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Buch

Auf dem Weg nach Texas quält sich ein Wagentreck durch die staubige Prärie. Mit von der Partie ist eine geheimnisvolle Rothaarige: Lydia, unverheiratet und mit einem Kind unter ihrem Herzen. Aber die harten Wochen in dem Planwagen fordern ihren Tribut, und mit dem Verlust des Kindes reift ein Entschluss in Lydia: Nie wieder wird sie sich einem Mann so ausliefern, wie sie es bei Clancey getan hat, dem Vater ihres toten Babys.

Ross Coleman legt seinem Herzen ähnlich strenge Zügel an, denn so hat er es seiner Frau versprochen, die bei der Geburt ihres Kindes starb. Doch der neugeborene Sohn braucht eine Mutter, und so heiratet er, um dem Anstand Genüge zu tun, die schöne und unendlich traurige Lydia. Eine Ehe – aus der Notwendigkeit geboren, zum Scheitern verurteilt? Aber in der glühenden Präriesonne geraten Lydia und Ross in einen Wirbelsturm aus Gefahren und Begierden, der die bösen Schatten ihrer Vergangenheit ebenso ans Licht bringt wie ihre bedingungslose Leidenschaft.

Autorin

Sandra Brown arbeitete als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman Trügerischer Spiegel auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher weltweit Spitzenplätze der Bestsellerlisten erreicht. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.

Von Sandra Brown bei Blanvalet erschienen (Auswahl)

Verliebt in einen Fremden, Glut unter der Haut, Wie ein Ruf in der Stille, Schöne Lügen, Ein skandalöses Angebot, Eine unmoralische Affäre, Gefährliche Sünden, Ein Kuss für die Ewigkeit, Zum Glück verführt, Heißer als Feuer, Lockruf des Glücks, Unschuldiges Begehren, Eine sündige Nacht, Zur Sünde verführt, Wie ein reißender Strom, Verruchte Begierde, Jenseits aller Vernunft, Schwelende Feuer, Celinas Tochter, Trügerischer Spiegel, Ein Hauch von Skandal, Tanz im Feuer, Sündige Seide, Feuer in Eden, Scharade, Nacht ohne Ende, In einer heißen Sommernacht

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Sandra Brown

Jenseits aller Vernunft

Roman

Deutsch von Sabine Ivanovas

1. Auflage

Taschenbuchausgabe September 2015 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright der Originalausgabe © 1985 by Sandra Brown

Translated from the English »Sunset Embrace«.

First published in the United States by Bantam Books, New York;
wiederveröffentlicht von
Warner Books, Inc., New York, 1990 und 1992

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014
by Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung eines Motivs von Shutterstock.com

Redaktion: Barbary Genet

wr · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-15078-5

www.blanvalet.de

1

Warum muss man beim Sterben so viel leiden?, fragte sich die schwangere junge Frau.

Sie hielt sich den aufgeblähten Bauch, als der Schmerz wieder ihren Unterleib sprengen wollte und hinabzog bis in die Schenkel. Als es vorüber war, atmete sie schwer wie ein verletztes Tier bei dem Versuch, Kraft für die nächste Attacke zu gewinnen, die sie sicher in ein paar Minuten schütteln würde. Zweifellos musste der Schmerz wiederkommen, denn sie glaubte nicht, dass es ihr gestattet sein würde zu sterben, bevor das Kind geboren war.

Sie schauderte krampfhaft. Der Regen war kalt, jeder Tropfen eine winzige Nadel, die ihr in die Haut stach. Er hatte ihr schäbiges Kleid und die wenigen Stücke Unterwäsche durchweicht, die sie mit ein paar ungeschickten Knoten befestigt hatte. Die Lumpen hingen an ihr wie ein feuchtes Leichentuch, ein Gewicht, das sie zu Boden zog und sie genauso in den Schlamm zwang wie das gnadenlose Reißen in ihr. Durchgefroren bis auf die Knochen, lag trotzdem nach den endlosen Stunden quälender Wehen eine klamme Schweißschicht auf ihrer Haut.

Wann hatte es angefangen? Gestern Abend kurz nach Sonnenuntergang. Im Laufe der Nacht war das Ziehen in ihrem Kreuz immer schlimmer geworden und hatte sich schließlich ausgedehnt nach vorn in ihren Bauch, den jetzt immer wieder der Schmerz mit bösen Fäusten packte. Angesichts des wolkigen Himmels fiel es ihr schwer zu sagen, um welche Tageszeit es sich handelte, doch sie nahm an, dass es schon Vormittag war. Gebannt schaute sie auf das Blättermuster der Zweige über sich vor dem grauen Wolkenmeer, als die nächste Wehe ihr Inneres durchschnitt. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet; er kümmerte sich nicht um die kaum zwanzigjährige Frau, die ganz allein in der Wildnis von Tennessee ein Wesen gebar, das sie sich nicht als Baby und noch viel weniger als Mensch vorstellen wollte.

Sie drehte den Kopf zur Seite auf ihrem Lager aus nassen verrotteten Blättern, die noch vom letzten Herbst dort lagen, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Das Kind war unter Scham und Demütigungen gezeugt worden und verdiente zweifellos keine besseren Umstände als diese für seine Geburt.

»Lieber Gott, lass mich jetzt sterben«, betete sie, als sie spürte, wie die nächste quälende Wehe begann. Sie rollte durch ihr Inneres wie ein Sommergewitter, wurde immer heftiger und krachte gegen ihre Bauchwände wie Donnerschläge in den Bergen.

Am vergangenen Abend war sie mit zusammengebissenen Zähnen einfach weitergewandert. Als das Fruchtwasser im Schwall zwischen ihren Schenkeln hervorquoll, musste sie sich gezwungenermaßen hinlegen. Sie hatte nicht anhalten wollen. Jeder Tag bedeutete ein paar Meilen Abstand mehr zwischen ihr und jenem Toten, der inzwischen sicher schon entdeckt worden war. Vage hoffte sie, er würde verwesen und niemals gefunden, aber eigentlich erwartete sie kaum so viel Glück.

Diese schreckliche Pein, die sie jetzt erleiden musste, war bestimmt eine Strafe des Himmels dafür, dass sie mit Erleichterung ein Geschöpf Gottes hatte zugrunde gehen sehen. Außerdem dafür, dass sie das Lebewesen nicht wollte, das neun Monate lang in ihrem Schoß gewachsen war. Denn trotz aller Schuldgefühle betete sie, das Leben nie sehen zu müssen, das sich gerade so qualvoll den Weg aus ihrem Körper bahnte. Hoffentlich durfte sie vorher sterben.

Als der Schmerz sie das nächste Mal erfasste, war es noch schlimmer als bisher und zwang sie, sich halb aufzusetzen. Gestern Abend, als ihr Schlüpfer durch den Strom von Flüssigkeit durchnässt worden war, hatte sie ihn ausgezogen und beiseitegeworfen. Jetzt hob sie ihn wieder auf und wischte sich damit das von Regen und Schweiß tropfende Gesicht ab. Vor Angst und Leid zitterte sie heftig, dieses letzte Aufbäumen ihres Körpers zerriss ihr empfindliches Gewebe. Sie hob den zerfetzten Saum ihres Kleides und die Reste ihres Unterrocks über ihre aufgestellten Knie und legte eine Hand vorsichtig zwischen ihre Beine, wo sie das Reißen gespürt hatte.

»Ohhh …«, wimmerte sie stoßweise. Sie war geöffnet, weit geöffnet. Ihre Fingerspitzen hatten den Kopf des Babys berührt. Als sie die Hand wegnahm, war sie voller Blut und Schleim. Voller Schreck öffnete sie den Mund – ihr entrang sich ein durchdringender Aufschrei, als ihr Körper sich zusammenzog, um das Wesen auszustoßen, das nun zum Fremdkörper geworden war, nachdem es neun Monate so geschützt in ihrem Innern verbracht hatte.

Sie hob sich auf die Ellenbogen, breitete die Schenkel auseinander und presste instinktiv mit. Das Blut pochte in ihren Ohren und den fest geschlossenen Augen. Ihr Unterkiefer tat weh, weil sie die Zähne so fest zusammenbiss; ihr Gesicht war mit zurückgezogenen Lippen zu einer schrecklichen Maske verzerrt. Während einer kurzen Pause schnaufte sie verzweifelt. Dann kam der Schmerz wieder. Und wieder.

Schreiend gab sie ihre letzte Energie für das endgültige Pressen, konzentrierte all ihre Kraft auf die Stelle, die auseinanderriss.

Und dann war sie frei.

Erschöpft fiel sie nach hinten, schnappte nach Luft und war jetzt dankbar für die Regentropfen, die ihr Gesicht kühlten. In dem Schweigen ringsum erklangen nur ihr schweres Atmen und das Tropfen des Regens. Die Stille war grausig, erschreckend, seltsam. Das Kind, das sie gerade geboren hatte, hatte nicht den geringsten Laut von sich gegeben, bewegte sich nicht.

Ohne noch an ihr Gebet von vorher zu denken, setzte sie sich mühsam wieder auf und zog ihren langen Rock zur Seite. Tierische Laute des Schmerzes und Kummers kamen über ihre geschwollenen Lippen, als sie das kleine Wesen tot zwischen ihren Beinen liegen sah, kaum mehr als ein Häufchen bläulichen Fleisches, das das Leben nie erfahren hatte. Die Nabelschnur, die es ernährt hatte, war auch das Instrument seines Todes gewesen, denn sie lag fest um den Hals des Kindes geschlungen. Sein Gesicht war eingedrückt. Es hatte sich in die Welt und den Tod zugleich gestürzt. Die junge Frau fragte sich, ob es sich entschlossen hatte zu sterben, weil es wusste, dass sogar seine Mutter es hassen würde – weil es den Tod einem Leben des Ungewolltseins vorzog.

»Wenigstens musstest du nicht das Leben erleiden, Kleines«, flüsterte sie.

Sie fiel zurück auf den modrigen Waldboden und starrte mit leerem Blick in den Himmel, wusste, dass sie Fieber hatte, wahrscheinlich auch fantasierte, und dass es verrückt war zu denken, ein Kind im Mutterleib würde selbst seinen Tod wünschen. Aber es ging ihr besser, wenn sie sich vorstellte, dass das Kind genauso wenig hatte leben wollen, wie sie gewollt hatte, dass es lebte; es war genauso bereit gewesen zu sterben wie sie jetzt.

Auf der Stelle müsste sie Gott um Vergebung bitten, weil sie froh war, dass ihr Kind nicht lebte, aber sie war zu müde. Gott würde das sicher verstehen. Schließlich hatte Er ihr ja auch diesen Schmerz auferlegt. Verdiente sie jetzt nicht endlich Ruhe?

Sie schloss die Augen im Regen, der ihr Gesicht überströmte wie heilender Balsam. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen solchen Frieden empfunden zu haben, den sie aufrichtig willkommen hieß.

Jetzt konnte sie sterben.

»Meinste, dass sie tot is’?«, krächzte die junge Stimme heiser.

»Ich weiß nich’«, flüsterte eine kaum ältere Stimme. »Stoß’ sie an, dann wirst du’s ja sehen.«

»Ich stoß’ sie bestimmt nich’ an. Tu du’s doch.«

Der große, magere Junge kniete auf knochigen Knien neben der ausgestreckten, unbeweglichen Gestalt. Vorsichtig, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte, stellte er sein Gewehr mit dem Lauf nach oben an den Baumstamm neben sich. Seine Hände zuckten nervös, als er sie zu der jungen Frau ausstreckte.

»Du hast doch Angst, gib’s zu«, sagte der Kleine herausfordernd.

»Nein, ich hab’ keine Angst«, zischte der Ältere zurück. Um das zu beweisen, streckte er den Zeigefinger aus und hielt ihn dicht neben die Oberlippe der Frau, ohne sie zu berühren. »Sie atmet«, sagte er erleichtert. »Sie is’ nich’ tot.«

»Was meinste … Herrgott, Bubba, unter ihrem Kleid kommt Blut raus.«

Erschreckt zog Bubba sich mit einem Satz zurück. Sein Bruder Luke hatte recht. Eine dünne Blutspur sickerte unter dem Saum ihres Kleides hervor. Sie hatte keine Strümpfe an, und das rissige Leder ihrer Schuhe wies Löcher auf. Die Schnürsenkel waren an mehreren Stellen zusammengeknotet.

»Meinste, sie is’ erschossen worden oder so? Vielleicht sollten wir gucken …«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bubba ungeduldig. »Halt deinen verdammten Mund.«

»Wenn du fluchst, sag’ ich’s Mama.«

»Sei still!« Bubba starrte seinen jüngeren Bruder an. »Sonst sag’ ich ihr, dass du in das Waschwasser von der alten Watkins gepinkelt hast, weil sie mit dir geschimpft hat wegen deinem Lärm im Lager.« Luke war eingeschüchtert wie beabsichtigt, und Bubba wandte sich wieder der Daliegenden zu. Zögernd und ohne sich noch vorstellen zu können, dass er heute Morgen hatte wirklich jagen gehen wollen, hob er den rattenbraunen Saum ihres Kleides weiter. »Teufel auch!«, kreischte er, ließ den Rock los und sprang auf. Unglücklicherweise fiel der schmutzige Stoff nicht mehr so weit zurück, dass er das tote Wesen bedeckt hätte, das zwischen den schlanken Beinen der Frau lag. Die beiden Jungen starrten voller Entsetzen das tote Baby an. Aus Lukes Kehle kam ein seltsames Geräusch.

»Musst du kotzen?«, fragte Bubba.

»Nein.« Luke schluckte schwer. »Ich glaub’ nich’«, fügte er dann unsicher hinzu.

»Geh und hol Ma. Und Pa auch. Er muss sie in den Wagen tragen. Findest du den Weg?«

»Klar«, erwiderte Luke erhaben.

»Dann los. Sonst stirbt sie womöglich doch noch.«

Luke legte den Kopf zur Seite und betrachtete das bleiche Gesicht der jungen Frau. »Sie sieht eigentlich ganz nett aus. Fasst du sie an, wenn ich weg bin?«

»Hau ab!«, schrie Bubba und machte einen drohenden Schritt auf seinen Bruder zu.

Luke machte sich lärmend auf den Weg durch den Wald, bis er weit genug weg war, um zurückzurufen: »Ich werd’s schon merken, wenn du nach was guckst, was du nich’ darfst. Und dann sag’ ich’s Ma.«

Bubba Langston hob einen Kiefernzapfen auf und warf ihn nach seinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der eilig das Weite suchte. Als er außer Sicht war, kniete Bubba sich wieder neben die junge Frau. Er biss sich auf die Unterlippe und schaute noch einmal nach dem toten Baby. Dann griff er mit spitzen Fingern nach dem Saum ihres Kleides und zog es über die winzige Leiche.

Schweißperlen standen auf seiner Stirn, aber er fühlte sich besser, als er nichts mehr sehen konnte.

»Lady«, flüsterte er leise. »He, Lady, könnt Ihr mich hören?« Ängstlich stupste er sie an die Schulter. Sie stöhnte und warf den Kopf zur einen, dann wieder zur anderen Seite.

Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Haarpracht an einem Menschen gesehen. Selbst gespickt mit Zweigen und nass vom Regen war ihr Haar wirklich hübsch, lockig und irgendwie wild. Auch eine solche Farbe war ihm noch nie begegnet. Weder richtig rot noch richtig braun, sondern irgendwie dazwischen.

Er nahm die Feldflasche ab, die er an einem Lederband um den Hals trug und öffnete sie. »Lady, möchtet Ihr was trinken?« Tapfer drückte er die Metallöffnung an ihre bewegungslosen Lippen und goss ein wenig darüber. Ihre Zunge kam hervor und leckte etwas von dem Wasser auf.

Bubba sah fasziniert zu, wie sich ihre Augen zögernd öffneten und vage umherschweiften. Die junge Frau sah einen etwa sechzehnjährigen Jungen besorgt über sich gebeugt. Er war so flachsblond, dass er fast weiß wirkte. War er ein Engel? War sie im Himmel? Wenn ja, hatte er enttäuschend viel Ähnlichkeit mit der Erde. Dieselben Wolken, dieselben Bäume, dieselbe regenschwere Düsternis. Derselbe Schmerz zwischen den Schenkeln. Sie war noch nicht tot! Nein, nein, Junge, geh weg. Ich will sterben. Sie schloss die Augen wieder, und es wurde dunkel um sie.

Voller Angst um das aushauchende Leben dort und verzweifelt in seiner Hilflosigkeit sank Bubba unter einem Baum auf den feuchten Boden. Sein Blick blieb fest auf ihrem Gesicht, bis er Ma und Pa durch das dichte Unterholz stapfen hörte, das angesichts des üppigen Blätterwerks des Frühsommers kaum zu durchdringen war.

»Was hat Luke da über ein Mädchen gefaselt, Sohn?«, fragte Zeke Langston seinen Ältesten.

»Ich hab’s euch doch gesagt, Ma, Pa«, ertönte eifrig Lukes Stimme, und er streckte einen Zeigefinger vor. »Da ist sie.«

»Geht mir aus dem Weg, ihr alle drei, damit ich mich um die Arme kümmern kann.« Ma schob die Männer ungeduldig beiseite und hockte sich schwer neben das junge Ding. Zuerst wischte sie ihr das triefende Haar von den blutleeren Wangen. »Die ist ja richtig hübsch, was? Ich frag’ mich wirklich, was die hier macht, zum Kuckuck.«

»Da is’ noch ein Baby, Ma.«

Ma Langston sah zu Bubba auf, dann zu ihrem Mann und machte ihm ein Zeichen, er solle die Jungen außer Sicht schaffen. Als sie sich umgedreht hatten, hob Ma das Kleid und legte dem Mädchen den Saum in den Schoß. Sie hatte schon Schlimmeres gesehen, aber der Anblick hier war auch ziemlich übel. »Mein Gott noch mal«, murmelte sie. »Zeke, du musst mir helfen. Ihr Jungens könnt schon mal vorausrennen zum Wagen und Anabeth sagen, sie soll ein gutes Lager richten. Und dann macht Feuer, und setzt einen Kessel mit Wasser zum Kochen auf.«

Enttäuscht, dass sie den interessanten Teil des Abenteuers versäumen würden, protestierten sie einstimmig. »Aber Ma …«

»Marsch, sage ich!« Da sie beide nicht den Zorn ihrer Mutter erregen wollten, den sie gelegentlich im Zischen eines Gürtels zu spüren bekamen, trollten sie sich in Richtung auf den Wagenzug, der heute auf seiner Reise zur Feier des Sonntags eine Pause einlegte.

»Der geht’s ziemlich schlecht, wie?«, fragte Zeke, als er sich neben seine Frau hockte.

»Jawoll. Als Erstes muss ich mal die Nachgeburt rausholen. Vielleicht stirbt sie sowieso am Kindbettfieber.«

Schweigend machten sie sich mit der Bewusstlosen an die Arbeit. »Wo soll das hin, Ma?«, fragte Zeke schließlich und hielt das Bündel hoch, in das er das tote Kind zusammen mit der Nachgeburt verschnürt hatte.

»Begrab es. Wahrscheinlich wird sie ein paar Tage lang nicht aufstehen können. Also mach ein Zeichen an die Stelle, damit sie sie wiederfinden kann, wenn sie will.«

»Ich leg’ einen Felsbrocken darauf, damit die Tiere sich nicht dran vergreifen«, sagte Zeke ernst und begann mit dem kleinen Spaten, den er mitgebracht hatte, eine Grube auszuheben. »Wie geht’s dem Mädchen?«, fragte er, als er fertig war, und wischte sich die Hände an einem großen Taschentuch ab.

»Sie blutet noch, aber ich hab’ sie gut eingepackt. Hier können wir jetzt nichts mehr machen. Schaffst du es, sie zu tragen?«

»Wenn du mir hilfst beim Hochheben.«

Das junge Mädchen kam zu sich und wehrte sich matt, als Zeke sie unter den Kniekehlen und am Rücken hochhob bis zu seiner mageren Brust. Dann fielen ihre schlanken Arme herunter, und sie war wieder leblos. Ihre Kehle wölbte sich nach oben, als ihr Kopf über seinen Arm nach hinten fiel.

»Die hat ja wirklich lustige Haare«, sagte Zeke nicht unfreundlich.

»So ’ne Farbe hab’ ich noch nie gesehn«, erwiderte Ma abwesend und hob die Sachen auf, die sie mitgebracht hatten. »Wir sollten uns jetzt beeilen. Es fängt wieder an zu regnen.«

Die Wunde zwischen ihren Beinen brannte. Ihre Kehle war wund und kratzte. Sämtliche Knochen taten ihr weh, und sie glühte. Trotzdem fühlte sie sich geborgen in der Trockenheit und Wärme hier. Hatte sie es schließlich doch noch in den Himmel geschafft? Hatte der blondschopfige Junge sie in Ruhe sterben lassen? War ihr deswegen so sicher und friedlich zumute? Aber im Himmel sollte es doch keinen Schmerz geben, und sie hatte Schmerzen.

Mühselig öffnete sie die Augen. Eine Decke aus weißem Segeltuch wölbte sich über ihr. Auf einer Kiste neben dem Lager, auf dem sie lag, brannte schwach eine Laterne. Sie streckte die Beine aus, soweit es der Schmerz dazwischen erlaubte, und machte sich mit dem weichen Bett vertraut. Ihre Füße und Beine waren nackt, aber man hatte ihr ein weißes Nachthemd angezogen. Unruhig bewegten sich ihre Hände über ihren Körper, und irgendetwas kam ihr seltsam vor. Dann wurde ihr plötzlich klar, dass ihr Bauch wieder flach war.

Und dann schlug eine Welle schrecklicher Erinnerungen über ihr zusammen. Die Angst, der Schmerz, das Grauen, als sie das tote Kind blau und kalt zwischen ihren Beinen liegen sah. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Na, na, Ihr werdet doch nicht gleich wieder anfangen zu weinen, oder? Das habt Ihr in den letzten Stunden schon im Schlaf reichlich erledigt.«

Die Finger, die ihr die Tränen von der Wange wischten, waren kräftig, rau von harter Arbeit und rot im weichen Licht der Lampe, aber sie fühlten sich gut an auf dem Gesicht. Auch die Stimme fühlte sich gut an, die voller sanfter Besorgnis war. »Hier, wollt Ihr nicht etwas von der Brühe? Hab’ ich aus einem von den Kaninchen gemacht, die die Jungens heute Morgen geschossen haben, bevor sie Euch fanden.« Die Frau steckte der jungen Frau einen Löffel in den Mund, und sie schluckte notgedrungen. Die Brühe schmeckte gut. Sie war hungrig.

»Wo bin ich?«, fragte sie zwischen zwei Löffeln Suppe.

»In unserem Planwagen. Ich bin Ma Langston. Meine Jungen haben Euch gefunden. Erinnert Ihr Euch noch daran? Ihr habt ihnen mächtig Angst eingejagt.« Sie kicherte. »Luke hat die Geschichte mittlerweile dem ganzen Wagenzug erzählt. Hab’ ich schon gesagt, dass wir in einem Treck auf dem Weg nach Texas sind?«

Das war zu viel Information, um sie auf einmal zu verarbeiten, also konzentrierte sich die junge Frau darauf, die Suppe zu schlucken. Sie wärmte angenehm ihren Magen und steigerte das Empfinden von Behagen und Sicherheit. Sie war schon seit Wochen auf der Flucht gewesen und hatte so viel Angst davor gehabt, verfolgt zu werden, dass sie sich nie um Unterkunft bemüht, sondern immer unter freiem Himmel geschlafen und sich von dem ernährt hatte, was sie draußen auflas.

Das derbe Gesicht, das auf sie herabsah, war ernst, aber auch mütterlich. Es machte den Eindruck, als könne man in einem Streit gegen diese Frau nur unterliegen und gleichzeitig kein unfreundliches Wort von ihr zu hören bekommen. Dünnes mausgraues, ehemals braunes Haar bildete in ihrem Nacken einen struppigen Knoten. Sie war eine massige Frau, und ihr enormer Busen hing schwer bis zu ihrer fülligen Taille, was alles in einem überaus schlichten Baumwollkleid verschwand. Ihr Gesicht war von feinen Fältchen durchzogen, doch ihre runden Wangen schmückte ein Rosa wie bei einem Mädchen. Offensichtlich hatte ein wohlwollender Gott seine Schöpfung hier für zu herb befunden und ihr zum Ausgleich diese rosigen Bäckchen aufgemalt.

»Genug?« Das junge Mädchen nickte. Die Frau stellte die Schüssel mit der Brühe weg. »Ich wüsste gern Euren Namen«, sagte sie mit weicher Stimme, als spüre sie, dass das Thema auf Ablehnung stoßen konnte.

»Lydia.«

Die Augenbrauen der Älteren hoben sich fragend. »Das ist ein hübscher Name, aber ein bisschen wenig. Habt Ihr sonst keinen? Gehört Ihr zu niemandem?«

Lydia wandte den Kopf ab. Sie stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor, an welches sie sich aus ihrer frühen Kindheit erinnerte: schön und jung, nicht das bleiche, leere Gesicht einer Frau, die aus Verzweiflung starb. »Nur Lydia«, sagte sie ruhig. »Ich habe keine Familie.«

Ma ließ das auf sich wirken. Sie nahm die Hand des jungen Mädchens und schüttelte sie sanft. Als die hellbraunen Augen sie wieder ansahen, meinte sie leise: »Ihr habt ein Kind geboren, Lydia. Wo ist Euer Mann?«

»Tot.«

»O weh! Das ist ja furchtbar.«

»Nein. Ich bin froh, dass er tot ist.«

Ma erschrak, war aber zu höflich und besorgt um den Zustand der jungen Frau, um sie weiter auszufragen. »Was habt Ihr denn da draußen im Wald so allein gemacht? Wo wolltet Ihr hin?«

Lydias schmale Schultern hoben sich zu einem nachlässigen Schulterzucken. »Nirgendwohin. Egal wohin. Ich wollte nicht mehr leben.«

»Unsinn! Das lasse ich nicht zu. Ihr seid zu hübsch zum Sterben.« Ma strich rau die Decke über dem zerbrechlichen Körper glatt, um das plötzliche Gefühl zu verbergen, das sie für das fremde Mädchen empfand.

Ma hatte Mitleid mit ihr. In ihrem bleichen, verscheuchten Gesicht stand eine Tragödie geschrieben. »Wir, also Pa und ich, haben Euren kleinen Jungen im Wald begraben.« Lydias Augen schlossen sich. Ein Junge. Das war ihr bei dem kurzen Blick auf ihr Kind nicht einmal aufgefallen. »Wenn Ihr wollt, bleiben wir noch ein paar Tage hier, wenn der Treck weiterzieht; dann könnt Ihr zum Grab gehen, sobald Ihr Euch besser fühlt.«

Wild schüttelte Lydia den Kopf. »Nein. Ich will es nicht sehen.« Tränen drangen unter ihren Lidern hervor.

Ma tätschelte ihre Hand. »Ich weiß, wie Ihr Euch fühlt, Lydia. Ich hab’ sieben Kinder und zwei wieder hergeben müssen. Das ist das Härteste im Leben einer Frau.«

Nein, ist es nicht, dachte Lydia bei sich. Es gibt noch viel schlimmere Sachen, die eine Frau manchmal tun muss.

»Ihr schlaft jetzt noch etwas. Leider habt Ihr Euch da draußen im Wald erkältet. Ich bleibe bei Euch.«

Lydia sah in das mitfühlende Gesicht der Frau. Noch konnte sie nicht lächeln, aber ihre Augen leuchteten auf. »Danke.«

»Wenn es Euch erst wieder gut geht, habt Ihr noch genug Gelegenheit, mir zu danken.«

»Ich kann nicht bei Euch bleiben. Ich muss … fort.«

»Es wird schon noch eine Weile dauern, bis Ihr wieder weiterkönnt. Bleibt einfach, solange Ihr es bei uns aushaltet – wenn Ihr wollt, bis Texas.«

Lydia machte Anstalten zu widersprechen. Sie war keine Frau, die mit so anständigen Menschen leben sollte. Wenn sie mehr über sie wüssten, über … Ihre Augen fielen zu, und sie schlief ein.

Seine Hände waren wieder überall, auf ihrem ganzen Körper. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, und seine Pranke drückte sich salzig und schmierig darauf. Die andere zerrte an ihrem Hemd, bis es aufriss. Diese verhasste, klamme Hand drückte ihre Brüste. Sie biss in seine fleischige Handfläche und bekam zur Strafe eine schallende Ohrfeige, die einen pochenden Schmerz in ihrem Unterkiefer zurückließ.

»Wehr dich bloß nicht, sonst sag’ ich deiner zimperlichen Mama, was wir so machen. Du willst doch nicht, dass sie das erfährt, oder? Das würde ihr bestimmt den Rest geben. Ich schätze, wenn sie wüsste, dass ich dich bumse, würde sie das glatt umbringen.«

Nein, Lydia wollte nicht, dass ihre Mutter davon erfuhr. Aber wie konnte sie ertragen, sich noch einmal so von ihm behandeln zu lassen? Er rieb schon wieder sein Becken heftig an ihrem Oberschenkel, zwang sie, die Beine zu öffnen. Seine Finger stocherten schmerzhaft in ihr herum, und wieder bohrte sich dieses verhasste Ding in ihr Inneres. Als sie ihm das Gesicht mit den Nägeln zerkratzte, lachte er und versuchte, sie zu küssen. »Ich mag’s gern rau, du kannst es dir aussuchen«, höhnte er.

Sie wehrte sich. »Nein, nein«, schluchzte sie. »Zieh es raus! Nein, nein, nein …«

»Was ist, Lydia? Wacht schnell auf, es ist nur ein böser Traum.«

Die tröstende Stimme zog sie aus der Höllentiefe ihres Albtraums wieder ans Licht in die weiche Bequemlichkeit von Langstons Planwagen. Der Schmerz kam nicht von Clanceys Vergewaltigung, sondern war eine Folge der Geburt eines Kindes. O Gott, wie sollte sie mit den Erinnerungen an seine Misshandlungen leben? Sie hatte ein Kind bekommen aus seinem abscheulichen Samen und konnte einfach diese Welt nicht mehr ertragen.

Ma Langston dachte da anders. Als sich die junge Frau in der Angst des Albtraums an ihren Ärmel klammerte, drückte die Ältere Lydias Kopf an ihren umfangreichen Busen und murmelte leise Trostworte. »Es war nur ein Traum. Ihr habt etwas Fieber, und da kommen die Gespenster, aber solange Ihr hier bei mir seid, wird Euch bestimmt nichts zustoßen.«

Lydias Entsetzen verebbte. Clancey war tot. Sie hatte ihn tot daliegen sehen, hatte gesehen, wie das Blut in Strömen aus seinem Kopf floss und sein hässliches Gesicht bedeckte. Er konnte ihr nichts mehr tun.

Dankbar ließ sie ihren Kopf schwer an Mas Brust sinken. Als sie beinah wieder einschlief, legte Ma sie zurück auf das klumpige Kissen, das Lydia so herrlich wie mit Daunen gefüllt erschien. In den letzten Monaten hatte sie nur auf Tannennadeln oder Heu geschlafen. Manche Nächte war ihr das Glück weniger hold gewesen, da musste sie zum Verweilen mit einem Baumstamm vorliebnehmen.

Süßes, schwarzes Vergessen senkte sich wieder über sie, während Ma bei ihr sitzen blieb und ihre Hand hielt.

Lydia erwachte am nächsten Morgen durch das Schwanken des fahrenden Wagens. Kochtöpfe rasselten ständig durch das Rumpeln der Räder. Das Ledergeschirr der Pferde knarrte, und die metallenen Ringe daran klingelten fröhlich. Ma rief den beiden Zugpferden Anweisungen zu und ergänzte den Befehl mit einem Peitschenknallen. In fast demselben Ton führte sie auch ein lebhaftes Gespräch mit einem ihrer Sprösslinge. Ihre Stimme klang gleichzeitig ermahnend und empfehlend. Lydia rückte auf ihrem Lager schlaftrunken zur Seite und wandte etwas den Kopf. Ein weißblondes Mädchen mit neugierigen blauen Augen saß neben ihr und sah auf sie hinab.

»Ma, sie ist wach«, rief sie, und Lydia fuhr zusammen angesichts des plötzlichen Lärms.

»Tu, was ich dir gesagt hab«, rief Ma von vorn in den Wagen hinein. »Wir können jetzt nicht anhalten.«

Das Mädchen sah die erschreckte Lydia wieder an. »Ich bin Anabeth.«

»Ich bin Lydia«, gab sie heiser zurück. Ihre Kehle fühlte sich an wie Bimsstein.

»Weiß schon. Ma hat es uns beim Frühstück erzählt und gesagt, wir dürfen nicht mehr ›die Frau‹ zu Euch sagen, sonst würde sie uns eine Backpfeife geben. Habt Ihr Hunger?«

Lydia überlegte sich die Antwort gut. »Nein, Durst.«

»Ma hat gesagt, Ihr würdet bestimmt wegen des Fiebers Durst haben. Ich hab’ eine Kanne mit Wasser und eine mit Tee.«

»Erst Wasser.« Lydia trank in tiefen Zügen. Sie war erstaunt, wie viel Energie sie dazu brauchte, und legte sich schwach wieder hin. »Vielleicht später etwas Tee.«

Das Leben und die dazugehörigen Funktionen ihres Körpers waren für die Langstons selbstverständlich. Lydia genierte sich sehr, als Anabeth ihr eine Schüssel unter die Hüften schob, damit sie sich erleichtern konnte; aber das Mädchen blieb freundlich und sachlich und schüttete mit der größten Selbstverständlichkeit die Schüssel am hinteren Ende des Wagens aus.

Während der Mittagspause, als der Wagenzug anhielt, damit Menschen und Tiere ausruhen konnten, kletterte Ma herein, um die Vorlage zu wechseln, die sie zwischen Lydias Schenkel gelegt hatte.

»Die Blutung ist nicht schlimm. Eure weiblichen Teile sehen aus, als wenn sie prima heilen würden, auch wenn Ihr Euch noch ein paar Tage wund fühlen werdet.«

Mas Offenheit wirkte überhaupt nicht grob, auch wenn es Lydia immer noch peinlich war, sich an dieser Stelle betrachten zu lassen. Sie wunderte sich, dass sie überhaupt noch Schamgefühle besaß, wenn sie bedachte, wo sie die letzten zehn Jahre verbracht hatte. Ihre Mutter musste ihr wohl Anstand beigebracht haben, bevor sie auf die Farm der Russells zogen. Die waren da nämlich anders. Aber wer hätte schon ein schmutziges, abgerissenes, barfüßiges Mädchen ernst genommen? Sie hatte genauso ausgesehen wie die Russells, also wurde sie auch mit denen in einen Topf geworfen.

Aber offensichtlich gab es Menschen, die mit ihrem Urteil über andere nicht so schnell bei der Hand waren. Zum Beispiel die Langstons. Ihnen hatten ihre schmutzigen, abgerissenen Kleider nichts ausgemacht. Sie verachteten sie nicht, weil sie ein Baby bekommen hatte ohne einen Ehemann. Sie behandelten sie wie eine anständige Frau.

Aber sie fühlte sich nicht anständig, auch wenn sie das mehr als alles auf der Welt gern sein wollte. Wahrscheinlich würde es Jahre dauern, den Makel loszuwerden, den die Russells ihr aufgeprägt hatten – doch selbst wenn sie dafür ihr Leben opfern musste, wollte sie sich von ihm befreien.

Im Laufe des Tages begegnete sie der Reihe nach auch den restlichen Mitgliedern des Langston-Clans. Die beiden Jungen, die sie gefunden hatten, steckten scheu die Köpfe in den Wagen, als ihre Mutter sie ihr vorstellte. »Das da ist mein Ältester, Jakob; aber alle nennen ihn Bubba. Der andere heißt Luke.«

»Danke, dass ihr mir geholfen habt«, flüsterte Lydia. Sie nahm es ihnen nicht mehr übel, dass sie ihr das Leben gerettet hatten. Jetzt, wo Clancey allmählich aus ihrem Bewusstsein verschwand, schien alles nicht mehr ganz so schrecklich.

Die beiden hellblonden Jungen erröteten bis zum Haaransatz und murmelten »gern geschehen«.

Anabeth war eine gesellige, lebhafte Zwölfjährige. Dann gab es noch Marynell, Samuel und Atlanta mit jeweils einem Jahr Altersunterschied. Der Kleinste, Micha, war ein pummeliger Dreijähriger.

Zeke riss sich den Hut von seinem bereits kahl werdenden Kopf, als er spät am Abend von hinten in den Wagen sah. »Freut mich, Euch hier zu haben, Miss … äh … Lydia.« Er lächelte, und Lydia bemerkte, dass er nur zwei Zähne vorn im Mund hatte.

»Es tut mir leid, dass ich Euch so viel Mühe mache.«

»Ist nicht der Rede wert«, winkte er ab.

»Ich werde mich so bald wie möglich wieder auf den Weg machen.« Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen oder was sie tun sollte, doch durfte sie sich dieser freundlichen Familie nicht unnötig aufdrängen, in der es sowieso schon so viele Mäuler zu stopfen gab.

»Na, also darüber macht Euch mal keine Gedanken. Werdet zuerst wieder gesund, dann finden wir schon ’ne Lösung.«

Alle Langstons stimmten in dieser Angelegenheit überein. Doch Lydia dachte voller Sorgen an die anderen Leute des Trecks. Sicherlich hatte es Tratsch gegeben wegen des Mädchens, das hier in der Wildnis und ohne Mann ein totes Kind geboren hatte und jetzt mitfuhr. Ma hatte sich geweigert, auch die allerfreundlichsten Besucher hereinzulassen, die kamen, um nach dem »armen unglücklichen jungen Mädchen« zu sehen; standhaft blieb sie bei ihrer Auskunft, dass sie wohl durchkommen würde und es später noch genug Gelegenheit gäbe zum Kennenlernen.

Lydias erste Begegnung mit einem Außenstehenden ereignete sich, als mitten in der Nacht jemand hinten an den Wagen klopfte. Sie setzte sich mit einem Ruck auf und drückte ihre Decke an die Brust in der festen Überzeugung, dass Clancey von den Toten auferstanden war, um sie zu holen.

»Immer mit der Ruhe, Lydia«, sagte Ma und schob sie zurück auf die Kissen.

»Ma Langston!«, rief die ungeduldige Stimme eines Mannes. Eine schwere Faust pochte an die hintere Klappe. »Ma, bitte, seid Ihr da drin?«

»Höllenfeuer und Verdammnis, weshalb das Geschrei?«, hörte Lydia Zeke von außen vor dem Wagen sagen. Er und die Jungen schliefen auf den Lagern unter dem Wagen.

»Zeke, Victoria hat Wehen bekommen. Ob Ma wohl zu ihr kommen könnte?« Die Stimme klang tief, belegt und voller Angst. »Sie fühlt sich schon seit dem Abendessen nicht gut. Und ich bin sicher, dass es Wehen sind und nicht nur Verdauungsprobleme.«

Inzwischen war Ma ans Ende des Wagens gekrochen und hatte die Plane beiseitegeschoben. »Mr. Coleman? Seid Ihr das? Eure Frau hat Wehen, sagt Ihr? Ich dachte, sie wäre noch gar nicht so weit …«

»Ich auch. Sie …« Lydia hörte die Erschütterung in der Stimme des Mannes. »Sie leidet Qualen. Werdet Ihr kommen?«

»Bin schon unterwegs.« Ma drehte sich um und fuhr hastig in ihre Stiefel. »Schlaft Ihr ruhig weiter«, beschwichtigte sie Lydia trotz ihrer Eile. »Anabeth bleibt hier und kommt mich schnell holen, wenn Ihr mich braucht.« Sie legte sich ein gehäkeltes Umschlagtuch um die Schultern. »Sieht ganz so aus, als wenn das nächste Baby auf dem Weg in die Welt wäre.«