Hope you enjoyed reading this book! Other works from Otbebookpublishing Best sellers German Classics Sports Health Self Help Travel and Vacations Love and Romance Computer and Internet Inspiration and Religion How to Guides "OUTSIDE THE BOX" OUTSIDE THE BOX is an international e-book publisher. We specialize in producing and marketing ebooks for the digital bookshelves. Like us on www.otbebookpublishing.com

1. Kapitel. Zankteufelchen.

»Schscht – Kinder, könnt ihr denn keine Ruhe halten, was ist denn bloß schon wieder los, das ist ja ein Lärm und ein Geplärr – – –«

»Muttchen – das Zankteufelchen – – –«

»Mutti – der Neinerich und der Weinerich hat immer – – –«

»Nein, Muttel, sie fängt jedesmal an. Erst hat sie die Kleinen verwichst, und dann hat sie mir meine ganzen Soldaten geköpft, und ich wollte doch gar nicht französische Relution spielen – sieh nur, alle meine schönen Soldaten! Dem siebenjährigen Heinz liefen die blanken Tränen der Empörung über das frische Jungengesicht. Mit kriegerisch geballten Fäusten ging er von neuem auf die größere Schwester los.

Die hielt es doch für geratener, sich hinter Kurtchens Kinderstühlchen zu verschanzen.

»Hach – ein Junge petzt – pfui – so 'ne Petze – und was hast du getan?« begann sie aus ihrer Sicherheit heraus den Kleinen schon wieder zu reizen.

»Ich – ich wollt' halt bloß mit ihren Puppen auch 'ne Relution machen, und das will sie nu abselut nicht erlauben,« Heinz stand mit allen Fremdworten ebenso auf Kriegsfuß wie mit Schwester Liselotte.

»Herrgott, wer kann denn bei dem Radau Lateinisch lernen!« Bruder Norbert, der älteste, der unbekümmert um das ihn umtosende Kindergeschrei mit in die Ohren gestopften Zeigefingern seine Lektion hergesagt, begehrte jetzt auch auf.

»Kinder – Kinder – was soll bloß daraus werden, wenn ihr euch so schlecht vertragt. Liselotte, du bist doch schon elf Jahre alt, solch großes Mädchen, das müßte mich doch schon bei den Jungen vertreten,« die Mutter wußte, daß sie bei ihrem Töchterchen nur mit Liebe etwas ausrichten konnte.

Liselotte senkte denn auch ein wenig zerknirscht den braunen Krauskopf mit dem winzigen, steifabstehenden Zöpfchen.

»Vier Jungs, Muttel, das ist doch a bissel viel,« meinte sie plötzlich mit ernsthaftem Gesicht.

Mutti verbarg ein Lächeln.

»Na, Liselotte, wenn sie mir und Vatern nicht zu viel sind, wirst du dich wohl auch darein schicken müssen.«

»Das Zankteufelchen verträgt sich ja nich amal mit einem einzigen,« triumphierte Heinz, der am meisten schlesisch sprach.

»Mit dir freilich nicht, du dummer Junge,« Liselotte hatte Heinz beim Schlafittchen gepackt, und der Streit drohte wieder hell aufzulodern.

Da trat Mutter trennend zwischen die kleinen Kampfhähne.

»Ruhe – jetzt bitte ich mir aber ernstlich Frieden aus. Du, Heinz, marsch, zu deinen Spielsachen, und Liselotte, du setzt dich ins Nebenzimmer und lernst dein Gedicht. Und ihr Kleinen? Wollt ihr mit hineinkommen und artig guten Tag sagen, ja?«

»Nein,« meinte das vierjährige Edchen, genannt der Neinerich, gewohnheitsgemäß, während das um ein Jahr jüngere Kurtchen, der Weinerich, bereits den Mund jämmerlich zu einem neuen Gebrüll verzog.

»Ihr solltet euch doch schämen, Kinder, immer wenn Besuch da ist, muß ich mich über euch ärgern, was soll nur die Frau Amtsrichter von euch denken!« mit diesen Worten schritt die Mutter, an der einen Hand den Neinerich, an der anderen den Weinerich, zu ihrem Gast zurück.

»Wir zanken uns auch, wenn kein Besuch da ist,« stellte Norbert trotz seiner lateinischen Deklination wahrheitsliebend fest, während Liselotte, vor sich hinbrummend, Mutters Ausweisung in das Nebenzimmer nachkam.

Paradiesischer Frieden herrschte wieder im Kinderzimmer.

Aber nicht lange.

Liselotte hatte ihren Platz zum Auswendiglernen eingenommen. Zu diesem schwierigen Geschäft war schon seit geraumer Zeit Mutters große Wäschekiste auserkoren worden. Dort oben hockte das kleine Mädchen nun, baumelte zum Zeitvertreib zuerst ein wenig mit den Beinen und begann dann aus geborenem Schönheitssinn die Wäschekiste mit Puppen und Püppchen zu bemalen. Darauf schlug sie noch eine Fliege tot und gähnte nach dieser anstrengenden Arbeit herzhaft.

Sie hatte es doch wirklich zu schwer!

Mit vier wilden Jungen sollte sie auskommen, und da verlangte die Muttel auch noch, daß sie liebevoll und verträglich mit ihnen war! Wie gern wollte sie Mutter bei der Erziehung unterstützen, ja – aber die Brüder rebellierten gegen jede energische Zurechtweisung der Schwester. Jungen mußten mit Strenge behandelt werden, das hatte sie mal irgendwo aufgeschnappt. Sie wollte doch nur ihr Bestes, wenn sie beständig an ihnen herumnörgelte und etwas auszusetzen hatte. Aber dann hieß es gleich: »Zankteufelchen – Zankteufelchen –« ach, wie Liselotte diesen Namen haßte – na, und so gab es jedesmal Krach. Und sie, sie allein, hatte dann immer die ganze Schuld – bloß weil sie ein Mädchen war! Liselottes blaue Augen füllten sich mit Tränen. Jawohl, warum hatte sie keine Schwester wie ihre Schulfreundin, Apothekers Hanni, die ihr beständig zum Muster ausgestellt wurde! Schwestern haben sich immer lieb, aber Brüder – und besonders, wenn sie in den Flegeljahren waren wie Norbert! Was solch Tertianer sich alles gegen eine Schwester herausnahm – es war wirklich schrecklich! »Kleinchen« nannte er sie, das ließ sie sich aber nicht gefallen, nein, und besonders nicht, seitdem Mutter ihr neues Kleid um eine Handbreit verlängert hatte. Und dabei war sie doch im Grund ihres Herzens Bruder Norbert ganz besonders gut, er imponierte ihr sogar heimlich ein bißchen mit seiner bunten Gymnasiastenmütze. Alle hatte sie ja lieb, die Kleinen und Heinz, trotz allen Zankens, aber kein Mensch sah das ein. Sie wurde selbst von den Eltern verkannt.

Und als das törichte kleine Mädchen bei diesem Gedanken angelangt war, zog sie ihr Taschentuch heraus und weinte heiße Tränen aus innigem Mitleid mit sich selbst.

»Der blinde König«, den sie zu morgen für die deutsche Stunde auswendig zu lernen hatte, lag vergessen neben ihr.

»Liselotte, willste mit mir Zirkus spielen, guck mal, ich habe mein Schaukelpferd tressiert, aber in den Zirküssen ist doch auch immer eine Schulmeisterin, das mußt du halt sein,« Heinz versuchte mit seinem Holzgaul das Hindernis der Türschwelle zu nehmen.

»Zirküsse heißt es nicht, und Schulmeisterin ist ja Quatsch, du meinst wohl Schulreiterin,« knurrte Liselotte in ihrer elfjährigen Weisheit hinter dem Taschentuch hervor.

Das Schaukelpferd hatte das Kunststück, über die Schwelle zu galoppieren, vollbracht.

»Nanu, was heulste denn?« Heinz sprang aus dem Sattel und auf Liselotte zu. Mit beiden Armen umfing der gutherzige kleine Bursche, der den Streit von vorhin längst vergessen, die große Schwester.

»Laß mich,« Liselotte stieß ihn unsanft von sich.

»Kumm ooch, Lilo« – das war der Kosename – »deine Puppen sind das Pubelkum, eine ist der Papa,« er versuchte Liselotte von der Wäschekiste herunterzuziehen.

Die aber war schon mit einem Satz an ihm vorbei.

Ritsch – ein großes Dreieck prangte in dem hübschen schottischen Kleid, sie war an einem Nagel hängen geblieben. Das verbesserte Liselottes Stimmung durchaus nicht.

»Du sollst meine Puppen nicht anfassen« – ihr Blick überflog prüfend das mit starren Glasaugen ringsum steif auf Stühlen lehnende Puppenpublikum. Und mit einem Jammerlaut riß sie ihr größtes Kind, Puppe Käthchen, empor.

»Ein Schnurrbart, ein schwarzer Schnurrbart!« Liselottes fünf Finger zeichneten sich plötzlich rot auf der Backe des verblüfften kleinen Heinz ab.

»Mutti – Muttel – der Heinz hat meinem Käthchen einen Schnurrbart angemalt – hu–u–uuh –«, ohne auf die Verteidigung des kleinen Heinz: »Aber sie soll doch der Papa sein,« zu hören, lief sie schluchzend zur Mutter.

Hier wurde ihr aber auch kein Recht – natürlich, sie bekam ja nie Recht – der Kleine hatte es doch nicht böse gemeint, und der Schnurrbart ließ sich ja abwaschen – und für das zerrissene Kleid gab es noch einen Verweis obendrein.

Nur gut, daß Frau Amtsrichter inzwischen schon gegangen war, sonst hätte Amtsrichters Edith es sicher morgen in der ganzen Schule herumerzählt, was Baumeisters für Rangen hatten.

Im Kinderzimmer war allgemeines Wehklagen.

Liselotte rasierte schluchzend Puppe Käthchens stattlichen Bartwuchs mit Sand und Seife, Heinz rieb weinend seine geschlagene Backe, und der Weinerich fiel natürlich auch sofort ein und vervollständigte das Terzett. Norbert nannte Liselotte ein Zankteufelchen über das andere, nur der Neinerich war mit dem Gang der Dinge durchaus einverstanden. Der thronte jetzt als Alleinherrscher auf dem großen Schaukelpferd von Heinz und hatte auf alle Aufforderungen, herunterzukommen, nur sein beständiges »Nein!«

»Liselotte, du könntest mal zum Schlächter gehen und Aufschnitt besorgen, die Mädchen sind bei der Wäsche,« rief die Mutter aus dem Nebenzimmer.

Das kleine Mädchen trocknete die Tränen. Einholen tat sie für ihr Leben gern. Und der Schlächter nannte sie sogar schon »Sie« und »kleines Fräulein«! Das war sehr wohltuend, besonders wenn es zu Hause eine Strafpredigt gesetzt hatte.

Sie stülpte die Matrosenmütze auf und schlüpfte in die Jacke.

Ach Gott – der blinde König – da lag das Lesebuch, Mutter würde sehr böse sein, daß sie noch nicht gelernt hatte. Na, sie konnte es ja heute vor dem Schlafengehen ein paarmal überlesen und das Buch unter das Kopfkissen legen – dann konnte sie's morgen. Anna Hintze, die Letzte aus der Klasse, sagte, das helfe bestimmt, und die war doch schon vierzehn Jahre alt.

»Norbert kann dich begleiten, Lilo, es dunkelt bereits. Aber zankt euch nicht unterwegs und laßt euch das Geld richtig herausgeben, du hast fünf Mark mit.«

Bruder und Schwester trabten nebeneinander her.

Liselotte bemühte sich, möglichst nicht auf den Strich der zusammenstoßenden Steine des Trottoirs zu treten. Sie machte die Probe. Wenn sie zwanzigmal nicht den Strich berührt hatte, dann würde sie morgen in der Schule ihr Gedicht können. Mit kühnen Sätzen sprang sie von einem Pflasterviereck in das andere, da ihre Beinchen beim gewöhnlichen Schritt nicht ausreichten.

»Hopse doch nicht wie 'ne Heuschrecke, geh' doch anständig,« Norbert hatte sie fest am Arm gepackt.

Bums – da war sie auf einen Strich getreten, wütend machte sie sich von der Hand des älteren Bruders frei.

»Das geht dich gar nichts an, ich kann gehen, wie ich Lust habe,« sie gab ihm einen derben Stoß und bekam gleich darauf einen Heidenschreck. Norbert war durch den unvermuteten Angriff aus dem Gleichgewicht gekommen und gegen eine vorübergehende Dame geprallt, die mit ernsten Augen auf den verlegen die Mütze ziehenden Knaben und das entsetzt knicksende, kleine Mädchen blickte. Diese Augen – Liselotte kannte sie wohl, die gehörten Fräulein Rau, der allgemein verehrten, aber auch sehr strengen Lehrerin, die deutschen Unterricht erteilte. Der blinde König lastete wieder schwer auf Liselottes Herzen.

»Wenn ich morgen eine Drei in Deutsch kriege, hast du schuld,« murrte sie.

»Heiliges Kanonenrohr« – das war der neueste Kraftausdruck, dessen sich die Untertertia befleißigte –, »du hast mich doch geschubst, nun mußt du dir's auch halt gefallen lassen, wenn dich Fräulein Rau morgen in der Schule noch nachträglich ansäuselt.«

»Was du auch immer für flegelige Ausdrücke hast,« Liselotte rümpfte das Näschen.

Der verletzte Gymnasiastenstolz begehrte in Norbert auf.

»Das verbitte ich mir, hörst du –«

»Muttel hat es heute erst wieder gesagt –«

»Was Muttel sagt, darfst du noch lange nicht, so ein kleines Jör –«

»Oho,« Liselotte richtete sich in ihrer ganzen stattlichen Größe – sie ging dem hochaufgeschossenen Norbert noch nicht bis zur Schulter – empor. »Oho, ich soll Mutters Stelle bei euch Jungen vertreten und –«

Norberts Hohngelächter unterbrach sie.

»Aber nicht als Zankteufelchen« – da war es wieder, das gräßliche Wort!

Liselotte rettete sich in den Schlächterladen, hier wenigstens gab es Balsam für ihre wunde Seele.

Sie stellte sich auf die Fußspitzen und reckte den Hals wie eine Giraffe – o Glück – »und Sie, Fräuleinchen?« fragte der Schlächter so laut, daß alle Kunden es hören mußten. Wenn nur der Norbert nicht so niederträchtig gelächelt hätte!

Daß sie in ihrer stolzen Aufregung fast den Lachsschinken vergessen und ein Zweimarkstück aus dem Kassenbrett bestimmt liegen gelassen hätte, wenn Norbert sie nicht noch rechtzeitig erinnert, verringerte ihre Freude nur wenig.

Sie versuchte auf dem Heimweg sogar zu dem Bruder möglichst liebenswürdig zu sein, allerdings gelang es ihr meistens vorbei.

Hinter der Stadtkirche, in dem dunklen, einsamen Gäßchen, blieb Norbert stehen. Er trug das Paket. Sein Finger hatte kunstvoll ein Loch in das Papier gebohrt.

»Du, Lilo, das Paket geht uff, wir müssen es noch mal zusammenwickeln,« meinte er pfiffig.

»Ist nicht wahr, du willst bloß wieder naschen,« Liselotte kannte die schwache Seite des Bruders. Der hatte bereits die einzelnen Päckchen einer gründlichen Durchsicht unterzogen. Der feine Sprühregen, der naßkalt vom Himmel herniederging, störte ihn nicht bei seiner Beschäftigung.

»Na, Lilo, wie ist's?« er hielt eine Scheibe Leberwurst dem kleinen Mädchen verlockend vor das Gesicht.

Liselotte war kein Kostverächter, die Wurstscheibe verschwand zwischen ihren weißen Zähnchen.

»Nu komm' ich ran,« Norbert öffnete erwartungsvoll den Mund.

Liselotte sah die Notwendigkeit, sich zu revanchieren, durchaus ein, ihre Finger schoben eine ganz gleiche Scheibe – beileibe keine größere – dem Bruder zwischen die Lippen.

Und so standen sie beide im Regen in dem dunklen Kirchgäßchen und steckten sich gegenseitig von jedem Päckchen eine kleine Kostprobe in den Mund.

»Botenlohn«, nannte es Norbert, da Liselotte das Herz doch recht laut pochte – sie empfand sehr wohl, daß sie etwas Unrechtes tat. Sie waren jetzt ein Herz und eine Seele.

O weh – ein Endchen Blutwurst hatte sich heimtückisch aus der Papierhülle gedrängt, Norbert konnte es nicht mehr erwischen – hops – da lag es weichgebettet im düsteren Straßenschlamm.

Liselotte begann bitterlich zu weinen.

»Du bist schuld, du ganz allein, ich wollte nicht naschen,« schluchzte sie, »du bist immer so gefräßig« – das Zankteufelchen meldete sich bereits wieder.

»Hör' bloß mit dem dämlichen Geflenne auf, hier, halt' lieber mal die Pakete – aber fest –«, es war ihm doch beim Anblick der schwärzlichen Blutwurst nicht ganz wohl zumute.

Behutsam kriegte er sie mit spitzen Fingern am Zipfel zu packen, die Wurst selbst war sauber, nur die Pelle sah recht wenig appetitlich aus.

»Den Schaden wollen wir schnell wieder kurieren, da drüben ist ja 'ne Pumpe!« Und während die weinende Liselotte hilflos mit ihren vielen Päckchen im Regen stehen blieb, eilte er zum Brunnen.

»Hurra – nun ist sie ganz sauber, jetzt merkt keen Mensch was,« er trocknete die Blutwurst vorsichtig mit seinem Taschentuch ab.

»Hahaha – grüßt Vater, und er soll sich die Blutwurst gut schmecken lassen« – hinter den zusammenschreckenden Kindern schlug krachend ein Fensterflügel zu.

Sie fuhren herum. Da stand an dem Apothekenfenster, das in die Kirchgasse hinausging, der dicke Herr Apotheker und drohte den beiden lächelnd. Die grüßten entsetzt – und heidi – rannten sie davon.

»Norbert, wir sind verloren – Herr Apotheker hat alles mitangesehen, morgen erfährt es Vatchen am Stammtisch und übermorgen weiß es sicher schon die ganze Schule, am Ende darf Hanni gar nicht mehr mit mir verkehren – ach, du abscheulicher Bengel, du hast mich dazu verleitet – – –«

»Brülle nicht so, sonst hört es gleich die ganze Stadt, sogar der taube Nachtwächter,« Norbert strich sich aufgeregt die feuchten Haare aus der Stirn. »Und nu sei amal verständig, Kleinchen, der Herr Apotheker hat sicher nur gesehen, daß ich die Wurscht herunterfallen ließ, hätte er wohl sonst gelächelt? Außerdem ist Hanni ja deine Busenfreundin, wenn du sie bittest, zu schweigen – – aber nee, ihr Weibsleute könnt ja die Futterluke nicht halten,« trotzdem Norbert vor der Schwester so großartig tat, war ihm doch recht gottjämmerlich zumute.

»Mach' ein fideles Gesicht, sonst riecht man gleich Lunte« – ein aufmunternder Stoß mit dem Ellenbogen, und dann betraten sie die freundlich mit hellen Fensteraugen in den düsteren Garten hinausschauende väterliche Villa.

»Mein armes Mädel, ganz durchweicht bist du ja, flink die Schuhe gewechselt, auch du, Norbert,« liebevoll empfing die Mutter ihre Kinder.

Ach – was hätte Liselotte darum gegeben, wenn sie jetzt die Arme um Mutters Hals hätte schlingen können, und ihr all das Häßliche, was ihr das Herz beschwerte, ins Ohr flüstern. Aber nein, dann war sie ja eine Petze, und die Jungen aus Untertertia verachteten sie sämtlich. Lieber sah sie krampfhaft an den gütigen Mutteraugen vorbei.

Die Kleinen waren schon zu Bette. Seit einem halben Jahr durfte Liselotte wie Norbert mit den Eltern zusammen Abendbrot essen. Sie war ungeheuer stolz darauf, aber heute hätte sie gern auf das Vorrecht verzichtet.

»Was ist denn bloß mit meiner wilden Hummel los – Schelte gekriegt, Mädel, so was pflegst du doch sonst abzuschütteln, wie der Pudel das Wasser – hm? Vater hatte seinen Liebling, seinen »fünften Jungen«, wie er sie zu nennen pflegte, an dem winzigen Rattenschwänzchen gepackt.

»Du ziepst mich, Vatel,« wagte Liselotte nur ganz bescheiden zu äußern, anstatt dem Vater wie sonst aufs Knie zu klettern. Mit scheuem Blick schielte sie zu der Platte Aufschnitt hin.

»Kinder, habt ihr denn ein Viertel oder nur ein Achtel Leberwurst geholt?« sagte jetzt die Mutter kopfschüttelnd. »Ich werde doch wohl von dem Schlächter am Markt abgehen müssen, wenn er so schlechtes Gewicht gibt.« Sie sah fragend zu Liselotte hinüber.

Die wurde dunkelrot. Norbert aber biß gleichmütig in sein Brot.

»Am Ende Mäuse in der Speisekammer,« meinte der Vater lächelnd zur Mutter, »neulich hast du doch das kleine Kindermädel bei der Kuchenbüchse erwischt, sie wird Leberwurst auch ganz gern essen.«

»Ach wo – i bewahre« – entfuhr es Liselotte, während Norbert ihr geschwind mahnend auf den Fuß trat.

»Wie meinst du, Kind?« die Mutter richtete die klaren Augen voll zu dem bald rot, bald blaß werdenden Töchterchen.

»Ich – ach – ich – ich meinte nur, wir haben die Wurst doch eben erst gekauft,« stotterte Liselotte.

»Du wirst aber doch von dem Schlächter abgehen müssen, die Blutwurst hier zeige ihm jedenfalls erst, ehe du sie den Hühnern gibst. Die ist so unsauber, daß er polizeilich dafür belangt werden kann,« der Vater schob seinen Teller fort.

Liselotte blickte flehend zu dem Bruder hin. Sagte er denn noch immer nichts? Sie blinkte ihm beschwörend zu – aber Norbert schwieg. Ob das auch gepetzt war, wenn sie die Schuld ganz allein auf sich nahm? Aber ehe sie noch zu einem Resultat ihres angestrengten Nachdenkens gekommen, deckte Marie bereits den Tisch ab.

»Geht schlafen, Kinder, ihr müßt morgen zeitig heraus, ist auch die Mappe gepackt?« Liselotte fiel das nicht gelernte deutsche Gedicht für Fräulein Rau zentnerschwer auf die ohnehin genügend belastete Seele. Sie nickte stumm und verbarg das verlegene Gesicht schnell zum Gutenachtkuß in Vaters Vollbart. Irrte sie sich oder hatte Mutti sie heute nicht so zärtlich ans Herz gezogen wie sonst?

Stumm stiegen die beiden kleinen Missetäter die Treppe zu den im oberen Stockwerk gelegenen Schlafräumen empor.

»Wir haben uns hundsjämmerlich benommen!« sagte Norbert schließlich mit schwerem Seufzer. Liselotte schlang in jäher Aufwallung die Arme um seinen Hals.

»Komm, wir wollen wieder hinuntergehen und alles eingestehen, ja, komm' doch, Norbert,« sie versuchte ihn mit fortzuziehen. Aber Norbert stand bocksteif da.

»Fällt mir nicht ein, nachträglich noch zu Kreuze zu kriechen, morgen kräht kein Hahn mehr danach,« damit machte er die Tür zu seinem Zimmer, das er mit Heinz teilte, auf. Er hielt es für unmännlich, sein Unrecht einzugestehen und um Verzeihung zu bitten.

Liselotte konnte nicht schlafen. Immer wieder wälzte sie den braunen Krauskopf auf den Kissen hin und her. Sie lauschte auf das Klatschen und Prasseln des Regens gegen die Scheiben, auf das Rauschen und Brausen in der Dachrinne und das Heulen des Windes im Ofen. Aber lauter als Regen und Wind tobte es in ihrer jungen Brust, das Gewissen wollte und wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen.

Wenn der Vater den Schlächter beim Bürgermeister anzeigte, dann kam er am Ende in das Gefängnis, das Vater gerade baute, jenes große rote Haus mit den winzigen vergitterten Fensterchen hinter der dicken grauen Mauer. Der arme Mann, der gar nichts verbrochen hatte, der sie sogar »Fräuleinchen« und »Sie« titulierte – nein, Liselotte sprang mit beiden Beinen aus dem Bett, ihretwegen sollte keiner unschuldig leiden! Sie war unverträglich, ein Zankteufelchen, ja, aber schlecht und lügenhaft war die Liselotte nicht!

Leise pochte sie an die Wand, an der Norbert schlief. Aber keine Antwort kam. Da entschloß sich Liselotte, auf eigene Faust zu handeln. Sie brauchte ja Norbert nicht mit zu verraten, dann war sie ja keine Petze!

Tap – tap – wie der Wind ist sie in ihren weichen Pantöffelchen die Treppe hinab. Jetzt steht sie an der geöffneten Speisezimmertür. Vater sitzt bei seiner Zeitung, und Mutter bessert die zerlöcherten Höschen der kleinen Reißdeibelchen aus. So friedlich sieht es da drinnen aus – und da soll sie den Eltern solchen Kummer machen – ob sie noch umkehrt ...

Nein – zwei weiche Arme umstricken plötzlich den Hals der erschreckten Mutter, und ein kleines Persönchen im langen, weißen Nachtgewand bettet das tränenüberströmte Gesicht an der Mutter Brust. Und nun kommt es stoßweise heraus, daß sie die Leberwurst genascht, daß dabei die Blutwurst in den Schmutz gefallen, und daß sie es auch ganz gewiß nie wieder tun wolle. Von Norbert sagt Liselotte nichts.

Mutter schweigt, sie ist betrübt über ihre Kinder. Aber Vater, der seinen Liebling nicht weinen sehen kann, wickelt die Liselotte wie eine Puppe in die warme Chaiselonguedecke.

»Erledigt – morgen bekommst du deine Dresche – aber jetzt marsch ins Bett, willst dir wohl 'n Schnupfen holen?«

Liselotte gibt dem allerbesten Vatchen der Welt einen dankbaren Kuß. Bei Mutti traut sie es sich noch nicht recht.

»Bist du noch böse, Muttel?« fragte sie so zerknirscht, daß auch Mutti nicht mehr zürnen kann.

»Ich bin nur froh, daß du schließlich doch noch den Weg zu uns gefunden hast, Kind,« sagte die Mutter ernst.

Federleicht ist es Liselotte zumute, als sie nun wieder in ihrem Bette liegt. Wie dämlich von Norbert, mit solcher Zentnerlast auf dem Herzen schlafen zu gehen!

Ja, wenn Vater und Mutter es wissen, dann ist gleich alles wieder gut!

* * *

10. Kapitel. Kleinstadtfreuden.

Es gab einen recht strengen, langen Winter diesmal in Schlesien. Die armen Leute stöhnten über die vielen teuren Kohlen, und die reichen ließen jeden Mittag einen Teller warmer Suppe mehr kochen, denn fast täglich stellte sich ein ausgehungerter und ausgefrorener Gast ein. Aber die Stadtjugend tummelte sich selig mit ihren blanken Schlittschuhen auf dem fest zugefrorenen Mühlenteich, dem die fahle Februarsonne nichts anhaben konnte. Und das Kränzchen blühte trotz Schnee und Eis.

Der Sonnabendnachmittag war der schönste Tag in der Woche, darin waren sich sämtliche Kränzchenblumen einig. Nicht nur, daß darauf der Sonntag mit seiner Schulfreiheit winkte, das Beisammensein der jungen Blümchen gestaltete sich auch von Mal zu Mal lustiger und anregender. Selbst den Müttern, die im Nebenzimmer den fröhlich lachenden Mädchenstimmen lauschten, erschien der Winter nicht mehr so grau und trostlos, denn der leibhaftige Frühling war ja nebenan eingekehrt.

Man las jetzt Maria Stuart mit verteilten Rollen, zwar reichlich früh, wie Frau Baumeister Günther meinte, denn ihre Lilo verstand sicher noch nicht den erhabenen Ernst der Dichtung. Aber da Liselotte gekränkt: »Bitte sehr, Muttel, ich habe am allermeisten dabei geheult,« geäußert hatte, mußte die Mutter die Waffen strecken. Ja – heulen taten sie alle sechs bei ihrer Lektüre, aber das Regenwetter hielt zum Glück nicht lange vor. Die geringste Kleinigkeit, ein falsch betontes Wort, genügte schon, um die Lachmuskeln zu entfesseln und im Augenblick Sonnenschein hervorzuzaubern.

Wenn nur das Verteilen der Rollen nicht gewesen wäre! Dabei setzte es meist Streit und Zank. Denn auch Kränzchenschwestern sind nicht immer verträglich.

Die Maria Stuart, die arme gefangene Königin, wollte jede gern lesen, aber Elisabeth, die so schlecht zu Maria war, mochte keiner sein. Besonders Glücksklee und Rosenelfchen, die beide etwas herrschsüchtig waren und einen harten Schädel hatten, gerieten häufig aneinander. Keine gönnte der andern die Rolle.

»Ich lese viel seelenvoller als du, folglich muß ich den Monolog sprechen,« spielte sich Hilde von Thielen auf.

»Du hast ja 'n Piepvögelchen, zieren tust du dich, und zwar eklig, daß man's gar nicht mit anhören kann, Fräulein Zierlappe, ich lese wenigstens natürlich,« widersprach Liselotte.

»Das lasse ich mir nicht gefallen, sie hat Zierlappe zu mir gesagt, das sage ich aber meiner Mama,« Glücksklee sprang empört auf.

»Kinder, seid doch bloß nicht so greulich zueinander, wir kommen doch zusammen, um fidel zu sein, und nicht, um miteinander zu zanken,« begütigte Glockenblume.

Vergißmeinnicht aber zog ihr Kassenbüchlein aus der Tasche und notierte: »Glücksklee und Rosenelfchen je fünf Pfennig für Zanken.« Es half nichts – jede mußte ihr Strafgeld entrichten. Danach war der Friede dann wieder geschlossen.

Die einzigen, die sich nie kabbelten, waren Rosenelfchen und Blauveilchen. Wenn Suse etwas sagte, nahm Liselotte Vernunft an, und wenn sie sich auch noch so sehr in eine Idee verrannt hatte. Abgesehen davon, daß sie die Freundin innig lieb hatte, konnte sie sich auch nicht von dem Gedanken frei machen, daß sie gegen Suse immer noch etwas gutzumachen habe.

Das Kränzchen hatte sich eine eigene »Kaschelbahn« im Schulgarten glatt geschliddert, auf ihr Eis durfte keine andere. Liselotte hatte von Vaters Bauten eine verwitterte Tafel ergattert, die hatte sie an dem kahlen Kastanienbaum daneben befestigt. Darauf stand: »Unbefugten ist der Eintritt streng verboten.«

Heute aber hatte das Kränzchen anderes im Sinn, als Maria Stuart und Kaschelbahn. In der französischen Grammatikstunde gingen kleine Papierrollen herum. Zettelchen waren es, auf denen stand: »Versammlung sämtlicher Kränzchenblumen in der Zehnuhrpause am Kastanienbaum.« Keine wußte, von wem die Zettelchen ausgingen, und was sie zu bedeuten hatten – alle brannten sie vor Neugier. Für die unregelmäßigen Verben hatte keine mehr auch nur die Spur Interesse, und es regnete Tadelstriche.

Als die alte, rostige Klingel zur Zwischenpause bimmelte, stürzte das Kränzchen zur angegebenen Stelle; Liselotte nahm sich nicht mal Zeit, ihr Cape umzubinden und wurde von der inspizierenden Lehrerin zu ihrem Ärger zurückgeschickt.

Endlich standen die Kränzchenblüten vollzählig um den beschneiten Kastanienbaum. In ihrer Mitte Amtmanns Lenchen, die überhaupt nicht zum Kränzchen gehörte und keine Gelegenheit unbenutzt ließ, um sich »anzumeiern«, wie es in der Kränzchensprache hieß. Sie machte ein höchst geheimnisvolles Gesicht.

»Nu sag' doch schon, was los ist, du willst dich bloß wichtig machen!« drängte Liselotte.

»Also heute ist Basarsitzung!« begann Lenchen großartig, nachdem sie sich noch ein Weilchen an den wißbegierigen Gesichtern geweidet hatte.

»Pah, na und – das wissen wir doch schon seit Adams Zeiten,« fielen die Blümelein enttäuscht ein.

»Ja, aber was dort beschlossen werden soll, davon habt ihr keine blasse Ahnung,« Lenchens Mutter war erste Vorstandsdame und leitete den alljährlichen Basar zum Besten des Armenhauses.

»Wahrscheinlich wieder solch mopsiger Kinderreigen wie im vorigen Jahre, wobei man sich die Beine ausrenken muß, gelt?« meinte Günthers Liselotte geringschätzig.

»Angeführt mit Löschpapier – etwas viel Feineres, eine Kindersinfonie soll der Herr Kapellmeister mit uns einstudieren und wir dürfen verkaufen helfen, vielleicht sogar in Kostümen, damit wir höheres Eintrittsgeld erheben können – ach, ich freue mich halbtot!«

Das Kränzchen war begeistert. Der alljährliche Basar bildete den Mittelpunkt der winterlichen Geselligkeit der kleinen Stadt; seit einigen Jahren wurden auch die Kinder der Vorstandsdamen dabei zugezogen.

In der darauffolgenden Geschichtsstunde war die Aufmerksamkeit eine recht geteilte. Das Kränzchen dachte entschieden mehr an Verkaufsbuden als an das Gotenreich.

»Geliebtes Hundeviechel, wir wollen beide ganz gleich angezogen gehen und in einer Bude verkaufen,« schrieb Liselotte auf ihr Löschblatt an Suse Bertram, während Herr Doktor Schwarz das glorreiche Ende der letzten Gotenkönige vor der Klasse entrollte.

Suse machte ein betrübtes Gesicht. Weniger wegen des Todes Totilas als wegen Liselottes Zeilen. Sie war bisher noch nie zu diesen Basarveranstaltungen hinzugezogen worden, da ihre Mutter nicht dem Komitee angehörte. Sie fühlte sich plötzlich ausgestoßen aus der fröhlichen Gemeinschaft der andern Blümchen. Von ihren Veilchenaugen löste sich unbewußt eine große Träne.

»Nun, Suse Bertram, wenn dir das traurige Schicksal der gotischen Helden so nahe geht, so sollst du uns noch einmal das Erzählte wiederholen,« sagte da Doktor Schwarz.

Suse, sonst stets eine aufmerksame Schülerin, hatte heute keinen Schimmer von der gestellten Aufgabe. Blutübergossen sah sie mit hilflosen Augen zum Katheder hin. Ihre Hand umklammerte wie einen Talisman Liselottes Löschblatt.

»Suse Bertram, hast du die Sprache verloren?« Doktor Schwarz war wegen seines Spotts gefürchtet.

»Nein – aber ich habe nicht aufgepaßt – entschuldigen Sie, bitte!« stieß Suse, wieder blaß geworden, heraus.

So 'ne Dämlichkeit – Liselotte hätte die Freundin wegen ihrer bornierten Aufrichtigkeit prügeln mögen – das sah doch Doktor Schwarz schon ganz allein, daß sie unaufmerksam gewesen, wie konnte man nur so grützdumm sein und ihn noch mit der Nase daraus stoßen!

»Das ist ja recht feierlich – nicht einmal solche erhebenden Heldentaten vermögen die Aufmerksamkeit der Klasse zu fesseln! Suse Bertram, darf ich fragen, wofür du dich mehr interessiert hast?«

Suse schwieg.

»Was hast du dort in der Hand?« examinierte Herr Doktor Schwarz, den die erste Klasse ob seiner guten Witterung heimlich den »Polizeihund« nannte, weiter.

Suse Bertram schwieg noch immer. Aber sie versuchte im Interesse der Freundin das verräterische Löschblatt zu einem roten Knäuel zusammenzuballen.

»Hergegeben,« erschallte da der kurze Befehl vom Katheder.

Mit schlotternden Knien, Liselotte einen Blick tiefster Verzweiflung zuwerfend, brachte Suse das belastende Blatt nach vorn.

»Geliebtes Hundeviechel –« las Doktor Schwarz stirnrunzelnd, während die Klasse hinter Taschentüchern, Heften und Zöpfen verstohlen kicherte.

»Das sind ja recht erfreuliche Sachen, mit denen man sich während der Geschichtsstunde beschäftigt, wer hat diesen Wisch geschrieben?«

Tiefe Stille in der Klasse. Keine kicherte mehr.

»Suse Bertram – ich frage dich, wer dieses Löschblatt beschrieben hat – soll ich noch lange warten?« Mit Doktor Schwarz war nicht gut Kirschen essen, wenn er böse war.

Trotzdem verharrte Suse in Schweigen. Sie biß sich auf die Lippen, daß sie bluteten. Lieber wollte sie die härteste Strafe erleiden, als die Freundin angeben.

»Ich frage zum letzten Male – willst du es mir sagen, oder wird sich die Betreffende selbst melden?« Doktor Schwarz' Brillengläser funkelten von einer zur anderen. War es Zufall, daß sie auf Liselottes Gesichtchen besonders durchdringend hafteten?

Liselotte machte eine möglichst unbefangene Miene. Suse war als fleißige Schülerin beliebt, vielleicht kam sie mit einem bloßen Rüffel davon – zum Tadel hatte man immer noch Zeit!

»Gut – sagst du es mir nicht, so wirst du es vielleicht Fräulein Bergmann mitteilen, folge mir zur Schulvorsteherin, Suse Bertram.«

Suse mußte sich am Katheder festklammern. Der Boden schwankte mit ihr. Nur einmal war es vorgekommen, daß eine Schülerin zu Fräulein Bergmann geführt wurde, als sie den Lehrer belogen hatte – es galt als die furchtbarste Strafe.

Dennoch machte Suse einige Schritte hinter dem vorangehenden Lehrer her – sie litt ja für ihre Lilo, dieses Bewußtsein hielt sie aufrecht.

Aber Liselotte ließ ihre Suse auch nicht im Stich. Mit einem Satz war sie aus der Bank heraus und hinter Doktor Schwarz her.

»Herr Doktor – ich war's – ich habe ›geliebtes Hundeviechel‹ geschrieben, ich will es auch nie wieder tun, aber Suse kann nichts dafür!« so rief sie.

Doktor Schwarz stand still.

»Dacht' ich mir's doch – ich finde, daß eure Freundschaft recht wenig veredelnden Einfluß ausübt, anstatt daß du günstig auf Liselotte einwirkst, läßt du dich von dieser zu allerlei Allotria verleiten. Ihr werdet alle beide eine Strafarbeit zu morgen machen, da Liselotte ja schriftliche Ergüsse sehr zu lieben scheint. Ihr werdet mir einen Aufsatz über den Untergang des Gotenreiches anfertigen.« Doktor Schwarz nahm seinen unterbrochenen Vortrag wieder auf.

Suse saß mit beschämtem Gesicht da, Liselotte mit einem mißvergnügten. Heute hatte sich das ganze Kränzchen auf dem Mühlenteich zum »Schlittschuhfahren«, wie es in Schlesien heißt, verabredet, eine lange Schlange wollte man bilden und einen Omnibus. Es würde famos werden. Und sie sollten statt dessen eine Strafarbeit machen – es war nicht zum Blasen!

Aber alles heimliche Räsonieren half nichts. Während die Kränzchenschwestern jubelnd die glatte Bahn entlangfuhren, hockten Liselotte und ihr »geliebtes Hundeviechel« am Arbeitspult daheim und zerbrachen sich ihren armen Kopf über die letzten Tage der beiden heldenhaften Gotenkönige.

»Was mich der dämliche Totila angeht!« wütete Liselotte und knabberte gelangweilt am Federhalter.

Das waren die ersten Freuden des bevorstehenden Basars.

Aber es kam doch besser, als es den Anschein hatte.

Frau Baumeister Günther kehrte von der Vorstandssitzung zurück und teilte ihrem aufhorchenden Töchterchen mit, daß sie einen Teeausschank zum Basar übernommen habe. Ob Liselotte dabei helfen wollte?

Na, ob sie wollte – gut, daß auch Teja bereits ins Jenseits befördert war, sonst hätte Liselotte ihn sicherlich nicht mehr dorthin gelangen lassen.

»Aber Suse auch – liebe, gute Muttel, laß meine Suse auch in der Teebude helfen, gelt, Muttel?« bestürmte Liselotte die Mutter.

Frau Baumeister Günther überlegte einen Augenblick. Es war beschlossen worden, daß die Kinder in Kostüme gesteckt werden sollten, entsprechend den Waren, die sie feilboten. Dann mußte sie für Suse Bertram ebenfalls ein japanisches Teemädchenkostüm anfertigen – aber wiederum freute es sie, daß ihr Kind voller Gutherzigkeit sogleich an die Freundin dachte. So nickte die Mutter zustimmend mit dem Kopf und sagte: »Wenn du dich musterhaft artig bis dahin benimmst!«

Liselotte jubelte. Sie sprang im Zimmer umher, daß sofort von der Erschütterung eine kleine Vase ebenfalls vom Wandbrett sprang, und begann auf diese Weise sofort ihre musterhafte Artigkeit.

Auch bei der Kindersinfonie, die der Herr Kapellmeister einstudierte, durfte Suse mitwirken. Sie blies die Nachtigallflöte, und Liselotte die Wachtelpfeife.

»Tü–tü–tüü«, wo Liselotte ging und stand, pfiff sie wie eine Wachtel – »tü–tü–tüü« – sogar in der Geographiestunde, als man sich gerade in Afrika befand, ertappte sie sich dabei, daß sie plötzlich ihre Lippen zum Wachtelruf spitzte. Zum Glück hatte es der Lehrer nicht gehört.

Alle Kinder aus dem Kränzchen waren beteiligt. Eins war Pirol, eins Drossel, Amsel, eins schlug Triangel, eins brummte als Waldteufel. Unglaublich dumm stellte sich Amtmanns Lenchen dabei an. Liselotte konnte ein klein wenig Schadenfreude nicht unterdrücken, denn Amtmanns Lenchen mochte sie wirklich nicht recht leiden. Lenchen war ein wahres Genie an Unmusikalischkeit. Sie sollte der Kuckuck sein. Aber sie brachte es nicht fertig, den Kuckucksruf richtig im Takt aus einer kleinen Handharmonika herauszubringen, immer klang es, als ob eine Katze miaute.

Die Proben waren zu ulkig. Der Herr Kapellmeister schlug den Takt mit einem kleinen Stöckchen und zappelte dabei mit Händen und Füßen. Das sah aus, als ob er ein Hampelmann sei. Zählen mußten die Mädel wie die Maikäfer, wehe derjenigen, die sich verzählte und nicht Takt hielt, der hopste das Stöckchen des Herrn Kapellmeisters auf dem Rücken herum.

Es kam öfters vor, daß die kleinen Musikanten nicht volle Aufmerksamkeit für ihr Geblase und Geflöte hatten, denn in den blonden, braunen und schwarzen Kinderköpfchen spukten die Kostüme. Zu Hause wurden die Anzüge angefertigt, und keine wollte der andern verraten, als was sie komme. Jede aber dachte: »Ich bin ganz sicher die Schönste!« denn in solch einer kleinen Evastochter sitzt schon ein gut Teil Eitelkeit.