Irina Korschunow

Das große Wawuschel-Buch

Mit Illustrationen
von Erich Hölle

Koloriert
von Ralph Bittner

Der vorliegende Sammelband umfasst die beiden Einzelbände ›Die Wawuschels mit den grünen Haaren‹ und ›Neues von den Wawuschels mit den grünen Haaren‹.

Ungekürzte Ausgabe

2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© für den Text: 2011 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© für die Illustrationen: 2003 Björn Hölle

Kolorierung der Illustrationen: Ralph Bittner

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Erich Hölle

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig (02)

eBook ISBN 978-3-423-41228-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-76133-8

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Die Wawuschels

mit den grünen Haaren

1. Kapitel

Es kracht

An einem schönen Sommertag, als draußen im Wald die Sonne schien, saßen die Wawuschels in ihrem Berg und horchten.

Übrigens, wer sind die Wawuschels?

Manche Leute behaupten, es gäbe eine Menge Wawuschels. Aber das stimmt nicht. Von den Wawuschels gibt es nur eine Familie:

den Wawuschelvater,

die gute, dicke Wawuschelmutter,

den faulen Wawuschelonkel,

die Wawuschelgroßmutter, der das Zauberbuch gehört,

den Wawuscheljungen Wuschel

und das Wawuschelmädchen Wischel mit den grünen Zöpfen.

Die Wawuschels sind klein, winzig klein, wawuschelklein. Aber das ist noch nichts Besonderes. Das Besondere an den Wawuschels sind ihre Haare. Alle Wawuschelköpfe sitzen voll grüner, dicker Wuschelhaare und diese Haare haben eine nützliche Eigenschaft: Sie leuchten im Dunkeln! Und weil ihre Haare leuchten, brauchen die Wawuschels keine Lampen und Laternen in ihrem Berg.

Wuschel und Wischel, die beiden Wawuschelkinder, laufen den ganzen Tag im Wald umher, erstens weil es ihnen dort gefällt und zweitens weil sie Beeren und Tannenzapfen für die Wawuschelmutter suchen müssen.

Die Wawuschelmutter braucht nämlich eine Menge Beeren und Tannenzapfen, um Marmelade zu kochen. Alle Wawuschels essen für ihr Leben gern Marmelade. Sie mögen nichts anderes als Marmelade und die Wawuschelmutter steht tagein, tagaus am Herd und rührt und macht sich Sorgen, dass die Marmelade nicht reichen könnte.

»Ojemine, ojemine«, jammert sie immerfort, »ich fürchte, ihr werdet nicht satt und müsst hungrig ins Bett gehen.«

Dabei futtern die Wawuschels jedes Mal so viel, dass sie beinahe platzen, und die Wawuschelmutter selbst ist rund wie eine kleine Kugel. Aber die Marmelade, die sie kocht, schmeckt auch ganz besonders gut. Vor allem die Tannenzapfenmarmelade.

Die Wawuschelmutter ist die einzige Frau auf der Welt, die Tannenzapfenmarmelade kochen kann, herrliche braune, dicke, süße, klebrige Tannenzapfenmarmelade.

Besonders der Wawuschelvater ist ganz versessen darauf. Wenn man ihn fragt, was er essen möchte, dann antwortet er wie aus der Pistole geschossen: »Tannenzapfenmarmelade!« Und dabei braucht er nicht einmal von seiner Fibel aufzusehen.

Der Wawuschelvater sitzt sehr oft über seiner Fibel. Immer, wenn er nicht gerade im Wald nach Gerümpel sucht oder in der Wohnung herumhämmern muss, legt er sie auf den Tisch und steckt die Nase hinein. Er hat die Fibel vor langer Zeit einmal im Wald gefunden. Nun will er unbedingt Lesen lernen, damit er herausbekommt, was in dem dicken Zauberbuch der Wawuschelgroßmutter steht.

Aber der Wawuschelvater hat, was Lesen anbelangt, leider einen harten Kopf. In seinen Kopf gehen Buchstaben so schwer hinein wie Nägel in eine Felswand. »OTTO« kann er buchstabieren, »HUT« und »DIE KUH FRISST«. Mehr hat er noch nicht gelernt, und nicht einmal die gute Wawuschelmutter glaubt, dass er jemals in dem dicken Zauberbuch lesen kann.

Manchmal, wenn er übt, stellt Wischel sich neben ihn. Sie kaut auf einem ihrer grünen Zöpfe und versucht, etwas aufzuschnappen.

Aber der Wawuschelvater schiebt sie jedes Mal beiseite.

»Du störst mich«, sagt er streng, »was ich nicht lernen kann, begreifst du erst recht nicht.«

Dabei würde Wischel für ihr Leben gern Lesen lernen. Auch Wuschel ist sehr gespannt darauf, was in dem dicken Zauberbuch steht, obwohl er selbst niemals einen Buchstaben anguckt.

»Nimm dir doch einfach die Fibel, wenn Vater im Wald ist«, sagt er immer wieder zu Wischel. »Wenn du lesen kannst, dann könnten wir zaubern. Stell dir vor, einen ganzen Kessel voll Marmelade …« Aber Wischel schüttelt den Kopf. Sie ist viel zu brav dazu. Selbst wenn Wuschel die Fibel hin und wieder stibitzt und ihr bringt, rührt sie sie nicht an.

»Angsthase!«, sagt er dann jedes Mal voll Verachtung. »Du bist der größte Angsthase auf der Welt. Bloß deswegen können wir niemals zaubern.« Und sehnsüchtig blickt er auf das dicke Zauberbuch.

Das dicke Zauberbuch gehört der Wawuschelgroßmutter. Die Wawuschelgroßmutter ist so klein und dürr, dass sie nicht spricht, sondern nur noch piepst. Das Buch hat sie von ihrer Großmutter geerbt, die es auch wieder von einer Großmutter bekommen hat. Es ist ein ururaltes Zauberbuch. Zaubersprüche für alle Gelegenheiten sollen darin stehen. Wenn die Wawuschels doch nur lesen könnten! Dann wären sie bestimmt die größten Zauberer weit und breit. Aber die Wawuschelgroßmutter hat seit Langem vergessen, wie man liest, und der Wawuschelvater hat es noch nicht gelernt. Das dicke Zauberbuch nützt ihnen leider gar nichts.

Im Gegenteil, es hat schon oft Unheil angerichtet. Bis vor Kurzem nämlich glaubte die Wawuschelgroßmutter felsenfest, dass sie eine Menge Zaubersprüche auswendig wisse. Immer wieder hat sie versucht, auswendig zu zaubern. Es war aber jedes Mal ein grausiges Kuddelmuddel, das sie dabei vor sich hinpiepste, ein richtiger Zaubervers-Salat. Weil sie nicht lesen kann, schlug sie außerdem auch noch die falsche Seite im Zauberbuch auf und legte den Finger auf den falschen Spruch. Und dann kam der größte Unfug heraus. Ja, auch Zaubern will gelernt sein. Man muss es können und bei den Wawuschels sieht es sehr schlecht damit aus.

Am ärgerlichsten ist deswegen der Wawuschelonkel. Er lässt sich nicht davon abbringen, dass es in dem Zauberbuch einen Spruch gibt, mit dem man Tabak herbeizaubern kann, und diesen Tabak möchte er gar zu gern haben.

Der Wawuschelonkel ist ein Miesepeter. Nur dann hat er leidlich gute Laune, wenn er an seiner langen Pfeife schmauchen kann, und er weiß nie, wo er genug Tabak herbekommen soll. Draußen vor dem Berg hat er zwar ein kleines Tabakfeld. Aber leider macht es eine Menge Arbeit, den Tabak zu pflanzen, zu pflücken, zu trocknen und zu schneiden, sehr viel Arbeit. Und Arbeit ist für die Laune des Wawuschelonkels ganz besonders schädlich. Außerdem ahnen die Menschen, die draußen spazieren gehen, nicht, dass dort ein Feld mit Wawuscheltabak liegt. Wenn der Wawuschelonkel Pech hat, trampeln sie mitten hindurch und verderben seinen ganzen Tabak. Dann muss er Tannennadeln oder dürres Laub in seine Pfeife stopfen und das ist für seine Laune das Allerschlimmste. Er sitzt da mit krummem Rücken, macht ein unglückliches Gesicht und grunzt und brummt vor sich hin: »Scheußlicher Tabak, scheußlicher Tabak, scheußlicher Tabak.«

Und vor lauter schlechter Laune fällt ihm ein grünes Haar nach dem anderen aus.

Deswegen sind die Wawuschels immer sehr besorgt, wenn der Onkel schlechte Laune hat. Jedes Haar, das ihm dabei ausfällt, kann nicht mehr leuchten und in dem dunklen Berg kommt es auf jedes Haar an.

Aus lauter Furcht, dass dem Wawuschelonkel womöglich alle Haare ausfallen könnten, hat die Wawuschelgroßmutter sogar schon versucht, einen Sack Tabak für ihn zu zaubern. Aber natürlich ist es schiefgegangen. Einen Sack, ja, den hat sie herbeigezaubert. Aber was war darin?

Kein Tabak, sondern Heuschrecken!

Kaum hatte der Wawuschelonkel den Sack aufgemacht, da sprang und hüpfte es in Scharen heraus. Die Wawuschels hatten, ehe sie sich’s versahen, eine Heuschreckenplage auf dem Hals. Tagelang mussten Wuschel und Wischel herumkriechen und Heuschrecken fangen und die arme Wawuschelmutter musste einen Kessel voll feinster Brombeermarmelade fortschütten, weil mindestens fünf Dutzend Heuschrecken hineingehüpft waren.

Die Wawuschelgroßmutter aber schwor, nie wieder zu zaubern, niemals wieder!

Diesen Schwur hat sie auch bis jetzt gehalten, obwohl es ihr und den anderen manchmal schwerfiel.

Und nun saßen die Wawuschels zusammen in ihrem Berg und horchten. Sie saßen um den Tisch herum und machten bedepperte Gesichter. Nur die Wawuschelmutter saß nicht mit am Tisch. Sie stand beim Herd und rührte Marmelade. Aber auch sie machte ein bedeppertes Gesicht.

»Bumbumbum«, tönte es durch den Berg, »bumbumbum.«

»Hört ihr es?«, sagte der Wawuschelvater, »da ist es wieder.«

»Ja«, jammerte die Wawuschelmutter.

»Ja«, piepste die Wawuschelgroßmutter.

»Ja«, grunzte der Wawuschelonkel, »und meine Pfeife schmeckt überhaupt nicht.«

»Ja«, nickten auch Wuschel und Wischel.

»Bumbumbum«, machte es wieder, »bumbumbum.«

»Was mag das bloß sein?«, jammerte die Wawuschelmutter, »seit drei Tagen bumst es nun schon. Ob sich etwa ein Riese durch den Berg wühlt?«

»Riesen gibt es nicht mehr«, grunzte der Wawuschelonkel schlecht gelaunt, »sie sind schon lange ausgestorben. Das solltest du wissen.« Er schüttelte den Kopf über so viel Unverstand. Dabei fielen ihm wieder drei grüne Haare aus und verloschen.

»Aber was ist es denn bloß?«, piepste die Wawuschelgroßmutter, »wir wohnen doch schon immer und immer hier im Berg und noch nie hat etwas gebumst.«

Sie schwiegen und horchten. »Bumbumbum«, machte es, »bumbumbum.«

»Wir müssen unbedingt herausbekommen, was da bumst«, sagte der Wawuschelvater. »Wuschel, Wischel, kommt mit. Wir drei wollen ein bisschen im Berg herumkriechen und der Sache auf den Grund gehen.«

Wuschel und Wischel sprangen vergnügt auf – und sprangen plötzlich viel höher, als sie wollten. Sie hüpften fast bis an die Stubendecke, so als hätte sie jemand hochgeblasen.

Gleichzeitig hüpfte auch die Bank in die Höhe und die Stühle, auf denen die anderen saßen, hüpften in die Höhe und der Tisch, die Schränke, alles hüpfte in die Höhe. Dazu dröhnte ein gewaltiger Donner durch den Berg: krachabumssakracharachabums! Als der Donner ausgegrollt hatte, gab es noch einmal einen Knall. Dieser Knall stammte vom Küchenherd. Er war besonders hoch in die Luft gehüpft und beim Herunterfallen in tausend Stücke zersprungen.

Einen Moment saßen die Wawuschels da und rührten sich nicht. Nur Wischel verkroch sich blitzschnell unter ihrem Bett.

Dann grunzte der Wawuschelonkel so tief, als säße er im Keller: »Ein Erdbeben! Wo ist meine Tabakspfeife?«

»Das ist schrecklich«, jammerte die Wawuschelmutter.

»Was sollen wir tun?«, piepste die Wawuschelgroßmutter und schlug unentwegt die Hände über dem Kopf zusammen.

»Ruhig bleiben«, sagte der Wawuschelvater. »Es ist schon vorbei. Unser Berg hält viel aus. Zum Glück ist kaum etwas passiert.«

Aber da jammerte die Wawuschelmutter laut auf.

»Nichts passiert! Nichts passiert, sagst du? Mein Herd ist kaputt. Mein schöner, lieber, guter Herd! Worauf soll ich jetzt unsere Marmelade kochen? Ojemine, ojemine, wir müssen alle verhungern.«

Die Wawuschelmutter hatte recht. Der kaputte Herd, das war das Schlimmste. Solange die Wawuschels denken konnten, hatte die Wawuschelmutter Marmelade darauf gekocht. Wo sollten sie jetzt einen neuen herbekommen?

»Großmutter kann doch einen Herd zaubern«, schlug Wischel vor, die wieder unter dem Bett hervorgekrochen war.

»O ja, fein!«, rief Wuschel.

Er fand es herrlich, wenn gezaubert wurde, trotz der Heuschrecken. Aber die Großmutter wollte auf keinen Fall zaubern. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und piepste, dass sie ihren Schwur halten würde, komme, was da wolle.

»Und unser Herd?«, jammerte die Wawuschelmutter, »wir brauchen doch einen Herd. Weißt du denn wirklich keinen Zauberspruch für einen Herd?«

Die Wawuschelgroßmutter dachte nach.

»Doch«, piepste sie, »ich glaube, mir fällt ein Herd-Zauberspruch ein:

Feuer, Feuer, Feurio,

heiz den Kessel so und so,

brenne warm und lichterloh,

Feuer, Feuer, Feurio.«

»Fein«, sagte der Wawuschelvater, »dann kannst du uns ja einen neuen Herd zaubern, Großmutter.«

Aber die Wawuschelgroßmutter piepste energisch:

»Nein, nein und nein, ich tu es nicht. Wo ich doch nicht die richtige Stelle im Zauberbuch weiß! Wenn ich nun den Finger auf den falschen Spruch lege? Womöglich brennt dann unsere ganze Stube ab.«

Die Wawuschelmutter fing sofort wieder an zu jammern.

»Bloß nicht, Großmutter, bloß nicht. Lieber wollen wir niemals wieder unsere gute Marmelade essen. Ach, Vater, warum hast du noch nicht Lesen gelernt?«

Der Wawuschelvater murmelte etwas und bekam einen roten Kopf, so sehr schämte er sich. Dann standen alle betrübt um den kaputten Herd herum. Da lag er, in tausend Stücke zerplatzt. Nur die eiserne Platte war ganz geblieben, aber die nützte ihnen auch nichts.

Weil sie wenigstens irgendetwas tun wollten, trugen sie die Trümmer in den Wald hinaus und räumten die Stube auf. Nur der Wawuschelonkel half nicht dabei. Er bekam vom Arbeiten immer viel zu schlechte Laune.

Danach setzten sie sich wieder um den Tisch herum und starrten auf die kahle Stelle, wo früher all die schöne Marmelade gekocht worden war. Jetzt gähnte nur noch das Ofenrohr in die Luft. Es sah so traurig aus, dass die Wawuschels vor lauter Kummer alle Marmelade aufaßen, die noch im Topf war, alles, bis auf den letzten Rest.

»Hach, bin ich satt«, sagte der Wawuschelvater schließlich.

»Ich auch«, piepste die Wawuschelgroßmutter.

»Und was essen wir morgen?«, jammerte die Wawuschelmutter.

»Wenn ich doch nur ein bisschen guten Tabak hätte«, grunzte der Wawuschelonkel.

In diesem Moment fing es wieder an:

Bumbumbum, bumbumbum!

Aber die Wawuschels waren zu satt und zu müde, um sich noch länger aufzuregen.

»Morgen sehen wir nach, was los ist«, gähnte der Wawuschelvater, »jetzt gehen wir erst einmal schlafen.«

Sie setzten ihre Nachtmützen auf, damit die grünen Haare nicht mehr leuchteten. Dann legte sich jeder Wawuschel in sein Bett.