Briefe eines Studenten aus der Festung

Josephine

Mein lieber philologischer Max!

Du willst also durchaus auf's Genaueste wissen, wieso, warum und weshalb ich dazu kam, meine juristischen Studien in eine unerlaubte Praxis zu übersetzen, indem ich mein platonisches Verhältnis zum Strafgesetzbuch durch intimere Verbindung mit dem § 205 in eine unstatthafte persönliche Vertraulichkeit verwandelte. Gut, – da ich in deinem Herzen nicht blos das zweifelhafte Interesse als »Duellheld« habe, so sollst du die ganze, herrliche Geschichte in langen Briefen erzählt bekommen. Hol' mich der Teufel, – ich habe hier oben überflüssig viel Zeit dazu, denn unausgesetzt juristische Materien zu traktiren und mich während meiner unfreiwilligen passivstrafrechtlichen Praxis zugleich allstündlich in ledernen Theorien zu bewegen, das, weißt du, bin ich nicht im Stande. Ich habe zwar noch Genossen hier oben und zwar zwei Stück, die demselben Paragraphen wie ich ihr Hiersein verdanken, von denen ist aber der eine trübsinnig und zerknirscht, wie ein Sekundaner, der wegen mangelhafter Ciceropräparation im Carcer sitzt, während der andere vor Heldenstolz über seine stramme That in Bälde größenwahnsinnig werden wird. Nur beim Etat, den wir dreie zuweilen spielen (natürlich!), steigt der erstere aus der Tiefe seines Jammers in die Höhe, der andere vom Piedestal seiner Tapferstrammigkeit herab. Aber du weißt, daß die studentische Hauptbeschäftigung des Skatdreschens niemals zu meinen Lieblingsunterhaltungen gehört hat, und du wirst demnach verstehen, daß ich nicht immer gern bereit bin, diesen beiden gegensätzlichen Herren als dritter Mann zu zeitweiliger Vermenschlichung zu verhelfen. Ich greife deshalb mit Vergnügen zu dem anderen Mittel, mir die Zeit schnellflüssiger zu machen und ich gedenke so, deinem Wunsche gemäß, dir alle die Vorgänge und Vorvorgänge, die mich hierherbrachten, erzählerisch ausgesponnen so nach und nach als leichte Zwischenspeise zu deinen philologischen Leibesgenüssen zu serviren. Wenn du genug Demosthenes geschluckt und dich hinlänglich an den feineren Zulagen kritischer Partikelbetrachtungen gesättigt hast, wird es dir vielleicht angenehm sein, ein paar Bissen von diesem weder besonders pikanten, noch auch ganz gewöhnlichen Gerichte zu genießen. Du darfst freilich nicht verlangen, daß ich immer bei der Stange bleibe! Ich erzähle keine raffinirt ausgeklügelte Geschichte mit athemhemmenden Spannungen und kunstreich zurechtgemachten Entwicklungen, sondern ich möchte dir einfach ein Stück aus dem Leben eines deutschen Studenten der heutigen Zeit geben, der, ohne in dem gewöhnlichen studentischen Leben aufzugehen, in fatale Berührung mit ihm kam und so aus eigenem Mitthun kennen lernte, was er sonst nur beobachtete. Du weißt ja, daß mich dieses heutige akademische Leben nicht befriedigt. Ich kam auf die Hochschule mit einem fertigen Ideal, das ungefähr auf die vierziger, fünfziger Jahre paßte, und das sich nach einigem Bekanntwerden mit der Wirklichkeit beinahe in Ekel verwandelte. Aber während du, von ähnlichen Gedanken beeinflußt, es verstandest, dich einfach hinter deinen Bücherwall zurückzuziehen, um möglichst bald das stud. phil. von deiner Visitenkarte verbannen zu können, trieb mich ein mir innewohnender Genußdrang, immer dabei vermischt mit Widerwillen, ins Leben hinein. Zersplittert, kurz und gut, – sowie es vielen akademischen Bürgern geht, deren Idealismus sich an der Thatsächlichkeit zerreibt, weil ihr Wesenskern nicht kräftig genug ist, das Vacuum zwischen Idealität und Realität mit einer vernünftigen Mischung von beiden auszufüllen. Ach was! Laß mich erzählen, klar und wahr dieses höchst persönliche Drama, dessen Held und Narr ich in einer Person bin. Es macht mir ein grausames Vergnügen. – Das Schwierigste bei einer Erzählung scheint mir wahrhaftig der Anfang zu sein. Denn dieser längliche Gedankenstrich da bedeutet für mich eigentlich eine halbe Stunde unaufhörlichen Hin- und Herwandelns in meinem Käfig, wobei ich den Federhalter wie eine Miniaturbalancierstange auf- und abschwenkte, bald auch tiefsinnig zum Fenster hinaus auf den Fluß hinabblickte, während alle Theile meiner Geschichte in kleinen Stücken wie Fetzen durch's Gehirn wehten. Eine ganz niederträchtige Situation. Ich veränderte sie und setzte mich an den Tisch, tauchte die Feder ein und verzierte den Gedankenstrich mit allerhand Arabesken, bis er aussah, wie eine Pistole mit zwanzig Drückern und Visiren, was mich dermaßen ärgerte, daß ich ihm die Form eines dicken Ovals gab, – was du nun wohl jetzt für einen Klex halten wirst.