
Über den Autor
Marco Wehr ist Physiker, Philosoph und international erfolgreicher Tanzer. Wegen seiner ungewohnlichen Mehrfachbegabung nannte ihn die ZEIT einen „Kopf mit Korper“. Seine Bucher wurden hochgelobt und auf die Liste der Wissenschaftsbucher des Jahres gewahlt. Seine Essays fur die FAZ, die sich kritisch mit der Mathematisierung der Welt befassen, waren fur den Henri Nannen Preis 2013 nominiert.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85990-7)
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
www.beltz.de
© 2014 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22312-8
Für Anouk und Naïma
Inhalt
Wer kann uns lehren, wie man lernt?
Der Mensch – das missratenste aller Tiere?
Wir sehen mit Milliarden Augen – Katzen mit zwei
Werkzeugkasten für die Welt des Wissens
Die Kunst des Gehirns, sich (fast) von alleine zu formen
Die semantische Nabelschnur
Die Choreographie des Lernens
4 Z: (Z)eit – (Z)uneigung, (Z)uwendung – (Z)utrauen
Lern- und Lehrmeister
Meister machen’s wie die Kinder
»Schmeiß dein Herz über den Graben, …«
Der archimedische Punkt
Die zumutbare Zumutung
Das Free-Willy-Syndrom
Wer kein Ziel hat, dem ist jeder Weg zu weit
Wer zünden will, muss selber brennen
Abgesang
Literatur
Wer kann uns lehren, wie man lernt?
Bläta! Blöddar! Bläddä! Blettor! Was soll das sein? Das sind phonetische Stilblüten von Schülern, die verzweifelt versuchen, sich mittels ihres Gehörs an die korrekte Schreibweise des deutschen Worts »Blätter« heranzutasten. Ein umstrittenes Verfahren. Aber was heißt heute eigentlich korrekte Schreibweise? Wer weiß nach der Reform der Reform der Reform noch, ob Worte groß- oder kleingeschrieben werden, zusammen- oder auseinander-? Jeder, der des Lesens mächtig ist, liest laufend Texte in verschiedener Rechtschreibung! Selbst die Lehrer sind sich deshalb ihrer Sache nicht mehr sicher. Und das handschriftliche Schreiben? Bringt das überhaupt noch was? Ist das in Zeiten, in denen bereits Achtjährige geschäftig mit einem Smartphone über den Schulhof laufen, noch notwendig oder einfach eine antiquierte Zeitverschwendung? Auch hier streiten die Gelehrten. Einigen reicht es aus, den Buchstabensalat via Touchscreen in eine digitale Maschine zu hacken. Andere betonen ausdrücklich den didaktischen Wert der Feinmotorik.
Sind das die einzigen pädagogischen Felder, in welchen unzureichend begründete Glaubensvorstellungen fröhliche Urständ feiern? Definitiv nicht. Einige Bildungsromantiker hegen die Überzeugung, dass sich Kinder dank eines genuinen Wissens ganz von alleine wie die Blumen entfalten. Der Lehrer schrumpft zum Lernbegleiter. Er soll mit Staunen zur Kenntnis nehmen, wie die Schüler das Rad noch einmal erfinden oder das Antlitz grübelnd zum bestirnten Himmel erheben, um die Kepler’schen Planetenbahnen aus sich selbst heraus zu entwickeln. Wieder andere vertreten den entgegengesetzten Standpunkt und meinen, dass Jugendliche am besten gar nicht selbstständig denken sollten. Sie müssen in der Schule druckbetankt werden: 38 Wochenstunden Unterricht und in 12 Jahren zum Abitur. Dann sind sie wohlgeformt und gerüstet, um an der Universität in einem vollverschulten Studium den letzten Schliff zu erhalten.
»Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.«
Man muss den Menschen, die zu diesem grassierenden pädagogischen Wildwuchs beitragen, keinen bösen Willen unterstellen. Aber leider ist gut gemeint oft das Gegenteil von gut gemacht. Da stellt sich die Gretchenfrage: Was könnte uns in diesem umfassenden Tohuwabohu als Leitlinie dienen?
Wer weiß, wie man lernt? Wer wüsste Lehrer zu lehren, wie man lehrt? Und was muss gelehrt werden?
Seit neuestem obliegt die Deutungshoheit in solchen Fragen der empirischen Bildungsforschung, die vor ein paar Jahren mit breiter Brust die Bühne betreten hat. Am Ende des Buches begründe ich, weshalb ich ihrem selbsternannten Führungsanspruch nicht traue.
Aus diesem Grund hätte ich einen ganz anderen Vorschlag: Wie wäre es, die Nase einmal da reinzustecken, wo Lernen ohne jeden Zweifel gelingt, und sich dann zu fragen, was man dort über das Lernen lernen kann? Damit löst man sicher nicht jedes pädagogische Problem, hätte aber doch einen verlässlichen Kompass in der Hand, der für alle Lehr- und Lernsituationen gilt.
Warum also nicht eine unfehlbare Lehrmeisterin bestallen, deren Kompetenz unbestritten ist? Würde diese Lehrmeisterin nämlich nicht »wissen«, wie man lernt, wären wir noch nicht einmal in der Lage, die Frage nach gelingendem Lernen zu stellen. Wir wären schlicht und ergreifend nicht da!
Diese unfehlbare Lehrmeisterin hört auf den Namen Evolution. Die Evolution hat uns mit seit tausenden von Jahren bewährten Prinzipien der Wissensaneignung versehen. Und wo sieht man diese Prinzipien bei der Arbeit? Sie offenbaren sich in aller Deutlichkeit bei kleinen Kindern und erlauben ihnen unfassbare Lernfortschritte! Wenn wir sie aufmerksam beobachten, können wir wie unter einer Lupe der Natur bei der Arbeit zusehen. Aber eben nur so lange, wie die Kinder noch nicht verbildet sind.
Erstaunlicherweise erfahren aber diese evolutionären Lernprinzipien, obwohl sie zwangsläufig erfolgreich sind, im Elternhaus, an der Schule und der Universität recht wenig Wertschätzung. Lässt sich das dadurch erklären, dass Lernen und Lehren bei älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen plötzlich nach anderen Gesetzen funktioniert? Ich glaube nicht.
Seit Jahren beschäftige ich mich als Künstler, der täglich mehrere Stunden übt, mit dem Phänomen der Meisterschaft. Es ist faszinierend zu ergründen, wie die Menschen vorgehen, die etwas wirklich können. Deshalb besuche ich Nobelpreisträger, Olympiasieger, Instrumental- und Tanzvirtuosen und spreche ausgiebig mit ihnen. Und da, wo es möglich ist, schaue ich ihnen auf die Finger. Das Ergebnis ist verblüffend! Meister und Meisterinnen lernen wie die Kinder! Sie befleißigen sich ganz genau derselben Methoden und Strategien, wobei sie sich nur im Grad der Bewusstmachung von den Kindern unterscheiden.
Da stellt sich doch die Frage, ob wir uns dieses Wissen, das so tief in der Praxis verankert ist, das bei Kindern und Meistern funktioniert, nicht auch für Erziehung, Schule und Universität zunutze machen sollten? Schließlich spielen die Strategien, mit deren Hilfe sich Kinder Weltwissen und Fertigkeiten aneignen, in allen Lernprozessen eine entscheidende Rolle! Deshalb dürfen sie von Eltern und Lehrern nicht missachtet werden. Im Gegenteil, sie sollten in Erziehung und Unterricht integriert werden.
Um nun die Besonderheiten dieser Lernstrategien in den Blick zu bekommen, müssen wir uns kurz mit der Evolution auseinandersetzen. Erst wenn wir verstehen, weshalb der Mensch im Tierreich eine Sonderrolle einnimmt, wird einsichtig, warum Kinder so lernen, wie sie lernen.
Der Mensch – das missratenste aller Tiere?
Die Evolution mag eine kompetente Lehrmeisterin sein, aber augenfällig ist das beim Menschen nicht gerade! Dem unbedarften Beobachter erscheint anfänglich alles irgendwie hakelig, verwickelt, unbeholfen und umständlich.
Das Drama beginnt schon mit der Geburt. Eigentlich ist der Kopf des Säuglings viel zu groß. Fast jede Entbindung ist ein Kraftakt und nicht selten bedarf es chirurgischen Geschicks, um Leib und Leben von Kind und Mutter zu retten. Endlich entbunden, ist der Säugling Inbegriff von Hilflosigkeit und Schutzbedürftigkeit. Und man muss wohl ein Mensch sein, um das strampelnde und brüllende Etwas schön zu finden. Krumme dicke Beine, ein viel zu langer Oberkörper und besagter riesiger Kopf auf einem viel zu schmächtigen Hals. Leider ändert sich das Bild auch in den nächsten Monaten und Jahren nicht grundlegend. Die ganze Entwicklung scheint eine nicht enden wollende Verkettung von Pleiten, Pech und Pannen zu sein. Augenscheinlich kann das Kind anfänglich so gut wie nichts und als Außenstehender hat man nicht den Eindruck, dass es mit bewunderungswürdiger Geschwindigkeit lernt. Allein den Kopf so auf dem Hals zu balancieren, dass das Baby halbwegs geradeaus in die Welt schauen kann, scheint ein echter Kraftakt zu sein. Und auch alles andere muss umständlich erlernt werden. Entsprechend euphorisch wird jeder kleine Entwicklungsschritt von den Eltern zur Kenntnis genommen und gefeiert. Kinderlose Erwachsene glauben einem Volk von einem anderen Planeten zuzuhören, dessen Sprache sie nicht verstehen, wenn in einem einstündigen Gespräch erörtert wird, dass sich der kleine Fratz endlich auf den Bauch drehen kann und außerdem gelernt hat, aus dem Fläschchen zu trinken. Es folgen die bekannten Entwicklungsschritte: Das Kind beginnt ungelenk über den Boden zu robben und unbeholfen zu greifen. Es schmeißt alles um, was nicht niet- und nagelfest ist. Irgendwann torkelt es durch die Gegend, steckt bevorzugt verbotene Dinge in den Mund, während es zu einer buddhistischen Meditationsübung werden kann, das Kind mit Essbarem zu füttern. Und alles wird von permanentem Geschrei, Gesabber und Gebrabbel begleitet. In der Summe kann das eine funktionierende Partnerschaft zerrütten.
Muss man vor diesem Hintergrund dem bekannten Anthropologen Arnold Gehlen nicht recht geben, der das menschliche Kind mit einem zu früh aus dem Nest gestürzten Vogel verglich? Oder können wir dem Philosophen Friedrich Nietzsche böse sein, der den Menschen mit seiner verunglückten Entwicklungsgeschichte das missratenste aller Tiere nannte? Was bitte soll an dieser von der Evolution gesteuerten Entwicklung so besonders sein?
Mit welcher Leichtigkeit scheinen dagegen viele Tiere erwachsen zu werden. Kaum geboren, beginnen sie nach kurzer Zeit anmutig zu laufen und zu schwimmen, gar zu fliegen. Wie von Zauberhand formt sich das genetische Programm aus und die Resultate lassen uns vor Neid erblassen. Können wir fliegen wie ein Albatros oder schwimmen wie ein Delfin? Sind wir behände wie ein Affe in einer Baumkrone oder schnell wie ein Gepard?
Warum also der Kult um das Kind? Warum sollen gerade von den Kleinen Lernstrategien angewendet werden, die sogar Virtuosen und Meister kopieren? Warum soll es Sinn machen, diese Lernstrategien ein Leben lang zu pflegen und sie zum unverzichtbaren Teil eines jeden pädagogischen Konzepts zu machen? Warum ist der Homo sapiens eigentlich ein Homo motoricus – ein Koordinationswunder, ein über die Maßen begnadeter Körperkünstler? Ist das nicht lächerlich, bei all dem Ungeschick? Die Antworten auf diese Fragen liegen verborgen in unserem großen rätselhaften Kopf. Und dessen besondere Funktionsweise lässt sich nur verstehen, wenn wir die »Evolutionsstrategie« des Menschen hinterfragen. Ein kleines Geheimnis sei hier schon verraten: Delfine, Albatrosse, Geparden und Affen sind bewundernswerte Spezialisten. Zugegeben. Aber das gilt auch für uns: Wir sind die unübertroffenen Spezialisten im Nicht-Spezialisiertsein.
Wir sehen mit Milliarden Augen – Katzen mit zwei
Warum lernen Kinder scheinbar so umständlich? Was passiert während dieser Zeit? Und ganz wichtig: Warum passiert es?
Um sich den Antworten auf diese Fragen anzunähern, lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf das Darwin’sche »survival of the fittest«.
Das englische Verb »to fit« hat mit dem »fit« im deutschen Sprachgebrauch wenig bis gar nichts zu tun. Weder geht es um körperliche Leistungsfähigkeit in Form eines beeindruckenden Bauchbretts noch um die Brillanz von Jugendlichen im Umgang mit Computern. Es geht auch nicht um rüstige Rentner. Es geht einzig und allein darum, »angepasst zu sein«. Ein blinder, weißer Olm wirkt auf uns nicht fit. Er ist aber seinem Lebensraum – der Höhle – sehr gut angepasst. In diesem Sinne lässt sich das »survival of the fittest« als das Überleben der an einen Lebensraum Angepassten interpretieren. Wobei eben einzig die Überlebenden in der Lage sind, Nachkommen zu zeugen, die mit großer Wahrscheinlichkeit die Erbinformation in sich tragen, die es den Eltern erlaubte, in genau diesem Lebensraum zu bestehen! Das ist der entscheidende Punkt.
Leider bleiben Lebensräume häufig nicht so, wie sie sind. Sie ändern sich am laufenden Band. Das muss hervorgehoben werden, weil in einer esoterisch verklärten ökologischen Bewegung viel vom natürlichen Gleichgewicht fabuliert wird, in dem angeblich alle Zähnchen eines komplexen Räderwerks für alle Zeiten harmonisch ineinandergreifen: Wenn wir nur wie die Indianer im Einklang mit der Natur leben würden, fände Übermutter Gaia endlich ihren inneren Frieden und wir würden zur Belohnung bis ans Ende unserer Tage von ihr genährt werden. Die Geschichte unseres ruhelosen Planeten lehrt aber etwas ganz anderes. Gaia ist keine gutmütige Amme, sondern ein wetterwendisches Weib! Phasen ruhigen Gleichmaßes sind die Ausnahme, Umbrüche mit teils katastrophalen Konsequenzen die Regel. Man denke nur an das Aussterben der Dinosaurier, das sich mit großer Wahrscheinlichkeit den veränderten klimatischen Bedingungen verdankt, die durch Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge zustande kamen. Bei Ausgrabungen unweit meines Wohnorts Tübingen sind Sedimente zum Vorschein gekommen, die nahelegen, dass vor Millionen von Jahren ein Tsunami von 1000 (!) Meter Höhe über das heutige Schwabenland gedonnert ist. Auch die ziemlich erratisch auftauchenden Eiszeiten müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Und selbst auf kürzeren zeitlichen Skalen gibt es radikale Umbrüche. Bohrkerne aus dem Grönlandeis beweisen, dass es binnen eines Jahrzehnts große Temperatursprünge gab. In unserer Zeit würde ein solcher Temperaturumschwung dem eisigen Moskau das Klima von Rom bescheren und die Russinnen würden im Winter in Miniröcken über den Roten Platz laufen. Wie dramatisch die Veränderungen auf der Erde sind, wird einem auch klar, wenn man weiß, dass vor nur 5000 Jahren die heutige Todeszone Sahara ein blühender Garten Eden war.
Lebensräume, die sich so extrem verändern, sind eine große Herausforderung für die evolutionären Strategien der Lebewesen. Es gibt in diesem Zusammenhang vor allen Dingen zwei Strategien, die es Lebewesen erlauben, mit radikalen Veränderungen zurechtzukommen. Die eine beruht auf der sogenannten Akzeptanz, die andere auf der Adaptabilität. Evolutionär optimiert wird die Summe aus beiden.
Die »Akzeptanz« ist die Strategie des »dicken Fells«. Es existieren Lebewesen, die einfach unempfindlicher sind und denen besagte Veränderungen nicht so viel ausmachen. Sogenannte Archebakterien überleben bei Temperaturen von bis zu 130 Grad Celsius. Da machen ein paar Grad hin oder her nicht besonders viel aus.
Hier interessiert uns die andere Strategie – die Adaptabilität.
Der Mensch besitzt eine außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit! Auf sich verändernde Lebensumstände wird mit entsprechenden Verhaltensänderungen reagiert, wobei das Wissen für diese Verhaltensänderungen weniger im Genom des Individuums codiert ist, sondern sich vielmehr im Besitz verschiedener Kulturen befindet, die sich in verschiedensten Lebensräumen zu behaupten gelernt haben. Das ist ein bemerkenswerter Punkt. Deshalb spielt das Lernen aus Erfahrung für uns Menschen eine herausragende Rolle! Aus Erfahrung zu lernen bedeutet, in der Vergangenheit Erlebtes für die Zukunft nutzbar zu machen – also Chancen zu ergreifen und Risiken zu meiden.
Aber ist das wirklich so außergewöhnlich?, mag man einwenden. Aus Erfahrung lernen schließlich auch viele andere Lebewesen. Wo liegt der wesentliche Unterschied? Um das zu verstehen, werden wir vier ziemlich verschiedene Tiere miteinander vergleichen: Meeresschnecken, Katzen, Schimpansen und Menschen.
Meeresschnecken? Die Schnecke Aplysia ist eines der Lieblingstiere der Neurobiologen und für die Untersuchung ihrer Gedächtnisleistungen wurde der Nobelpreis verliehen. Diese Versuchstiere sind aber nicht deshalb so beliebt, weil ihre Gedächtnisleistungen besonders eindrücklich wären. Sie sind einfach im Labor gut zu untersuchen. Für uns sind sie interessant, weil sie bereits zu einfachen Verhaltensleistungen wie Habituation und Konditionierung in der Lage sind, obwohl sie noch nicht einmal ein Gehirn besitzen, sondern nur gut unterscheidbare Nervenknoten, sogenannte Ganglien.
Diese Primitivausstattung erlaubt den Schnecken, einfache Vorhersagen zu machen: Ein Wissenschaftler nimmt ein Stöckchen und berührt das Glibbertier an einer empfindlichen Stelle – dem Syphon. Schlagartig zieht die Schnecke diesen Körperteil ein. Doch nachdem sie mehrfach berührt wurde, passiert etwas Überraschendes. Die Reaktion wird zunehmend schwächer, bis sie schließlich unterbleibt. Was hat das mit einer Vorhersage zu tun? Offensichtlich hat die Schnecke eine Erfahrung gemacht, die sie für die Zukunft nutzt! Im Unterschied zu einer Elektrode, mit der man ihr einen elektrischen Schlag versetzt, geht von dem Stöckchen keine Gefahr aus. Deshalb wäre es Energieverschwendung, den Syphon immer wieder einzuziehen. Das hört sich unspektakulär an, ist aber bei genauerem Hinsehen erstaunlich. Schließlich muss es eine wie auch immer geartete, einfache neuronale Repräsentation des berührenden Stöckchens geben, welche die Meeresschnecke dazu veranlasst, ihr Verhalten zu modifizieren.
Wer zum Philosophieren neigt, kann kurz einmal darüber nachdenken, dass eine ursprünglich unbelebte Welt sich in einem so einfachen Nervensystem auf einmal wie im Spiegel selbst anschaut. Das ist revolutionär.
In unserem Zusammenhang ist aber etwas anderes wichtig: Im evolutionären Zusammenhang lassen sich verschiedene Gehirne als Zeitmaschinen interpretieren, wobei die vorgestellten Reisen in die Zukunft, die aus der gelebten Vergangenheit schöpfen, mehr oder weniger ausgedehnt sind.
Betrachten wir in diesem Licht die Katze. Das Gehirn der Katze verhält sich zum Nervennetz der Schnecke wie ein Hochleistungscomputer zu einem Rechenschieber. Bei unseren Betrachtungen unterscheiden wir jetzt zwischen einem wohlwollenden und einem bösen Wissenschaftler. Der nette streichelt das Tier, der andere versetzt ihm einen harten Schlag. Was macht die Katze, wenn der Bösewicht, der das Tier schon einmal misshandelt hat, erneut zur Tür reinkommt? Sie wird zwischen zwei Möglichkeiten ihres Verhaltensrepertoires wählen: Entweder ergreift sie die Flucht oder sie wird beißen und kratzen, wenn er sie zu fassen versucht. Im Englischen heißt diese Strategie »flight or fight«.
Auf alle Fälle assoziiert die Katze Gesicht, Haltung, Geruch … des Bösewichts mit der schon geschehenen Tat und zieht eine Schlussfolgerung, die die Zukunft betrifft. Da kann das Nervennetz der Schnecke nicht mithalten. Das Weichtier ist nicht in der Lage zu unterscheiden, wer Stöckchen oder Elektroschocker in der Hand hat, und auf dieser Grundlage eine »Entscheidung« treffen.
Obwohl die Leistung des Katzengehirns Lichtjahre von der der Schnecke entfernt liegt, bleibt auch sie beim Lernen aus Erfahrung weitgehend auf sich selbst gestellt. Einsam zieht die Katze durch ihr Revier und lernt auf der Grundlage von angeborenen Instinkten und persönlicher individueller Erfahrung, Chancen zu nutzen und Gefahren zu meiden. Sie sieht die Welt nur mit ihren eigenen zwei Augen.
Was für ein Unterschied zu einem Schimpansenbaby, das in einer lärmenden Horde groß wird! Im Gegensatz zum Katzenkind kann dieses Baby von einem Erfahrungsschatz profitieren, der im Besitz der Gruppe ist und zum Teil ein Wissen beinhaltet, das schon vor Generationen gemacht worden ist.
Bestimmte Horden pflegen die Kunst, mit Stöckchen schmackhafte Termiten aus deren Bauten zu angeln. Einige motivierte Jungtiere beobachten die Könner und eifern ihnen nach. Durch diese Fähigkeit bleibt eine einmal gemachte Entdeckung für die Gruppe verfügbar.
Außerdem gibt es Kommunikationssysteme, die ebenfalls die bemerkenswerte Konsequenz haben, dass ein Tier nicht nur von seiner individuellen Erfahrung profitiert, sondern von der der Horde. Es ist, als würde es die Welt nicht mehr nur mit eigenen Augen und Ohren wahrnehmen, sondern mit denen aller beteiligten Tiere. Das kommunikative Netz verbindet die Erfahrungen der Affen und macht sie für alle nutzbar. Denken Sie an eine Giftschlange! Eine Kobra gleitet durchs Gras und beißt einen unvorsichtigen Affen. Nennen wir ihn John. John schreit und stirbt unter großen Qualen. Diese erschütternde Szene wird von den anderen Tieren beobachtet, die, ohne sich dessen bewusst zu sein, eine Kausalbeziehung unterstellen. Das schwarze schlängelnde Tier, Johns Schrei und sein Tod stehen für sie in einer ursächlichen Beziehung. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass die Affen aus Schrei und Mimik, wahrscheinlich auch aus der Körperhaltung auf die Befindlichkeit von John schließen können und damit so etwas wie Empathie empfinden. Deshalb ist ihnen klar, dass es ihnen bei einem Schlangenbiss ähnlich ginge. Aus diesem Grund ist es ein Gebot der Klugheit, Kobras zu meiden und im Interesse der anderen auch vor ihnen zu warnen! Kriecht wieder eine Schlange durchs Gras, gibt es ein mörderisches Gezeter, das Gefahr signalisiert. Auch Tiere, die nicht gesehen haben, wie John gebissen wurde, assoziieren die Schlange mit Gefahr und profitieren durch diese Form der Kommunikation von einer Erfahrung, bei der sie selbst gar nicht zugegen waren!