1

Die meisten müssen arbeiten, um essen zu dürfen, essen, um wieder arbeiten zu können und so, mit Sorge, Mühe und ein bißchen Glück, mahlen sie die ihnen zugeteilten Tage ab.

Herr Sebastian Wenzel hatte das nicht nötig.

Daß er einmal selbst, treu und bedächtig, an dem Maschinenrad des Alltags mitgedreht hatte, lag weit zurück. Er wußte es selbst nicht mehr.

Jetzt war ihm das Essen ein Genuß, für den er sich durch regelmäßige Spaziergänge, kalte Abreibungen, angenehme Gedanken und kleine Arzneien frisch und aufnahmefähig erhielt. An Regentagen, an denen er aus Furcht vor Rheumatismus und anderen Erkältungserscheinungen niemals das Zimmer verließ, sorgte er für die notwendige Bewegung des Blutes, indem er sich einem kleinen Ärger heftig, aber nicht übertrieben, hingab.

Verdruß findet sich genug in der Welt.

Wird zum Beispiel je eine Köchin begreifen, daß eine Prise Salz mehr oder weniger den Geschmack eines Gerichtes vollständig verändert? Oder: daß das köstlichste Stück Lende, nur den Bruchteil einer Sekunde zu lang auf dem Rost gelassen, zäh und ledern zu werden beginnt? Daß eine Omelette soufflée – übrigens eines der delikatesten Gerichte der Welt – sofort vom Backofen aus auf den Tisch gebracht werden muß? Wird sie das je begreifen? Niemals.

Oder ein andrer Verdruß, der Herrn Sebastian Wenzel gerade heute wieder traf:

Er wartet mit der Uhr in der Hand auf die einzige Zerstreuung des verregneten Tages: Die Zeitung. Er klingelt und sagt, daß die Zeitung längst da sein müsse, aber erhält zur Antwort, daß sie bei Regenwetter immer später käme. Schließlich geht er selbst hinaus, schlägt den Rockkragen hoch und öffnet vorsichtig die Hintertreppentür. Richtig, da liegt das Blatt vor der Schwelle, und wirklich ist auch schon ein nasser Stiefel darüber hinweggetreten. Er hat seit Jahr und Tag einen breiten Kasten mit Luftlöchern und Nickelschloß anbringen lassen, aber noch niemals durfte dieser Behälter seine Bestimmung erfüllen.

So hat er Ärger über Ärger.

Denn nun muß das feuchte Blatt erst in der Küche getrocknet werden. Diese Notwendigkeit begreift ein Dienstbote natürlich nicht im geringsten. Gegrinst wird, wenn Herr Wenzel nun deutlich erklärend sagt: Trocknen Sie das Blatt über dem Feuer, ungefähr drei oder vier Minuten, und achten Sie darauf, daß Sie es dabei nicht versengen. Dann plätten Sie es, lassen es gehörig abkühlen und bringen es mir mit sauberen Fingern in mein Zimmer. Im ganzen hat alles in allem nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch zu nehmen. Verstanden?

Nun wartet Herr Wenzel wieder, die Uhr in der Hand, in dem bequemen Stuhl am Fenster. Aber es ist ihm wohler zu Mut. Die kleine Bewegung hat ihn erfrischt.

Draußen klappt wütend das Bügeleisen – ein zufriedenes Lächeln legt sich um die schmalen Lippen Sebastian Wenzels.

Er fühlt sich wieder ruhig und behaglich. Nichts tut so gut wie ein kleines Ärgerchen ...

2

Daß Herr Sebastian Wenzel diesen Zuschauerplatz im Leben einnahm, war höchst verwunderlich. Sonst hatten alle Wenzels immer etwas weniger gehabt, als sie brauchten. Bis auf eine Tante. Diese war, mittels Heirat, zu großem Reichtum gelangt. Ihr Mann hatte mit einer kleinen Farm unversehens eine Kupfermine gekauft. Im Laufe des Lebens wurde sie Witwe und in der Familie der Gegenstand allgemeiner Verehrung. Denn Kinder hatte sie nicht.

Als siebenjähriger Knabe nahm Sebastian, im Beisein seiner Tante, eine Stecknadel vom Boden auf. Die Tante, die dies beobachtete, sagte sich: in diesem Kinde steckt der wahre Sinn zur Sparsamkeit. Sie beschloß bei sich, allen lauernden Verwandten zum Trotz, den kleinen Neffen zu ihrem einzigen Erben einzusetzen.

Sebastians Absicht damals war, die Stecknadel mit der Spitze nach oben in den Stuhlsitz der Tante zu stecken. Er mochte sie nicht leiden, weil alle schön mit ihr taten, obgleich eine große Warze auf ihrer kurzen, dicken Nase saß.

Niemand kann hinter die Stirn des andern sehen. So müssen wir uns gefallen lassen, daß unsern Handlungen falsche Beweggründe untergeschoben werden ...

Die Tante hatte ihren letzten Willen geschrieben und ihn beglaubigen lassen.

Manche behaupten, dies sei das sicherste Mittel, um lange zu leben. In diesem Fall muß ihnen recht gegeben werden. Die vorsichtige Frau überlebte diese ernste Tat, zu der sie sich im fünfzigsten Lebensjahr entschloß, um siebenunddreißig und dreiviertel Jahr. –

Inzwischen ging Sebastian Wenzel seinen bescheidenen Weg durch Kindheit und Jugend.

Vielleicht lag seine künftige Bestimmung als dunkle Ahnung in ihm. Wenigstens kannte er keine größere Freude, als Geld zusammenzuhalten und anzuhäufen. Was andern Knaben die Käfersammlung und später das Heftchen mit den ersten unbeholfenen Reimen ist, war Sebastian das Sparkassenbuch.

Hatte also Sebastians so reich begüterte Tante auch damals den Neffen mißverstanden, so hatte sie sich doch im Grunde seines Wesens nicht geirrt.

Er war der einzige der Verwandten, der ohne Kranz zur Beerdigung kam. Es fiel ihm nicht ein, Geld für etwas herauszuwerfen, was niemand zunutze kam. Die drei Mark, die er dafür hätte ausgeben müssen, trug er auf dem Rückweg vom Kirchhof zur Sparkasse.

An die Erbschaft dachte er nicht im geringsten. Es war ihm klar, daß ihm von Weibern nichts Gutes kommen könne.

Im engen Heim, zwischen den Streitigkeiten einer kränkelnden Mutter und zwei rechthaberischen Schwestern, war ihm der Geschmack für das andere Geschlecht gründlich verleidet worden. Er rechnete die Frauen zu einer minderwertigen Gattung Mensch und behauptete, daß die Luft schwül und dumpf werde, wenn sie im Zimmer oder nur in der Nähe wären.

Nicht viele junge Männer denken so. Daher lachten ihn seine Kollegen aus. Er bemitleidete sie. Es tat ihm leid, daß sie den größten Teil ihres Verdienstes, wofür sie von früh bis spät im Büro saßen, an den Sonntagen für ein solches plapperndes, gefräßiges Ding ausgaben. Er begriff nicht, wie sie in Regen und Sonne geduldig warten konnten, bis es dem Fräulein einfiel, fein geputzt daherzukommen. In den Hüften wippend, wie ein gackerndes Huhn. Er wußte schon in seiner Kindheit, wie sie, hinter den Gardinen, ungekämmt in den Frisierjacken aussahen. Er kannte sie. Er mied sie und die mit ihnen verbundenen Unkosten auf das strengste. Nein, Weiber sind nichts wert, und wenn sie hundert Jahr alt werden.

Trotzdem ging er zur Testamentseröffnung. Nicht weil er dabei etwas für sich erhoffte, sondern weil er auf alles gespannt war, was mit Geld zusammenhing.

Leidenschaft reißt uns hin.

Sonst wäre es kaum zu erklären, daß Sebastian an einen Ort ging, wo er mit Sicherheit seiner ganzen Familie begegnen mußte.

Von dem Tag an, an dem er sein erstes Gehalt bezog, war er allen miteinander aus dem Weg gegangen. Denn wenn man aufrichtig ist – worin besteht das Familienleben des Unverheirateten? Daß er zu Hochzeiten, Taufen und Geburtstagen eingeladen wird, um Geschenke zu bringen. Davon hatte sich Sebastian zurückgezogen.

Man war ihm nicht sehr nachgelaufen. Man hatte keinen Grund dazu. Es ist durchaus ein Irrtum, wenn behauptet wird, daß kleine Geschenke die Freundschaft erhalten. Auch hier wird immer die Größe siegen. –

Die Begrüßung im Vorzimmer des Notars war gegenseitig kühl und gemessen.

Was von der Familie Wenzel lebendig und aus den Kinderschuhen heraus war, wartete hier verdrießlich und unruhig. Groß, hager und mager stand Sebastian unter ihnen. Er musterte seine beiden Schwestern, die mürrisch neben ihren einmal hartnäckig erkämpften Gatten saßen. Die langweiligen, geduldigen Gesichter seiner Schwager erschienen ihm in der Untätigkeit des Wartens noch leerer. Zwei gleichgekleidete fette Frauen, mit hastig aufgesteckten Kapotthüten und dem verärgerten Ausdruck der aus den häuslichen Beschäftigungen gerissenen Hausfrau, nickten ihm herablassend zu. Erst allmählich erkannte er in ihnen seine schnippischen, zierlichen Cousinen wieder. Ein dicker Herr, dessen Atem durch das Zimmer pfiff, sagte: »Sieh einer an. Auch unser Sebastian gibt uns die seltne Ehre.« Das war Vetter Fritz, mit dem er auf die Bäume geklettert war.

Man flüsterte, man scharrte ungeduldig mit den Füßen. Uhrdeckel klappten auf und zu. Eigentlich dachten alle, in bezug auf die Erbschaft, nicht anders als Sebastian. Die – nun sanft entschlafene – Tante hatten Gicht und Gelbsucht nicht liebenswürdiger gemacht, als sie es als echte Wenzel ohnedies war. Oft genug hatte sie wiederholt, daß ihr Tod nur einem einzigen Freude machen würde. Daß dies niemand aus der Familie sein konnte, schien allen klar zu sein.

Aber der Mensch hofft, solange er atmet. So saßen sie hier mit dem unverwüstlichen Glauben, mit dem man zeitlebens auf Dinge wartet, die niemals kommen. Nur Sebastian riß die Geduld. Er mußte zurück in das Büro, er hatte nicht mehr als zwei Stunden Urlaub.

»Warte doch, Sebastian«, sagte eine seiner Schwestern. »Falls es zu spät wird, nimmst du dir eine Droschke.«

Alle lachten.

Der Gedanke, daß sich Sebastian Wenzel eine Droschke nehmen könne, war ebenso komisch, wie wenn man sich den Kaiser barfuß durch die Straßen laufend dächte.

Sebastian warf einen verächtlichen Blick durch den Raum, verbeugte sich und ging.

Ehe er aus der Haustür trat, klappte er die Beinkleider an den Füßen auf, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß noch Zeit genug übrig sei, um zu Fuß gehen zu können und die Straßenbahn zu sparen, eilte er mit langen Schritten durch das Gedränge.

Im Büro empfing ihn die spöttische Frage: »Nun, wieviel?«

»Ich habe die Sache nicht abwarten können«, sagte Sebastian, steckte den Bleistift hinter das Ohr, nahm den Federhalter in die Hand und setzte sich vor sein Schreibpult.

Zum letzten Mal. Einige Stunden später war er Millionär geworden ...

10

»Was nützt das Reden«, sagte Herr Wenzel traurig zur Exzellenz. »Alle diese Aufregungen werden mich unter die Erde bringen. Mein Appetit ist schon wieder verschwunden.«

»Nur Mut, mein Lieber«, erwiderte der General. »Ich an Ihrer Stelle würde heiraten. Ein hübsches junges Mädchen. Das wird Ihre lieben Verwandten fernhalten. Schließlich gehört für Sie nicht mehr dazu als ein bißchen Mut.«

»Mut!« rief Sebastian verächtlich. »Wenn es darauf ankäme. Aber Sie kennen die Frauen nicht.«

»Nein, ich kenne sie nicht. Ich liebe sie nur. Man sagt, beides ließe sich nicht vereinen. Aber Sie, Herr Wenzel, kennen sie auch nicht. Schwestern und Cousinen sind keine Frauen.«

»Und Amalie Zwink?« höhnte Sebastian.

»War einmal eine«, erwiderte der andere.

Sebastian lachte ein rostiges Lachen.

»Sie stimmen mich immer wieder heiter«, sagte er dankbar. »Lachen soll doch außerordentlich gesund sein, las ich neulich.«

»Sicherlich«, sagte der General. »Aber heute hab ich noch etwas Besseres für Sie.«

Er stand auf und humpelte zum Bücherbrett, holte ein Buch, kam zurückgeschlurft und reichte es Sebastian.

Dieser sah erstaunt auf das Titelblatt. »Die Kunst, jung und gesund zu bleiben«, las er halblaut.

»Etwas verspätete Lektüre für einen Fünfundsiebzigjährigen, wie? Aber Sie können noch großen Nutzen daraus ziehn.«

»Ich sah das Buch überall angezeigt«, meinte Sebastian bedauernd. »Ich glaubte, es sei Schwindel, sonst ...« Er blätterte verträumt und sehnsüchtig in dem viele hundert Seiten starken Band.

»Nicht mehr Schwindel, als schließlich alles auf dieser närrischen Kugel, die sich beständig dreht und ändert. Der es geschrieben hat, ist ein weltbekannter Arzt.«

»Ein weltbekannter Arzt. Und was rät er?« fragte Sebastian gespannt.

»Die Ehe, mein Freund. Die Ehe und den Vegetarismus.«

»Und das soll kein Schwindler sein?« rief Sebastian empört.

Der General zuckte die Schultern.

»Er begründet es sehr überzeugend.«

»Nun, mich wird ein solcher Narr nicht überzeugen«, erwiderte Herr Wenzel heftig. »Gemüse kauen soll das Leben verlängern? Lächerlich. Nichts ist stärkender als ein saftiges Beefsteak. Und was soll aus den ganzen Rinderherden werden? Und aus dem zahlreichen Geflügel? Und all das Wildbret? Soll es verwesen.?«

Mit jedem Wort erregte sich Herr Wenzel mehr. Zum zweitenmal kam er heute in Schweiß. Im Januar. Es war, als habe sich die ganze Welt gegen ihn verschworen.

»Wenn ich geahnt hätte, daß Sie sich so aufregen, lieber Freund«, unterbrach ihn der alte General vorsichtig. »Übrigens haben Sie den ersten Punkt ganz übersprungen. Die Ehe –«

»Das ist so närrisch, daß es gar nicht der Erwähnung wert ist.«

Herr Wenzel sah den Freund erbittert an, als ob dieser selbst das Buch geschrieben hätte. –

Aber schließlich, als er heimging, hatte er das dicke Buch unter dem Arm. Er konnte doch dem Freund zuliebe ein wenig darin blättern.

Schon mancher nahm ein Buch mit unter sein Dach, ohne zu wissen, was er damit tat.

Sebastian las und las. Erst um Mitternacht löschte er das Licht aus. Und das nur, weil er sich ernsthaft klarmachte, daß er selbst den Zweck des Buches aufhebe, wenn er sich des stärkenden Schlafs beraube.

Schon am frühen Morgen saß er wieder vor dem Buch.

Alles, was es über Mäßigung, die höchstmögliche Vermeidung alles Unangenehmen und ähnliche Dinge enthielt, war ihm aus der Seele geschrieben. Daß die Rücksicht auf andere gut war, aber auf sich selbst noch besser, daß jeder stündlich an sich und seine Gesundheit denken sollte, war ihm von jeher klar gewesen. Hier hatte er stets sein Bestes getan und sich seinen Anteilschein auf langes Leben vielleicht gesichert.

Aber was das Buch über die Schäden der Fleischernährung sagte – besonders bei Leuten, die mehr als fünfzig Jahre alt waren –, mußte ihm wirklich den Appetit verderben.

Herr Wenzel versuchte höhnisch und überlegen zu lächeln, als er das Buch beiseite legte, ehe er zu Tisch ging, um ein saftiges, scharfes, auf englische Weise blutendes Roastbeef zu verzehren. Allein der köstliche Duft des Bratens stärkte. Und das sollte Gift sein? Sollte zu frühem Tode führen?

Während er das Fleisch bedächtig in kleine Würfel schnitt, dachte und grübelte er über das Gelesene nach. Obgleich er wußte, daß man beim Essen möglichst untätig sein mußte, wenn es bekömmlich sein sollte.

Er wurde sich klar, daß auch alle leckern Rauchwaren, Schinken und die reiche Auswahl an Würsten in das Reich dieses Fleischverbots gehörten. Auch Hasen, Leberpastete, Kalbsmilch.

Er grübelte und sann hin und her, so daß er in Gedanken, ohne es zu merken, mehr Fleisch aß als je zuvor.

Herr Sebastian war kein gewandter Leihbibliothekleser, der die Seiten, die ihm nicht passen, zu überschlagen versteht und damit die Gabe hat, das dickste Buch in kürzester Zeit auszulesen. Herr Wenzel las ordentlich und ernst, Seite für Seite. Auch das Kapitel über die Ehe.

»Ich wundre mich nur, daß es Witwer gibt«, sagte er höhnisch zur Exzellenz, als er ihm sein Eigentum zurückgab. »Wenn die Ehe doch so unerhört gesund ist?«

»Sie sind zu frauenfeindlich, mein Freund«, antwortete der General. »Übrigens bin ich kein Verteidiger der Ehe. Eine Sache ist doch noch nicht schön, weil sie gesund ist.«

»Sie bleiben also wirklich dabei, daß ...«

»Daß die Ehe gesund ist? Allerdings.«

Exzellenz lehnte sich behaglich in seinen Stuhl zurück und sprach weiter:

»Liebe zehrt. Da muß man dauernd auf Wache stehn, um alle seine Mängelchen und Fehler zu verstecken. Der Liebende muß immer schön sein. Das verlangen Liebe und Geliebte. Eheleute gehen im Schlafrock und reden sich einander nichts mehr vor. Das gibt Zufriedenheit und Behagen; Zufriedenheit und Behagen erhalten das Leben.«

»Sprechen Sie im Ernst?« fragte Herr Wenzel unruhig.

»So ernst, wie es diese Situation erfordert«, war die Antwort.

»Und das Alleinsein? Schützt das nicht am besten vor Ärger, Aufregung und unnützen Anstrengungen?« rief Herr Sebastian Wenzel gereizt.

»Sie sehen, wohin es führt. Das geht so fünfzig, sechzig Jahre, und dann ist es aus. Man verliert den Appetit, wird unlustig, verärgert, verbittert und ist schließlich ein Mann des Todes.«

Sebastian schwieg. Erregung und Überlegenheit, Hohn und Furcht balgten sich in ihm.

Er war überzeugt davon, daß er recht hatte. Er änderte nichts an seinem Speisezettel und daß seine Anschauung von dem andern Geschlecht noch dieselbe sei, bekräftigte er, indem er selbst Amalie Zwink aus dem Wege ging.

Aber Überzeugung allein macht nicht glücklich. Man kann Behauptungen heftig bestreiten und braucht sie deshalb nicht zu vergessen. Man irrt, wenn man glaubt, daß man nur denken kann, was man will.

Sebastian quälten schwere Träume. Eine Armee von Maurern goß ihm aus Rieseneimern Kalk in die Adern, und ein Heer von Mädchen und Frauen umdrängten ihn, um geheiratet zu werden. Aber der Tod selbst kam auf einem großen Roastbeef auf ihn zugeritten, sprang auf seine Brust und zückte einen großen Bratenspieß nach seinem Herzen.

Wieder kam die Furcht vor der Nacht. Er lag wach und horchte in die Stille. Er lernte die Schritte nächtlicher Fußgänger unterscheiden. Den zufriedenen Gang des Pfeifenden, der von der Liebsten kam. Das taumelnde Schlurfen des Trunkenen. Das angstvolle Laufen eines, der nach dem Arzt rannte.

Auf schlaflose Nächte folgten keine appetitreichen Tage. Der Duft des Bratens wurde ihm widerlich.

So kam Herr Wenzel zu keiner rechten Ruhe mehr, er fühlte seine Kräfte abnehmen und ließ den Arzt kommen, der ihn von dem Apfelsinenkern befreit hatte.

»Sie sind nervös«, sagte dieser. »Appetitlosigkeit und Unlust sind die typischen Zeichen der Nervosität. Ihr Leben ist zu einförmig. Versuchen Sie es sozusagen auf den Kopf zu stellen. Gehn Sie zum Beispiel gerade zu der Zeit spazieren, zu der Sie sonst gewohnt sind zu essen. Sie werden sehn, wie hungrig Sie nach Haus kommen.«

So mußte Herr Sebastian Wenzel mittags und abends, wenn die andern heimkehrten, um sich das Essen für den Hunger zu holen, durch die Straßen marschieren, um sich Hunger für sein Essen zu verschaffen.

Das war kein Vergnügen.

»Ja«, sagte Exzellenz. »Seiner Gesundheit zu leben ist eine langweilige Krankheit. Sie sollten verreisen und sich zerstreuen. Sie grübeln zuviel.«

»Glauben Sie, daß es in der ganzen Welt eine glückliche Ehe gibt?« fragte Sebastian, tief aus seinen Gedanken heraus, statt zu antworten.

Der General legte sich Patiencekarten. Er hatte daher nicht Zeit, sofort zu antworten. Endlich sagte er, die Augen auf den Karten: »Gute Ehen? Ich glaube, das ist wie mit den Gespenstern. Alle erzählen davon, aber schließlich hat sie noch niemand in der Nähe gesehen.«

Er beschäftigte sich mit seinen Karten, dann sagte er wieder:

»Lieber Freund, quälen Sie sich nicht mit überflüssigen Gedanken, sondern reisen Sie. Fragen Sie Ihren Arzt, der wird Ihnen dasselbe sagen.«

»Der Mann hat vor dreißig Jahren studiert, er soll jetzt wissen, was mir heute fehlt, das ist doch zuviel verlangt!« rief Sebastian.

»Dann gehen Sie zu einem Studenten«, sagte Exzellenz. Er war ganz von seinen Karten in Anspruch genommen.

»Ich glaube, mit der Freundschaft ist es ebenso wie mit der glücklichen Ehe und den Gespenstern«, erklärte Herr Wenzel beleidigt und ging nach Haus.

12

Wind und Regen waren bei der Arbeit, um den Schnee zu schmelzen. Graue, schwere Wolken glitten über die noch schlafenden winterlichen Bäume. Stürme brausten und fegten die Wege frei für den Frühling.

Aber der Bote des Frühlings ist längst nicht mehr die Schwalbe, sondern die Grippe.

Herr Sebastian Wenzel wußte dies bis jetzt nur vom Hörensagen.

Eines Tages jedoch holte er sich auf einem seiner pflichtgemäßen Spaziergänge statt des großen Appetits einen tüchtigen Schnupfen. Früher hatte er sich in solchen Fällen einen Tag ins Bett gelegt und Lindenblütentee getrunken. So hatten es alle Wenzels von jeher gehalten und waren alt dabei geworden.

Diesmal legte er sich auch ins Bett, aber er ließ den Arzt holen. Auf diese Weise erfuhr er, daß er Grippe hatte und eine Woche im Bett bleiben müsse.

Als er wieder gesund war, sagte der Doktor, daß es das beste für ihn sei, wenn er nun an die Riviera ginge. Der Übergang der Jahreszeiten sei gefährlich, besonders in seinem Alter und nach einer Grippe.

Furcht entzündet Mut.

Herr Sebastian Wenzel überlegte, ob er den Ratschlägen des Arztes und des Freundes nicht folgen müsse.

Er fuhr in die Stadt und bog in eine jener Straßen, in denen die Häuser fast nur aus Glasscheiben bestehen und wo um die Mittagszeit Luxus und Müßiggang flanieren und Gelegenheit zu unnützen Käufen suchen.

Bis jetzt hatte Herr Sebastian Wenzel die Notwendigkeit einer solchen Straße nicht eingesehen und sie gemieden, wo es anging.

Heute durchmaß er sie langsamen Schrittes. Fast jedes Fenster nahm er nachdrücklich ins Auge.

Vor den Scheiben eines Reisebüros fesselten ihn farbenfreudige Plakate. Im tiefen Papierblau lag da ein See, über den sich eine Dame beugte auf hohen Absätzen, mit wehendem Schleier.

Herr Wenzel sah erst auf die blaue Flut und das junge Mädchen. Dann schweiften seine Blicke zu dem Nachbarbild: Er sah auf einer Straße am Meer, tiefblau wie der nebenhängende See, Wagen und Automobile gefüllt mit lächelnden Papierpuppen vorübereilen. Über ihnen hingen Rosen und Narzissen in der Luft.

Herr Wenzel schüttelte den Kopf und rümpfte die Nase. Zuviel Menschen. Wieviel Staub müssen die vielen Automobile aufwirbeln. Er wandte sich ab und widmete sich einem dritten großen Bogen, der die Hälfte der Scheibe verdeckte. Hier stand wieder ein junges Mädchen, lebensgroß und lächelnd. Sie lehnte sich über einen schmalen Brettersteg und sah mit einem Opernglas in die rote untergehende Sonne. Meer und Himmel und alles, was dazwischenlag, leuchtete rosigrot.

Herr Sebastian Wenzel mußte an Himbeeren und Sommer denken und lächelte. Er nahm ein Notizbuch hervor und schrieb sich das Wort ab, das unter des lächelnden Mädchens zierlichen Füßen stand.

Dann ging er weiter.

Einige Schritte davon waren hinter großen, blanken Spiegelscheiben unzählige neue Koffer aufgestapelt. In den verschiedensten Formen und Arten. Einige konnten sich als Schrank verstellen, andere als Kommode, wieder andere sogar als Bett. Herrn Sebastian Wenzel gefielen am besten die, die vorn und hinten und von allen Seiten nichts weiter als Koffer waren und sein wollten. Aber auch sie sah er sorgenvoll an. Da sollte man sein Hab und Gut hineindrücken und stundenlang herumschütteln lassen. Wozu?

In einer Ecke des Schaufensters standen Körbchen, aus denen blanke Messer, Gabel und Löffel zwischen weißen Porzellantellern und einem Kristallgläschen blinkten. Herr Sebastian Wenzel fand sie allerliebst. Appetitreizend. Doch schon beim Weiterschreiten sagte er, daß man damit nur vor längerer Zeit verpackte Nahrung genießt, die niemals so gut munden könne wie frisch zubereitete Speisen.

In solche Gedanken versunken, blieb er, ohne es zu wissen, vor einer Auslage von Damenschuhen stehen.

Auf Spiegelglas, auf Samt und Seide standen Schuhe und Stiefel im frechen Durcheinander. Kleine Aschenbrödelschuhe aus Schlangenhaut oder Lackleder mit goldnen Schnallen oder Schleifen, die Schmetterlingen glichen. Kecke Reiterstiefel neben winzigen Türkenpantöffelchen.

Herr Sebastian Wenzel mußte lächeln.

Wer sollte dieses zierliche, zerbrechliche Zeug tragen? Das hielt doch keinen Windhauch aus? Wo gab es die Puppenfüße, die da hineinpassen sollten? Er dachte an die festgebauten weiblichen Mitglieder der Familie Wenzel. An Amalie Zwink. An die derben Schritte seiner Wirtschafterin, und er lächelte wieder, ehe er sich von den unnützen Dingern trennte. Unglaublich, was man sich alles ausdachte, um Käufer anzulocken.

Er ging die Straße zurück, um heimzukehren. Vor dem Koffergeschäft ruhte er sich ein wenig aus.

Der Geruch von Leder war ihm immer angenehm gewesen.

Er faßte einen hellgelben Rohrplattenkoffer ins Auge und mußte unwillkürlich denken, wie wohl seine Initialen darauf aussehen würden. Ein großes S und ein großes W, vielleicht mit einer fünfzackigen Bürgerkrone darüber.

Wir wissen einen Augenblick vorher noch nicht, was uns im nächsten geschehen kann.

Kaum fünf Minuten später hatte Herr Sebastian Wenzel diesen hübschen hellgelben Koffer gekauft. Seine Initialen wurden sofort darauf angebracht, die Bürgerkrone auch, und bald nach Sebastians Rückkehr lud schon ein Automobil, das selbst wie der leibhaftige Koffer aussah, Sebastians großen Einkauf vor seiner Haustür ab.

So wußte die ganze Straße, früher als Sebastian selbst, daß Herr Sebastian Wenzel verreisen werde.

13

Dieser Ausgang und die verschiedenen Eindrücke hatten eine angenehme Müdigkeit hervorgerufen.

Herr Wenzel fühlte sich ungemein wohl, als er wieder im Hausrock und in Hausschuhen am Fenster saß.

Gegen Abend begann ein Regen prasselnd gegen die Scheiben zu schlagen. Selbst als die Vorhänge zugezogen waren und die Lampe angezündet war, hörte man das schwere Fallen der Tropfen.

Der neue Koffer stand im Schlafzimmer, gegenüber von Sebastians breitem Bett.

Herr Sebastian Wenzel lag unter der warmen Decke, die Zehenspitzen wohlig an einer Wärmeflasche.

Draußen rauschte der Regen nieder. Herr Wenzel blinzelte nach dem Koffer. Wenn er nun auf Reisen wäre? Bei solchem Wetter durch die Straßen einer fremden Stadt fahren müßte!

Er löschte das Licht aus. Ganz und voll genoß er das Behagen, bei Regenwetter geborgen im Bett zu liegen und auf die fallenden Tropfen, das Gurgeln der Dachrinne zu horchen. Lächelnd schlief er ein, um endlich wieder einmal die traumlose Ruhe des Zufriedenen zu finden.

Wer kann mehr von einer Erholungsreise verlangen, als daß sie schon ungeplant so erquickend und stärkend wirkt.

Sebastian schlief noch, als seine Wirtschafterin ihn bereits um die ganze Welt reisen ließ. Was sollte sie anders tun, wenn sie dem hohen Ansehen, das ihr Herr in der Straße genoß, nichts nachgeben wollte. Man hatte den großen, schönen Koffer gesehen, und in jedem Laden bestürmte man sie bei ihren Morgeneinkäufen mit Fragen. Wohin und wann der reiche Herr verreise. Sie wußte nichts, aber man kann nicht verlangen, daß sie das zugab. Unwissenheit wird jeder zu verbergen suchen. Sie antwortete daher auf die Frage: Wohin? kurz und entschlossen: Um die Welt. Sie hatte neulich im Lichtbildtheater »Die Reise um die Welt in achtzig Tagen« gesehen und an diese hielt sie sich. Durch sie konnte sie auch wissen, wie lange ihr Herr fortbleiben werde: So ungefähr achtzig Tage. Der Tag der Abreise war schwer zu bestimmen. Sie sagte ausweichend: Nun, nicht gleich heute oder morgen. Für eine solche Reise muß man sich vorbereiten.

Ihr schwebten bei diesen Worten die beiden Gänsebrüste, die noch in der Speisekammer hingen, vor Augen. Sie dachte: Ehe diese nicht gegessen sind, reist er keineswegs.

Sie war ein einfacher Mensch und wußte nicht, daß das einzige Beständige in der Welt die Veränderung ist und daß Herrn Wenzel längst alles Fleisch zuwider war.

Als Sebastian angenehm ausgeruht erwachte, fielen seine Augen sofort auf den Koffer. Da stand er wartend im Morgenlicht. Groß und gelb wie ein Löwe.

Auf nüchternen Magen soll man keine Entschlüsse fassen. Sebastian sagte das sich und dem Koffer, von dem etwas Lauerndes ausging.

Im Frühstückszimmer waren die Fenster vorsichtig geschlossen, aber es war etwas von der herben Morgenkühle, die einer Regennacht folgt, zurückgeblieben.

Sebastian strich seine Brötchen wieder einmal mit der ruhevollen Behaglichkeit des Ausgeschlafenen. Die Feuchtigkeit der Luft erinnerte ihn an das blaue und rote Meer vor den Scheiben des Reisebüros. Vielleicht sollte er sich wirklich hinauswagen in die bunte Welt. Wenn er damit Kräfte und Gesundheit stärken konnte. Schließlich mußte wohl etwas dahinterstecken, daß alles auf Reisen ging, was reisen konnte.

Immerhin brauchte man sich nicht damit zu übereilen. Vorgetan und nachgedacht ...

Unter solchen Gedanken rüstete er sich zum Morgenspaziergang und schritt zum Haus hinaus. Was auf seinem Weg alles in ihm vorging, kann niemand wissen. Aber als er wieder zurückkam, betrat er Heinrich Siebenlists Laden und forderte ein Fernglas. Heinrich Siebenlist wäre der Wunsch nach einer Uhr lieber gewesen, weil sich an den Einkauf einer Uhr immer Konsequenzen, oft unabsehbare, knüpfen. Aber er lächelte doch, öffnete einen Glasschrank und legte eine große Anzahl gelber und schwarzer Futterale auf den Ladentisch.