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Enders, J., Kottmann, A.
Neue Ausbildungsformen – andere Werdegänge?
Ausbildungs- und Berufsverläufe von Absolventinnen und Absolventen der Graduiertenkollegs der DFG
2009
ISBN: 978-3-527-32629-7
Rauner, M., Jorda, S.
Big Business und Big Bang
Berufs- und Studienführer Physik
2008
ISBN: 978-3-527-40814-6 Gehring, P.
Traumjobs sind nicht nur Träume
Berufliche Neupositionierung für Fach- und Führungskräfte
2004
978-3-527-50099-4
Debus-Spangenberg, I.
Karriereführer für Biowissenschaftler
Beschäftigungsfelder – Arbeitgeberwünsche – Crashkurs Bewerben
2004
ISBN: 978-3-527-50086-4
Bürkle, H.
Karriereführer für Chemiker
Beruflicher Erfolg durch Aktiv- Bewerbung und Management in eigener Sache
2003
ISBN: 978-3-527-50069-7
Autoren
Dr. Lukas von Hippel
Kruse GmbH &Co. KG
Hafenstr. 7
63450 Hanau
Dr.Thorsten Daubenßld
Hochschule Fresenius
Limburger Str. 2
65510 Idstein
1. Auflage 2011
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Print ISBN 9783527329083
Epdf ISBN 978-3-527-66112-1
Epub ISBN 978-3-527-66111-4
Mobi ISBN 978-3-527-66110-7
Vorwort
Dieses Buch verdankt seine Existenz einer Frage: Im Herbst des Jahres 2009 waren beide Autoren eingeladen, auf dem Alpenforum des Jungchemikerforums (JCF) der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) vorzutragen. Die übliche Logik solcher Vorträge ist es, dass die Industrievertreter ihre Firmen vorstellen in der frohen Erwartung, diese so attraktiv zu machen, dass sich einfach jeder Teilnehmer des Alpenforums nichts anderes vorstellen kann, als sich dort zu bewerben.
Nun war das Jahr 2009 von der größten Wirtschaftskrise betroffen, die die heute handelnden Personen erlebt haben, bei der, als dieses Buch geschrieben wurde, noch keiner wirklich wusste, wie es weitergehen könnte, und noch viele Fragen offen sind. Lehman Brothers waren spektakulär in die Knie gegangen, die Börsen noch ziemlich am Boden. Viele Firmen gingen an fehlenden Aufträgen oder Krediten zu Grunde. Andere Firmen hatten die Aufgabe, zu überleben, aber an ein echtes Wachstum war in den meisten Fällen nicht wirklich zu denken, eher an Personalabbau, um die Kosten in den Griff zu bekommen.
So waren auch viele der beim Alpenforum gehaltenen Vorträge: Die Firmen noch immer spannend, die Aufgaben technisch reizvoll, aber, nein, meine Damen und Herren, wir haben gerade keine offenen Positionen. Leider. Ja, meine Damen und Herren, in der Unternehmensberatung stellen wir ein, aber nicht jeder Mensch ist tauglich, in einer Unternehmensberatung zu arbeiten. Keine schöne Botschaft. Frust pur.
Viele dieser Sorgen kannten wir auch aus unseren Aktivitäten an verschiedenen Hochschulen. Am prägnantesten wurde die Sorge von Absolventen einmal von einer Doktorandin der Pharmazie der Ludwig-Maximilians-Universität in München gestellt, als sie fragte: „Darf ich denn hoffen, eines Tages einmal eine Stelle zu finden, die mir Freude macht?“ Lassen Sie sich die Frage einmal in Ruhe durch den Kopf gehen: „Darf ich hoffen“ – wie unsicher muss denn ein Mensch sein, wenn er eine Frage so formuliert? Ja, sie darf nicht nur hoffen, sie wird sogar dafür ausgebildet, letztlich das Luxusproblem zu haben, was sie denn machen möchte. Sie weiß es nur vielleicht noch nicht.
Beim Alpenforum wandelte deshalb einer der beiden Autoren seinen Vortrag spontan um. Nicht mehr, wie schön die eigene Firma ist, sondern um dem Auditorium zu erläutern, wieso Studenten der so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) eine wirklich ideale Ausgangsposition haben, um sich später im Berufsleben zu behaupten. Dieser Vortrag war damit anders als die anderen und führte im Nachgang zu einer ausgedehnten Diskussion. Er war wohl notwendig. Er führte aber auch zur ersten Begegnung der Autoren und zur Frage des einen an den anderen: „Haben Sie aus Ihrem Vortrag denn schon mal ein Buch gemacht?“ Natürlich nicht, nettes Gespräch, lassen Sie uns doch mal Visitenkarten tauschen.
Die Frage saß – ein Buch. Quatsch. Muss es doch schon Hunderte geben. Eine Recherche ergab, dass es tatsächlich unter allen Büchern dieser Welt noch keines gibt, das sich mit den Fragen beschäftigt, die Absolventen der MINT-Fächer haben, wenn sie ihre erste Arbeitsstelle suchen oder antreten. So kam es zu der Frage, ob denn so ein Buch gewagt und geschrieben werden wollte. Mit dem Verlag Wiley wurde ein Verlag gefunden, der der Zielgruppe vom Studium bekannt ist, mit Frau Walter eine Lektorin bekommen, die sich nicht nur binnen Sekunden für das Thema begeisterte, sondern sich auch darüber hinaus immer für das Projekt einsetzte. In der sich dann anschließenden Phase der weiteren Bearbeitung war sie geduldig genug, um uns in Frieden zu lassen, aber auch hartnäckig genug, das Thema zu verfolgen. Wenn jeder Autor so betreut wird, muss es eine Freude sein, Bücher für Wiley zu schreiben.
Ein Wort zum geistigen Eigentum: Natürlich haben wir von anderen geklaut. Wir wissen, dass wir unser Können durch Lernen von anderen erworben haben, und können es oft nicht benennen, woher unser Wissen kommt. Wir haben Meter von Büchern gelesen in unserem Leben und können nicht mehr angeben, von wem alles wir gelernt haben, vielleicht vermischen wir sogar Quellen. Das ist wissenschaftlich nicht korrekt, aber menschlich nachvollziehbar. Und wir haben den Vorteil, dass dieses Buch kein im klassischen Sinne wissenschaftliches ist.
Wir haben Sokrates ebenso gelesen wie Bücher über Steve Jobs von Apple. Wir haben Goethe genauso genossen wie Bücher über die Strategieentwicklung von Unternehmen. Wir haben uns über Dürrenmatt hergemacht wie auch über Studien zum kollektiven Verhalten von Gesellschaften. Wir kennen sogar Novalis und Google. Das alles zu zitieren oder im Anhang anzugeben, wäre wenig hilfreich. Besser ist es, wenn sich unsere Leser selber auf die Reise machen, zu lesen, was ihnen in die Finger kommt, mit anderen zu sprechen, andere Meinungen und Wahrnehmungen zu hören und selber entdecken, was für sie wichtig ist und sie prägt.
Sollte sich also jemand über die Maßen zitiert fühlen, möge er es uns nachsehen. Nicht jedes Buch, das wir hatten, haben wir auch heute noch im Regal, nicht jeder geniale Gedanke, an dem wir uns formen durften, ist uns heute noch mit seiner geistigen Urheberschaft präsent. Dennoch denken wir, dass wir die Mischung zumindest neu vorgenommen haben. Wir wissen auch, dass dieses Buch nicht das Kompendium von mehreren Metern Büchern sein kann und will. Es soll Vielfältigkeit aufzeigen und Lust auf mehr machen. Wenn das gelingt, ist es für uns gelungen. Es wird auch nicht jeder Teil für jeden gleich bedeutend sein, auch können und werden sich Bedeutungen im Laufe eines Berufslebens verschieben. Das ist ganz normal.
Wir haben zur besseren Lesbarkeit auf die heute politisch korrekte durchgehende Verwendung beider Geschlechter im Text verzichtet. Für uns ist klar, dass Leser männlichen oder weiblichen Geschlechts sein können, wir haben sogar einige Gedanken darüber im Text verarbeitet. Wenn sich also ein Leser diskriminiert fühlen sollte, so appellieren wir an den guten Willen, uns nicht zu verklagen, denn wir wollen nicht diskriminieren, aber einen besser lesbaren Text und weniger Seiten verkaufen. Mit nichts kann man mehr Seiten schinden als mit der durchgängigen politisch korrekten Benennung von Geschlechtern.
Unsere Familien waren so nett, uns schreiben zu lassen, was naturgemäß nicht Teil unserer täglichen Arbeit ist. Damit ertrugen sie die Last unserer An- und Abwesenheit gleichermaßen bei einem Projekt, das wirtschaftlich den Autoren keinen echten Gewinn bringt, wissenschaftlich keinen Ruhm, dafür aber viel Arbeit und – wirklich ganz altruistisch – hoffentlich dem Leser Nutzen. Für diese Unterstützung möchten wir uns ganz herzlich bedanken, wir durften es nicht erwarten.
Nun liegt es an Ihnen zu entscheiden, ob wir am Bedarf vorbei geschrieben haben, oder ob die Themen, die wir angerissen haben, für Absolventen den Stellenwert haben, den wir meinen, erkannt zu haben. Wenn das Buch gut ist, sagen Sie es weiter, wenn es nicht gut war, sagen Sie es uns.
Vor Ihrem Urteil steht aber nun die Prüfung des Inhalts. Bei der Lektüre wünschen wir viel Freude und manches Aha-Erlebnis.
Alzenau, Februar 2011
Idstein, Februar 2011
Dr. Lukas von Hippel
Dr. Thorsten Daubenfeld
Einführung
Mit dem ersten Arbeitstag im Beruf verändert sich das Leben eines Hochschulabsolventen nachhaltig. Endlich geht es darum, all das Wissen, dass in jahrelanger Mühsal erarbeitet und erlernt wurde, anzuwenden. Dafür haben wir studiert. Dafür haben wir uns ausgebildet und ausbilden lassen. Wir haben Nächte gebüffelt, an Wochenenden für Klausuren gelernt, Praktika gemacht. Halt geschuftet. Weil es uns Spaß gemacht hat und weil wir der Meinung waren, dieses Studium schaffen zu wollen. Nach der Lernphase kommen jetzt das Geldverdienen und die Nutzung der so hart erarbeiteten Kompetenzen. Auf diesen Tag haben wir, ganz wörtlich zu nehmen, jahrelang hingearbeitet.
Aus der Perspektive einer Laborwissenschaft kann unser Weg zum Arbeitsalltag etwa so aussehen: Nach dem mehr oder weniger ausgedehnten Verhandeln des ersten Arbeitsvertrages ist es nun so weit. Wir sind stolz auf unseren Arbeitsvertrag, unsere Familie und unsere Freunde haben sich gefreut, mancher Kommilitone beneidet uns, wir sind gespannt und elektrisiert. Den zukünftigen Chef haben wir schon ein- oder zweimal gesehen, vielleicht haben wir es so gut, dass wir den Chef schon von einer Konferenz oder aus einer Kooperation kennen, aber das wird eher die Ausnahme bleiben. Die zukünftigen Kollegen kennen wir mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht alle, die vielleicht auch vorhandenen Mitarbeiter kennen wir in der Regel noch nicht, haben sie bestenfalls im Rahmen unserer Vorstellungsgespräche einmal zu sehen bekommen. Der Weg in die neue und vielleicht noch weitgehend unbekannte Stadt hat funktioniert, vielleicht war die letzte Nacht noch eine im Hotel, vielleicht werden noch weitere im Hotel folgen, oder wir haben schon ein möbliertes Zimmer gefunden, vielleicht sogar schon die erste Wohnung, die ziemlich sicher nicht unsere letzte sein wird. Die letzte Nacht war sicher nicht geprägt von ausgedehntem und erholendem Schlaf: Neugier, Fragen, Sorgen. Was, wenn ich scheitere und der Aufgabe nicht gewachsen bin? Was, wenn mitten in der Probezeit etwas schief geht? Was werde ich alles zu arbeiten haben? Schaffe ich das? Aber auch Freude: Ich kann endlich beweisen, was ich kann. Das wird bestimmt spannend und schön. Endlich die Welt verändern. Das Leben ist schön. Meistens.
Anmeldung beim Werkschutz als neuer Mitarbeiter, dann der Weg zum neuen Chef. Ein paar nette Worte, wie man sich doch auf die Zusammenarbeit freut. Gang zur Personalabteilung, um die Lohnsteuerkarte und den Sozialversicherungsausweis abzugeben. Nun kommt also der eigene Schreibtisch. Die Runde bei den Kollegen, den Mitarbeitern, die Übergabe der Insignien der Macht: Rechner, Mobiltelefon, Visitenkarten, Schlüssel, vielleicht die Arbeitsordnung, vielleicht Berufsbekleidung: Sicherheitsschuhe, Blaumann oder Weißkittel, der Werksausweis will gemacht sein, vielleicht der Werksarzt besucht werden, die Kantine möchte auch eine besondere Geldkarte zum Bezahlen. Sicherheitsbelehrung, vielleicht auch eine Delegation von Pflichten. Eine Kostenstelle will geführt werden, auf einmal habe ich Verantwortung für mehrere Hunderttausend Euro, vielleicht für mehr als eine Million. So viel Geld. Der erste Tag ist rum, vielleicht die ersten Tage. Haben wir unser Geld verdient? Eher noch nicht. Noch kosten wir, wird in uns investiert. Finden wir den Weg zurück zum Ausgang? Morgen den Weg zurück zum Büro? Wo war das Klo? Wo war die Kantine? Wie waren noch mal die Namen der Kollegen? So viele neue Gesichter, so viele neue Namen. Dummerweise passen die nicht immer zusammen. Aber zum Glück lichtet sich der Nebel mittlerweile teilweise.
Wenn wir Glück haben, ist unser Vorgänger noch da und hat auch Zeit für uns. Das ist eher unwahrscheinlich, denn unser Vorgänger möchte ja entweder woanders arbeiten und das Unternehmen verlassen – wieso denn eigentlich? – oder bekommt eine neue Aufgabe und muss sich selber auf die neue Aufgabe vorbereiten. Wenn wir Glück haben, ist er wenigstens einige Tage da und kann uns ein bisschen helfen. Vielleicht ist er aber auch schon weg und unsere Kollegen auch nicht gelangweilt. Gibt es einen Einarbeitungsplan? Wenn es gut geht, dann ja, aber der wird auch nicht alles beinhalten, was wir wirklich brauchen. Vielleicht laufen wir die erste Woche rum, die EDV geht nicht, denn ein neuer Rechner ist immer schwer zum Leben zu erwecken. Die Namen und Gesichter verschwimmen anfangs noch stark, später nicht mehr so richtig, die Müdigkeit geht auch langsam zurück, es setzt so eine Art Gewohnheit ein, der Adrenalinpegel pendelt sich ein. Wenn da nicht die Mitarbeiter wären. Die auch noch Anleitung wollen. Von mir. Aber die können wir ja noch gar nicht geben, wir verstehen ja noch viel zu wenig von dem Geschäft, für das wir eingestellt wurden. Dennoch: Aus der Nummer kommen wir nicht raus, denn dafür sind wir eingestellt.
Mehrere Mitarbeiter wollen geführt werden, wollen wissen, was sie machen sollen. Wie sage ich denen, dass ich doch noch keine Ahnung habe? Darf ich das, oder bin ich dann als Vorgesetzter unten durch? Was waren nochmal die Aufgaben, die zu erledigen waren? Aha. Wissenschaftlich vielleicht nicht hochinteressant, aber technisch. Ich kenne die Literatur nicht, ich habe mich damit noch nicht auseinander gesetzt, dabei habe ich doch gelernt, mich immer damit auseinanderzusetzen, was gerade Stand der Debatte in der wissenschaftlichen Gesellschaft ist. Wo bekomme ich Informationen her? Wie lerne ich die am schnellsten? Wie kann ich sicherstellen, dass meine Mitarbeiter nicht Däumchen drehen? Was kann ich machen, um ein sinnvolles Mitglied der industriellen Gemeinschaft zu werden? Wie kann ich dafür sorgen, dass die Firma, die pro Jahr mehr als ein Einfamilienhaus in mich und mein Labor investiert, auch einen angemessenen Rückfluss für die Investition bekommt? In anderen Worten: Was kann ich machen, um sinnvoll beschäftigt zu werden?
Vielleicht sind wir aber auch eher in ein Projektgeschäft geraten. Auch hier werden wir die firmentypischen Gebiete kennen lernen, auch hier geht der Gang zur Personalabteilung, zum Chef, zu den Kollegen. Auch hier will das Unternehmen kennen gelernt werden, aber statt eigener Mitarbeiter werden wir vielleicht schon in typische Projekte gesteckt, bekommen zunächst etwas zu lesen. Vielleicht sind wir auch schon nach zwei Tagen auf einer Baustelle, vielleicht unterwegs in eines der am schwersten zugänglichen Länder der Erde, um eine Pipeline zu verlegen, vielleicht aber auch damit beschäftigt, einen Kindergarten mit einem Schaltschrank zu versehen.
Auch hier werden wir mit völlig neuen Themen konfrontiert. Wir kennen die EDV-Programme nicht, die wir nun nutzen sollen, kennen nicht die Kunden, für die wir arbeiten, haben erstmalig mit Themen zu tun, die wir vorher nicht hatten. Wir werden vielleicht gleich viel, vielleicht erst mal weniger Verantwortung bekommen, aber wir werden in die Zukunft unserer Firma eingreifen. Vielleicht entwickeln wir einen neuen Stoßdämpfer, vielleicht einen neuen Motorblock, vielleicht beschäftigen wir uns mit der Fermentation von Medikamenten und der Frage der optimalen Temperatursteuerung in einem Fermentationsbehälter, oder aber mit der Steuerung einer alkoholischen Vergärung. Vielleicht simulieren wir eine Trunkenheitsfahrt am Rechner oder stellen Modelle für die Fluggastbewegungen am Flughafen in Manila auf.
Eine erste Phase kann dann so aussehen, wie es uns tatsächlich passiert ist: Eben noch nach der Promotion arbeitslos und in einer Fortbildung, dann einen Tag später beim ersten Arbeitgeber. Übergabe der Insignien der Macht, der Vorgänger theoretisch noch da, praktisch nicht, da schon mental in der neuen Aufgabe. Ein neues Unternehmen, zwanzigtausend Kollegen, am Standort mehrere Tausend. Drei Labors, ein Technikum, zwei Diplomanden, fünf unterschiedliche Themen und inhaltlich keine Ahnung. Abends ein möbliertes Zimmer, das eine Frechheit ist, mit Dusche und Toilette im Keller, erreichbar über zwei Treppen im gemeinsamen Treppenhaus. Ernährung von der Tankstelle, jedes Wochenende Tausend Kilometer pendeln zur Familie mit zwei kleinen Kindern. Fünfzehn Mitarbeiter, die etwas von einem wissen wollen, Spielregeln, die die anderen kennen, man selber nicht. Was ist ein Zeitschriftenumlauf? Keiner sagt „Du“ zu einem, an der Uni war das ganz anders. Gefühlte Tausend neue Namen, Gesichter. Manche nett, manche nicht. Wir kann ich die Inhalte der Themen schnell beherrschen, an denen die 15 Mitarbeiter arbeiten? Das ist sicher heftig.
Meistens wird die erste Stelle nicht ganz so hart ausfallen, es kann aber passieren. Dann dauert das Auftauchen vielleicht auch etwas länger als die Probezeit, dann dauert es etwas länger, bis die Kompetenzen reichen, die Themen so zu bearbeiten, dass innovative Ideen geboren werden. Vielleicht hat das Leben aber auch andere lustige Ideen, was wir als Aufgaben bekommen können, wenn wir den uns bekannten Lebensraum Hochschule verlassen.
Unser Leben ist auf einmal wie ein Überraschungsei, bunt eingewickelt, leicht außer Form zu bringen, außen süß, innen sperrig und nicht leicht verdaulich, wenn’s gut geht mit etwas zum Basteln dabei, und nicht wirklich vorhersagbar. Was aber vorhersagbar ist, ist genau, dass wir von unserer Ausbildungsstätte nicht wirklich auf unser Leben hin ausgebildet wurden, ja, auch nicht ausgebildet werden konnten, denn dazu ist das Leben zu vielfältig. Aber wir werden auch erkennen, dass wir zwar fast alles verwenden können, was wir mal gelernt haben, aber noch viel, viel mehr brauchen, um im Beruf erfolgreich zu sein. Wir haben vielleicht auch noch gehört, ein guter Ingenieur / Chemiker / Physiker / Biologe / Pharmazeut … kann alles. Bitte, bitte, glauben Sie das nicht. Wir können nicht alles, auch nicht alles besser. Leider hat uns an dieser Stelle unsere Hochschule im Stich gelassen und nicht wirklich ausgebildet. Wir haben nicht gelernt, wie wir Menschen führen, wir haben nicht gelernt, welche Fallen die Kommunikation für uns bietet. Wir haben nicht gelernt, was wir alles nicht können und was uns wirklich noch fehlt. Von dem, was wir noch brauchen könnten, worüber es lohnt, auch einmal nachzudenken, davon handelt dieses Buch.
Sie stehen vor einer Entscheidung. Vor der Entscheidung, was Sie zumindest für die nächsten Jahre Ihres Lebens machen wollen, vielleicht für den ganzen Rest. Sie haben sich ausbilden lassen, vielleicht in Deutschland, vielleicht in einem Auswärtssemester oder gar länger irgendwo anders auf der Welt, und Sie haben viel gelernt. Dennoch hat Ihnen niemand vor Beginn des Studiums eine spätere Anstellung fest versprochen, es sei denn, Sie kommen aus einem der familiengeführten Unternehmen und Ihre Familie hat Sie eine bestimmte Ausbildung machen lassen, die Sie später einmal beruflich nutzen sollen. Sie haben also Ihr Studium gemacht, ganz einfach, weil es Sie interessiert und weil es Ihnen entspricht, weil es Ihnen liegt. Das hat mit Ihren Kompetenzen zu tun.
Kompetenzen haben Sie viele, die meisten witzigerweise schon in Ihrem Elternhaus erlernt. Bis zu unserem dritten Lebensjahr entwickeln wir viele unserer kognitiven Fähigkeiten, wir lernen räumlich zu sehen, oder wir lernen es nie wieder in unserem Leben. Es werden emotionale Weichen gestellt, wir entwickeln viele unserer späteren Verhaltensmuster. Manche davon dürften genetisch bedingt sein, andere wiederum sind erlernt. Werden erlernt nach dem Prinzip von Ermunterung oder Bremsen, durch die Bereitschaft, etwas auszuprobieren und auch mit dem Scheitern umzugehen. Vielleicht haben Sie schon einmal kleine Kinder gesehen, die hingefallen waren und sich zu ihrer Betreuungsperson umgedreht haben: Wenn die locker bleiben und nichts sagen, stehen Kinder oft ohne Tränen auf und machen weiter, selbst wenn sie bluten; wenn hingegen eine erschrockene Reaktion kommt und zu Hilfe geeilt wird, dann setzt ein Gebrüll ein, auch wenn das Knie nicht blutet, ganz nach dem Motto: „Sage mir, wie ernst es ist …“ Wir lernen in diesem Alter, uns auf unsere Umwelt einzustellen, sie auf uns wirken zu lassen, aber auch auf sie einzuwirken. Dabei wird unser Aktionsradius immer größer, unsere das Verhalten bestimmenden Grundkompetenzen stehen aber schon nach wenigen Jahren und können dann kaum noch verändert werden.
Ob Sie vor dem Fernseher groß wurden oder Bücher lasen, ob Sie ein Instrument spielen oder aber im Sportverein waren, ob Sie sich in der Kirche engagiert haben, beim Roten Kreuz oder der Feuerwehr, ob Sie den Keller gesprengt haben oder Bilder malten, Sie haben dabei – ganz nebenbei – Kompetenzen erlangt, die Ihnen nicht nur durch die Schulzeit geholfen haben, diese Kompetenzen haben Sie bereits geprägt und die Prägung werden Sie nicht mehr loswerden, Sie werden sie teilweise sogar einmal weitergeben an Ihre eigenen Kinder.
Vielleicht erinnern Sie sich auch noch dunkel an Ihren Biologieunterricht, in dem Sie von Genotypen und Phänotypen gesprochen haben, also dem, was wir in unseren Genen mit uns mitschleppen und was wir durch unsere Umgebung gelernt haben. Dann kam das human genome project, die Entschlüsselung unserer Gene und das Verstehen, was die alles mit uns machen. In der Folge werden wir immer stärker mit Informationen versorgt, was alles Teil unserer Gene ist: Anfälligkeit für Krankheiten, unser Aussehen vor der Anbringung von dekorativer Kosmetik oder dem Skalpell des Schönheitschirurgen, aber auch ganze Verhaltensmuster, wie zum Beispiel, dass wir heute wissen, dass es Spiegelneuronen in uns gibt, die uns befähigen, die Mimik unserer Gesprächspartner zu spiegeln und so zu vermitteln, dass wir den Anderen verstehen: Wir können mit anderen lachen, weinen, Grimassen schneiden. Vieles davon ist nicht erlernt, sondern steckt in uns drin, ist Teil unserer Natur.
Dabei können wir unsere genetisch bedingten Merkmale nur begrenzt beeinflussen, denn keiner von uns kann viel an seinem Aussehen ändern, an seinem Körperbau, an seiner Haar- und Augenfarbe, es sei denn, wir greifen auf die Errungenschaften der modernen Chemie und Medizin zurück. In unseren Genen stecken aber auch weit mehr Informationen und Verhaltensmuster, als wir uns heute träumen lassen, denn auch der Umgang mit Gefahren, die Kreativität, ja sogar unsere Intelligenz ist ganz entscheidend von unseren Genen geprägt und nicht nur von der Erziehung. Es gab und gibt zwar Lehrmeinungen, die das permanent negieren und behaupten, dass alle Menschen in der Geburt sich gleichen. Selbst unsere geschlechtliche Ausprägung, sprich ob wir Mann oder Frau sind, sei das Ergebnis eines Lernprozesses und somit steuerbar. Somit sei jeder zu allem befähigt sei, wenn er nur die gleichen Chancen hätte, aber gehen Sie bitte davon aus, dass das Unsinn ist. Wenn Sie mit solchen Ideen konfrontiert werden, fragen Sie einfach mal, wie viele Kinder Ihr Gesprächspartner hat. Unsere Altvorderen waren da schon klug, als sie das Sprichwort schufen: „Willst du das Kind heiraten, schaue dir die Eltern an.“
Je mehr Kinder ein Mensch hat, desto klarer erkennt er, dass bereits mit der Geburt ein ziemlich komplett ausgestatteter Mensch das Licht der Erde erblickt hat, den die Eltern noch einige Jahre begleiten dürfen, der aber nicht ein unbeschriebenes Buch mit leeren Seiten ist. Mindestens die Hälfte der Geschichte ist schon geschrieben. Seit das menschliche Genom entschlüsselt wurde, hat sich für die Biologen ein wahres Schatzkästlein geöffnet: Endlich können wir hier über die in der Vergangenheit oft phänomenologische Beschreibung hinausgehen und Zusammenhänge wesentlich präziser beschreiben, als es noch vor wenigen Jahren möglich war. Wann das Auswirkungen auf moderne Erziehungstheorien haben wird, ist offen, gut ist aber, dass wir nun immer besser verstehen, wie viel von unseren Verhaltensweisen, Fähigkeiten und Limitierungen schon mit unserer Zeugung in uns gelegt wurde und was wir wirklich durch Erziehung beeinflussen können. Das bedeutet nicht, dass damit die Bereitschaft zu Anstrengung enden sollte, aber wir sollten für uns akzeptieren, dass wir, wenn wir den Körperbau eines Hammerwerfers haben, im Schulsport nie eine eins bekommen können, da dort Leichtathletik, nicht Schwerathletik unterrichtet wird. Das ist noch einleuchtend, weil wir die Unterschiede im Körperbau sehen können. Die gleichen Unterschiede gelten aber auch in unserer intellektuellen Grundausstattung, nur kann man die nicht sehen. Dennoch sind sie da, und das ist gut: Wir brauchen keine Welt, die nur Weltmeister im 100-m-Lauf beherbergt. Wir brauchen die Vielfalt der Begabungen und Fähigkeiten. Damit haben wir aber auch zu akzeptieren, dass wir es unser ganzes Leben lang mit Menschen zu tun haben, die ganz anders gestrickt sind als wir. Um dennoch eine Art gesellschaftlichen Konsens darüber zu bekommen, was jeder können sollte und welches Maß an gemeinsamem Wissen man voraussetzen darf, haben dazu geführt, dass Standards gesetzt wurden, die zu bestimmten Schulabschlüssen führen. Dabei gibt es Fächer, die uns mehr oder weniger liegen. Die, die uns liegen, fallen uns leicht zu lernen, darin sind wir gut, sie unterstützen also unsere Grundkompetenzen, andere fallen uns schwer, weil wir sie nicht so ausgeprägt in unserem Grundrepertoire haben.
Wir sind aber auch in einer Gesellschaft groß geworden, die uns gelehrt hat, „was man macht und was nicht.“ Wir haben gelernt, wie wir einander die Hand geben, wir haben gelernt, mit Messer und Gabel zu essen, wir haben gelernt, dass bei uns das Glas bei einem gedeckten Tisch auf der rechten Seite steht und wie man ein Weinglas hält. Wir haben gelernt, auf welcher Seite der Straße die Autos fahren und dass Herdplatten heiß sein können. Wir haben Lesen und Schreiben gelernt und nutzen es hoffentlich auch. Wir haben gelernt, Dinge und Menschen schön oder hässlich zu finden, wir haben gelernt, was wir lustig finden und was nicht. Wir haben gelernt, uns in fremden Sprachen auszudrücken, Wir haben gelernt, wie diese Erde aufgebaut ist, wir haben Rechnen gelernt und uns mit Differenzial- gleichungen beschäftigt, wir durften im Unterricht singen, malen, Sport betreiben und wir haben festgestellt, dass nicht alles zu uns passt und uns Freude macht. Danach kam eine ganz persönliche Entscheidung.
Dann haben Sie sich für ein Studium entschieden. Das ist insofern wichtig, weil Sie hier Einfluss auf Ihr weiteres Leben genommen haben in einer Ausprägung, wie es Ihnen vielleicht zunächst noch gar nicht klar geworden ist, weil Sie sich zwar positiv damit auseinander gesetzt haben, aber vielleicht nicht abgrenzend nach dem Motto: Was ich nicht will – und was bedeutet es, wenn ich nicht genau weiß, was ich nicht will.
Alle diese Fähigkeiten, die Sie teilweise in sich drin haben, kommen einfach daher, dass Sie die Eltern haben, die Sie haben, in der Umgebung groß geworden sind, in der Sie groß wurden, und die Bildung genossen haben, die Sie hatten. Sie sind dabei erwachsen geworden und haben angefangen, Ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Dann haben Sie sich für ein technisches Studium entschieden. Das war eine klare und bewusste Entscheidung (hoffen wir mal), die Sie aufgrund verschiedener Aspekte getroffen haben. Vielleicht haben Sie sich einfach für das Fach interessiert, vielleicht haben Sie sich überlegt, dass man besonders gute Aussichten auf eine spätere Anstellung hat, vielleicht gab es ein Vorbild im Umkreis, bei dem Sie gesagt haben, so möchten Sie auch einmal werden, vielleicht …
… spekulieren wir hier zu viel über Ihre Gründe, und Sie haben ganz andere gehabt. Das ist gut möglich, denn wir liegen mit unseren Spekulationen meist falsch. Wichtig ist aber, warum Sie sich für das entschieden haben, was Sie gemacht haben, denn nur wenn Sie das wissen, dann können Sie auch verstehen, was Ihre Motivatoren sind, die Dinge, die Sie interessieren und antreiben. Wenn Sie sich darüber genauer Rechenschaft abgelegt haben, werden Sie sich und Ihre Motive besser kennen lernen. Doch dazu später mehr. Lassen Sie uns noch etwas bei Ihren Kompetenzen verweilen.
Sie haben in Ihrem Studium unglaublich viele Erfahrungen gemacht: Sie haben sich mit der Mathematik beschäftigt und sowohl gelernt, was die zweite Ableitung einer Formel bedeutet, als auch, wie man sie ausrechnet. Sie haben Integrale berechnet, Sie haben vielleicht Hyperflächen berechnet, Programme selber geschrieben oder benutzt. Sie haben vielleicht im Labor gestanden und Chemikalien zusammengerührt – und die Experimente sogar überlebt. Und Sie haben gelernt, genug Gottvertrauen zu entwickeln, dass Sie nicht nur die eigenen Experimente überlebt haben, sondern auch die Ihrer Kommilitonen. Sie haben vielleicht Mäuse seziert und den Ekel überwunden, ein totes Tier aufzuschneiden, oder gar die Scheu überwunden, ein Tier zu töten. Sie sind durch die Wälder gegangen und haben alles angefasst, was auf dem Boden lag, vielleicht auch das eine oder andere nun wirklich ekelige Häufchen. Sie haben vielleicht Maschinen gezeichnet und konstruiert und gelernt, wie man mit der geeigneten Software Zeichnungen machen kann, die neue Gebäude, Maschinen, Automobile oder was auch immer darstellen. Sie haben gelernt, schon aus der Zeichnung heraus die Sollbruchstellen zu erkennen oder zu bestimmen, wie viele Kilometer Kabel durch ein Automobil gezogen werden, obwohl das gute Stück doch nur wenige Meter lang ist. Sie haben sich in ersten kleinen Projekten in die Forschung und Entwicklung eingebracht und haben so Ihre Scheine gemacht. Sie haben sich Stück für Stück fachliche Kompetenzen angeeignet auf einem weltweit sehr hohen Niveau. Deutsche Hochschulen sind noch immer weltweit begehrte Ausbildungseinrichtungen und Menschen, die sich in Deutschland haben technisch oder naturwissenschaftlich ausbilden lassen, haben sehr gute Chancen auf den Arbeitsmärkten dieser Welt.
War das alles, was Sie in Ihrem Studium gelernt haben? Die Scheine gemacht, das Wissen verinnerlicht und abrufbar, noch geringe Erfahrung, aber doch schon erkennbar? Mehr nicht? Doch, da ist noch mehr:
Sie haben sich so ganz nebenbei in vielen weiteren Disziplinen fortgebildet, ganz ohne es zu merken. Fangen wir mal mit dem Thema Logik an:
Sie haben ganz von Beginn an vorausgesetzt, dass es eine Ihrem gewählten Fach eigene Logik gibt, die Sie erlernen konnten. Sie sind davon ausgegangen, dass wir es mit einer Schöpfung zu tun haben, die bestimmten Regeln unterliegt, die Sie studieren können. Sie haben sich ganz selbstverständlich daran gewöhnt, dass es Maßeinheiten wie Meter, Zoll, Fuß, Kilometer und so weiter gibt und dass wir, wenn wir die Länge in Meter messen, in der Regel zum gleichen Ergebnis kommen werden.
Sie haben auch vorausgesetzt, dass wir bestimmte Ordnungsprinzipien benötigen, mit denen wir arbeiten können, Sie haben aber auch gelernt, dass es doch Unterschiede zwischen den Disziplinen gibt. Diejenigen unter Ihnen, die ein oder zwei Semester lang mal eine andere Disziplin lernen mussten, haben meist schmerzhaft erfahren, dass die gewohnten Grundlogiken nicht immer passen. Ob nun der angehende Chemiker sich mit gekoppelten Pendeln in der Physik beschäftigt oder mit elektrischen Schaltungen, ob der angehende Arzt sich mit den Wundern der Chemie auseinandersetzen soll, oder der kommende Ingenieur die mathematischen Grundlager der Ballistik erlernt, obwohl er doch den Wehrdienst verweigerte: Die Logiken, die wir in unserer Disziplin lernen, sind nicht überallhin übertragbar und führen oftmals zu Verwerfungen. Was es heißt, eine 4 × 4-Matrix zu haben und zu nutzen, kann für den Chemiker bedeuten, dass er vier Proben jeweils auf vier Reagenzgläser aufteilt, um dann weitere Experimente zu machen. Für den Ingenieur kann es eine Rechenaufgabe bedeuten, mit der letztlich ein zweidimensionales Problem beschrieben wird, für den Biologen können es Untersuchungen zum Wachstum von Zellkulturen in verschiedenen Milieus sein, letztlich ist es aber in jedem Fall die Beschreibung einer Systematisierung, auch wenn gleiche Begriffe in unterschiedlichen Disziplinen unterschiedliche Bedeutungen haben.
Diese Feststellung ist insofern wichtig und relevant, weil wir uns damit davon verabschieden müssen, dass unsere Logik jeder teilt und dass die Begriffe, die wir verwenden, eindeutig sind. Ein Spinner kann jemand sein, der verrückte Ideen hat, ein Angelzubehör oder Teil einer technischen Ausrüstung. Auf einer Tafel haben wir geschrieben, an ihr gegessen oder sie als Gebirgstyp im Erdkundeunterricht kennen gelernt. Eine Matrix kann ein Rechenbeispiel sein, ein Vlies, auf dem irgendetwas untergebracht wird, oder auch eine Ansammlung von Zellen. Es kann also passieren, dass wir in unserer inhärenten Logik und Sprache Dinge benennen, die unsere Gesprächspartner als ebenfalls logisch bezeichnen, allerdings aus einer anderen Logik heraus, einfach, weil die gleichen Wörter andere Begriffe beinhalten.
In Einem allerdings sind wir uns dennoch stillschweigend alle einig:
Wir gehen alle davon aus, dass wir es mit einer geordneten Schöpfung, einem Kosmos, zu tun haben, also dem Gegenteil von Chaos (auch wenn unsere Schreibtische manchmal anderes vermuten lassen). So haben wir beispielsweise nie infrage gestellt, dass Experimente oder Messungen wiederholbar sind, ja, sogar wiederholbar sein müssen. Wenn wir sauber gearbeitet haben, dann werden unsere Experimente oder Berechnungen immer zum gleichen Ergebnis führen. Sind unsere Experimente oder Berechnungen wider Erwarten einmal nicht wiederholbar gewesen, so haben wir für uns gleich akzeptiert, dass wir uns entweder verrechnet haben oder mindestens einen Parameter noch nicht verstanden haben, der auch zu dem Ergebnis beiträgt. Und weil wir diesen Parameter nicht kannten, haben wir daran gearbeitet, ihn zu verstehen, damit Ergebnisse wieder reproduzierbar sind. Wir haben – um eine extreme Gegenposition zu beziehen – jedenfalls nicht gedanklich zugelassen, dass wir vom Chaos umgeben sind, das keine nachvollziehbaren Regeln hat, sodass wir nicht wissen, ob wir, wenn wir morgen aus dem Haus gehen und uns nach links wenden, nicht auf einmal in Tomatensuppe versinken, um bei einer Wiederholung unseres Laufweges zu explodieren. Das wäre wirkliche eine surreale Welt, in der wir dann lebten, eine, die eher zu einem LSD-Trip passte als in unser normales Weltbild. Solche Einfälle passen einfach nicht zu unserer Grundannahme der Reproduzierbarkeit und der geltenden Gesetze. Sie gelten dann, wenn wir ganz schräge Bücher lesen, die bewusst die Regeln unserer Welt auf die Schippe nehmen. Sie gelten aber nicht in unserem täglichen Leben. Vermutlich haben wir uns darüber bisher auch keine Rechenschaft abgelegt, denn es ist für uns so was von normal, es lohnt einfach nicht, diese Grundlagen festzustellen. Doch, es lohnt, denn nicht jeder muss ja vom Gleichen ausgehen.
Durch die Grundannahme der geltenden naturwissenschaftlichen Regeln haben wir selbstverständlich akzeptiert, dass Dinge wiederholbar sind und wir mit unserem Handeln diesen Regeln unterworfen sind. Wir haben gelernt, logisch darin zu denken und zu handeln. Wenn wir durch ein Experiment feststellen, dass irgendetwas geschieht, wenn wir etwas machen, und das auch reproduzierbar ist, dann können wir versuchen, daraus Regeln abzuleiten, die dann vielleicht auch übertragbar sind. Und wenn wir etwas übertragen konnten und das auch bestätigt ist, können wir eine Theorie aufstellen, die bis zum Beweis des Gegenteils gilt. So etwas nennt man dann wissenschaftliches Arbeiten. Dabei wissen wir allerdings auch, dass wir bis heute nicht alles begriffen haben, sodass es sein kann, dass einiges sich morgen doch ändert. Lassen Sie mich dazu ein Beispiel geben:
Stellen wir uns vor, wir sind ein Volk, das auch nur ansatzweise noch nicht verstanden hat, wie unser Sonnensystem funktioniert. Jeden Morgen geht die Sonne auf, jeden Abend geht sie unter. Nun haben wir eine Theorie, die besagt, dass wir ab dem Sonnenuntergang die ganze Nacht über eine Trommel schlagen müssen, bis die Sonne morgens wieder aufgeht. Wenn wir das nicht machen, geht die Sonne nicht mehr auf. Generationen haben schon die Trommel geschlagen, und siehe da – die Sonne ging immer wieder auf. In einer Kausalkette können wir also lückenlos belegen, dass die Theorie stimmt, bis eines Tages jemand kommt, der sagt, dass das alles ganz großer Quatsch sein könnte und es lohnte, die Theorie zu hinterfragen: So beschließen sie alle, mal eine Nacht nicht zu trommeln, und wenn die Sonne nicht wieder aufgeht, dann könnte man ja noch immer trommeln, damit sie wiederkäme. Wir werden Stimmen hören, die davor warnen, auf das gewohnte Trommeln zu verzichten, denn wenn jetzt die Dauer einer Nacht nicht getrommelt wird und wir dann wieder anfangen – wer kann denn heute mit Sicherheit sagen, dass es gelingen wird, wieder einen Tag herbei zu trommeln, oder ob wir nicht in ewiger Finsternis versinken werden, weil die Sonne es uns übel nimmt, dass wir nicht getrommelt haben und nun beleidigt woanders scheinen geht. Bei solchen, die eben fleißig trommeln. Nach langen Debatten trauen wir uns nun doch und probieren es mal aus, wie es sich ohne Trommeln schlafen lässt.
Nun, das Ergebnis des Experiments können Sie sich vorstellen:
Die in Gedanken gesetzte Gesellschaft könnte dann ruhiger schlafen, ein Dogma weniger, und vielleicht mit mauligen Trommlern, die ihres Status beraubt und arbeitslos sind. Sie sagen, so etwas hat es nie gegeben. Doch. Denken Sie an Ihren Geschichtsunterricht: Bis vor wenigen Jahrhunderten war nach der Vorstellung der Menschen die Erde eine Scheibe, mit ganz klaren Konsequenzen für ihre Nutzbarkeit. Dennoch waren Menschen gebildet und zu guter wissenschaftlicher und handwerklicher Arbeit befähigt. Wir sollten uns also davor hüten, die damalige Zeit mit dem heutigen Wissen arrogant zu verspotten, denn wir leben heute selber in einer Zeit, die in wenigen Generationen einmal eine Zeit sein wird, auf die man zurückblickt und sich vielleicht wundert, wie naiv wir doch damals waren im Umgang mit welchem Wissen auch immer. Es kann uns sogar passieren, dass wir im Zeitalter der Digitalisierung schlagartig Wissen verlieren und die Menschheit in der Erkenntnis zurückwerfen, wenn wir keine Bücher mehr haben und nicht mehr mit geschriebenen und gedruckten Medien umgehen können: Heute schon tun wir uns schwer, digitale Bilder oder Texte der ersten Generationen zu lesen, durch Wechsel der Software können ganze Bibliotheken nicht mehr verfügbar sein, ein in der EDV durchaus als wichtig und relevant erkanntes Thema. Wenn also durch solche Wechsel der Software oder Rechnersysteme ganze Arbeiten nicht mehr zugänglich sind, ist das Wissen verloren und muss neu erarbeitet werden, was vielleicht nicht mehr möglich ist. Das kann dann durchaus demütig machen in Bezug auf die Leistungen früherer Generationen und ihre Leistungsfähigkeit. Es sollte uns aber auch helfen, unsere eigenen Leistungen zu relativieren und uns etwas bescheidener in einen Zeitstrahl einzuordnen, der vor uns war, den wir nun ein paar Jahrzehnte mitgestalten dürfen und der noch lange nach uns sein wird. Die Aussage, die Welt sei eine Kugel, brauchte Zeit, um sich durchzusetzen. Manche Erkenntnisse haben deutliche Konsequenzen, wie die Aussage, die Erde sei eine Kugel: Wenn die Erde eine Kugel war, dann musste es ganz andere Wege nach Indien geben. Christoph Kolumbus griff diese These auf, das spanische Königshaus ermöglichte die Expedition, wir kennen das Ergebnis, aber auch den Irrtum: Kolumbus dachte, er sei in Indien, daher gibt es noch heute die Indianer. Die Konsequenz waren dann ganz andere Wege für Warenströme und die Entdeckung Amerikas, die Besiedelung neuer Landschaften und für Hunderttausende Deutscher, Briten, Franzosen in einer Zeit, in der Europa die eigene Bevölkerung nicht wirklich ernähren konnte, die Chance, in einem neuen Land zu eigenem Land und eigenem Wohlstand zu kommen.
Wir haben also gelernt, unsere Welt mit anderen Augen zu sehen und Fragen zu stellen. Nicht nur die Frage, wieso wir nachts nicht mehr trommeln müssen, sondern auch die Frage, wieso eigentlich Benzin über einen Vergaser gehen muss, bevor man es verbrennt, oder ob nicht eine Einspritzpumpe auch gehen könnte, wieso wir nicht ein bestimmtes Medikament machen können, wieso wir nicht fliegen können sollen, wieso wir nicht zum Mond reisen sollen, wieso wir nicht ein über dreihundert Meter hohes Haus bauen wollen, wieso wir nicht Löcher in die Erde bohren, um Öl zu fördern, wieso wir nicht Telefone bauen, die jeder mit sich führen kann, die auch noch Mails schreiben können, Musik abspielen und vielleicht eines Tages auch Kaffee kochen. Wir haben gelernt, die Generationenfolgen zu berechnen, uns mit Krankheiten und deren Vererbbarkeiten auseinanderzusetzen und zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir einmal Diabetes bekommen oder an einem Herzinfarkt sterben werden.
Die Art und Weise, wie wir fragen, wird sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe unseres Lebens geändert haben. Als Kind hatten wir eine Phase, in der wir unsere Eltern zur Weißglut bekommen haben, indem wir immer „Warum“ fragten. Diese Frage ist ein Spiel und führt in Sekunden an die Grenzen des eigenen Wissens und oft in die Metaphysik. Warum ist die Banane krumm? Weil sie nicht gerade ist. Warum ist sie nicht gerade? Weil sie krumm ist. So eine Schleife ist langweilig, weil sie unsinnig sich selber wieder schließt. Nicht langweilig ist aber eine andere Serie an „Warums“, die so aussehen kann: Warum ist die Banane krumm? Weil sie immer so wächst. Warum wächst sie immer so? Weil es die Natur so vorgibt. Warum gibt die Natur das so vor? Weil die Information über unser Wachstum in unseren Genen steckt. Warum steckt die Information in unseren Genen? – Und schon haben wir ein Forschungsprogramm andiskutiert, mit dem Ziel, das „Krumm-wachs-Gen“ zu identifizieren. Das kann uns dann helfen, Bananen zu züchten, die sich ringeln oder gerade wachsen und weiß der Himmel was noch. Vielleicht verstehen wir auch, wieso sich mancher Bambus ringelt, ob das Bananen-krumm-Gen mit dem des geringelten Schweineschwanzes identisch ist, ob das dann übertragbar ist auf andere Probleme und was wir technisch so von der Natur lernen können, wie etwa beim Lotos-Effekt, dass eben nicht die Oberfläche besonders Schmutz abweisend ist, die poliert und glatt ist, sondern die, die eher rau ist, aber eine besondere Rauigkeit hat, sodass sie schlechte Hafteigenschaften aufweist.
Das Titellied der Sesamstraße hat als Text:
Der, die, das,
wer, wie, was,
wieso, weshalb, warum,
wer nicht fragt, bleibt dumm .
Dabei fällt auf, dass alle Fragen mit einem „W“ anfangen. Ganz allgemein sind die W-Fragen, also die Frage, warum, wieso, woher, weshalb, wer, was, so genannte offene Fragen. Offen deshalb, weil die Antworten nicht ja, nein, kein Häkchen in einem Kästchen sein können, sondern eben offene Antworten zulassen, sogar brauchen. Es gibt keine vorgegebene Antwort, das macht die Fragen so schwer, aber auch so erfolgreich. Wer etwas lernen möchte, fragt besser mit offenen Fragen. Das gilt ganz allgemein: Im Tatort hören wir, wie der Kommissar fragt, was der Verdächtige machte, oder wo er war. Im Kolloquium hat uns der Prüfer vielleicht auch gefragt, wie eine Reaktion von statten geht, oder welche Situation welche Konsequenz hatte. Auch im privaten Bereich sind wir mit offenen Fragen meistens erfolgreicher: „Was machst Du heute Abend?“ lässt als Frage mehr Antworten zu, als die Frage „Magst Du mit ins Kino gehen?“
Erwachsene fragen typischerweise nicht mehr „Warum“. Dabei geht aber die kindliche Frage nach dem Warum meist im Studium verloren und wird durch ein „Wie“ ersetzt. Ein Erwachsener fragt eher „Wie geht dieses Gerät, diese Reaktion, dieses Was-auch-immer“, während ein Kind die Frage nach dem Warum stellt. Warum geht das Gerät? Warum geht diese Reaktion? Diese Frage ist viel fundamentaler und wird uns – richtig angewendet – unschlagbar erfolgreich machen können. Aber auch alle anderen W-Fragen sind unglaublich erfolgreich, weil sie Möglichkeiten geben und nicht nehmen: Was kommt am Ende des Himmels? Wie kommt das Schild „Rasen betreten verboten“ mitten auf den Rasen? Warum sterben wir? Woher kommt die Schwerkraft? Warum können wir sie nicht aufheben? Wieso können wir nicht fliegen? Wer hat den Kosmos gemacht? Warum sterben Sterne? Wieso geht diese Packung Erdnüsse nicht auf? Warum schäumt Cola light mit Mentos über? Wieso bröckelt der Putz von der Wand? Warum muss der Mensch schlafen? Wieso kann Zeit nur in eine Richtung verstreichen? Was kommt hinter dem Universum? Wer hat das alles gemacht? Und warum? Diese Fragen zu beantworten, reicht ein Menschenleben nicht aus. Stellen wir sie anders, können wir sie schnell und einfach beantworten:
Wo schalte ich dieses Gerät an? Da. Diese Reaktion führt zu Produkt A? Ja oder Nein. Hat der Himmel ein Ende? Ja. Betreten Menschen den Rasen, um Schilder zu installieren, auf denen steht „Rasen betreten verboten“? Ja. Sterben wir am Ende unseres Lebens? Ja. Üben Körper eine Kraft auf andere aus? Ja. Können wir die berechnen? Ja. Gibt es eine negative Schwerkraft? Nein. Ist der Mensch bauartlich ungeeignet, um zu fliegen? Ja. Gab es einen Urknall? Ja. Regeneriert der Mensch im Schlaf? Ja. Wir kürzen hier ab. Andere Fragen, andere Antworten. Langweilige Antworten. Aber schnelle Antworten.
Wenn wir ein gutes Studium hatten, dann haben wir unsere natürliche Neugier beibehalten und werden sie noch hoffentlich lange mit uns herumschleppen. „Scio nescio“ –„ich weiß, dass ich nichts weiß“. Mit diesem Satz wird Sokrates ebenso wie Descartes zitiert, der so die Grenzen seines Wissens beschrieb. Er hatte sicher Recht, denn das, was wir nicht wissen, ist sicherlich deutlich mehr, als das, was wir zu wissen meinen. Wie das Beispiel der Trommler zeigt, die die Sonne herbei trommelten, wissen wir oft nicht einmal, dass auch wir so eine Gesellschaft von Trommlern sind. Wir haben es eben nur noch nicht erkannt. Egal, ob es sich um Dogmen handelt oder auch um scheinbar feste Erkenntnisse.
Dabei ist es oft ja auch nicht so, dass sich eine neue Erkenntnis fulminant durchsetzt und die ehemaligen Gegner sich bekehren lassen. Es wird in der Regel nicht so sein, dass Gegner einer Sichtweise sich von heute auf morgen verändern, die Richtigkeit der Aussage anerkennen und so gewissermaßen aus einem Saulus ein Paulus wird (falls es nicht bekannt sein sollte: Saulus war ein römischer Offizier, der den Auftrag hatte, Christen zu verfolgen, durch ein Wunder zum Christentum bekehrt wurde und nach langen Missionsreisen später selber im Rom das Martyrium erlitt. Mit seiner Bekehrung änderte er seinen Namen von Saulus zu Paulus.)