Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert

Die gute alte Zeit

Bürger und Spießbürger im 19. Jahrhundert

Erstes Kapitel

Der Spießbürger ist der notwendigste Bestandteil der menschlichen Gesellschaft. Sein Wohlbehagen, seine Gesunderhaltung, sein Zerstreuungsbedürfnis, seine Sehnsüchte und Träume und seine sonstigen Ansprüche an das Dasein sind es, die Wissenschaft und Kunst in Bewegung setzen, von Fortschritt zu Fortschritt treiben, von Versuch zu Versuch anspornen. Der Spießbürger ist zur Seele des Staates geworden.

Er ist zu allem nötig, selbst zum Beweis dafür, daß es Helden gibt. Er allein ist der Maßstab, an dem die Größe der Besonderen und der Ungezügelten gemessen werden kann, wenn diese Wertbemessung auch vielleicht nicht so einfach ist, wie es den Anschein haben könnte. Es stellt sich möglicherweise dabei heraus, daß jeder Mensch ein wenig Held sein muß, um das Kampfspiel Leben auszufechten, und daß sich ebenso mancher Held des Geistes wie der Waffe nur durch ein wenig sogenanntes Spießbürgertum in der Balance seiner großen Taten zu halten vermochte, daß also auch die Sphäre des Genies und der Dämonen nicht so entfernt von ihnen liegt, wie mancher glaubt. Als einzelnes Individuum genommen, ist der Spießbürger mit seinen Eigenschaften nicht so einfach auf eine Formel zu bringen.

Der Student bezeichnet ihn als verkörperte Pedanterie, beschränkte Kritikfähigkeit, platte Behaglichkeit, eingebildete Würde, lächerliche Überheblichkeit und Neugier. Später, selbst zu Amt, Würden und Vaterschaft gekommen, pflegt dieser gleiche Mensch diese gleichen Eigenschaften als Ordnung, Selbstverleugnung, Beherrschung, Pflichttreue und Wißbegier zu bezeichnen. Der Student singt: «Wenn ich einmal der Herrgott wär'.» Der zum Mann Gewordene brummt: «Wenn ich doch erst mein Vorgesetzter wär' ...»

Das Wort Spießbürger entstand schon im Mund der Ritter, der Herren hoch zu Pferd, im Panzer und Visier. Sie machten sich lustig über den Bürger, der zu Fuß den Spieß trug als Waffe.

Niedergeschrieben finden wir das Wort zuerst im Jahre 1640. Joachim Friedrich klagt in seinem Buch «Die Friedensposaune», daß die Studenten «eisgraue und erfahrene Männer, Matronen, keusche Jungfrauen und Bürger für Spießbürger schelten». 1697 war es in den Studentenkreisen schon üblich und häufig angewendet, abwechselnd mit dem Wort Philister. Schon 1706 kommt in der Lebensbeschreibung Hazards der bittere Vorwurf vor, «daß die Burschen uns Bürger einen Philister nennen und wie einen Floh achten». Im Jahre 1767 verwertet Wieland das allmählich zur vollen Blüte heranreifende Wort zum ersten Male dichterisch in seinem «Agathon». Im Jahre 1810 ist es bereits ein allgemein übliches und gebuchtes Wort, ein gewohnter Begriff. In Pommern sagt man «speetbörger», ein Wort, das geradezu nach Geräuchertem und Ofenwärme duftet.

Sogar «das Lied vom Canapee» war damals schon geboren («Die Seele schwingt sich in die Höh', der Leib bleibt auf dem Canapee»), diese Verse, die das Schutz- und Trinklied des Spießbürgers genannt werden können. Erst in der Blütezeit des Biedermeiers jedoch gelangten sie zu voller Geltung, gehörten zum Sang und Klang der Gemütlichkeit.

Schon im 18. Jahrhundert erschien das erste Konversationslexikon, also die erste Bildungsbibel des Spießbürgers, der nun schwarz auf weiß auf dem Regal zum Nachschlagen alles das bereitstehen hatte, was im Kopf zu haben niemand von einem Normalmenschen verlangen konnte.

Zwischen diesen Zeitspannen aber liegen Revolutionen.

Es ist schwer zu sagen, ob es als Tragik oder als Witz des Weltwillens hinzunehmen ist, daß Revolutionen nötig waren, um das Bürgertum zu schaffen und damit den Ahnherrn des Spießbürgers, der so geschickt verstanden hat, aus der kleidsamen Fasson der Jakobinermütze das friedliche Hausväterkäppchen des Pfeifchenschmauchers erstehen zu lassen, und der von nun an alles in seinen Bereich zu ziehen verstand, was die Welt vorbrachte.

Die Geschichte des jüngsten Jahrhunderts ist das Märchen der Geschwindigkeit. Eine grandiose Erfindung überstürzt die andere, Fortschritt auf Fortschritt drängte die menschlichen Daseinsformen vorwärts, stellte das Heute meilenfern fort vom Gestern. Alle Möglichkeiten der Zukunft wurden unberechenbar, und doch ist es das Zeitalter der Mathematik. Keinem Jahrhundert zuvor war eine nur ähnliche geschwinde Entwicklung gegeben. Die Zahl der Neuerungen, die es brachte, ist unberechenbar.

Es sei nur daran erinnert, daß der «Geburtstag» – um spießbürgerlich zu reden – der Dampfmaschine, und damit der Eisenbahn und des Dampfschiffs, die Entwicklung der Elektrizität, des Autos, des Flugzeuges, der Photographie, des Telephons, des Radios in dieses Jahrhundert fällt. Unbekannte Probleme stiegen auf.

Zwischen allen diesen gigantischen Erscheinungen des Geistes und des Willens entwickelte sich langsam, lächelnd und sicher der Spießbürger, der alles Neue zuerst beklagte, bestenfalls bewitzelte, um es dann schließlich vorsichtig in das Netz seiner Behaglichkeit zu ziehen.

Jedes Jahrzehnt stand unter einem anderen Zeichen, einer anderen Mode, der Spießbürger machte sie alle mit, alle bekamen ihm vorzüglich, diesem Manne, der immer tut, was alle tun, und immer nur das wagt, was schon ein anderer vor ihm gewagt, dieser gemütliche Pflichttreue, der aus den Idealen der anderen den praktischen Nutzen zu ziehen versteht, dieser hartnäckige Vorsichtige, dessen Hauptbestreben darauf zielt, es gut haben zu wollen in diesem Leben. Wir alle leben unter ihnen, von ihnen, wie der Fisch im Wasser und der Vogel in der Luft.

Wollte man bestimmen, in welchen Erdstrichen der Spießbürger am häufigsten vorkommt, so muß man zugeben, daß die Sonne, die alles sonst zur Blüte bringt, in diesem Fall das Gegenteil erzeugt. Der Spießbürger gedeiht am besten in nordischen Ländern, erst mit der zunehmenden Festigkeit der Mauern und dem wichtigen Schutz der Dächer kommt er zu seiner wahren Entfaltung.

Vielleicht, daß sich die Umwertung aller Dinge auch am Spießbürger beweist. Wurde doch aus der Zipfelmütze schon die Sportkappe und aus der Spieluhr das Radio, aus dem Dreirad das Flugzeug. Möglich, daß er längst in der Umwandlung ist, daß er über kurz oder lang im Weltbürger aufgegangen sein wird, dieser fliegende Mensch von heute, für den jetzt schon die Entfernung im Raum beinahe aufgehoben ist. Der Weltbürger, der Urenkel des Spießbürgers, der wieder herausgefunden aus der Enge, der keine Furcht mehr vor den Grenzen kennt, den wieder jede Grenze reizt. Der wieder Abenteurer sein kann, den allein das Zufällige lockt und nicht mehr die Sicherheit. Der sich bewußt wird, daß die Bestandteile des Alltags die Elemente des Kosmos sind.

Man kann diese Meinung als Optimismus schelten.

Aber das ist nun einmal das Machtrecht des Lebenden, er kann von der Zukunft alles hoffen, er kann der Vergangenheit seine eigene Meinung aufzwingen.

Zehntes Kapitel

Das Märchen und das Idyll waren bürgerlich geworden. Die Heilige (Katharina Emmerich) hatte in Clemens Brentano ihren Sekretär und Biographen gefunden.

Nun wurden die Gespenster und Träume gebraucht.

Justinius Kerner (1786 - 1862)

JUSTINUS KERNER sorgte dafür, indem er durch seine «Blätter von Prevorst» und durch seine Geschichte von der «Seherin von Prevorst» sozusagen auch die Magie für «Söhne und Töchter gebildeter Stände» zum Hausgebrauch zubereitete.

Dabei ist Kerners äußerliches Leben ganz Idyll. Er baute sich im Schwabenland, am Fuß der Burg von Weinsberg, dem Symbol der Weibertreue, sein Haus mit Garten. Er war es, der dafür sorgte, daß die historische Trümmerstätte sich umwandelte in harmonische, freundliche Blumenanlagen. Er schrieb das wunderbare Buch voll phantastischer Träumerei und persönlichem Humor: «Die Reiseschatten», das noch heute dem Lesegourmand von Bedeutung geblieben. Die Welt dankt ihm viele der meistgesungenen Volkslieder.

Es gehört zu den schönen Unverständlichkeiten des Lebens, daß dieser Dichter, der außerdem auch praktischer Arzt war, auch «Magus» genannt werden wollte und sich selbst dafür hielt. Was trieb ihn zur Magie und Dämonie? Leicht faßlicher scheint uns, daß er sich als praktischer Arzt und gemächlicher Hausvater lange Zeit mit der «Beobachtung über die Vergiftung durch Würste» beschäftigte.

Eine der berühmten «Klexographien» des Dichter mit dem Text:
«Aus Dintenflecken ganz gering
Entstand der schöne Schmetterling
Zu solcher Wandlung ich empfehle
Gott meine fleckenvolle Seele.»

Das Unheimliche an Kerners Gespenstern für uns heute ist ihre Trivialität. Alle seine Gespenster verwandeln sich in ihre früheren Gestalten zurück, nur um der banalsten Kleinbürgerangelegenheit willen. Auch die Seherträume bringen nur Bilder solcher Art hervor. Auch die Einteilung der Geister, richtig sortiert in dreierlei Arten – weiße mit langem Faltenrock und einem Gürtel um die Lenden, graue Nebelgestalten und schwarze in gewöhnlicher Kleidung –, und die Beschreibung ihrer Äußerlichkeiten mahnen mehr an die Klatschkritik eines kleinstädtischen Kaffeekränzchens oder eine Biederberatung beim Weinschöppchen. Von Dämonie keine Spur.

Eduard Gärtner: Die Parochialstraße in Berlin um 1831.

Die «Seherin von Prevorst» war eine Patientin Kerners, eine Bauernfrau, namens Friederike Hauffe. Sie lebte einige Wochen in Kerners Hause, in seiner ärztlichen Behandlung. Also auch die Seherinnen aufzuspüren, bedurfte es keiner Mühe. Trotzdem ging diese Gespensterwirkung damals sehr weit. Man kannte Kerner und seine prevorstischen Mitteilungen in allen Ländern. Und sicher sind sie die Vorläufer des Spiritismus und anderer okkulter Bewegungen im Bürgertum, wenn sich Kerner gegen manchen Vorwurf der Trivialität und des Köhlerglaubens auch schon damals wehren mußte. Er verteidigte seine Gespenster damit, daß ihre Unvollkommenheit nur die Folge der Unzulänglichkeit der Menschen wäre, die eben durchaus nicht immer das Ebenbild Gottes darstellten, sondern im Gegenteil, es sehr häufig entstellten. Er meinte, man könnte dann ebensogut verlangen, «daß sich die Menschen auch in dieser Welt entweder gar nicht zeigen oder nur so, daß sie sich und ihrem Schöpfer Ehre machen.» – Die anmutigste Darstellung Kerners und seines Gespensterkreises gibt eine Beschreibung Alexander von Ungern-Sternbergs:

«Kerner sprach von den Gespenstern wie andere Leute von ihren guten Bekannten in Hamburg oder Wien. Es war ein kordialer Ton alter Bekanntschaft und Duzbrüderschaft. In meinem Beisein erzählte ihm einst ein Landsmann von einem Gespenst, das sich im Kellergewölbe habe sehen lassen in Gestalt eines in eine graue Kutte gehüllten Mönchs. Sieh mal einer! rief Kerner in seiner derben schwäbischen Aussprache, den Kerl kenn ich, der ischt mir schon einmal in den Weg gekommen, und ich habe ihm verboten das Wandern. Aber er kann's nicht lasse. Der hat vor vierhundert Jahren gelebt und war der Pater Guardian im Kloster, hat die Klosterkasse bestohle und hat das Geld im Keller vergrabe.

Kerner hatte, wenn er seine Geschichten erzählte, einen schalkhaft treuherzigen Ton, der, fern von der Ironie des Skeptikers, den guten Köhlerglauben vortrefflich darstellte. Dabei wirkte sein gutmütig ehrliches Gesicht mit den lichtbraunen Augen mit hinzu. Man wurde mit fortgerissen, man mochte wollen oder nicht. Der kälteste Verstandesmensch fühlte, wenn der ‹Magus› sprach, einen Hauch aus einem fremden Lande an sich heranwehen. Nur liefen so viele pöbelhafte Geschmacklosigkeiten mit unter, daß es mir manchmal vorkam, als sei ich zwar unter Geistern, aber doch dabei in sehr schlechter Gesellschaft. Kerner sagte mir lachend: Ja, Sie müsse nit verlange, daß a dummer Teufel, sobald er stirbt, gleich ein gescheites Kerlchen wird, er treibt als Spukgeist seine alberne Posse weiter fort!

Einst fuhr ich mit ihm in einem kleinen offenen Wagen von Weinsberg nach Heilbronn. Es war spät abends, und eine tiefe Dämmerung lag über der Gegend. Kerner, der eine Weile tiefsinnig geschwiegen hatte, machte mich plötzlich auf den Hufschlag eines Pferdes aufmerksam, der durch die Stille hinter uns erklang. Es wird ein Reiter sein, der des Weges kommt, sagte ich. Ja – aber was für ein Reiter! Geben Sie mal acht, wenn er an uns vorbeireitet. Es geht gewaltig schnell. Das Pferd hat nur drei Beine, und er, der Reiter – sehen Sie sich ihn genau an, er trägt einen Rock, wie ihn niemand jetzt trägt, und das ist in der Ordnung, denn er ischt auch nit von heute. Vor hundert Jahren lebte er als Pächter auf einem Edelhofe in der Nähe und hat, ich weiß nicht, welch ein Verbrechen zu verbüßen. Ganz genau kenne ich den Burschen noch nit, aber ich werde ihn schon kennen lernen. Ich bin ihm schon oft auf diesem Wege begegnet. – Als diese Worte kaum gesprochen wurden, jagte in sausender Eile ein Reiter an unserm Wagen vorbei. Ich konnte natürlich nicht beobachten, ob sein Pferd drei Beine hatte, aber ich hätte in diesem Augenblicke, aufgeregt durch Kerners hingeflüsterte seltsame Erzählung, darauf schwören wollen, daß es ein gespenstischer Reiter war, den ich sah, das zu uns hingewendete Antlitz erschien mir ungewöhnlich bleich, und der Hut, den er trug, zeichnete sich in seltsamer Form gegen den hellen Abendhimmel ab. Ein Gespensterschauer überlief mich ...

Wie ich in Weinsberg anlangte, war die Seherin von Prevorst, jene mystische alte Bäuerin, die die wunderbarsten Dinge erlebte, bereits gestorben, aber ein dickes Buch wurde eben über sie geschrieben, und Professor Eschenburg gab sich Mühe, alles, was jene mit der Magenhöhle sah, in ein philosophisches System zu bringen. Es wurde zugleich eine Zeitschrift gegründet, MAGIRON , in welcher Kerner alle Gespenstergeschichten sammelte, die man ihm erzählt oder die er sich aus Süd und Nord schreiben ließ. Unsere alten Schlösser in Estland und Livland sind wahre Spuknester, und deshalb konnte ich manches dem alten Magus vorbringen, das er schmunzelnd und mit beifälligem Kopfneigen anhörte. Nichts setzte ihn in Erstaunen. Er hatte die grauen, weißen, schwarzen Geister alle in bester Ordnung in seinem Kopfe und verfuhr mit ihnen wie ein Obrist, der sein Bataillon besichtigt. In der Nähe seines Hauses, in einem alten verfallenen Turm, waren mehrere Windharfen angebracht, und die Sprache, die die Sturmgeister in dunklen Abenden hier miteinander führten, klang wirklich mehr den Begriffen angemessen, die wir uns von einem Reiche der Abgeschiedenen machen, als das Poltern, Werfen und Schimpfen der unsichtbaren Koboldstimmen, die sich Kerner zu vernehmen gaben. Ich war froh, als ich Weinsberg wieder im Rücken hatte, denn nichts ist unbehaglicher als das Atmen in einer Atmosphäre von ewigem Grauen, das wir hinwegleugnen und das doch immer wieder auf uns zufällt.»

Elftes Kapitel

Ganz ohne Gespenster und doch schon viel nervöser, deutliche Übergangslinien verratend, schattiert sich die gleiche Zeit in dem, wie man schon damals allgemein sagte, «modernen Berlin». Hier war Mittelpunkt aller Zeitströmungen der Salon der RAHEL LEVIN, dieser «Gesprächskünstlerin», der späteren Gattin VARNHAGENS.

Rahels Temperament und Wesen glich in vielem schon der Kompliziertheit des «gnädigen Fräuleins» kommender verwöhnter Generationen. Man kann sie das erste moderne junge Mädchen nennen. Sie schildert sich selbst sehr gründlich als Vierundzwanzigjährige in einem Brief an ihren Freund David Veit:

«Ausruhen will ich mich auf'm Lande; ich ziehe acht Meilen von hier bei Zehdenik mit irgendeiner Freundin oder meiner Line allein, so bald als möglich, und fange die andre Woche schon hier zu baden an, bade dort, geh' im Juli nach Freienwalde, dann wieder zurück nach Zehdenik, und bleibe, so lange man's auf'm Lande aushalten kann. Baden will ich ein ganzes Jahr. Ausruhen muß ich mich; hier töten sie mich; und erst recht, wenn sie sich's einfallen lassen, mir helfen zu wollen.

Ich geh' fast gar nicht aus; weil keine Luft mir gut genug ist, alle Gesellschaft, wo ich hinkommen kann, verhaßt, die Komödie eklig ist, und das Konzert auch. In Gesellschaft, bekomm' ich unmittelbar vom Zuhören Ennuis- und Anstrengungsschmerzen, im Theater dasselbe; und vom Zug, im Konzert dasselbe; zu Haus von Lesen, Schreiben oder was ich tue, wobei der Körper nur zehn Minuten lang in einer Richtung sein muß: zu dicke, zu dünne, zu warme, zu kalte Luft, und jeder Affekt macht mir ein Erbrechen, wie jeder Schmerz, der nur ein bißchen solide wird. Dabei vergeh' ich für Überdruß, – nun, das halt' einer aus! Die Reizbarkeit und Empfindlichkeit kann nicht höher steigen. Und doch! – Ich geh' aufs Land. ‹Der Erde näher, den erdgebornen Riesen gleich.›»

 

Aber es war mehr in Rahel als diese Reizbarkeit. Ihre Sensibilität zeigte sich auch im Geistigen, vor allem im Geistigen, und machte sie zu einer einmaligen wertvollen Erscheinung. Rahels Salon galt als «Spiegel und abgekürzte Chronik» ihrer Zeit. Alles, was an bedeutenden Persönlichkeiten durch Berlin flutete, versuchte in diesen Salon eingeführt zu werden, der als besondere Sehenswürdigkeit gewertet wurde.

Die äußere Einrichtung beschreibt Max Ring: «Die hohen Zimmer zeigten eine wahrhaft überraschende Einfachheit, einen Mangel an jeder Eleganz und dem gewöhnlichsten Komfort, wie man ihn in jeder einigermaßen wohlhabenden Bürgerfamilie zu finden pflegt, imponierten aber trotzdem durch die Erinnerung an den hier waltenden Geist. Mit blaugrauer und grünlicher Farbe gestrichene Wände, hohe Bücherschränke, alte Möbel von Fichtenholz, verschossene Überzüge verrieten nicht die geringste Spur von Luxus. Den einzigen Zimmerschmuck bildeten einige Kupferstiche, darunter das Porträt Mirabeaus, das Reliefbild Rahels in Bronze von dem Bildhauer Tieck und eine Gipsstatue Kants, ein Geschenk des berühmten Rauch. In diesen Räumen empfingen Rahel und Varnhagen ihre Gäste: hohe Staatsmänner und Offiziere, Gelehrte und Künstler, Fürsten und Grafen, die Aristokratie des Geistes und der Geburt.»

Und über die Bewirtung finden wir in Paul Heyses Jugenderinnerungen:

«Wenn der unvorhergesehenen Gäste einmal so viele wurden, daß das Wohnzimmer wie ein gefüllter Bienenkorb schwärmte – für die Bewirtung mit Tee, Butterbrot und kalter Küche reichte der häusliche Herd immer noch aus. Niemand kam um eines Soupers willen, sondern um unter liebenswürdigen Menschen ein paar Stunden lang plaudernd und scherzend sich's wohl sein zu lassen.»

Unter die Gäste aus der Aristokratie der Geburt gehörte auch Prinz Louis Ferdinand. Rahel war ihm schwesterliche Freundin, sein «Beichtvater» in seinen Lebensnöten und Leiden um die holde, charmante, gewissenlose Pauline Wiesel. Rahel hatte schon die Gabe, auch die ganz anders geartete Frau gelten zu lassen, mehr sogar, sie zu verstehen, mehr noch als dies, ihre Anziehungskraft voll begreifen zu können. Wir wissen das durch ein Dankschreiben des Prinzen:

«Sie sahen sie so gut, so liebend, wie es in ihrem Innersten aussieht.»

Rahel war ein Beweis dafür, was die «zweite Gesellschaft» bedeuten konnte, in der man «bessere Lebensart, erfreulichere Fülle und anziehendere Gespräche findet als in der ersten». Ihre Persönlichkeit (zusammen mit der Bettines) hob die Stellung und das Ansehen der Frau, ohne jede Gewalttätigkeit, wie sie beispielsweise in England gleichzeitig und später von Frauenrechtlerinnen angewendet wurde. Sie bewies als eine der ersten mit Charme und Geist, daß die Frau auch in den «eigenen vier Wänden» eine andere Würde haben konnte, als «Strümpfe zu stricken und zerrissene Pantalons auszubessern», was als das «Schillerideal» damals aufgestellt worden war. Vielleicht könnte hier eingefügt werden, daß auch Schiller gegenüber nur die zeitgenössische Kurzsichtigkeit den Philister wittern konnte, während sich doch gleichzeitig bürgerliche Klatschsucht lebhaft damit beschäftigte, daß seine begabte Schwägerin Karoline, der zuerst seine Zuneigung gegolten, Mitglied seiner Häuslichkeit wurde. Eine Angelegenheit, der Dämonie vielleicht viel näher als dem Philistertum, die wir zart angedeutet finden in einem Brief WILHELM VON HUMBOLDTS.

«Das war ein eigentümlicher Zustand. Schiller wurde in den ersten Stunden vertraut, das heißt er genierte sich nicht. Aber die Art, wie sie untereinander sind, drückte mich oft. Wenn ich Karoline ansah, über ihn hingelehnt, das Auge schimmernd in Tränen, den Ausdruck der höchsten Liebe in jedem Zuge, – ach ich kann's Dir nicht schildern, wie mir's dann ward. Denn es war kein freies Äußern, kein Hingeben in die Empfindung, alles gehalten, gespannt. So viel Fähigkeit, zu geben und zu genießen, und die gehemmt ...

In Schiller fand ich sehr viel, und doch waren unsre Gespräche meist scherzend und nicht wenig leer oder doch von sehr kaltem Interesse. Aber auch da so viel Geist, und dann manchmal ein Blick von Karoline von so tiefem, allumfassendem Gefühl. Ich, glaub ich, kam ihm noch eben nicht nah. Ein paar ernsthafte, nicht unwichtige Gespräche, das war alles. Ich hasse alles, was sich nicht selbst macht, und darum sucht ich nichts. Vielleicht wird's in Jena anders. Lotten gibt auch die Liebe kein Interesse; sie war an seiner Seite wie fern von ihm. Er gegen beide? Hast Du ihn nie Karoline küssen sehen und dann Lotten?»

Es gibt auch heitere Beweise, wie sehr man sich am Schillerschen Familientisch gegen das Philistertum wehrte. Hufelands «Makrobiotik oder die Verlängerung des Lebens» war Schiller stets eine höchst ärgerliche Sache, obwohl er Hufeland als Mensch wie Freund schätzte. Er verhehlte in keiner Weise seine Abneigung gegen diese prosaische Art der Lebensverlängerung. Sein Widerspruch gegen das Philistertum ging sogar so weit, daß er, wie der junge Voß berichtet, sogar bei Tisch in Gegenwart seiner Kinder von diesen sagte: «Sie haben auch gar keine Poesie, es sind rechte Philisternaturen.»

«Da hättest Du die Kinder sehen sollen», schildert Voß diese Szene. «‹Papa, ich bin kein Philister, ich will kein Philister sein›, hieß es. Nun fragte ich den Ernst: ‹Was ist denn ein Philister?› ‹Es ist ein garstiges Ding›, antwortete er mir mit Heftigkeit. Da rufte ihn Schiller zu sich, drückte ihn an sein Herz und küßte ihn ...»

Bewundernswert ist, wie Rahel schon damals das tiefgehendste Verständnis für Schiller sowohl wie Goethe bewies. Sie hat ohne Frage viel dazu beigetragen, daß sich das Verständnis für beide Dichter und ganz besonders für Goethe weiter und weiter dehnte. Schon damals vermochte sie die Gegensätzlichkeit beider dichterischer Erscheinungen klar zum Ausdruck zu bringen:

«Von Schiller hab' ich einen Teil, den ich von Ferdinand geliehen, eine Lebensskizze dieses lieben Mannes von Körners Vater entworfen, mit Auszügen von Schillers Briefen verherrlicht, und am Ende desselben mit sechzehn Zeilen von Goethe. Heiliger Gott! Welche bronzene Worte! ‹Es glühte seine Wange rot und röter von jener Jugend, die uns nie verfliegt.› Sie sind aus dem Gedicht, mit dem er die Glocke aufführen ließ. Ich vergötterte Schiller, weil er eine lehrsame Seele war, und all seinen Geist dazu gebrauchte; vortrefflichen Treffer hatte, – darin bestand für mich sein Talent; dies vergötterte ich z. B. in einem Gedicht: die Schlacht. Fast antik in modernster Form, und Stoff: tief ergreifend, weil die Sache in ihrer Einfachheit erfaßt, eben dadurch ihren Graus, die Unabänderlichkeit zeigt. Undenklich schön! So liebt' ich, ‹Melancholie an Laura›, alle an Laura; eines, wo er den Frühling ‹Lieber Jüngling› anredete. Ich liebte ihn ganz: war voller Freude, ihn so liebenswert und würdig zu finden. Aber da kommt Goethe mit seiner Macht, seinen Zeilen, seiner Vollendung und Vorstellung, Denken, Reife, Vollendung und Gewalt des Ausdrucks, kampfgekämpfter Weisheit, beschauender überschauender Melancholie, weiser ausgerungener Heiterkeit, mit seiner vue d'oiseau, mit seinem Sternenblick, auf deutsch, – von einem Stern herab –, mit der Götterbrust, an der man nicht allein ruht, sondern Ruhe findet, – und allen anderen Dichtern fehlt etwas; – Großes.»

Parteilos wie im Kreislauf der Zeit selbst, drehte sich alles durch den Zirkel um Rahel, was Grundstoff war für die Zukunft. Rahel galt eine der letzten Nachrichten Heinrich von Kleists. Kurz vor seinem Freitod schrieb er ihr:

«Obwohl ich das Fieber nicht hatte, so befand ich mich doch, infolge desselben, unwohl, sehr unwohl; ich hätte einen schlechten Tröster abgegeben! Aber wie traurig sind Sie in Ihrem Brief – Sie haben in Ihren Worten so viel Ausdruck, als in Ihren Augen. Erheitern Sie sich; das Beste ist nicht wert, daß man es bedauere!

Ihr H. v. Kleist.»

Ein Brief, in dem sich Rahel über Kleists Tod äußert, zeigt ihre Größe ebenso wie die Stumpfheit der Allgemeinheit:

«Gestern aber hätte ich Ihnen doch geschrieben, wenn mich nicht Heinrich Kleists Tod so sehr eingenommen hätte. Es läßt sich, wo das Leben aus ist, niemals etwas darüber sagen; von Kleist befremdete mich die Tat nicht; es ging streng in ihm her, er war wahrhaft und litt viel. Wir haben nie über Tod und Selbstmord gesprochen. – Sie wissen, wie ich über Mord an uns selbst denke: wie Sie! Ich mag es nicht, daß die Unglückseligen, die Menschen, bis auf die Hefen leiden. Dem wahrhaft Großen, Unendlichen, wenn man es konzipiert – kann man sich auf allen Wegen nähern; begreifen können wir keinen; wir müssen hoffen auf die göttliche Güte; und die sollte grade nach einem Pistolenschuß ihr Ende erreicht haben? – Unglück aller Art dürfte mich berühren? Jedem elenden Fieber, jedem Klotz, jedem Dachstein, jeder Ungeschicklichkeit sollte es erlaubt sein, nur mir nicht? Siechen auf Krankheits- und Unglückslagern sollt' ich müssen, und wenn es hoch und schön kommt, zu achtzig Jahren ein glücklicher, imbécille werden, und von dreißig an schon ekelhaft deteriorieren? Ich freue mich, daß mein edler Freund – denn Freund ruf ich ihm bitter und mit Tränen nach – das Unwürdige nicht duldete: gelitten hat er genug. – Keine von denen, die ihn etwa tadeln, hätte ihm zehn Taler gereicht; Nächte gewidmet, Nachsicht mit ihm gehabt, hätt' er sich ihm nur zerstört zeigen können. Den ewigen Kalkul hätten sie nie unterbrochen, ob er wohl Recht, ob er wohl nicht Recht zu dieser Tasse Kaffee habe! Ich weiß von seinem Tod nichts, als daß er eine Frau und dann sich erschossen hat. Es ist und bleibt ein Mut. Wer verließe nicht das abgetragene inkorrigible Leben, wenn er die dunklen Möglichkeiten nicht noch mehr fürchtete; uns loslösen vom Wünschenswerten, das tut der Weltgang schon. Dies von denen, die sich nichts zu erfreuen haben; forsche ein jeder selbst, ob es viele oder wenige sind.»

Anton Graff: Henriette Herz, (1764 - 1847)

Man hatte Rahel als bedeutend und geistreich schon zu Lebzeiten gefeiert. Aber erst nach ihrem Tode, als Varnhagen, ihr Gatte, ihre Briefe hatte drucken lassen, erkannte man voll und ganz «die originelle, von allem Bisherigen verschiedene Auffassung der Dinge, die sich hier kundgegeben. Dies gewaltige Ringen nach Wahrheit, dies Verschmähen aller gewöhnlichen Mittel, deren man sich sonst bedient, um zu gefallen, die ganz neuen Wendungen und Ausdrücke und ebenso die neidlose Bewunderung, mit welcher Rahel sich an jeder bedeutenden Erscheinung auf den allerverschiedensten Gebieten menschlichen Schaffens und menschlichen Denkens erfreute, ihre glühende Vaterlandsliebe, ihre Duldsamkeit gegen die Schwächen derer, welche in irgend einer Beziehung sich ausgezeichnet hatten, und auf der anderen Seite ihre tiefe Verachtung für alles Kleinliche und sittlich Gemeine.»

Nicht durch Rahel allein begann sich der jüdische Geist durch verwandtschaftliche Bande und freundschaftliche Beziehungen ins Bürgertum zu schmuggeln, vorerst noch im besten Sinn. Mit Rahel befreundet war HENRIETTE HERZ, die ebenfalls eine große Anziehungskraft ausübte und eine Art Salon führte. Auch zu ihren Freunden gehörte die ganze Kulturwelt der damaligen Zeit, sie war Freundin Humboldts und Schleiermachers und vieler hervorragender Aristokraten der damaligen Zeit. Witwe geworden, wurde sie unterstützt aus der Privatschatulle des Königs.

Wilhelm Hensel: Rahel Varnhagen von Ense (1771 - 1833) im Jahre 1822.

In den selbstgeschriebenen Erinnerungen von Henriette Herz lebt plastisch auf das strenge jüdische Bürgerleben von damals. Henriette schreibt von ihrem Mädchentum, ihrer Verlobung und Heirat. Sie wird mit fünfzehn Jahren einem Dreißigjährigen verbunden, den ihre Eltern für sie bestimmt hatten und den sie «nur einige Mal» gesehen hatte:

 

«Ich mochte wohl sechs Monate in die Nähschule gegangen sein, als mir die Mutter sagte, ich solle wieder bei der Tante nähen lernen, und wie sehr erstaunte ich nicht, als diese mir im Vertrauen sagte, ich solle Braut werden; ‹mit wem?› fragte ich sie, und sie nannte mir den Mann; er war angehender praktischer Arzt, ich hatte ihn einige Male bei meinem Vater und auch wohl an seinem Fenster gesehen; er wohnte in unserer Nähe, und ich mußte vor seinem Hause vorüber gehn, wenn ich mir Bücher aus der Leihbibliothek holte; da begegnete es mir auch einmal, daß ich an einem Wintertage, mit einem schauerlichen Roman in der Hand, vor seinem Hause gleitete und fiel; meine Beschämung war groß, denn er war am Fenster. Ich freute mich kindisch dazu, Braut zu werden, und malte es mir recht lebhaft aus, wie ich, von meinem Bräutigam geführt, nun spazieren gehen würde, wie ich bessere Kleider und einen Friseur bekommen würde, denn bis jetzt machte mir die Tante das Haar mit Talg geschmiert, nach ihrem eigenen Geschmack zurecht; ferner hoffte ich auf ein größeres Taschengeld, das jetzt in zwei Groschen monatlich bestand, und von den kleinen, etwas feineren Gerichten, die zuweilen für meinen Vater bereitet wurden, etwas zu bekommen. Mit Ungeduld erwartete ich den Tag der Verlobung, den mir die Tante im Vertrauen genannt und mir dabei gesagt hatte, daß mein Vater mich fragen würde, ob ich zufrieden mit seiner Wahl für mich sei. Der ersehnte Tag erschien, der Morgen verstrich, und mir ward nichts gesagt; beim Mittagessen fragte mich mein Vater, ob ich lieber einen Doktor oder einen Rabbiner heiraten wolle. Mir klopfte das Herz mächtig, und ich antwortete, daß ich mit allem zufrieden sei, was er über mich beschließen würde. Nach dem Essen sagte mir meine Mutter, daß ich am Abend mit dem Doktor Markus Herz verlobt werden würde, und hielt mir eine lange Rede, die mir im Augenblick langweilig und unangenehm war, von der ich mich aber in späteren Zeiten manches Guten erinnerte. Sie sagte mir, wie ich mich gegen meinen Bräutigam betragen und ihre Ehe zum Muster meiner künftigen nehmen sollte, – und wahr ist es, daß es nie eine glücklichere gegeben.

Die Gesellschaft versammelte sich, ich war in einem andern Zimmer; es war damals nicht Sitte, daß die Braut in dem Zimmer, in welchem die Eltern und die Notarien waren, sich aufhielt, und erst, nachdem sie förmlich um ihre Einwilligung gefragt worden und der Ehekontrakt unterschrieben ist, kam sie zur Gesellschaft. In banger Erwartung saß ich geputzt da, glühend vor Angst, ich wollte nähen, die Hand zitterte mir aber, ich ging im Zimmer auf und ab, kam zufällig am Spiegel vorbei und erschien mir zum ersten Male mehr als hübsch; ein apfelgrün und weiß gestreiftes, seidenes Kleid, ein schwarzer Hut mit Federn standen mir sehr gut, mein dunkles Auge glänzte durch die Röte der Wangen, und der kleine Mund war freundlich. Viele Jahre sind seitdem vorübergegangen, das jugendliche Gesicht jenes Augenblicks steht aber so lebhaft vor mir, daß ich es malen könnte. Ich wollte ruhig erscheinen, als ich die Tür öffnen und den Notarius und zwei Zeugen hereintreten sah; sie fragten mich, ob ich meine Einwilligung zu der Verbindung gäbe, und ich stammelte das Ja. Bald darauf kam Markus, küßte mir die Hand und führte mich zur Gesellschaft. Meine Eltern waren sehr vergnügt und zärtlich und liebevoll gegeneinander wie immer; eine Nachbarin machte Markus aufmerksam darauf und sagte, daß es eine Freude sei, eine solche Ehe zu sehen; ‹gedulden Sie sich ein paar Jahre›, antwortete er, ‹und Sie wollen eine zweite sehn.›

Ich wußte wenig von meinem Bräutigam, er war fünfzehn Jahre älter als ich, klein und häßlich, hatte aber ein geistreiches Gesicht und den Ruf eines Gelehrten; er war geliebter Schüler Kants und hatte sowohl Arzneiwissenschaft als Philosophie in Königsberg studiert; auch hatte er schon einige scharfsinnige kleine philosophische Schriften herausgegeben. Seine frühe Jugend war ihm in sehr gewöhnlicher Umgebung verflossen, seine spätere in bloß wissenschaftlichem Umgang. So lernte er weder Menschen noch Welt kennen, und so ward sein Geist gebildet, ohne daß es sein Charakter ward. Mein Leben im väterlichen Hause blieb sich gleich, so wie auch das Betragen meiner Mutter gegen mich. Man gab mir nicht besser und nicht mehr zu essen als sonst, und was immer weniger war, als ich essen mochte, doch bekam ich statt zwei Groschen sechs Groschen wöchentlich und wurde zweimal in der Woche vom Friseur frisiert. Ich durfte fast gar nicht ausgehn, nur selten mit dem Bräutigam, und war ich einmal allein ausgegangen, so ward ich früh abgeholt, weil Markus gewöhnlich einen Abend um den andern kam und Karten spielte, was mich entsetzlich langweilte, da ich kaum eine Karte kannte und immer neben ihm am Spieltisch sitzen mußte. Oft ward ich aus sehr vergnügter Gesellschaft zu dieser Langweile geholt. Allein war ich fast nie mit Markus, denn ich hatte kein eigenes Zimmer. Wenn er fortging, begleitete ich ihn, und war dann alles still im Hause, so blieben wir im Hausflur, seine Liebkosungen taten mir dann wohl, doch verstand ich manche in meiner Unschuld nicht, denn trotz allem, was ich gehört und gesehen hatte, war mein Sinn doch völlig rein geblieben. So fragte ich einmal eine junge Frau in unserm Hause, auf welche Weise man ein Kind bekäme, und sie antwortete mir, wenn man sehr oft an denselben Mann denke; das tat ich oft und viel an Markus, und ich ängstigte mich, daß ich so Schande über meine Eltern bringen würde. Ich freute mich mit der Aussicht, bald Frau zu werden, um ausgehen und essen zu können, soviel und was ich wollte. Markus behandelte mich meistens wie ein Kind, was ich denn auch war, doch verdroß es mich, wenn man mich so nannte, und bittere Tränen weinte ich, als Markus mich kurz nach unserer Verlobung fragte, ob ich lesen könne. Ein leises Ja war meine Antwort; er bat mich, ihm etwas vorzulesen, und bei der ersten Zeile sagte er, ich könne wohl ablesen, aber nicht lesen, er wolle es mich lehren und las mir vor. Jetzt verstand ich erst, was er gemeint hatte, und mußte mir nun den unangenehmen Unterricht wohl gefallen lassen, der mich aber sehr bald dahin brachte, gut und später sehr gut vorzulesen. Markus führte mich nun in mehrere ihm befreundete Häuser ein, wo es mir aber gar nicht gefiel. Sie gehörten alle zu den vornehmeren und erschienen mir unerträglich steif. Zu einer Familie mußte ich besonders oft hingehn, und Markus hätte es bald sehr bedauern müssen, mich dort eingeführt zu haben, da einer der Söhne, mit welchem ich mich zufällig allein im Zimmer befand, so zudringlich ward, daß nur mein lautes Geschrei mich rettete. Die Zeit, die zu meiner Hochzeit bestimmt war, näherte sich; meine Schwester Hanne und ich nähten emsig an meiner Ausstattung. Die Wirtschaft war auch größer geworden, denn meine Mutter hatte Zwillinge geboren. Meine Mutter zankte fortwährend mit mir, und nur die Abende waren gegen die Zeit der Hochzeit angenehm, wo mehrere junge Leute, Markus' Freunde, kamen und viel gescherzt und gelacht wurde. Unangenehmes fehlte aber auch nicht. Markus und mein Vater hatten oft harte Gespräche über einige Artikel des Ehekontrakts, und das war mir sehr schmerzlich; doch war das nur sehr vorübergehend in mir, denn alle die schönen neuen Kleider und der Putz, der vor mir ausgebreitet lag, und die nahe Aussicht zur Freiheit erfüllten mich mit jugendlichem Entzücken.

Der Hochzeitstag erschien endlich, und obschon viele, viele Jahre seitdem verstrichen sind, so ist mir der Morgen und der ganze Tag fast in jedem Moment erinnerlich. Mit unbeschreiblicher Wehmut erwachte ich, der Gedanke, meinen Vater zu verlassen, tat mir unendlich weh, und unter tausend Tränen ließ ich mir das Brautkleid anziehen, das von weißem Atlas war, mit roten Rosen besetzt. – Der Bräutigam kam, und die Gäste versammelten sich; kurz vor der Trauung suchte ich meinen Vater allein zu sprechen; ich bat ihn mit heißen Tränen, mir in diesem Augenblick der Trennung alles zu verzeihen, wodurch ich ihn je gekränkt und geärgert hätte, und mir seinen Segen zu geben. Er tat es, umarmte mich mit Tränen und sagte: ‹Kind, brich mir das Herz nicht!› Bis zu meinem letzten Atemzuge werden diese Worte mir unvergeßlich bleiben. Sein Segen ist von Gott erhört worden, denn ich ging einem schönen, reichen Leben entgegen.

Es war 1. Oktober des Jahres 1779, glaubte ich. Es lag hoher Schnee auf dem Hofe, auf welchem der Baldachin stand, unter welchem ich, nach jüdischem Gebrauche, getraut ward. Mehrere Vornehme, die Herz kannten, waren gegenwärtig. Ein Mittagsmahl, das bis spät am Abend dauerte, beschloß den Tag. Herz's Freund F. und seine Frau begleiteten das neue Ehepaar nach Hause ...

Herz's Friseur war der erste Mensch, der die fünfzehnjährige Frau am Morgen nach der Hochzeit sah. Wie viele Jahre auch seitdem verstrichen, so weiß ich doch noch, wo ich saß, und wie ich in einen, nach damaliger Mode, reizenden Morgenanzug gekleidet und wie stolz ich auf meine neue Würde als Hausfrau war, da der alte Friseur ins Zimmer trat. Eine Köchin, die gleich am Morgen meine Befehle zum Mittagessen einholte, und eine alte, etwas betrunkene Frau, die Herz schon früher in seinem Dienste hatte, machten meinen Hausstand. Den Abend war Ball im Hause meiner Eltern. Ich zog mich an, ich gefiel mir nicht, änderte und änderte am Putz, und ich gefiel mir nicht besser. Die Ursache war, weil, nach jüdischem Gebrauch, ich mein Haar als Frau völlig verbergen mußte, und das Kopfzeug, mit Perlen und Blumen geziert, mir nicht gut stand. Ich kam etwas später als einige Gäste, und meine Mutter empfing mich mit Unwillen und schalt, daß hie und da etwas von meinem Haar unter dem Kopfzeug hervorsah; wie bald war das aber vergessen, als mein geliebter Vater mich zu einem Menuett aufforderte und den Ball mit mir eröffnete! Herz tanzte nicht. Mein Vater war schon in den sechziger Jahren und tanzte noch mit vieler Anmut und Festigkeit, daß er die Bewunderung der zahlreichen Gesellschaft vermehrte; mir ist wenig mehr von dem Abend erinnerlich, als daß ich Langweile hatte und froh war, als ich das Fest geendigt sah. Die nächsten Tage vergingen mit Besuchemachen und -empfangen; das eigentliche neue Leben fing erst einige Wochen später an. Alle jungen Leute, die mein väterliches Haus besuchten, und die meistens Studenten waren, kamen nun auch zu mir, und nicht einer war unter ihnen, den ich besonders interessiert hätte; ich fand auch keinen unter ihnen interessanter als den andern. Heiter und unbefangen ging ich mit ihnen um, und mein Mann sah sie gerne in seinem Hause. Meine Mutter besuchte mich und war meistens mit allem unzufrieden, was sie mich tun sah; ach, sie hatte wohl gewiß recht. Mein Vater kam seltener; es war aber immer ein Fest, wenn er kam. Freitag mittag aßen gewöhnlich einige jener jungen Leute und meine Mutter bei uns. Wir waren oft im elterlichen Hause, wo Herz spielte und ich mich langweilte ...

Ich war glücklich, liebte mit der fünfzehnjährigen Liebe einen dreißigjährigen Mann. Ich hatte viele Romane gelesen und sie in mich aufgenommen. Herz lachte mich aus, wenn ich schwärmte; tanzte ich um ihn her, hing ich mich an seinen Hals, wies er mich zur Vernunft ...»

Ein Brief des Gatten an Henriette zeigt die Auffassung einer Ehe ohne Romantik:

«Soeben war mein lieber Salinger bei mir, die Menschen bleiben nur bis Freitag hier, und sind morgen und übermorgen Abend in der Comödie um die von ihnen bestellten Wallenstein und Picolomini zu sehn. Ich esse nebst Lemos heute Mittag bei ihnen und bedarf Deines Essens nicht. Meine Anordnungen sind nun folgende:

Morgen Mittag essen die Leute bei uns draußen en Familie, ich kann Dir nicht helfen. Du mußt es schon machen, es bedarf keiner Traktirung, wenig und gut und weich. Des Abends verlassen sie uns und ich wünsche dann wohl eine Parti zu haben. Bestelle bei Loewen was Du nicht selbst haben kannst.

Donnerstag Mittag aber diniren wir bei Loewen. Bestelle, denke ich für fünfzehn Personen zum Thaler und vier Gr. Lade die Ephraims dazu ein, auch die Salomon und Mendelssohn. Die übrigen besorge ich, ich werde auch eine Parti zum Abend behalten, wo wir kalt bei Loewen oder bei uns speisen werden.

Ich habe die Idee heute nicht zu Dir zu kommen, das Wetter ist zu elend, ich will mancherlei zu Hause tun und dann vielleicht bei Halles sein.»