Wie die nächste
digitale Revolution
unser aller Leben
verändern wird
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
The Second Machine Age
Von Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee
ISBN 978-0393239355
© Copyright der Originalausgabe:
Copyright © Erik Brynjolfsson and Andrew McAfee, 2014.
© Copyright der deutschen Ausgabe 2014:
Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Petra Pyka
Covergestaltung: Johanna Wack
Gestaltung und Satz: Jürgen Hetz, denksportler Grafikmanufaktur
Herstellung: Martina Köhler
Lektorat: Egbert Neumüller
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86470-211-2
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Für Martha Pavlakis, die Liebe meines Lebens.
Für meine Eltern, David McAfee und Nancy Haller,
die mich auf das zweite Maschinenzeitalter vorbereiteten,
indem sie mir die besten Voraussetzungen gaben,
die ein Mensch nur haben kann.
Vorwort
Kapitel 1 |
DIE GROSSEN EREIGNISSE |
Kapitel 2 |
WAS DIE NEUEN MASCHINEN ALLES KÖNNEN |
Kapitel 3 |
DAS MOORE’SCHE GESETZ UND DIE ZWEITE HÄLFTE DES SCHACHBRETTS |
Kapitel 4 |
DIE ALLUMFASSENDE DIGITALISIERUNG |
Kapitel 5 |
INNOVATION: NIMMT SIE AB ODER FORMIERT SIE SICH NEU? |
Kapitel 6 |
KÜNSTLICHE UND MENSCHLICHE INTELLIGENZ IM ZWEITEN MASCHINENZEITALTER |
Kapitel 7 |
DIE GANZE FÜLLE DER RECHNERLEISTUNG |
Kapitel 8 |
ÜBER DAS BRUTTOINLANDSPRODUKT HINAUS |
Kapitel 9 |
DAS GEFÄLLE |
Kapitel 10 |
DIE GRÖSSTEN GEWINNER: STARS UND SUPERSTARS |
Kapitel 11 |
DIE EFFEKTE VON WOHLSTAND UND GEFÄLLE |
Kapitel 12 |
WIE WIR MIT DEN MASCHINEN INS RENNEN GEHEN KÖNNEN: EMPFEHLUNGEN FÜR DEN EINZELNEN |
Kapitel 13 |
POLITISCHE EMPFEHLUNGEN |
Kapitel 14 |
LANGFRISTIGE EMPFEHLUNGEN |
Kapitel 15 |
DIE TECHNOLOGIE UND DIE ZUKUNFT |
Dank
Anmerkungen
Bildquellen
Die deutsche Version von „The Second Machine Age“ ist hochaktuell und umfasst alle Bereiche unserer Gesellschaft. Dabei sind
Kommentare wie „eine Revolution ist im Gange“ keineswegs zu kurz gegriffen.
Die Autoren beschreiben anschaulich die Entwicklung der ersten industriellen Revolution, für deren herausragende Technologie die Erfindung der Dampfkraft durch James Watt (1776) stand.
In dem dann folgenden ersten Maschinenzeitalter (1776-2000) war zum ersten Mal der Fortschritt durch eine technische Innovation bedingt. Die Fähigkeit, Energie in ungekannten Mengen zu erzeugen, überwand die Limitation der Muskelkraft von Mensch und Tier, und führte zur größten und raschesten Transformation in der Weltgeschichte.
Heute stehen wir mitten im Prozess der digitalen Revolution des zweiten Maschinenzeitalters im Zusammenspiel von Moore’s Law (alle 18 Monate verdoppelt sich die Rechnerkapazität der Computer – und das seit nahezu 50 Jahren – und es ist kein Ende in Sicht) mit der Digitalisierung der Welt. Eine Datenexplosion, die bereits im Jahr 2012 2,7 Trilliarden Byte umfasste und weiterhin exponentiell wächst. Big Data in seiner vielfältigsten Form steht erst am Anfang und von unzähligen Innovationen durch die Kombination der Möglichkeiten von Moore’s Law und der Digitalisierung zeichnen die Autoren die fundamentalen Kräfte des zweiten Maschinenzeitalters. Hier gibt es selbstfahrende Autos, denkende Maschinen, miteinander kommunizierende Geräte („Internet der Dinge“), Spracherkennungssysteme und unzählige Apps, die das Leben des Menschen bereichern. Wir können ständig messen, wie gesund wir essen, wie tief wir schlafen, permanent mit Freunden kommunizieren und auf unsere Besitztümer achten. Die Autoren zeigen, dass allein wegen der Zunahme der Rechenleistung alte Paradigmen wie Produktivitätsmaßstäbe und BIP-Definitionen neu gefasst werden müssen und dass durch die Erscheinungen des zweiten Maschinenzeitalters vermutlich die Kluft zwischen Begüterten und weniger Begüterten (im Wesentlichen definiert durch unterschiedliche Fähigkeiten) größer wird.
Auch die Entwicklung eines „Alles-oder-nichts“-Marktes in der digitalen Welt (dargestellt am Fall Kodak) ist eingängig beschrieben, wenngleich es dem Leser einen gelegentlichen Schauer über den Rücken jagt. Märkte, in denen einer alle Wertschöpfung gewinnt und alle anderen leer ausgehen, sind uns Kontinentaleuropäern fremd.
Im Politik-Teil des Buches folgen einige sinnvolle Empfehlungen für neu auszurichtende Bildung, Förderung der Start-up-Szene, Veränderung des Steuersystems und anderes mehr. Dieser Teil ist einfach zu lesen und dem Bestreben geschuldet, das zweite Maschinenzeitalter (in dem es durchaus mehr Arbeitslose geben und in dem Cyber-Crime völlig neue Bedrohungen bieten kann) als ein durchaus menschlich Erstrebenwertes zu zeichnen. Als deutscher Leser wird man allerdings häufig die Bedenken ob der „wunderbaren neuen digitalen Welt“ nicht los.
Es ist ein optimistisch geschriebenes Buch, das nahezu ausschließlich auf den US-Markt konzentriert ist und eine hervorragende Ansammlung der zeitgenössischen, überwiegend US-amerikanischen, volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen enthält. Das Buch zeigt auf, dass technologischer Fortschritt nicht durch staatliche Eingriffe gehemmt werden kann und dass er unser Leben und das unserer Kinder nachhaltig verändern wird. Wenngleich die deutsche Gesellschaft nur in Randnotizen erwähnt ist, müssen wir davon ausgehen, dass die geschilderten Entwicklungen auch uns mit großer Vehemenz treffen werden.
München, August 2014
Prof. Dr. Herbert Henzler
„Technologie ist ein Geschenk Gottes,
neben dem des Lebens vielleicht sein größtes.
Sie ist die Mutter von Zivilisation, Kunst und Wissenschaft.“
WAS SIND DIE WICHTIGSTEN Errungenschaften der Menschheitsgeschichte?
Wie jeder schnell merkt, der sich diese Frage stellt, ist sie nicht so leicht zu beantworten. Wann beginnt die „Menschheitsgeschichte“ eigentlich? Der anatomisch und verhaltensbiologisch moderne und sprachfähige Homo sapiens verbreitete sich aus seiner afrikanischen Heimat vor rund 60.000 Jahren.1 Etwa 25.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung 2 hatte er die Neandertaler und andere Hominiden ausgelöscht. Danach gab es für ihn keine Konkurrenz mehr durch andere aufrecht gehende Spezies mit großem Gehirn.
25.000 Jahre würden sich daher als Zeitspanne für die Rückverfolgung der großen Errungenschaften der Menschheit anbieten – wäre da nicht die entwicklungsverzögernde Eiszeit gewesen, die die Erde in dieser Zeit erlebte. 3 In seinem Buch „Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden“ zeichnet der Anthropologe Ian Morris den Entwicklungsverlauf der menschlichen Gesellschaft ab 14.000 vor unserer Zeitrechnung nach, als es auf der Welt spürbar wärmer wurde.
Schwer zu beantworten ist unsere Eingangsfrage aber auch deshalb, weil nicht von vornherein klar ist, welche Kriterien wir anlegen sollten: Welche Entwicklungen sind denn wirklich bedeutend? Die meisten von uns würden vermutlich sagen, ein Vorfall oder Schritt, der den Lauf der Welt verändert – der die Kurve der Menschheitsgeschichte umlenkt. Viele behaupten, die Domestizierung von Tieren habe das getan – als eine unserer frühesten maßgeblichen Leistungen.
Der Hund kann durchaus schon vor 14.000 vor unserer Zeitrechnung domestiziert worden sein, doch für das Pferd gilt das nicht. Erst 8.000 Jahre später sollten wir erstmals Pferde züchten und auf Koppeln halten. Auch das Rind war damals schon gezähmt (etwa 6.000 vor unserer Zeitrechnung) und Ochsen wurden vor den Pflug gespannt. Die Domestizierung von Arbeitstieren beschleunigte die Umstellung von der Nahrungssuche auf den Ackerbau, eine maßgebliche Entwicklung, die 8.000 vor unserer Zeitrechnung bereits im Gang war. 4
Die Landwirtschaft sicherte reiche und verlässliche Nahrungsquellen, was die Entstehung größerer menschlicher Ansiedlungen ermöglichte – und am Ende die Städte. Städte wiederum gaben verlockende Ziele für Plünderer und Eroberer ab. Auf der Liste wesentlicher menschlicher Entwicklungen sollten daher auch große Kriege stehen – und die Imperien, die dadurch entstanden. Solche Reiche – ob das der Mongolen, der Römer, der Araber oder der Osmanen, um nur vier zu nennen – gestalteten die Welt. Sie prägten Monarchien, Handel und Sitten über riesige Gebiete hinweg.
Es gibt aber natürlich auch bedeutsame Entwicklungen, die nichts mit Tieren, Pflanzen oder Kriegern zu tun haben – die Ideen nämlich. Der Philosoph Karl Jaspers stellt fest, dass Buddha (563 bis 483 vor unserer Zeitrechnung), Konfuzius (551 bis 479 vor unserer Zeitrechnung) und Sokrates (469 bis 399 vor unserer Zeitrechnung) zeitlich (wenn auch nicht örtlich) sehr nah beieinander lebten. Seiner Analyse zufolge sind diese Männer die wichtigsten Denker einer „Achsenzeit“, die von 800 bis 200 vor unserer Zeitrechnung andauerte. Jaspers bezeichnet diese Ära als „ein Aufatmen in das hellste Bewusstsein hinein“ und behauptet, dass die Philosophen jener Zeit den großen Zivilisationen transformative Geistesströmungen bescherten: der indischen, der chinesischen und der europäischen. 5
Buddha begründete außerdem eine der großen Weltreligionen, und billigerweise gehört die Etablierung der großen Glaubensrichtungen wie Hinduismus, Judentum, Christentum und Islam ebenfalls auf die Liste der wichtigen menschlichen Entwicklungen. Schließlich hat jede Religion das Leben und die Werte von vielen Millionen Menschen beeinflusst. 6
Viele Vorstellungen und Offenbarungen dieser Religionen verbreiteten sich durch das geschriebene Wort, das an sich schon eine grundlegende Innovation der Menschheitsgeschichte ist. Die Geister scheiden sich an der Frage, wann, wo und wie die Schrift erfunden wurde, doch wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sich dies gegen 3.200 vor unserer Zeitrechnung in Mesopotamien ereignet hat. Schriftzeichen, die das Zählen erleichtern sollten, gab es damals auch schon. Das Konzept der Null, das uns heute so selbstverständlich erscheint, jedoch noch nicht. Das moderne Zahlensystem, das wir als das arabische bezeichnen, entwickelte sich etwa im Jahr 830 unserer Zeitrechnung. 7
Die Liste wichtiger Entwicklungen ließe sich lange fortsetzen. Die Athener praktizierten rund 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung erstmals die Demokratie. Die Pest dezimierte die europäische Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts um mindestens 30 Prozent. Kolumbus besegelte 1492 die Meere und sorgte für erste Interaktionen zwischen der Neuen und der Alten Welt, die beide verändern sollten
Wie können wir uns nun Klarheit darüber verschaffen, welche dieser Entwicklungen die allerwichtigste ist? Für jeden der genannten Kandidaten gibt es leidenschaftliche Befürworter – Menschen, die vehement und überzeugend darlegen, warum eines dieser Phänomene alle anderen in den Schatten stellt. Morris stößt in „Wer regiert die Welt?“ eine grundlegendere Debatte an: ob es nämlich überhaupt sinnvoll oder legitim ist, menschheitsgeschichtliche Vorgänge und Entwicklungen einzuordnen beziehungsweise zu vergleichen. Viele Anthropologen und andere Sozialwissenschaftler stellen das in Abrede. Morris widerspricht, und sein Buch stellt den kühnen Versuch dar, die menschliche Entwicklung zu quantifizieren. Er schreibt: „Wenn man … das Meer der Fakten auf einfache numerische Werte reduziert, hat das seine Tücken, aber auch den einen großen Vorteil: In der Debatte um diese Werte sind alle Beteiligten gezwungen, sich auf dieselben Beweismittel einzulassen – mit erstaunlichen Resultaten.“ 8 Anders formuliert, wenn wir wissen wollen, welche Entwicklungen die Kurve der Menschheitsgeschichte umgelenkt haben, sollten wir zunächst versuchen, diese Kurve aufzuzeichnen.
Morris hat durchdacht und sorgfältig quantifiziert, was er als gesellschaftliche Entwicklung im zeitlichen Verlauf bezeichnet: die „Fähigkeit einer Gemeinschaft, mit sich und der Welt zurechtzukommen“.* Wie Morris anmerkt, sind die Ergebnisse überraschend, ja nachgerade erstaunlich. Sie zeigen, dass keine der bislang erörterten Entwicklungen eine große Rolle gespielt hat – zumindest nicht im Vergleich zu einer anderen, die der Kurve der Menschheitsgeschichte eine absolut beispiellose neue Richtung gegeben hat. Hier die grafische Darstellung der gesamten Weltbevölkerung im zeitlichen Verlauf in Gegenüberstellung zur sozialen Entwicklung. Wie Sie sehen, sind die beiden Linien nahezu identisch:
Abb. 1.1 In Zahlen ist die Menschheitsgeschichte größtenteils
langweilig.
Viele tausend Jahre tendierte die Kurve der menschlichen Entwicklung langsam aufwärts – quälend langsam, fast schon unmerklich. Tiere und Bauernhöfe, Kriege und Imperien, Philosophien und Religionen übten allesamt nur geringen Einfluss aus. Doch vor reichlich 200 Jahren ereignete sich plötzlich etwas Einschneidendes, das die Kurve der Menschheitsgeschichte – der Bevölkerung und ihrer sozialen Entwicklung – um fast 90 Grad knickte.
Was das war, ahnen Sie sicher schon. Schließlich handelt dieses Buch ja vom Einfluss der Technologie. Sie liegen also absolut richtig, wenn Sie annehmen, dass wir mit diesem Einstieg zeigen wollen, wie bedeutsam die technische Entwicklung ist. Der Knick, den die Kurve Ende des 18. Jahrhunderts verzeichnet, fällt mit einer Entwicklung zusammen, über die wir schon viel gehört haben: die industrielle Revolution, also das Zusammenspiel mehrerer nahezu zeitgleicher Entwicklungen im Maschinenbau, in der Chemie, in der Metallurgie und anderen Disziplinen. Wie Ihnen mittlerweile klar sein dürfte, sind es diese technischen Entwicklungen, die dem sprunghaften, nachhaltigen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung zugrunde liegen.
Dabei können wir sogar ganz genau sagen, welche Technik die wichtigste war – nämlich die Dampfmaschine, und zwar die von James Watt und seinen Kollegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte und verbesserte.
Vor Watt waren Dampfmaschinen äußerst ineffizient. Sie schöpften nur rund ein Prozent der von der verbrannten Kohle freigesetzten Energie ab. Watts brillante Spielereien zwischen 1765 und 1776 steigerten diesen Wert um mehr als das Dreifache.9 Wie Morris schreibt, hatte das die entscheidende Wirkung: „Obwohl … [die Dampf-] Revolution mehrere Jahrzehnte benötigte, um sich zu entfalten …, war es dennoch die größte und schnellste Transformation der gesamten Weltgeschichte.“ 10
Die industrielle Revolution ist natürlich nicht allein die Geschichte der Dampfkraft, doch mit Dampf fing alles an. Mehr als je zuvor konnten wir die Grenzen menschlicher und tierischer Muskelkraft überwinden und nach Belieben enorme Mengen nutzbarer Energie erzeugen. Das ermöglichte Fabriken und Massenproduktion, Eisenbahnen und Massentransport – in anderen Worten, das moderne Leben. Die industrielle Revolution läutete das erste Maschinenzeitalter der Menschheit ein. Zum ersten Mal beruhte unsere Weiterentwicklung vor allem anderen auf technischer Innovation. Und in diese Zeit fielen die am tiefsten greifenden Umwälzungen, die die Welt je erlebt hat.** Die Fähigkeit, enorme mechanische Kraft zu erzeugen, war so bedeutsam, dass, wie Morris es formulierte, „alle Triumphe und Tragödien … zur Bedeutungslosigkeit zusammen[schrumpften].“ 11
Nun bricht das zweite Maschinenzeitalter an. Computer und andere digitale Errungenschaften haben auf unsere geistigen Kräfte – die Fähigkeit, mithilfe unseres Gehirns unsere Umwelt zu verstehen und zu gestalten – die gleiche Wirkung wie die Dampfmaschine und ihre Ableger auf die Muskelkraft. Sie ermöglichen uns, frühere Einschränkungen zu überwinden, und führen uns auf Neuland. Wie genau sich diese Umwälzung vollziehen wird, liegt noch im Dunklen, doch ob das neue Maschinenzeitalter die Kurve ebenso drastisch verformt wie Watts Dampfmaschine oder nicht, eine große Sache ist sie allemal. Inwiefern und warum, erklärt Ihnen dieses Buch.
Abb. 1.2: Was knickte die Kurve der Menschheitsgeschichte? Die industrielle Revolution.
Um es vorab schon auf den Punkt zu bringen: Die Geisteskraft ist für Fortschritt und Entwicklung – für unsere physische und intellektuelle Fähigkeit, mit uns und der Welt erfolgreich zurechtzukommen – mindestens ebenso wichtig wie die physische Kraft. Ein so kräftiger und ungekannter Impuls für die Geisteskraft sollte der Menschheit daher einen enormen Schub verleihen – genauso wie früher einmal ihr physisches Pendant.
Wir haben dieses Buch im Grunde aus Verwirrung geschrieben. Jahrelang haben wir uns mit den Auswirkungen digitaler Technik wie Rechnern, Software und Kommunikationsnetzen in der Überzeugung beschäftigt, ihre Möglichkeiten und Grenzen einigermaßen zu durchblicken. Doch in den letzten Jahren sind wir immer wieder überrascht worden. Die ersten Computer stellten Diagnosen für Krankheiten, hörten und sprachen und verfassten lesbare Prosa, während Roboter durch Lagerhäuser schwirrten und Autos mit minimaler oder ganz ohne Einmischung des Fahrers unterwegs waren. Die digitale Technik war in vielen dieser Disziplinen lange Zeit geradezu lachhaft unzulänglich gewesen – und plötzlich war sie richtig gut. Wie kam das? Und was bedeutete dieser so erstaunliche Fortschritt, der gleichzeitig als so selbstverständlich aufgefasst wurde?
Wir beschlossen, gemeinsam zu versuchen, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Wir fingen so an, wie es die meisten Wirtschaftswissenschaftler tun: Wir lasen jede Menge Abhandlungen und Bücher, analysierten Daten und diskutierten Ideen und Hypothesen. Das war notwendig und sinnvoll, doch dazugelernt haben wir erst, als wir unseren Elfenbeinturm verließen – und da wurde es richtig spannend. Wir sprachen mit Erfindern, Investoren, Unternehmern, Ingenieuren, Wissenschaftlern und vielen anderen, die Technologien entwickeln und einsetzen.
Ihrer Offenheit und Großzügigkeit verdanken wir diverse futuristische Erfahrungen im unglaublichen Umfeld der digitalen Innovation von heute. Wir sind in einem fahrerlosen Auto gefahren, haben zugeschaut, wie ein Computer Mannschaften aus Harvard- und MIT-Studenten bei Jeopardy! schlug, haben einen Industrieroboter trainiert, indem wir ihn buchstäblich bei der Hand nahmen und durch eine Reihe von Schritten führten, hatten eine wunderschöne Metallschale in der Hand, die von einem 3D-Drucker hergestellt worden war, und erlebten zahllose weitere atemberaubende Begegnungen mit Technologie.
Durch diese Aktivitäten gelangten wir zu drei übergreifenden Schlussfolgerungen.
Erstens leben wir in einer Zeit des verblüffenden Fortschritts digitaler Technologien – also solcher, die im Kern auf Hardware, Software und Netzwerken beruhen. Diese Technologien sind keinesfalls neu. Unternehmen kaufen bereits seit über 50 Jahren Computer, und die Zeitschrift Time erklärte den PC schon 1982 zur „Maschine des Jahres“. Doch ebenso wie die Dampfmaschine erst nach Generationen so weit war, dass sie die industrielle Revolution auslösen konnte, brauchten auch unsere digitalen Maschinen Zeit, um sich weiterzuentwickeln.
Wir zeigen auf, warum und wie zuletzt die ganze Leistungsfähigkeit dieser Technik freigesetzt wurde, und geben Beispiele für ihre Möglichkeiten. „Ganz“ bedeutet wohlgemerkt nicht „ausgereift“. Computer werden sich weiter verbessern und Neues, nie Dagewesenes vollbringen. Mit der „ganzen Leistungsfähigkeit“ meinen wir lediglich, dass die wesentlichen Bausteine gelegt sind – dafür nämlich, dass digitale Technik für Gesellschaft und Wirtschaft ebenso bedeutsam und revolutionär wird wie die Dampfmaschine. Kurz, durch die Computer stehen wir an einem Wendepunkt – einem Punkt, an dem die Kurve einen starken Knick bekommt. Wir treten ein in ein neues Maschinenzeitalter.
Zweitens sind wir überzeugt, dass der von der Digitaltechnik herbeigeführte Wandel durch und durch positiv ist. Für uns bricht eine Ära an, die nicht nur anders wird: Sie wird besser, weil wir neben der Vielfalt auch das Volumen unseres Konsums steigern können. So formuliert – im spröden Jargon der Wirtschaftswissenschaftler – klingt das wenig einladend. Wer will denn schon immer mehr konsumieren? Dabei „konsumieren“ wir ja auch Informationen aus Büchern und von Freunden, Unterhaltung durch Superstars und Amateure, Erkenntnisse von Lehrern und Akademikern und zahllose andere immaterielle Dinge. Technik kann uns diesbezüglich größere Auswahl und mehr Freiheit bringen.
Werden diese Dinge digitalisiert – in Bits verwandelt, die auf einem Rechner gespeichert und über ein Netz versendet werden können –, erhalten sie diverse eigenartige und wundersame Eigenschaften. Sie unterliegen anderen wirtschaftlichen Grundsätzen, unter denen der Überfluss die Norm ist, nicht der Mangel. Wie wir aufzeigen werden, sind digitale Güter anders als physische, und dieser Unterschied ist von großer Bedeutung.
Natürlich sind physische Güter nach wie vor wesentlich. Die meisten von uns hätten gern mehr davon, in größerer Auswahl und besserer Qualität. Vielleicht wollen wir ja gar nicht mehr essen, aber auf jeden Fall besser oder anders. Vielleicht wollen wir nicht unbedingt größere Mengen fossiler Brennstoffe verbrauchen, doch möchten gern bequemer an mehr verschiedene Orte gelangen. Computer helfen uns, diese Ziele zu erreichen – und viele mehr. Die Digitalisierung verbessert die physische Welt, und diese Verbesserungen werden immer bedeutsamer. Die Wirtschaftshistoriker sind sich weitgehend einig, dass „das langfristige Wachstum einer hoch entwickelten Wirtschaft vom Verhalten des technischen Fortschritts bestimmt wird“ 12, wie Martin Weitzman es formuliert. Wie wir aufzeigen werden, schreitet dieser technische Fortschritt exponentiell voran.
Unsere dritte Schlussfolgerung ist weniger optimistisch: Die Digitalisierung bringt heikle Herausforderungen mit sich. Das sollte uns an sich weder überraschen noch beunruhigen. Selbst die vorteilhaftesten Entwicklungen haben unangenehme Folgen, die wir in den Griff bekommen müssen. Mit der industriellen Revolution gingen Rußschwaden über London und die grauenhafte Ausbeutung der Arbeitskraft von Kindern einher. Was werden die modernen Parallelen dazu sein? Rasche und immer schnellere Digitalisierung dürfte eher wirtschaftliche als ökologische Verzerrungen mit sich bringen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass Computer leistungsfähiger werden und Unternehmen für bestimmte Tätigkeiten weniger Mitarbeiter brauchen. Der technische Fortschritt in seiner rapiden Weiterentwicklung wird den einen oder anderen hinter sich lassen – möglicherweise auch viele. Wie wir demonstrieren werden, gab es nie eine bessere Zeit für Arbeitskräfte mit speziellen Kompetenzen oder der richtigen Ausbildung, denn solche Menschen können die Technik nutzen, um Wert zu generieren und abzuschöpfen. Für Arbeitnehmer mit „gewöhnlichen“ Kompetenzen und Fähigkeiten gab es dagegen kaum eine schlechtere Zeit, denn Computer, Roboter und andere digitale Technik erwerben solche Kompetenzen und Fähigkeiten mit beispielloser Geschwindigkeit.
Im Lauf der Zeit kamen die Menschen in England und anderen Ländern zu der Überzeugung, dass manche Aspekte der industriellen Revolution nicht hinnehmbar waren, und schufen Abhilfe. (Dazu trugen demokratische Regierungen und technischer Fortschritt gleichermaßen bei.) Heute gibt es in Großbritannien keine Kinderarbeit mehr, und in London enthält die Luft weniger Rauch und Schwefeldioxid denn je – oder zumindest seit Ende des 16. Jahrhunderts.13 Auch die Herausforderungen durch die digitale Revolution lassen sich meistern. Doch zunächst müssen wir uns darüber klar werden, worin sie eigentlich bestehen. Wir müssen die voraussichtlich negativen Konsequenzen des zweiten Maschinenzeitalters unbedingt beim Namen nennen und einen Dialog darüber anstoßen, wie wir sie abfedern können. Wir sind zuversichtlich, dass sie überwindbar sind, doch von allein werden sie sich kaum ausräumen. In den folgenden Kapiteln stellen wir unsere Anregungen zu diesem wichtigen Thema vor.
Dieses Buch handelt also vom zweiten Maschinenzeitalter, das sich gerade entfaltet – von einem Wendepunkt in der Geschichte unserer Volkswirtschaften und Gesellschaften, den die Digitalisierung herbeiführt. Es ist eine Wende in die richtige Richtung – hin zur Fülle anstelle des Mangels, zur Freiheit anstelle der Einschränkung –, doch sie wird auch diverse schwerwiegende Probleme und Entscheidungen zur Folge haben.
Dieses Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil, der die Kapitel 1 bis 6 umfasst, geht es um die grundlegenden Merkmale des zweiten Maschinenzeitalters. Diese Kapitel geben zahlreiche Beispiele für jüngste technische Errungenschaften, die wie Stoff für einen Science-Fiction-Film wirken. Wir erklären, warum sie sich gerade jetzt vollziehen (immerhin gibt es Computer schon seit Jahrzehnten) und verraten, weshalb wir so überzeugt sind, dass sich Ausmaß und Tempo der Innovation bei Computern, Robotern und anderer digitaler Ausrüstung künftig nur noch steigern werden.
Im zweiten Teil, den Kapiteln 7 bis 11, befassen wir uns näher mit Wohlstand und Gefälle, den beiden wirtschaftlichen Folgen dieses Fortschritts. Wohlstand besteht in der Vergrößerung des Volumens, der Vielfalt und der Qualität und in der Senkung der Kosten der vielen Angebote, die uns durch den Fortschritt der modernen Technik zur Verfügung stehen. Das ist die beste Wirtschaftsnachricht, die die Welt heute zu vermelden hat. Nicht ganz so positiv ist dagegen das Gefälle. Es beschreibt die wachsende Kluft zwischen Menschen, die wirtschaftlich erfolgreich sind – nach Vermögen, Einkommen, Mobilität und anderen wichtigen Maßstäben. Die Spreizung hat sich in den letzten Jahren vergrößert. Das ist aus vielen Gründen eine besorgniserregende Entwicklung, und eine, die sich im zweiten Maschinenzeitalter noch beschleunigen wird, wenn wir nichts dagegen unternehmen.
Der letzte Abschnitt – die Kapitel 12 bis 15 – erörtert, welche Interventionen für dieses Zeitalter angezeigt und effektiv sind. Ziel unserer Wirtschaft sollte es sein, den Wohlstand zu maximieren und gleichzeitig die negativen Effekte des Gefälles zu mindern. Wir teilen Ihnen unsere Gedanken dazu mit, wie sich diese Ziele am besten erreichen lassen – kurzfristig ebenso wie in fernerer Zukunft, wenn uns der Fortschritt bereits in eine technisch so hoch entwickelte Welt katapultiert hat, dass sie tatsächlich an Science-Fiction erinnert. Wie wir in unserem Schlusskapitel betonen, werden es die ab jetzt getroffenen Entscheidungen sein, die darüber bestimmen, wie diese Welt aussieht.
* Morris definiert die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen anhand von vier Merkmalen: Energieausbeute (Kalorien pro Person, die der Umwelt für Nahrung, Obdach und Handel, Industrie und Landwirtschaft und Transport abgewonnen werden), Grad der Verstädterung (Größe der größten Stadt), Kapazität der Kriegsführung (Zahl der Truppen, Feuerkraft und Schnelligkeit der Waffen, logistische Kapazitäten und ähnliche Faktoren) und Informationstechniken (Entwicklungsstand der verfügbaren Mittel zum Austausch und zur Verarbeitung von Informationen und den Umfang ihrer Nutzung). Jedes Attribut wird in eine Zahl umgerechnet, die sich mit der Zeit ändert – von null bis 250. Die gesamte gesellschaftliche Entwicklung ist schlicht die Summe dieser vier Zahlen. Weil er Vergleiche zwischen dem Westen (Europa, Mesopotamien und Nordamerika zu unterschiedlichen Zeiten, zu denen der Entwicklungsstand jeweils am höchsten war) und dem Osten (China und Japan) anstellen wollte, berechnete er die gesellschaftliche Entwicklung für jeden Bereich gesondert, und zwar von 14.000 vor unserer Zeitrechnung bis 2000 unserer Zeitrechnung. Im Jahr 2000 lag der Osten nur bei der Verstädterung vorne (da Tokio die größte Stadt der Welt war) und hatte einen sozialen Entwicklungswert von 564,83. Der Westen verbuchte 2000 906,37 Punkte. Wir bilden den Durchschnitt aus diesen beiden Zahlen.
** Wir bezeichnen die industrielle Revolution als erstes Maschinenzeitalter. Von manchen Wirtschaftshistorikern wird aber auch die Phase des raschen technischen Fortschritts Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts als „Maschinenzeitalter“ betitelt. Andere nennen diesen Zeitraum die zweite industrielle Revolution, wie auch wir in den folgenden Kapiteln.
„Jede hinreichend fortgeschrittene
Technologie ist von Magie nicht
mehr zu unterscheiden.“
IM SOMMER 2012 machten wir eine Spritztour mit einem fahrerlosen Auto.
Im Zuge unserer Recherchen besuchten wir Googles Firmenzentrale im Silicon Valley und hatten Gelegenheit zu einer Fahrt in einem der selbstfahrenden Fahrzeuge, die im Rahmen des Projekts „Chauffeur“ entwickelt worden waren. Wir hatten uns das zunächst so vorgestellt, dass wir im Fond eines Autos mit unbesetztem Fahrersitz chauffiert würden. Doch Google hat verständlicherweise Skrupel, Autos herumfahren zu lassen, die offensichtlich ohne Fahrer unterwegs sind. Das könnte Fußgänger oder andere Fahrer erschrecken oder die Polizei auf den Plan rufen. Wir saßen zwar tatsächlich hinten, doch vorne nahmen zwei Mitglieder des Chauffeur-Teams Platz.
Als einer der beiden Google-Leute auf dem Highway 101 den Schalter für den vollautomatischen Fahrmodus drückte, weckte das nicht nur unsere Neugier, sondern auch unseren Selbsterhaltungstrieb. Diese Strecke ist nicht gerade gut überschaubar oder besonders ruhig. Die Straße ist zwar gut ausgebaut und gerade, doch die meiste Zeit über herrscht reger Verkehr und der Fahrzeugstrom folgt keinem offensichtliche Muster oder Motiv. Bei den auf Autobahnen gefahrenen Geschwindigkeiten können Fahrfehler schwerwiegende Folgen haben. Da wir nun selbst Teil des laufenden Chauffeur-Experiments waren, waren diese Folgen für uns plötzlich von mehr als nur theoretischem Interesse.
Das Auto funktionierte einwandfrei. Es verschaffte uns wirklich ein sehr unspektakuläres Fahrerlebnis – nicht zu schnell, ohne hektischen Spurwechsel. Es fuhr genau so, wie es im Fahrschulbuch steht. Ein Laptop zeigte uns während der Fahrt eine visuelle Echtzeit-Darstellung der „Wahrnehmungen“ des Google-Autos auf der Fahrt über den Highway – alle Objekte in der Nähe, die von den Sensoren erfasst wurden. Das Auto erkannte alle um uns herum befindlichen Fahrzeuge, nicht nur die allernächsten, und verfolgte ihre Bewegungen. Es war ein Fahrzeug ohne toten Winkel. Doch die Fahrer-Software berücksichtigte, dass die von Menschen gefahrenen Autos und Laster sehr wohl tote Winkel hatten. Auf dem Bildschirm des Laptops wurden möglichst genaue Schätzungen der Software dazu angezeigt, wo sich all diese toten Winkel befanden. Diese wurden nach Möglichkeit gemieden.
Wir starrten wie gebannt auf den Bildschirm und achteten gar nicht mehr auf die Straße, als der Verkehr vor uns plötzlich stockte. Das automatische Auto reagierte mit einem gleichmäßigen Bremsmanöver und hielt mit sicherem Abstand hinter dem Vordermann. Es fuhr erst wieder an, als sich die Kolonne in Bewegung setzte. Die Google-Leute vorne unterhielten sich die ganze Zeit über und zeigten keinerlei Anzeichen von Nervosität, ja kaum mehr als beiläufiges Interesse an der Verkehrslage auf dem Highway. Sie hatten schon Hunderte von Stunden in dem Fahrzeug zurückgelegt und waren daher sicher, dass es ein bisschen Stop-and-go problemlos meistern würde. Als wir wieder auf den Google-Parkplatz einbogen, teilten wir dieses Zutrauen.
Diese Fahrt über den Highway 101 war für uns ein ganz besonderes Erlebnis, weil wir noch ein paar Jahre zuvor überzeugt gewesen waren, dass Computer nie in der Lage sein würden, am Straßenverkehr teilzunehmen. Herausragende Forschungsarbeiten und Analysen von hoch angesehenen Kollegen hatten ergeben, dass das Autofahren für die absehbare Zukunft wohl dem Menschen vorbehalten bleiben würde. Wie sie zu diesem Schluss kamen und wie technische Entwicklungen wie Chauffeur diesen in nur wenigen Jahren widerlegen würden, vermittelt wichtige Erkenntnisse über den digitalen Fortschritt.
2004 veröffentlichten Frank Levy und Richard Murnane ihr Buch „The New Division of Labor“ 1. Mit dem Titel „Die neue Arbeitsteilung“, hoben sie auf die Einteilung in menschliche und digitale Arbeit ab – anders ausgedrückt auf die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Computer. In einem vernunftbasierten Wirtschaftssystem sollten sich Menschen auf die Aufgaben und Arbeiten konzentrieren, bei denen sie gegenüber Computern einen Wettbewerbsvorteil haben, und Computern die Arbeiten überlassen, für die diese besser geeignet sind. In ihrem Buch gaben Levy und Murnane Anregungen, wie sich diese Kategorien unterscheiden lassen.
Noch vor hundert Jahren hätten die vorstehenden Absätze beim Leser absolutes Unverständnis ausgelöst. Damals waren Computer nämlich noch Menschen. Das Wort war ursprünglich eine Bezeichnung für einen Beruf, nicht für einen bestimmten Maschinentypus. Im frühen 20. Jahrhundert waren Computer – „Rechner“ – [zumindest im englischen Sprachraum – A.d.Ü.] Menschen, gewöhnlich Frauen, die den lieben langen Tag Rechenaufgaben lösten und die Lösungen in Tabellen eintrugen. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelten Erfinder Maschinen, die diese Arbeit mehr und mehr übernehmen konnten. Sie funktionierten zunächst mechanisch, dann elektromechanisch und schließlich digital. Wenn überhaupt, werden heute nur noch sehr wenige Menschen eingestellt, um zu rechnen und die Ergebnisse zu erfassen. Selbst in absoluten Niedriglohnländern gibt es keine menschlichen „Rechner“ mehr, weil Maschinen weitaus billiger, schneller und genauer sind.
Befasst man sich näher mit ihrer Funktionsweise, erkennt man, dass Computer mehr sind als reine Zahlenfresser. Sie verarbeiten Zeichen. Ihre Schaltkreise lassen sich als Sprache aus Einsen und Nullen interpretieren, aber gleichermaßen als richtig oder falsch, ja oder nein oder eben jedes andere Zeichensystem. Im Grunde können sie jede zeichenbasierte Aufgabe erfüllen, von Mathematik über Logik bis hin zu Sprache. Doch digitale Romanautoren gibt es noch nicht. Bislang sind es daher Menschen, die all die Bücher auf den Belletristik-Bestsellerlisten verfassen. Die Arbeit von Unternehmern, CEOs, Wissenschaftlern, Krankenschwestern, Bedienungen und viele andere Tätigkeiten haben wir ebenfalls noch nicht computerisiert. Warum nicht? Weshalb sind sie schwerer zu digitalisieren als die Arbeit der menschlichen „Rechner“?
Mit diesen Fragen beschäftigten sich Levy und Murnane in „The New Division of Labor“, und ihre Antworten darauf waren äußerst einleuchtend. Die Autoren ordneten informationsverarbeitende Aufgaben – die Grundlage jeder Wissensarbeit – in ein Spektrum ein. An einem Ende standen Aufgaben arithmetischer Natur, die lediglich die Anwendung eingelernter Regeln erfordern. Da Computer sehr gut Regeln befolgen können, folgt daraus, dass sie sich mit arithmetischen und ähnlichen Aufgaben befassen sollten.
Levy und Murnane arbeiteten im Anschluss weitere Gattungen von Wissensarbeit heraus, die sich ebenfalls in Regeln fassen lassen. So ist beispielsweise die Bonitätsbewertung eines Kunden ein guter allgemeiner Indikator dafür, ob er seine Hypothek wie versprochen tilgt, ebenso aber auch die Höhe des Kredits im Verhältnis zum Vermögen, Einkommen und den sonstigen Schulden des Kreditnehmers. Die Entscheidung über die Bewilligung einer Hypothek lässt sich demnach effektiv auf eine Regel reduzieren.
In Worten ausgedrückt könnte so eine Hypothekenregel folgendermaßen lauten: „Beantragt ein Kunde eine Hypothek über den Betrag H und hat eine Bonitätsbewertung von mindestens B, ein Jahreseinkommen von mehr als E oder ein Gesamtvermögen von über V bei einer Schuldenhöhe von maximal S, dann ist der Antrag zu genehmigen.“ In Computersprache hieße so eine Hypothekenregel ein Algorithmus. Algorithmen sind Vereinfachungen. Sie können nicht alles berücksichtigen, und das tun sie auch nicht (wie ein milliardenschwerer Onkel, der den Bittsteller in seinem Testament berücksichtigt und gern ungesichert in Steilwände klettert). Algorithmen berücksichtigen jedoch die häufigsten und wesentlichen Aspekte, und im Allgemeinen funktionieren sie bei Aufgaben wie der Prognose der Tilgungsraten sehr gut. Für die Genehmigung von Hypotheken kann und sollte der Rechner daher zum Einsatz kommen.*
Am anderen Ende des Spektrums von Levy und Murnane fanden sich dagegen die Informationsverarbeitungsaufgaben, die sich nicht auf Regeln oder Algorithmen herunterbrechen lassen. Den Autoren zufolge sind das Aufgaben, die sich auf die menschliche Fähigkeit stützen, Muster zu erkennen. Unser Gehirn bringt hervorragende Leistungen bei der Aufnahme von Informationen über unsere Sinne und ihrer Untersuchung auf Muster. Wie es das macht, können wir allerdings nur schwer beschreiben oder ergründen – vor allem, wenn große Mengen rasch veränderlicher Informationen in schnellem Takt eingehen. Von dem Philosophen Michael Polanyi stammt der bekannte Ausspruch: „Wir wissen mehr, als wir sagen können.“ 2 In solchen Fällen, so Levy und Murnane, lassen sich Aufgaben nicht auf den Computer übertragen und müssen auch weiterhin von Menschen erledigt werden. Als Beispiel für eine solche Aufgabe nennen sie das Führen eines Fahrzeugs im Straßenverkehr. Sie schreiben:
Beim Linksabbiegen mit Gegenverkehr sieht sich der Fahrer mit einer Flut von Bildern und Geräuschen durch entgegenkommende Fahrzeuge, Ampeln, Schaufenster, Anzeigetafeln, Bäumen und einen Verkehrspolizisten konfrontiert. Auf der Grundlage seines Wissens muss er die Größe und Position all dieser Objekte einschätzen und auch die wahrscheinliche Gefahr, die von ihnen ausgeht. … Der Lkw-Fahrer [verfügt über] das Schema zur Erkennung dessen, was [er da] vor sich hat. Wissen auszudrücken und es in Software einfließen zu lassen ist zurzeit, abgesehen von hochgradig strukturierten Problemen, enorm schwierig . … Computer können Menschen [bei Tätigkeiten wie Autofahren] nicht leicht ersetzen.
Als wir „The New Division of Labor“ 2004 lasen, fanden wir die Argumente von Levy und Murnane stichhaltig. In dieser Überzeugung bestärkt haben uns die ersten Ergebnisse der DARPA Grand Challenge für fahrerlose Autos.
Die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) war 1958 gegründet worden (als Reaktion auf den Start des sowjetischen Satelliten Sputnik). Sie sollte technische Entwicklungen vorantreiben, die vom Militär eingesetzt werden könnten. 2002 kündigte die Behörde die erste Grand Challenge an, bei der es um den Bau eines vollständig automatischen Fahrzeugs ging, das eine Strecke von 241 Kilometern in der kalifornischen Mojave-Wüste zurücklegen sollte. 15 Teilnehmer schlugen sich in der Qualifikation so wacker, dass sie für das eigentliche Ereignis aufgestellt wurden, das am 13. März 2004 stattfinden sollte.
Das Rennen verlief ziemlich enttäuschend. Zwei Fahrzeuge schafften es nicht einmal an den Start, eins drehte sich am Start und nach drei Stunden waren nur noch vier Fahrzeuge im Rennen. Der „Gewinner“, ein Fahrzeug namens Sandstorm von der Carnegie Mellon University, legte knapp 12 Kilometer (also nicht einmal 5 Prozent der Strecke) zurück, bevor es in einer Haarnadelkurve von der Spur abkam und abseits der Trasse liegenblieb. Das Preisgeld von 1 Million US-Dollar blieb unbeansprucht, und Popular Science bezeichnete die Veranstaltung als „DARPAS Wüstenfiasko“.3
Wenige Jahre später wurde aus dem Wüstenfiasko der Fahrspaß auf dem Highway 101, den wir erleben durften. In einem Blog-Beitrag vom Oktober 2010 meldete Google, dass sein vollständig autonomes Fahrzeug schon seit einiger Zeit erfolgreich im Verkehr auf Amerikas Straßen und Autobahnen unterwegs sei. Als wir im Sommer 2012 unsere Probefahrt machten, umfasste das Projekt Chauffeur bereits eine kleine Fahrzeugflotte, die ohne menschliches Zutun und mit nur zwei Unfällen Hunderttausende von Kilometern zurückgelegt hatte. Einer der Unfälle hatte sich mit einem Menschen am Steuer ereignet. Der zweite war ein Auffahrunfall an einer roten Ampel, den ebenfalls ein menschlicher Fahrer verursacht hatte.4 Sicherlich gibt es noch viele Situationen, in denen die Google-Autos nicht zurechtkommen, insbesondere im komplexen Stadtverkehr oder im Gelände – und natürlich auch in allen Regionen, die von Google nicht vorab sorgfältig kartografisch erfasst wurden. Doch unser Fahrerlebnis auf der Autobahn hat uns davon überzeugt, dass das Projekt einen praxistauglichen Ansatz für eine hohe und wachsende Zahl alltäglicher Fahrsituationen darstellt.
In nur wenigen Jahren schafften selbstfahrende Autos den Sprung aus dem Science-Fiction-Genre auf die Straße. Topaktuelle Forschungsergebnisse, die erklärten, warum dies vorerst nicht möglich war, wurden in nur wenigen Jahren von denselben führenden Wissenschaftlern und Technikern überholt, die sie vorgelegt hatten. Wissenschaft und Technik entwickelten sich rasch weiter und konnten das Fiasko in kaum fünf Jahren in einen Triumph verwandeln.
Die Fortschritte bei fahrerlosen Autos erinnern uns an ein Hemingway-Zitat darüber, wie ein Mann Bankrott macht: „Allmählich und dann plötzlich.“ 5 Dabei sind selbstfahrende Fahrzeuge keinesfalls eine Anomalie. Sie sind vielmehr Teil eines breit angelegten, faszinierenden Musters. Lange Zeit vollzog sich der Fortschritt bei manchen der ältesten und schwierigsten Herausforderungen für Computer, Roboter und andere digitale Technik nur allmählich. In den letzten Jahren machte er plötzlich einen Sprung: Digitale Geräte setzten zum Höhenflug an, bewältigten Aufgaben, an denen sie zuvor regelmäßig gescheitert waren, und zeigten Fähigkeiten, die sie noch lange nicht besitzen sollten. Schauen wir uns weitere Beispiele für überraschende technische Entwicklungen der letzten Zeit an.
Neben der Mustererkennung gaben Levy und Murnane insbesondere die komplexe Kommunikation als Bereich an, der in der neuen Arbeitsteilung dem Menschen vorbehalten bleiben würde. Sie schreiben: „Die für effektive Wissensvermittlung, Verwaltung, Verkauf und viele andere Berufe entscheidenden Gespräche erfordern die Weitergabe und Auslegung vielfältiger Informationen. In solchen Fällen ist es noch ein weiter Weg bis zu der Möglichkeit, Informationen statt mit einem anderen Menschen mit einem Computer auszutauschen.“ 6
Im Herbst 2011 führte Apple das iPhone 4S mit dem „Siri“-Feature ein, einem intelligenten persönlichen Assistenten, den der Nutzer durch natürliche Sprache bedienen kann. Will heißen, er kann angesprochen werden wie ein Mensch. Die Software, auf der Siri basiert, stammt aus dem kalifornischen Forschungsinstitut SRI International und wurde von Apple 2010 eingekauft. Sie hört iPhone-Nutzern zu, versucht, ihre Anweisungen zu verstehen, erledigt die Aufgabe und gibt dann mit einer synthetischen Stimme Rückmeldung.
Acht Monate nach der Markteinführung von Siri listete Kyle Wagner vom Technologie-Blog Gizmodo verschiedene der nützlichsten Eigenschaften auf: „Sie können nach dem Stand von Live-Spielen fragen – ‚Wie steht es für die Giants?‘ – oder nach statistischen Werten zu einzelnen Spielern. Sie können sich über OpenTable einen Tisch reservieren, Yelp-Bewertungen einholen, das Programm der umliegenden Kinos abfragen und sich Trailer anschauen. Wenn Sie zu beschäftigt sind, um einen Anruf anzunehmen, können Sie sich von Siri erinnern lassen, den Betreffenden später zurückzurufen. Das ist eine der ganz alltäglichen Aufgaben, für die Sprachkommandos wirklich unglaublich hilfreich sein können.“ 7
Der Gizmodo-Beitrag endet mit der Warnung: „Das klingt im Grunde richtig cool, gilt aber unter dem offensichtlichen Siri-Vorbehalt: Wenn es denn funktioniert.“ 8
Bei seiner Einführung fanden viele Apple-Kunden, der intelligente persönliche Assistent funktioniere nicht so gut. Er verstand sie nicht, fragte immer wieder nach, gab seltsame oder falsche Antworten und irritierende Äußerungen von sich wie: „Leider kann ich gerade keine Anfragen beantworten, versuche es bitte später noch einmal.“ Der Analyst Gene Munster stellte einen Katalog mit Fragen zusammen, die Siri Probleme bereiteten:
Wo ist Elvis begraben? Antwort: „Das kann ich nicht beantworten.“ Siri dachte, es ginge um eine Person, die mit Vorname Elvis heißt, und mit Nachnamen „Begraben“.
Wann ist der Film Cinderella herausgekommen? Die Antwort war eine Kinosuche mit Yelp.
Wann kommt der Halley‘sche Komet wieder? Antwort: „Du hast keine entsprechenden Termine.“
Ich möchte zum Lake Superior fahren. Die Antwort war eine Wegbeschreibung zu der Firma Lake Superior X-Ray. 9
Siris mitunter bizarre und frustrierende Antworten erlangten schnell Berühmtheit, doch die Leistungsfähigkeit der Technik ist unwiderlegbar. Sie kann Ihnen bei Bedarf sofort Hilfestellung geben. Auf derselben Reise, die uns die Fahrt im automatischen Auto bescherte, konnten wir uns davon persönlich überzeugen. Nach einer Sitzung in San Francisco stiegen wir in unseren Mietwagen und wollten zur Zentrale von Google in Mountain View. Wir hatten ein mobiles Navi dabei, das allerdings ausgeschaltet war, weil wir den Weg zum nächsten Etappenziel kannten. Dachten wir jedenfalls.
Wir irrten uns natürlich. In einem unübersichtlichen Wirrwarr aus Hochstraßen, Rampen und ebenerdigen Fahrbahnen suchten wir nach der richtigen Auffahrt, während die Nerven langsam dünn wurden. Als unser Termin bei Google, das gesamte Buchprojekt und unsere berufliche Beziehung schon ernsthaft gefährdet schienen, zückte Erik sein Handy und fragte Siri nach „dem Weg zur U.S. 101 South.“ Die Antwort kam postwendend und war absolut einwandfrei: Auf dem Bildschirm erschien eine Karte, die unseren Standort anzeigte und uns den Weg zu der ersehnten Auffahrt wies.
Wir hätten natürlich auch anhalten, unser tragbares Navi suchen, es in Betrieb nehmen, den Zielort eingeben und auf die Berechnung der Route warten können, doch das wäre uns zu umständlich gewesen. Wir hatte eine Frage und wollten eine Antwort darauf hören (beziehungsweise sehen, denn sie beinhaltete eine Karte). Siri bot genau die sprachliche Interaktion, die wir brauchten. Eine 2004 erstellte Übersicht über die Forschungsergebnisse zur automatischen Spracherkennung der letzten 50 Jahre (einem entscheidenden Bereich der Verarbeitung natürlicher Sprache) begann mit dem Eingeständnis, dass sich „Spracherkennung auf menschlichem Niveau als schwer erreichbares Ziel erweist“. Keine zehn Jahre später ist dieses Ziel in wichtigen Punkten erreicht. Apple und andere Unternehmen haben über ihre Mobiltelefone robuste Technik zur Verarbeitung natürlicher Sprache vielen hundert Millionen Menschen zugänglich gemacht.10 Wie Tom Mitchell anmerkte, der den Fachbereich maschinelles Lernen an der Carnegie Mellon University leitet: „Wir stehen am Anfang einer Dekade, in der wir uns umstellen werden von Rechnern, die Sprache nicht verstehen können, auf Computer, die allerhand von Sprache verstehen.“ 11
Software zur Verarbeitung natürlicher Sprache ist noch lange nicht vollkommen, und Computer beherrschen die Kunst komplexer Kommunikation längst nicht so gut wie Menschen, doch sie lernen laufend dazu. Und bei Aufgaben wie der Übersetzung von einer Sprache in die andere sind überraschende Entwicklungen im Gang: Die Kommunikationsfähigkeit von Rechnern geht zwar nicht so in die Tiefe wie die eines Durchschnittsmenschen, ist dafür aber viel breiter angelegt.