Martin Jehne
Der große Trend, der kleine Sachzwang und das handelnde Individuum
Caesars Entscheidungen
Deutscher Taschenbuch Verlag
Originalausgabe
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
eBook ISBN 978-3-423-40134-0 (epub)
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Zur Einführung: Vom Handlungsspielraum des Menschen im Strom der großen Entwicklungsprozesse
Ebenfalls zur Einführung: Die krisengeplagte Republik als Handlungsrahmen
Der dickköpfige Teenager: Caesars Weigerung, sich unter politischem Druck scheiden zu lassen
Der nassforsche Nachwuchspolitiker: Die Bewerbung um das Oberpontifikat 63 v. Chr
Brennender Ehrgeiz und feines Gespür: Der Verzicht auf den Triumph 60 v. Chr
Die eigene Macht und die Nicht-Römer: Die Invasion in Gallien 58 v. Chr
Die Ehre des Feldherrn und das Wohl des Gemeinwesens: Die Eröffnung des Bürgerkriegs 49 v. Chr
Die anerkannte Führungsposition statt der Niederwerfung der Gegner: Die Verfolgung des Pompeius nach der Schlacht von Pharsalos 48 v. Chr
Politische Raffinesse und Fehlkalkulation: Die Beziehung mit Kleopatra 48 v. Chr
Der übermütige Dictator: Die Entlassung der Leibwache 44 v. Chr
Resümee: War Caesar das Maultier?
Literaturhinweise
Zeittafel
Personenregister
Zur Einführung
Politikverdrossenheit ist »in«. Viele Bürger haben das Gefühl, dass sich Engagement in Parteien oder Initiativen nicht lohnt, dass sie nichts bewegen können, dass ihre Aktivitäten keine Wirkung zeigen, sondern von einem Establishment souverän abgefedert werden, das sich eigenständig fernab vom Bürger organisiert, aber gleichzeitig die Probleme nicht löst. Doch scheint die Politikverdrossenheit partiell auf dieses politische Establishment überzugreifen, denn selbst diejenigen, die es in die höheren Etagen der Politik bringen, etwa als Abgeordnete, erleben die Politik als ein Aushandeln von Kompromissen ohne klare Verantwortung: Reformprogramme werden verwässert, ihre Umsetzung ruft Folgen hervor, die niemand vorausgesehen hat und die oft schlimmer sind als die Zustände, die man verbessern wollte, alles greift in einer so komplexen Weise ineinander, dass zielgenaue Ergebniskalkulationen nicht möglich sind. Zum Glück hat man wenigstens noch einen letzten Joker, die Globalisierung, die doch einleuchtend erklärt, warum man eben auf lokaler, regionaler, nationaler oder europäischer Ebene nichts erreichen kann.
Nun ist das, was ich eben grob vereinfacht und zugespitzt als deutsches Lebensgefühl der letzten Jahre beschrieben habe, in seiner Grundtendenz gar nicht so ungewöhnlich. Die Welt ist und war immer zu komplex, um durch einfache Abschätzungen von Ursache und Wirkung und daran ausgerichtetes Handeln verlässlich beeinflusst werden zu können. Schon der Jäger und Sammler konnte durch großen Erfolg in der Jagd den Wildbestand seines Waldes so dezimieren, dass die Ernährung der Gruppe auf Dauer gefährdet war, und selbst wenn er diesen Zusammenhang begriff und sich und die Seinen dazu anhielt, lieber jetzt nicht satt zu sein als später zu hungern, lockte er möglicherweise gerade dadurch Konkurrenzgruppen an, die, aus welchen Gründen auch immer, selbst in Versorgungsnöte geraten waren. »Wie man’s macht, macht man’s falsch«, ist das resignierte Resümee des Volksmunds, der wichtigsten Quelle für elementare Weisheiten. Wenn sogar Hari Seldon, der mit allen Erkenntnissen der Wissenschaft kommender Jahrtausende ausgerüstete Psychohistoriker in Isaac Asimovs Foundation-Trilogie, mit seinem Konzept, wie man die Agonie des intergalaktischen Imperiums mit ihren grausigen Kriegen und Zeiten der Rechtlosigkeit von 30 000 auf 1000 Jahre verkürzen könne, durch das unvorhersehbare Auftreten eines Mutanten, einer Laune der Natur, um ein Haar gescheitert wäre, wie sollten dann ein Sippenoberhaupt von Jägern und Sammlern oder ein Politiker im alten Rom oder ein Papst des Hochmittelalters oder ein absolutistischer Fürst oder ein Staatsoberhaupt des 20. Jahrhunderts oder selbst ein gottesfürchtiger amerikanischer Präsident des 21. Jahrhunderts in der Lage sein, durch eigene Entscheidungen und Regierungshandeln den Entwicklungsprozess verlässlich in die gewünschte Richtung zu steuern?
Die Zweifel, dass Wirkungen von Handlungen mit einer gewissen Erfolgschance vorausberechnet werden können, befördern auf der einen Seite Lethargie, stehen aber auf der anderen Seite dem blinden Aktionismus nicht im Wege. Der Normalbürger scheint zurzeit in Bezug auf die großen Probleme, die als solche unbestritten sind, wie Massenarbeitslosigkeit, Steuerflucht, Kranken- und Altersvorsorge, Bildungsdefizite gegenüber steigenden Anforderungen, Vergreisung der Gesellschaft u. ä., eher resignativ zu reagieren und sich auf seine Freizeitaktivitäten zu konzentrieren. Die Menschen in Führungspositionen können sich dies nicht leisten, da sie schließlich als Entscheidungsträger und Macher fungieren und die Notwendigkeit ihrer eigenen Positionen infrage stellen würden, wenn es tatsächlich nichts sinnvoll zu entscheiden gäbe, da die Wirkung sich der Kalkulation in den wichtigen Dimensionen entzieht. Sie müssen also entscheiden, und sie müssen ständig darauf hinweisen, dass sie es tun und wie bedeutsam es ist, dass sie es tun. In einer von Massenmedien dominierten Demokratie gehört also die ständige Präsenz des tätigen Entscheiders notwendig zum System, wobei sich die Entscheidung fast nur als Aktion inszenieren lässt, dagegen nur schwer als Nicht-Aktion. Doch so paradox es klingt: Jede Nicht-Entscheidung ist natürlich auch eine Entscheidung, da sie die weitere Entwicklung dadurch beeinflusst, dass nicht in sie eingegriffen wird. Wenn also Helmut Kohl als Bundeskanzler oft nachgesagt wurde, er sitze Probleme aus, so heißt das, dass er nicht reagiert hat, wodurch er dennoch den Gang der Ereignisse beeinflusst hat, während eine wie auch immer geartete Reaktion einen anderen Einfluss ausgeübt hätte. Dasselbe gilt für Gerhard Schröders Politik der ruhigen Hand. Welcher Einfluss der positivere ist, ob der durch Aktion oder der durch Nicht-Aktion ausgelöste, ist zumeist eine Frage des Standpunkts, zudem erst in einigem zeitlichen Abstand fundierter zu klären, wenn man die tatsächlichen Wirkungen erlebt hat und beurteilen kann. Jedenfalls gibt es überhaupt keinen systematischen Grund für die verbreitete Auffassung, die Aktion sei positiver als die Nicht-Aktion. Das lässt sich also nur im konkreten Einzelfall beurteilen, in dem einmal das eine, einmal das andere richtig sein kann und immer wieder neu und ergebnisoffen um das Richtige gerungen werden muss. Vor allem die Medienwirksamkeit von aktiven Entscheidungen und das Bedürfnis der Medien, ständig über Inszenierungen mit Neuigkeitswert zu verfügen, ziehen die Privilegierung der Aktion gegenüber der Nicht-Aktion nach sich, und so kommt es, dass uns unvermeidlich eine Reform nach der anderen serviert wird und manches Mal der Atem fehlt, die Auswirkungen von Reformen wenigstens so lange abzuwarten, bis ein klareres Urteil über ihre Vorzüge und Schwächen möglich ist. Man fühlt sich gelegentlich an den alten Vers erinnert: Der Aktivist – macht meistens Mist.
Wenn man sich über Berechenbarkeit und Tragweite von Entscheidungen Gedanken machen will, ist es notwendig, einige Differenzierungen vorzunehmen. Zunächst einmal sind die Haupt- und die Nebenwirkungen von Handeln auseinanderzuhalten. Als sich die führende Gruppe des römischen Senats nach der Rückkehr des großen Feldherrn Pompeius aus dem Osten des Reiches 62 v. Chr. entschloss, die zahlreichen, eigenmächtig vorgenommenen Verfügungen des Pompeius nicht insgesamt abzusegnen, sondern einzeln zu diskutieren und zu entscheiden, bewegte sich das Gremium in der Linie der Tradition. Man hatte das Ziel, Pompeius zu maßregeln und ihm deutlich zu zeigen, dass er trotz seiner Erfolge nicht mit einer Sonderrolle rechnen könne. Dieses Ziel zu erreichen war die bewusste Intention der handelnden Senatoren, und wir nennen die Wirkungen, die sich mit den Intentionen im Einklang befinden, die Hauptwirkungen. Doch Pompeius war natürlich über seine Niederlage nicht begeistert und suchte Wege, sein Ziel doch noch zu erreichen. So war er offen für die Allianz mit Caesar, der 59 v. Chr. tatsächlich als Consul die Forderung des Pompeius nach globaler Ratifizierung seiner Neuordnung des römischen Ostens regelwidrig und unter Rückgriff auf Gewalt durchsetzte. Dieses Ergebnis bedeutete eine schwere Niederlage für die zuvor eben nur kurzfristig erfolgreiche Senatsgruppierung, von der sie sich nie mehr ganz erholte. Caesars Rechtsbrüche und die sich daraus ergebenden Feindschaften und Absicherungsmaßnahmen waren wesentliche Ursachen für den Ausbruch des Bürgerkriegs 49 v. Chr., in dem die Senatoren, die ursprünglich Pompeius einen Dämpfer verpassen wollten, ihre Republik einbüßten. Wir können hier also erhebliche Wirkungen erkennen, die ganz und gar nicht den Intentionen der zunächst Handelnden entsprachen. Diese nicht intendierten Folgen des Handelns nennen wir Nebenwirkungen. Wie an dem Beispiel zu sehen ist, ist mit der Differenzierung der Handlungsfolgen nach der Intention keinerlei Abschätzung über die Stärke der Wirkungen verbunden, d. h. konkret: Es kann durchaus sein, dass die Nebenwirkungen erheblich stärker sind als die Hauptwirkungen.
Die Stärke von Wirkungen ist nicht einfach zu bestimmen. Sie hat eine zeitliche Dimension in der Weise, dass Handlungen langfristige oder auch nur kurzfristige Wirkungen hervorrufen können, und sie hat eine Dimension der Intensität in der Weise, dass Handlungen in den Entwicklungsprozess massiv verändernd oder auch nur schwach verschiebend eingreifen können. Beide Dimensionen müssen auch nicht zusammenfallen, d. h. eine Wirkung kann massiv, aber nur kurzfristig sein oder auch schwach, aber langfristig. All diese eher abstrakten Kategorien sind überhaupt nur anwendbar, wenn sie auf einen komplexen, länger andauernden Entwicklungszusammenhang projiziert werden, etwas, was die Historiker als historischen Prozess definieren. Ein historischer Prozess ist ein langfristiger Entwicklungstrend, also verbunden vor allem mit einer klaren Richtung, die hinter kurzfristigen Zuckungen von Einzelereignissen über eine längere Zeit hinweg erhalten bleibt. In diesen Prozess gehen die Handlungen – und Nicht-Handlungen – von Individuen und Gruppen als Impulse ein und beeinflussen die Entwicklungsrichtung und das Entwicklungstempo – oder auch nicht. Denn allem Anschein nach gibt es Handlungen, die den großen Trend in keiner Weise beeinflussen.
Die Flucht der produzierenden Industrie in Billiglohnländer gilt als großer Trend, ja geradezu als ökonomische Zwangsläufigkeit von naturgesetzlicher Qualität. Ein einzelner Betrieb, der dableibt, ändert an dem Trend sicher nichts, doch selbstverständlich hat seine Entscheidung Konsequenzen für ihn selbst, für die Mitarbeiter, deren Familien, die Region usw. Jede Handlung hat also Folgen, aber nicht notwendig Folgen für den großen Trend. Wenn ein Zustand erreicht ist, in dem der große Trend in seiner Entwicklungsrichtung überhaupt nicht durch die Impulse beeinflusst wird und offenbar auch nicht mehr beeinflusst werden kann, sprechen die Historiker von einem autonomen Prozess, mithin von einem Trend, der sich so verselbstständigt hat, dass das Handeln oder Nicht-Handeln von Gruppen und Individuen die Richtung nicht tangiert. Einen solchen autonomen Prozess konstatiert man häufig – aber keineswegs einhellig – für die letzten Jahrzehnte der römischen Republik, also für die Zeit des Wirkens von Caesar, Cicero, Pompeius, Cato u. a. ca. 80 – 49 v. Chr., da sich hier schon der Umbruch zur Monarchie angekündigt habe und unvermeidlich geworden sei, obwohl die Akteure einen solchen gar nicht im Sinn hatten und zum Teil gegen den überproportionalen Machtgewinn großer Einzelpersönlichkeiten ankämpften. Und in einem solchen autonomen Prozess fühlen sich heute viele Menschen, wenn sie Engagement für sinnlos halten und sich großen anonymen Trends ausgesetzt fühlen, gegen die es keine Rezepte gibt.
Das Phänomen des autonomen Prozesses ist nicht von der Hand zu weisen. Dies lässt sich besonders schön zeigen, wenn man den Akzent darauf legt, dass der autonome Prozess irreversibel ist, dass also der Vorgang, der begonnen hat, nicht mehr zu stoppen oder umzukehren ist. Dazu ein etwas bösartiges Beispiel. Ein passionierter Heimwerker klettert aufs Dach seines Hauses, um die undichten Stellen zu reparieren. Es kommt, wie es in einem Witz unweigerlich kommen muss: Er gerät ins Rutschen und fällt vom Dach. Als er am zweiten Stock vorbeifliegt, sieht er seine Frau aus dem Fenster schauen, die seinen freien Fall mit Entsetzen beobachtet. Selbstlos und fürsorglich, wie er nun einmal veranlagt ist, ruft er seiner Frau beruhigend zu: »Bisher ist noch gar nichts passiert!«
Auch wenn es bekanntlich eine Sünde ist, einen Witz zu erklären, muss ich diese Sünde hier begehen, denn schließlich will ich ja Prozesstypen erläutern. Also: Der Witz ist deshalb – wenigstens ein bisschen – komisch, weil die Bemerkung des Heimwerkers völlig korrekt ist und dennoch völlig irrelevant. Denn der arme Heimwerker befindet sich, wie jeder aus seinem Alltagswissen ableiten kann, mitten in einem irreversiblen Prozess, und kein eigenes oder fremdes Handeln kann den Prozess stoppen, an dessen Ende er unweigerlich auf dem Boden aufschlagen und wenn nicht tot, so doch wenigstens schwer verletzt sein wird. Im irreversiblen Prozess ist also der Ausgangszustand nicht mehr erreichbar, hier also das Herumklettern des gesunden Heimwerkers auf dem Dach, und die Schwerkraft sorgt dafür, dass der Prozess auch autonom ist, da alle Entwicklungsstränge in genau eine Richtung laufen, die nicht mehr zu verändern ist.
Der autonome Prozess ist jedem freiheitsorientierten Individuum ein Gräuel, denn es gilt ja: Wenn der Entwicklungsprozess, in dem man steckt, der große Trend, autonom ist, so ist es das Individuum nicht, da es gerade nicht auf die wesentliche Entwicklungsrichtung in wohl abgewogener, freier Entscheidung selbst Einfluss nehmen kann. Nun ist der Gegensatz nicht gar so dramatisch, da der Mensch schließlich immer von Schranken umgeben ist, die er nicht oder kaum überwinden kann: Er kann die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen – denken wir nur an den freien Fall unseres Heimwerkers –, er kann seine genetische Konditionierung nicht ändern – obwohl das vielleicht einmal der Fall sein wird –, er kann nur schwer seine soziale Imprägnierung beiseite schieben – diese Grenzen sind nicht absolut wirksam, in der Praxis aber oft die Faktoren, die den Gestaltungsspielraum am stärksten reduzieren. Auf der Ebene gesellschaftlich vermittelter Verhaltensvorgaben besteht also keineswegs Alternativlosigkeit, doch gibt es unter der breiten Palette von Handlungsmöglichkeiten oft eindeutige Präferenzen aufgrund der Tatsache, dass der einzelne die Normierungen des Systems internalisiert hat samt dem Wissen, dass Abweichungen Sanktionen nach sich ziehen können. Es sind die kleinen Sachzwänge, die hier wirken, d. h. es wird eine – möglichst genau eine – Handlungsoption unter den verschiedenen Möglichkeiten, die es eigentlich gibt, als naheliegend suggeriert und normalerweise eben auch gewählt. Dass in dem Wort »Sachzwang« die Ursachen entmenschlicht und mit der Aura der Notwendigkeit umgeben werden, ist bezeichnend für die Wirkungsmacht dieses Mechanismus. Entsprechend gilt es mehr oder weniger große Hürden zu überwinden, um eine der anderen Varianten zu wählen.
Durch solche Sachzwänge werden die Handlungsspielräume des Individuums im Alltag viel stärker und fühlbarer begrenzt als durch die großen Trends der sozialen und politischen Entwicklungen. Der Bürger, der ein ihm unsinnig erscheinendes Bauprojekt verhindern will, begegnet bei seinen Versuchen, die Entscheidungsträger und -gremien seiner Stadt in seinem Sinne zu beeinflussen, sicher auch den großen Trends: Angesichts der Globalisierung und der Osterweiterung der EU und des dringend erforderlichen Wirtschaftswachstums und … und … und … müssen diese großen Straßen mitten durch die Stadt gebaut und alle Grünflächen durch Parkplätze ersetzt werden. Unabhängig davon, wie weit diese Trends als Argumente auch instrumentalisiert werden, dürften dennoch für unseren Bürger die kleinen Sachzwänge die praktisch viel höheren Hürden sein: Sie können beruhigt sein, es wird alles demokratisch korrekt entschieden, und wir haben so lange geplant und schon so viel investiert, und eine Entscheidungskorrektur ist schlecht für unser Image als entschlossene Macher; und Straßenbau ist doch schließlich eine Infrastrukturmaßnahme, und die ist immer eine Zukunftsinvestition; und wir bekommen doch 90 Prozent Fördermittel von außen; und das haben wir schon immer so gemacht, und da könnte ja jeder kommen, und denken Sie doch an Ihre Karriere, und … und … und …
Doch selbst wenn der große Trend ein autonomer Prozess ist und wenn auf der mittleren Ebene die Sachzwänge so massiv sind, dass alles unbeweglich erscheint und das eigene Handeln folgenlos bleibt, besitzt das Individuum immer noch Handlungsspielraum auf der unteren Ebene seiner eigenen unmittelbaren Umgebung. Es ist für das eigene Leben nicht dasselbe, ob man sich von seiner Partnerin bzw. seinem Partner trennt oder nicht, ob man sich in seinem Beruf engagiert oder nicht, ob man am Samstag den Garten umgräbt oder in den Biergarten geht, ob man seinen Nachbarn denunziert oder nicht. Auch hier gibt es natürlich kurzfristige und langfristige Handlungsfolgen, wie ich an einem Beispiel aus der Literatur illustrieren möchte. In Dashiell Hammetts berühmtem Kriminalroman ›Der Malteser Falke‹ sitzen der Detektiv Sam Spade und seine Klientin, die undurchsichtige Miss O’Shaughnessy, nachts in seiner Wohnung und erwarten den Besuch eines Konkurrenten im Kampf um das titelgebende Kunstwerk. Zum Zeitvertreib erzählt Sam Spade die Geschichte eines Falls, den er vor Jahren bearbeitet hat. Damals beauftragte ihn eine Ehefrau, einen Hinweis zu überprüfen, wonach jemand ihren vor fünf Jahren verschwundenen Ehemann in einer Nachbarstadt gesehen haben wollte. Dieser Charles Flitcraft hatte eines Morgens ganz normal das Haus verlassen und war zur Arbeit gegangen, war dann aber nicht zurückgekehrt, und seine Familie hatte nie mehr ein Lebenszeichen von ihm erhalten. Sam Spade gelang es tatsächlich, den Mann zu finden. Flitcraft, der sich jetzt Charles Pierce nannte, hatte wieder ein florierendes Geschäft aufgebaut, war wieder verheiratet mit einer Frau, die seiner ehemaligen nicht ähnlich sah, ihr aber im Naturell und Verhalten glich, er hatte wieder einen Sohn, er lebte in einem vergleichbaren Haus und Viertel wie früher, er spielte wieder nachmittags Golf, sein Lebensrhythmus schien ganz der alte zu sein. Als Spade den Mann mit seiner Vergangenheit konfrontierte, fragte er ihn auch, warum er seinerzeit so sang- und klanglos davongegangen sei. Flitcraft berichtete, das sei ein ganz spontaner Entschluss gewesen. Er habe mittags wie immer das Büro verlassen, um eine Kleinigkeit essen zu gehen, und als er an einer großen Baustelle vorbeikam, sei plötzlich neben ihm ein Balken aufgeschlagen, der ihn nur um Haaresbreite verfehlt habe. Beim Essen habe er dann versucht, den Schock zu verarbeiten, dass sein Leben, das eines wohlsituierten Bürgers, Ehemanns und Vaters, durch schieren Zufall von einer Sekunde auf die nächste vorbei sein konnte. Ihm sei klar geworden, dass die vernunftgemäße Ordnung, nach der er sein Leben bisher ausgerichtet hatte, eine Illusion war, und so habe er beschlossen, sich an die neu entdeckte Dominanz des Zufalls anzupassen. Er habe sein Leben also dem Zufall überlassen, sei sofort abgereist, zwei Jahre sei er herumgezogen, dann sei er hier gelandet, wo er erneut sesshaft geworden sei. Flitcraft/Pierce hielt sein Verhalten für völlig angemessen und bemühte sich, Sam Spade zu überzeugen. Der war durchaus bereit, dieser Logik bis zu einem gewissen Grade zu folgen, doch war er vor allem fasziniert von dem Phänomen, dass Flitcraft überhaupt nicht bemerkt zu haben schien, dass er wieder auf denselben Weg geraten war, den er zuvor so abrupt verlassen hatte.
Wie man sieht, haben selbst radikale kurz- und mittelfristige Konsequenzen von Handlungen nicht unbedingt erhebliche langfristige Folgen. Der Veränderungsschub kann bald verebben, der Prozess, hier das Leben des Charles Flitcraft, der auf und davon ging, kann ziemlich schnell wieder in dieselbe Richtung einrasten wie vorher. Doch für die eigene Existenz bedeutet das nicht Identität, und selbst kleinere Verschiebungen sind hier bedeutsam. Deshalb besteht auch kein Anlass zur Resignation, dass eigenes Handeln oder Nicht-Handeln grundsätzlich folgenlos sei und man sich nur im Würgegriff der großen Trends befinde. Auch auf der Ebene der großen gesellschaftlichen und politischen Bewegungen öffnen sich selbst dann, wenn der Hauptprozess im Wesentlichen autonom ablaufen sollte, immer wieder Fenster, in denen es sehr wohl relevant ist, wie sich handelnde Gruppen oder Individuen verhalten. Man muss ja bedenken, dass sogar in einem autonomen Prozess zwar nicht die Entwicklungsrichtung, wohl aber das Entwicklungstempo beeinflussbar sein kann. In der Foundation-Serie, dem Zyklus von Science-Fiction-Romanen von Isaac Asimov, geht es dem Psychohistoriker Hari Seldon ja auch nur um das Tempo, aber nicht um die Richtung, denn er ist sicher, den Verfall des galaktischen Imperiums und die chaotische Zwischenzeit bis zur Bildung eines neuen Imperiums nicht verhindern zu können. Doch eine zeitliche Verkürzung von 30 000 auf 1000 Jahre ist nicht bedeutungslos, auch wenn man die Selbstverständlichkeit, mit der Asimov Reichsbildungen aufgrund ihrer internen Friedenssicherungsqualität für erstrebenswert hält, einem Optimismus der 1950er-Jahre zuschreiben muss, der uns heute abhanden gekommen ist.
Die große Relevanz des Entwicklungstempos in autonomen Prozessen ist gerade auf der unteren Ebene der schlichten Existenz des Individuums besonders klar. Das menschliche Leben ist ein autonomer Prozess, denn es führt unweigerlich zum Tode, und diese Richtung des Prozesses ist nicht veränderbar. Aber ganz selbstverständlich achten viele Menschen darauf, diesen Prozess nicht allzu schnell ablaufen zu lassen, gerade in unserer Gesellschaft. Man isst gesund, treibt Sport, geht zu Vorsorgeuntersuchungen usw., alles nur um die Zeit, in der der autonome Prozess abläuft, möglichst lange andauern zu lassen. Der Argumentationstypus, dass etwas sowieso komme und man sich dem nicht versperren solle, ist also von der Prozesstheorie her betrachtet ohne allgemeine Überzeugungskraft: Genauso wie Ärzte Tag für Tag um das Leben von Patienten ringen, obwohl jeder Patient irgendwann einmal sterben wird, kann man im Einzelfall mit guten Gründen rechtfertigen, warum man sich gegen eine Entwicklung stemmt, die man auf Dauer nicht aufhalten kann.
Aber was nützt uns das? Die Entfaltung der Kategorien des Prozesses, der Haupt- und Nebenwirkungen, der Stärke und Dauer von Wirkungen, der Autonomie von Prozessen, der Entwicklungsrichtung und des Entwicklungstempos wird wohl bei niemandem, der hinsichtlich der großen soziopolitischen Prozesse resigniert hat, neuen Tatendrang auslösen und keinen professionellen Entscheider, der sich in fröhlichem Aktionismus ergehen kann, da seine Entscheidungen ja letztlich die großen Prozesse gar nicht beeinflussen, zu neuer Nachdenklichkeit veranlassen. Denn die Kategorien sind abstrakt und können die konkrete Erfahrung der Unsteuerbarkeit von Handlungsketten nicht aufwiegen. Doch sollte man sich klarmachen, dass es ja zum Eingreifen ohnehin keine Alternative gibt. Schon weil Nicht-Handeln, wie dargelegt, ebenso wie Handeln einen Impuls in einen Prozess eingibt, ist die Verantwortung des Nicht-Handelnden genauso gegeben wie die des Handelnden. Darüber hinaus dürfen Defizite in der Handlungsfolgenabschätzung nur ein Anreiz sein, noch genauer zu kalkulieren, aber keine Einladung, die Konsequenzen als unberechenbar zu klassifizieren und sich um die Folgen eigenen Handelns nicht zu scheren. Wenn also, wie vor einigen Jahren in Sachsen erwogen, den Hochschulen für die Einführung neuer Studiengänge vom Wissenschaftsministerium Prämien versprochen werden, dann sollte man doch, wenn die Hochschulen ständig vorhandene Studiengänge durch neue ersetzen, um die Prämie zu kassieren, und kein Schüler mehr sicher sein kann, dass er in einem Jahr noch das studieren kann, worüber er sich heute informiert, eher nicht die Globalisierung oder andere große Trends als Erklärung bemühen, sondern einfach das Steuerungsinstrument korrigieren, wie es ja auch geschehen ist.
Überhaupt ist der große Trend als autonomer Prozess für den Historiker zwar eine faszinierende Kategorie, für den Zeitgenossen aber nur eine teils entlastende, teils lähmende Vermutung. Denn der Prozess gewinnt seinen Zusammenhalt im unendlich vielfältigen Kontinuum der Geschehnisse durch das Ziel, auf das er zusteuert, und seine Wirkungsmacht beweist er dadurch, dass das Ziel einmal erreicht wird und dass dies nicht als reiner Zufall betrachtet werden kann. Das bedeutet aber, dass der Prozess als solcher nur klar auszumachen ist, wenn er am Ziel angekommen ist. Da aber Zeitgenossen in ihren Prozessentwicklungen immer mittendrin stecken und das Ende erst in der Zukunft zu erwarten ist, ist dieses Ende nur eine Prognose, die – wie alle Prognosen – auch falsch sein kann. Dass also ein allgemeiner Trend, den man glaubt, diagnostizieren zu können, tatsächlich auf ein bestimmtes Ergebnis zutreibt, ohne durch die Aktivitäten der Menschen in der Richtung – um vom Tempo ganz zu schweigen – beeinflusst werden zu können, ist immer nur eine Hypothese, neben der es auch andere Hypothesen geben kann. Im Endergebnis heißt das: Man weiß nie, ob man wirklich in einem autonomen Prozess steckt und nichts ausrichten kann oder ob es sich nicht doch lohnt, den als negativ empfundenen Entwicklungen entgegenzusteuern.
Damit ergibt sich folgerichtig, dass die Prozesskategorie eine Kategorie der Historiker ist und sich eine Untersuchung zum Verhältnis von großen Trends, kleinen Sachzwängen und menschlichen Entscheidungsspielräumen am besten an einem historischen Gegenstand vornehmen lässt. Zeitgenössisch ist man hinsichtlich der Ergebnisse auf Vermutungen angewiesen, und obwohl solche Vermutungen keineswegs willkürlich, sondern ordentlich begründet sein können und sollten, kann man dabei fundamentalen Täuschungen unterliegen. Nur eine historische Thematik hat den Vorteil, dass man den Ausgang der Entwicklungen kennt, folglich klar bestimmen kann, welche Tendenzen und Handlungen wirkungsmächtig waren und welche nicht. So ist denn auch beim Niedergang der römischen Republik, der im Folgenden untersucht wird, im Einzelnen vieles strittig, aber nicht das Resultat: Niemand kann bestreiten, dass die Republik, die keinen Alleinherrscher kannte, untergegangen und durch ein monarchisches System ersetzt worden ist.