Seitdem die Dampfmaschinen erfunden worden sind und dann das übrige Zeug, das alles schleunig macht, ist in die Zeit ein Entwicklungstempo gekommen, bei dem einem der Weltkapellmeister von Herzen leid tun kann. Er taktiert gewiß schon längst mit dem linken Arm, weil ihm der rechte lahm ist.
Es geschehen jetzt auf allen Gebieten, vielleicht die Liebe ausgenommen, in der sich seit Adam und Eva immer alles gleich geblieben ist, in einem Jahrzehnt Umwälzungen, für die frühere Zeiten gut ein paar Jahrhunderte brauchten. Die Leute erfinden mit einer Geschwindigkeit immer wieder neues, daß gar nichts mehr alt werden kann. Gestern saß einer noch stolz auf seinem neuen Zweirad mit dem Bewußtsein, alle Errungenschaften der Technik zwischen den Beinen und in der Hand zu haben, heute überradelt ihn schon eine neue »Marke«, gegen die sein Flitzrad ein rückständiges Möbel ist, und morgen hat er die Empfindung, in einer Postkutsche zu fahren, wenn er die allerneuesten Marken an sich vorübersausen sieht. Das ist die moderne Variante des guten, alten Liedes: »Gestern noch auf stolzen Rossen usw.« Die Fabrikanten wissen es wohl zu singen und oft recht wehmütig.
Am eiligsten aber hat's die Kunst. Auch die Musen haben heutzutage Hosen an und fahren Rad. Die Tunika und der langsame Schreitetanz um feststehende Altäre sind aus der Mode. Die Damen trainieren sich und halten die schwierigsten Parforcetouren aus. Selbst Melpomene, die Breithüftige, radelt gewaltig schnelle; vor keiner Pfütze scheut sich die Unerschrockene.
Aber ich will nicht von ihr reden oder einem ihrer Jünger.
Dies ist der Sang von Kaktus, der ein Maler war.
Kaktus war nicht sein Vatersname. Der tut hier nichts zur Sache. Er hieß Kaktus unter seinen Freunden, und fragte man warum, so hieß es: Weil er knollborstig und saftig ist.
Als er noch ganz jung war und schon Lateinisch lernen sollte, machte er sich bei seinen Mitschülern dadurch beliebt, daß er in den Freiviertelstunden den Herrn Ordinarius sowohl wie auch den Mathematikprofessor und überhaupt alles, was Lehrer hieß, mit weißer Kreide an die schwarze Wandtafel malte. Daß er dabei nicht schmeichelte, erhöhte seinen Triumph bei den entzückten Kameraden, aber das Lehrerkollegium dachte über diese Kunstleistungen anders, als es dahinter kam, und der Herr Rektor erklärte den malerischen Tertianer für »zügellos frech«.
Deshalb unterließ es Kaktus fürderhin, die Leiter seiner Studien zu porträtieren; dafür zeichnete er nun an den Rand des beredten Cicero sowohl wie des geschichtekundigen Xenophon schönlockige Mädchenköpfe und feuerflammige Herzen, die durch verschlungene Spruchbänder voll zärtlicher Redewendungen miteinander verbunden waren.
Auch das fand den Beifall der Lehrer nicht, obwohl die Kameraden voll Bewunderung erklärten: das ist die Babette, und das ist die Marie, und das ist die Bertha!
Die Lehrerschaft war und blieb den schönen Künsten barbarisch abhold und beurteilte den Wert des jungen Kaktus keineswegs nach der Porträtähnlichkeit seiner Randzeichnungen, sondern nach seiner Beschlagenheit in den tristen Wissenschaften des Gymnasiums. Daher blieb Kaktus oft sitzen und hatte früher einen Schnurrbart als die Würde eines Primaners. Hätte er sich darauf gesteift, das Reifezeugnis zu erwerben, so säße er wahrscheinlich heute noch auf der Schulbank. Aber er steifte sich gar nicht darauf, sondern ging lieber nach München zur Akademie.
Es ist nicht zu schildern, mit welchem Hochgefühl er zum ersten Male durch die langen Korridore mit den schönen gipsernen Standbildern schritt.
Zeichnen, malen dürfen, nicht heimlich, sondern mit Approbation und ausdrücklich unter dem Zeichen des Lebenszweckes – welch ein Gefühl! Seine Zuversicht war groß, und sie durfte es sein, denn der alte Professor, der seine mitgebrachten Sachen besehen hatte, hatte ihm mit einem freundlichen Grunzen erklärt: »Können tun S'no nix, aber werden kann's was, wenn S' was tun.«