Entdeckung, die mit ziemlicher Sicherheit dem Amerikaner Alfred Clark zu verdanken ist: Dieser fand 1895 heraus, dass die Kurbel einer Kamera angehalten und dann neu gestartet werden kann. In der Zwischenzeit konnte man das Bild vor der Linse beliebig manipulieren, was später bei der Projektion zu überraschenden Effekten führte. Die Nicht- oder Nicht-mehr-Identität von Aufnahmezeit und Projektionszeit, diese Zerschlagung eines bis dato geltenden Prinzips ermöglichte es nicht nur Méliès, seine Filme mit erstaunlichen »Tricks« anzureichern, sie markiert auch den Beginn jeglicher »Special Effects«. Und mehr noch: Sie begründete ein neues Prinzip, ohne das die Animation undenkbar wäre, nämlich das Stop-Motion-Verfahren oder allgemeiner die einzelbildweise Herstellung eines Films.
Üblicherweise wird der Terminus »Stop-Motion« auf Animationstechniken mit dreidimensionalen Objekten angewendet, während sich im traditionellen 2-D-Bereich der Begriff »Frame by Frame« durchgesetzt hat. Unabhängig davon klaffen bei keiner Filmform Produktions- und Projektionszeit so sehr auseinander wie bei der klassischen Animation: zwölf Minuten Film (etwa 16000 Einzelbilder) steht ein Herstellungszeitraum von rund drei bis vier Jahren gegenüber. 1898 ließ Georges Méliès für einen Werbespot die Buchstaben des Alphabets animieren, 1899 war der Reifeprozess so weit gediehen, dass der erste reine Animationsfilm, den man annähernd als solchen definieren kann, über eine Leinwand flimmerte. Matches: An Appeal des von Edison angeheuerten Engländers Arthur Melbourne-Cooper war als Spendenaufruf zur Unterstützung britischer Soldaten im Burenkrieg gedacht und zeigte Streichhölzer, die sich zu Figuren formten. Animierte Zündhölzer illuminierten im Übrigen auch den Anfang der deutschen Trickfilmgeschichte. Die geheimnisvolle Streichholzdose (oder Der Streichholzkünstler) aus dem Jahr 1910 unter der Regie von Guido Seeber, dem späteren Kameramann expressionistischer Bravourstücke von Paul Wegener und Georg Wilhelm Pabst, ist – neben dem Fragment Prosit Neujahr (1909, ebenfalls von Seeber) – der früheste erhaltene Animationsstreifen, der im Berliner Bundesarchiv-Filmarchiv lagert. Auch hier formieren sich die Hölzchen zu Figuren, allerdings nur so lange, bis sie sich selbst entzünden. Als Experimentator mit der Kamera repräsentiert Guido Seeber nahezu idealtypisch die terminologische Unentschiedenheit der damaligen Zeit, in der »Trickfilm« und »Filmtricks« (wie die von Seeber elaboriert ausgefeilte Doppelbelichtung) als weitgehend identisch aufgefasst wurden. Grundsätzlich stand das Anliegen im Vordergrund, das Potenzial einer originären filmischen Sprache auszuloten. So kommt es nicht von ungefähr, dass die frühesten Animationen meist von »Spielfilmregisseuren« stammen. Männer wie Arthur Melbourne-Cooper, um die Jahrhundertwende bereits bekannt für seinen Komödienstil, oder auch Edwin S. Porter, der den ersten Western Der große Eisenbahn-Überfall (1903) sowie die wegweisende Puppengroteske The Teddy Bears (1907) inszenierte, arbeiteten intensiv an der Gestaltung von Genremustern und daran, die technisch-ästhetische Bandbreite des Kinos in Praxistests erforschend zu begreifen. Die Animation war da nur eine Option unter vielen. Folglich mag es kaum verwundern, wenn in animierten Frühwerken kontinuierlich Realfilmanteile auftauchen. Es scheint gerade so, als müsste das Vorhandensein des Animierten durch die Kombination mit »realen« Bildern des »richtigen« Kinos erst legitimiert werden. Hier schon vollzog sich der endgültige Prozess der Abdankung des »großen Bruders«. Dies betrifft Coopers Dreieinhalbminüter Dreams of Toyland (1908), Porters Teddy Bears, aber ebenso Die geheimnisvolle Streichholzdose, die mit einer Realsequenz eingeleitet wird (ein Mann findet auf der Straße eine Streichholzschachtel und verstaut sie in seinem Bauchladen).