
Über den Autor
Dr. Herbert Renz-Polster, geb. 1960, beschäftigt sich als Kinderarzt und Wissenschaftler seit langem mit der kindlichen Entwicklung. Forschungstätigkeit im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung zunächst in den USA, dann am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. 2009 erschien sein Grundlagenwerk »Kinder verstehen. Born to be wild«, das die Wurzeln des kindlichen Verhaltens aus Sicht der evolutionären Verhaltensforschung beschreibt. 2011: »Menschenkinder – Plädoyer für eine artgerechte Erziehung«, eine Streitschrift für eine menschlichere Menschenhaltung. 2013 (zusammen mit G. Hüther): »Wie Kinder heute wachsen – ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen.« Er hat 4 Kinder und lebt heute mit seiner Frau in der Nähe von Ravensburg.
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Impressum
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(ISBN 978-3-407-85847-4)
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Lektorat: Claus Koch
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22321-0
Lebe so, wie du denkst.
Sonst wirst du irgendwann
so denken, wie du lebst.
JOSÉ MUJICA
Inhalt
Vorwort
Teil 1 Wer erzieht unsere Kinder?
EINS Von Elternliebe und Machtinteressen
ZWEI Standortsicherung
DREI Von dem, was uns richtig erscheint
VIER Der globalisierte Wettbewerb
Teil 2 Die pädagogische Mobilmachung
FÜNF Pädagogik im Interesse der Globalisierung?
SECHS Kindheit und Effizienz
SIEBEN Das Projekt und seine Leitung
Teil 3 Unterschiedliche Akteure – unterschiedliche Interessen?
ACHT Wo stehen die Eltern?
NEUN Wissenschaft – Auftritt der Experten
ZEHN Der Staat als Erziehungshelfer?
ELF Wirtschaft – der große Pate der Bildung?
ZWÖLF Spuren, die sich kreuzen, oder: Miterzieher allerorten!
Teil 4 Der pädagogische Belagerungsring rund um das Kleinkind
DREIZEHN Protektorat Kita
VIERZEHN Frühpädagogik als Spekulationsmodell
Teil 5 In der Klemme
FÜNFZEHN Das nicht gehaltene Versprechen
SECHZEHN Die älteste Frage
SIEBZEHN Wem gebührt die Bildungshoheit?
Teil 6 Der magische Kern der Kindheit
ACHTZEHN Erziehung für den Ertrag?
NEUNZEHN Das pädagogische Paradox
Was wollen wir eigentlich?
Danksagung
Literaturnach- und hinweise
Anmerkungen
Vorwort
Wenn man den Wandel in der Kindererziehung im Zeitraffer betrachtet, kann man sich nur die Augen reiben: So haben Eltern einmal über ihre Kinder gedacht? So sind sie mit ihnen umgegangen? Wirklich?
Und heute? Schwingt das Pendel munter weiter. Ging es in den 1980er-Jahren in den Kindergärten noch um Spiel und Spaß und Tralala, treffen sich jetzt kleine Forscher zu naturwissenschaftlichen Experimenten. Statt Basteln steht die Erweiterung des Zahlenraums auf dem Programm, statt Kinderbande gilt das Kursprogramm.
Haben sich die Kinder schon wieder geändert?
Nein, haben sie nicht. Der Grund für das Hin und Her ist ein anderer: Was uns als die beste Erziehung für unsere Kinder erscheint, hat nur wenig mit den Kindern zu tun, wie sie sind. Es hat vielmehr damit zu tun, für was sie einmal gebraucht werden.
Und da haben beileibe nicht nur die Eltern das Sagen.
Weil ich überzeugt davon bin, dass Eltern in der Erziehung besser fahren, wenn sie die Mit-Erzieher ihrer Kinder kennenlernen, habe ich dieses Buch geschrieben.
Herbert Renz-Polster im Juli 2014
TEIL 1
Wer erzieht unsere Kinder?
EINS
Von Elternliebe und Machtinteressen
Am Anfang von Erziehung steht für alle Eltern ein positives Ziel: Das Kind soll durch die Erziehung befähigt werden, in der Welt, in der es einmal leben wird, zu bestehen. Was wird das Kind einmal brauchen, fragen sich die Eltern, damit es sein Auskommen und seinen Platz in der Gesellschaft finden kann?
Natürlich wird die Antwort je nach Gesellschaft, Kultur und Schichtzugehörigkeit anders ausfallen. In den kleinbäuerlichen Gemeinschaften auf dem Hochland Kameruns ist erfolgreich, wer seine Rolle im traditionellen dörflichen Gefüge gut ausfüllen kann. In den modernen Industriegesellschaften hingegen gilt als erfolgreich, wer ein Maximum an Konsumpotenzial anhäufen kann.
Aus dieser Sicht erklärt sich das scheinbare Paradox, dass alle Eltern dieser Erde das Beste für ihre Kinder wollen, diese aber trotzdem völlig unterschiedlich erziehen – und sich dabei oft auch noch der herzerwärmenden Überzeugung hingeben, ihr Weg sei der einzig richtige. Ja, selbst Elterngenerationen, die aus heutiger Sicht in der Erziehung so ziemlich alles falsch gemacht haben, hatten eine feste, gemeinsame Überzeugung: dass genau das, was sie mit ihren Kindern tun, notwendig sei, um die Kleinen fit fürs Leben zu machen.
Vom Wohl des Kindes
In der Tat: Betrachtet man die Geschichte der Erziehung, so haben sich zwar die Begründungen und Theorien rund um das Thema Erziehung ständig geändert (oft genug auch in ihr glattes Gegenteil verkehrt) – eine Begründung aber ist konstant geblieben: dass es dabei um das Wohl des Kindes gehe. Es mag uns Tränen in die Augen treiben, wie etwa die Kinder im deutschen Kaiserreich von ihren Eltern behandelt wurden (»Klein Anna bringt jetzt schon selbst den Patscher, wenn ihr nachts ein Malheur passiert ist«) – und doch machen wir es uns mit dem naheliegenden Vorwurf zu einfach, diese Eltern hätten ihre Kinder nicht geliebt oder sie hätten von Kindern einfach nichts verstanden. Dagegen sprechen alle Befunde der vergleichenden Erziehungswissenschaft und auch die Auswertung der damals sehr populären Elterntagebücher. Liebe scheint einfach relativ zu sein – wir entwickeln immer wieder neue Ansichten darüber, worin denn die richtige Liebe zum Kind bestehe. (Und das wohl schon, seit Salomo seine ersten Erziehungstipps für die späteren Leser der Bibel abgab: »Du hauest ihn [den Knaben] mit der Rute; aber du errettest seine Seele von der Hölle …«)
In Erziehungsfragen geht es also weniger um universelle Werte wie Liebe und Verständnis. Vielmehr wird das Pferd mit klarem Blick nach vorn aufgezäumt – nach den Kompetenzerwartungen der Erwachsenen nämlich. Nach dem also, was das Kind in den Augen der Eltern für eine erfolgreiche Bemeisterung der Zukunft braucht. Und für dieses Ziel waren die Eltern schon immer bereit, ihrem Nachwuchs im Hier und Jetzt (teilweise gehörige) Belastungen aufzubürden.
Der Blick zurück
Betrachten wir nur einmal die letzten hundertfünfzig Jahre. Unsere Urgroßeltern und unsere Großeltern wünschten sich ein gehorsames, angepasstes und »wohlerzogenes« Kind. Da standen Selbstkontrolle, Abhärtung, Ordnung und Disziplin auf dem alltäglichen Lehrplan. Der Drill ging gleich nach der Geburt los: Schreienlassen sollte den Charakter stärken. Schon das In-den-Armen-Tragen galt als Verzärtelung: »Trudelchen wird erzogen. So klein sie ist, glaubte sie durch Gebrüll erreichen zu können, dass man sie auf den Arm nimmt«, beklagt sich eine Mutter in einem Elterntagebuch. Auch beim Schlafen mussten die Kinder »folgen« – gerne unter Einsatz von Schlägen: »Du jammerst nun mit Grund und schläfst dann auch bald ein.« Gestillt wurde nach der Uhr – das sei eine Voraussetzung für innere Ordnung und die spätere Pünktlichkeit. Die einmal gewählte Zeitordnung, heißt es in einem populären Ratgeber der 1920er-Jahre, »muss unbedingt spätestens Ende der ersten Lebenswoche absolut pünktlich eingehalten werden«. Auch von der frühen Kontrolle der Ausscheidungen – dem stundenlangen Auf-dem-Töpfchen-Sitzen schon im Säuglingsalter – erhofften sich die Eltern nicht nur weniger Überstunden in der Waschküche. Sondern vor allem, dass die Kleinen dadurch auch charakterlich zu »sauberen«, kontrollierten Menschen würden. Aus dem gleichen Grund wurde in der Pubertät gegen das größte aller Übel zu Felde gezogen: die Onanie. Wie kann einer sein Leben in den Griff bekommen, der seinen Trieben folgt? Wie soll jemand, der sich lustvolle Freiheiten nimmt, ein guter Untertan werden?
Der Weg zur Unterordnung stand auch im Zentrum der Schulpädagogik. »War in der Schule«, schreibt Leo Tolstoi am 29.7.1860 nach einem Besuch in Deutschland in sein Tagebuch: »Entsetzlich. Gebet für König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder.« So seltsam die damaligen Erziehungsziele in unseren heutigen Ohren klingen – tatsächlich begegnet uns auch hier das »Kompetenzmotiv« der Erziehung: Die Kinder sollen in der Welt klarkommen, auf die sie einmal als Erwachsene treffen werden. (Dass eine solche Vorhersage in Zeiten sozioökonomischer Umbrüche zu gewissen Passungsproblemen führt, dürfte einleuchten. Wer seine Jugend in den 1960er- bis 1980er-Jahren verbracht hat, weiß auch, wie sich solche »Generationenkonflikte« anfühlen.)
Bei der Ausrichtung der Kinder auf die zukünftige Welt ging es den Eltern – das sei an dieser Stelle noch einmal betont – keinesfalls um vorsätzliche Manipulation oder gar Erniedrigung. Da ging es vielmehr um die Umsetzung von tiefen Überzeugungen und Gewissheiten. Es galt, genau das weiterzugeben, was es nach dem letzten Stand der Dinge braucht, um hier und jetzt in der Gesellschaft bestmöglich klarzukommen.
Für die idealistisch bewegten »68er« stand dabei eine bemerkenswerte Variation dieses Themas im Raum – sie wollten die Kinder sogar auf die Utopie einer zukünftigen Gesellschaft vorbereiten. So sollten damals in so mancher jungen Familie die Kinder in bester Absicht zu antifaschistischen, von sexueller Repression befreiten Persönlichkeiten gebildet werden, die einmal eine bessere Welt schaffen würden als ihre schuldbeladenen, autoritär deformierten Eltern. Auch dieses Ziel war wenig vom Blick auf das Kind selbst geleitet. Ja, oft wurden die Beziehungen zum Kind dabei schwer belastet, wie die heutige Aufarbeitung gerade der »sexuellen Befreiung« der Kinder in den entsprechenden Milieus zeigt.
Erziehung und Gesellschaft
Schwenken wir aber noch einmal zu den Generationen davor. Niemanden wird überraschen, dass der heimliche Lehrplan der Erziehung1 im Deutschen Kaiserreich oder in Nazideutschland für die meisten Kinder nicht etwa auf Selbstständigkeit, Kreativität oder Achtsamkeit gerichtet war, sondern auf Unterordnung, Disziplin und Duldungsfähigkeit. Ja, es wäre regelrecht unlogisch, dass in einer militaristischen, zutiefst gewaltsamen Gesellschaft etwas anderes vorherrschen sollte als eine militaristische, gewaltsame Erziehung. »Ich weiß nicht«, sagt dazu die Tochter der NS-Erziehungsideologin Johanna Haarer, »ob man wie Hitler damals mit den deutschen Soldaten nach Russland ziehen und sie diesen Katastrophen und Entbehrungen aussetzen hätte können, wenn nicht diese Erziehung dahinter gestanden wäre!«
Betrachtet man Erziehung aus diesem Blickwinkel, kann geradezu als Grundaxiom formuliert werden, dass sie umso rigider und schonungsloser ausfallen muss, je weniger menschengerecht es in der Gesellschaft zugeht – also je ungleicher und je stärker nach Partikularinteressen strukturiert ein Gemeinwesen ist.
Man muss nicht bis zurück zu den Spartanern blicken, um diese Annahme empirisch zu bestätigen – auch die großen Umbrüche in der Erziehung in der Neuzeit zeigen den deutlichen Einfluss der gesellschaftlichen Verhältnisse. So ging die Aufhellung des Kinderbildes in der Aufklärung mit einem neuen Selbstbewusstsein des Bürgertums einher. Die darauffolgende Verdunklung lief Hand in Hand mit den Krisen der Industrialisierung und dem Aufstieg des Nationalismus – der Lärm der Maschinen und der großen Aufmärsche machte auch vor den Wiegen nicht halt. Erst als mit dem Wirtschaftswunder wieder eine gesellschaftliche Entspannung eintrat – ließ auch der Druck auf die Kinder nach. Das Bild vom unzivilisierten »Triebkind« wurde nach und nach durch das Bild eines bindungsbedürftigen, »gutartigen« Kindes ersetzt.
Und natürlich war auch das nicht der letzte Pinselstrich. Mit dem ausgehenden zweiten Jahrtausend kamen prompt wieder die dunkleren Töne ins Spiel. Die jetzt zwar wiedervereinte, aber mit dem Beginn einer beinharten Globalisierung sozusagen aus ihrer Komfortzone getriebene Gesellschaft war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob die Kinder denn wirklich in den eisiger werdenden Winden bestehen würden. »Ende der Spaß- und Kuschelpädagogik« hieß jetzt die Parole, und den Familien wurde dringend der Entzug der »Droge Verwöhnung« nahegelegt.
Neben dem Leitmotiv der »Förderung«, das uns in diesem Buch noch ausgiebig beschäftigen wird, hieß es jetzt allenthalben: »Grenzen setzen!« Und da ging es zu wie auf den ehemaligen Parteitagen der DDR: Alle waren dafür! Die Aufsätze strenger Lehrer à la Albert Wunsch (»Die Verwöhnfalle«) fanden über Nacht den Weg in die ZEIT, und die verunsicherte Mittelschicht lauschte zu Hunderttausenden den (nicht sehr frohen) Botschaften Bernhard Buebs, der in seinem Buch »Lob der Disziplin« auf dasselbe Grundmotiv setzte, das schon unsere Großeltern und Urgroßeltern durch die Not begleitet hatte: hier der potenzielle Tyrann, dort sein Bezwinger. »Da Kinder nicht gehorsam geboren werden«, so der ehemalige Internatsleiter, »ignorieren sie Anweisungen, rebellieren gegen Erziehungsmaßnahmen, missachten Gebote und wenden alle Mittel an, um ihren eigenen Willen durchzusetzen.« Selbst Babys kommen jetzt unter den Generalverdacht der Rebellion, denn: ihnen »mangelt es an Kultur, Einsichtsfähigkeit und Disziplin. Zu ihrer Kultivierung bedarf es einer klaren Autorität und der Bereitschaft, Unterordnung zu fordern«. Sogar die Sauberkeitserziehung ist jetzt wieder Thema – nach 50 Jahren Ruhe an der Wickelfront bekommen die Eltern wieder die Vorteile eines kontrollierten Schließmuskels aufgezeigt. Gut seien Krippen, so Herr Bueb, in denen »alle Kinder jeden Morgen zur gleichen Stunde auf den Topf gesetzt« werden. Die Angst vor der Moderne sollte sozusagen durch die Rückkehr zum Betriebssystem der Vergangenheit gebannt werden.2
Interessenskonflikte
Nun könnte man es dabei ja belassen: Die Eltern verbinden mit Erziehung die Hoffnung, ihre Kinder für die Welt, die sie erwartet, fit zu machen. Sie sind bereit, ihrem Nachwuchs für diese Hoffnung auch einmal etwas aufzubürden.
Aber das ist noch nicht das ganze Tableau. Denn wie diese Welt aussieht, die da auf die Kinder wartet, kommt ja nicht von ungefähr. Sie ist vielmehr das Resultat eines zähen Ringens verschiedener Interessen. Manche Menschen können sich Gehör und Einfluss verschaffen – als Einzelne oder als Gruppe. Andere sind damit weniger erfolgreich. Einfluss aber bedeutet Gestaltungsmacht. Wer sie besitzt, legt es – verständlicherweise – darauf an, dass die Rädchen in seinem Sinne laufen. Keine Gesellschaft dieser Erde kann verstanden werden, wenn wir sie nicht als Schau- und Austragungsort von Interessenkonflikten sehen – als Bühne, auf der beständig die unterschiedlichsten Ansprüche verhandelt, ausgekämpft und ausgeglichen werden.
In diesem Buch wird es viel um solche Interessenkonflikte gehen, und vor allem werden wir immer wieder Beispiele kennenlernen, wie diese Konflikte auch in der Erziehung ausgefochten werden. Wenn in diesem Sinne Erziehung als eine Spielwiese gesellschaftlicher Machtverhältnisse dargestellt wird, könnte der Eindruck entstehen, hier würden allzu simple Frontstellungen gepflegt oder gar Verschwörungstheorien aufgetischt. Darum geht es aber nicht. Denn wir werden ebenso eine andere Seite kennenlernen, nach der gerade in der Erziehung die Motive der unterschiedlichen Akteure so stark miteinander verflochten sind, dass sich die Frage der Urheberschaft oft kaum klären lässt (und »Schuldfragen« schon gar nicht). Die Interessen einzelner gesellschaftlicher Gruppen mögen benennbar sein, nicht jedoch, wie diese auf die Menschen wirken und darüber die Welt verändern.
Unser gesellschaftliches Miteinander scheint also ein rechtes Wirrwarr zu sein, das die Erziehung nicht ausspart: Die Eltern meinen, das für ihr Kind Richtige zu tun. Und dabei bedienen sie doch – manchmal bewusst, manchmal gegen ihren Willen und manchmal auch ganz unbemerkt – auch fremde Interessen. Alle diese Wege sind in unsere ganz normale Alltagskultur eingewoben – sie sind Teil eines sich teilweise selbst organisierenden gesellschaftlichen Prozesses. Ich verstehe Erziehung als einen solchen Systemprozess.
Das Kind als Funktionsträger
Aber zurück zu den Kindern. Sie sind ja nicht nur das Junggemüse der Familie, sie sind auch Funktionsträger für die Zukunft. Sie übernehmen schließlich schon bald ihre Rollen in der Gesellschaft – ob als Bürger, Soldaten, Untertanen, Vorgesetzte, Angestellte, »Fachkräfte« oder Kunden. Ob gewollt oder ungewollt, steht damit bei allen gesellschaftlichen Fragen immer auch das Thema Erziehung im Raum. Welche Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und Tugenden sollen die Kleinen aus ihrer Kinderstube mitbringen, damit der Laden läuft? Welche Rollen werden den Kindern zugedacht? Wie sind die Kleinen zu behandeln, damit sie später die Rädchen gut drehen – und damit auch denen, die an den Rädchen sitzen (ob das wenige sind oder die Gesellschaft als Ganzes), nützlich sind?
Kein Wunder, dass nach gesellschaftlichen Revolutionen meist als Erstes die Erziehung der Kinder neu aufgestellt wird. Als mit der Französischen Revolution eine neue Gesellschaft entstehen sollte, wurde als Erstes ein »Plan der Nationalerziehung« geschrieben. In ihm waren die zu fördernden Funktionen des neuen Menschen klar beschrieben: »Bildet solche Menschen«, so die Einleitung des 1793 im Nationalkonvent in Paris vorgestellten Planes, »und die Republik, bald zusammengesetzt aus diesen kräftigen Elementen, wird in ihrem Busen die Früchte des Ackerbaus und der Industrie um das Doppelte wachsen sehen.« Ähnliche Pläne entstanden zur Bildung des »Sowjetmenschen« oder der deutschen »Herrenrasse«. Und auch heute geht es, freilich in anderem Kontext, bei so manchem Plan nicht so sehr um die Kinder selbst, sondern um die »Früchte«, die da wachsen sollen: »Die Ausstattung eines Landes mit ausreichend Humankapital«, heißt es etwa in einem Gutachten des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahr 2006, »bestimmt seine technologische Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität für ausländische Investoren. Angesichts des demografischen Wandels und stagnierender Absolventenzahlen in höheren Bildungsgängen werden für Deutschland Befürchtungen laut, dass in Zukunft nicht mehr genügend Humankapital zur Verfügung steht, um den produktiven Einsatz des Sachkapitals zu ermöglichen und damit im Innovationswettbewerb mithalten zu können. Damit Deutschland im internationalen Wettbewerb nicht ins Hintertreffen gerät, ist es erforderlich, die noch nicht erschlossenen Bildungspotenziale auszuschöpfen.«
Damit sind wir sozusagen bei der Rückseite der Erziehungsmedaille. Auf welche Ziele hin unsere Kinder sozialisiert werden, welche ihrer Kompetenzen und Bedürfnisse also gefördert und welche eher ignoriert werden – das hat nicht nur mit den Erwartungen der Eltern zu tun. Sondern auch mit den Erwartungen derer, die sich von den Kindern einmal bestimmte Leistungen erhoffen – wenn diese einmal »erzogen« sind.
Ein kleiner Ausflug: Die Nachkriegswende
In den 1940er-Jahren appellierte das United States Children’s Bureau (eine staatliche Agentur vom Range unserer Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) an die US-amerikanischen Eltern, sie sollten nicht mit ihren Babys spielen, »auch wenn dies hart erscheine«. Die Kinder würden sonst verzärtelt und gewöhnten sich an beständige Unterhaltung. Schon Jahre zuvor hatte die Agentur den Grund ausgeführt: Durch das Eingehen auf die kindlichen Signale schaffe man sich »einen Haustyrannen, dessen andauernde Ansprüche aus der Mutter eine Sklavin machen«.
Dies war damals keine Außenseitermeinung, sondern Konsens in den westlichen Ländern. »Die führenden Fachleute – englische, ausländische und amerikanische – stimmen alle darin überein, dass … das Erreichen einer perfekten Regelmäßigkeit, angefangen mit Füttern und Schlafen nach der Uhr, das Fundament für den vollständigen Gehorsam [ist]«, so eine britische Erziehungsexpertin im Jahr 1937.
Wie sehr diese Erziehungshaltung ein Spiegelbild der damaligen industriellen Arbeitswelt war, zeigt die Formulierung in dem damals in Deutschland populären Elternratgeber »Neuzeitliche Säuglingspflege« von 1934: »Ein vernünftig gehaltenes Kind läuft wie ein flinkes blankes Rädchen im Uhrwerk eines wohlgeleiteten Haushalts mit.« Der auf Unterordnung, Rationalisierung, Zergliederung und Rhythmisierung gerichtete Geist der Arbeitswelt war auch der Geist, in dem die Kinder erzogen werden sollten. Zwei Seiten einer Medaille: In der Firma, in der Behörde oder im Militär ging es permanent um die Macht – ebenso in den Familien. Die Säuglinge mussten schreien, bis die Uhr richtig stand – passend zu den Stechuhrzeiten in der Arbeitswelt. Die Welt dort draußen war die Matrize für die Welt dort drinnen – für das Familienleben, die Geschlechterrollen und für die Erziehung der Kinder.
Drückt man auf Fast Forward, so wird einem schwindelig. Nirgends ändert sich jetzt die Gesellschaft schneller als in den USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die industrielle Kriegsökonomie mündet in eine kollektive Gründerphase. Unternehmen schießen aus dem Boden, die Dienstleistungsbranche boomt, Erfindergeist und Wagemut sind das neue Kapital. Mit der Expansion der Absatzmärkte gedeiht die Mittelschicht, und es gedeiht der Optimismus. Das Wort Service ist in aller Munde, anstelle des Fabrikarbeiters vom alten Schlag beherrscht jetzt der »self made man« die Bühne.
Und die Welt dort drinnen? Ändert sich genauso radikal. Ein Erziehungsbuch mit unerhörten Botschaften verkauft sich jetzt in einer Millionenauflage – es soll bis heute nach der Bibel das am meisten verkaufte Buch bleiben: Der Ratgeber The Common Sense Book of Baby and Child Care des Kinderarztes Dr. Benjamin Spock. Zwischen 1946 und 1973 wurde statistisch gesehen für jeden jetzt in den USA geborenen »Baby-Boomer« ein Exemplar dieses Ratgebers über die Ladentheke geschoben.
Nicht mehr die durch ein Machtgefälle erzwungene »Lebensbemeisterung« (Miriam Gebhardt) bildet den Kern dieses Erziehungsbuches, nicht mehr die Frage, wie ein potenzieller Tyrann eingehegt werden kann, nicht mehr die Beratung, wie die Triebe des unzivilisierten Kindes kontrolliert und sein Wille gelenkt werden sollen. Vielmehr steht jetzt die Gestaltung einer Beziehung im Mittelpunkt. Früher, so Dr. Spock, habe man geglaubt, dass »nur absolute Strenge aus einem Kind einen richtigen Menschen« machen könne. Heute wisse man, dass »zur Kindererziehung das absolute Verständnis für das einzelne Kind gehört«. Und statt die Eltern an die Expertenkandare zu nehmen, behandelt Spock seine Leser und Leserinnen als »Self-made-Eltern« – sie sollten ihrer eigenen Intuition folgen und sich auf den »gesunden Menschenverstand« verlassen. Selbst der Optimismus, der jetzt die amerikanische Gesellschaft prägt, findet sich in den Ratschlägen zur Erziehung wieder: »Jedes Kind wird geboren, um ein vernünftiges und freundliches menschliches Wesen zu sein.«
Was nicht bedeutet, dass durch Dr. Spock millionenfach ein Reset-Schalter in den Köpfen der Eltern gedrückt worden wäre und auf einmal alle Eltern (und Großeltern) auf den neuen Pfad eingeschwenkt wären. Einen solchen Reset-Schalter gibt es nicht – schon deshalb nicht, weil unsere Erziehungshaltung nicht nur unseren sozioökonomischen Rahmen, sondern immer auch unsere eigene Beziehungsgeschichte widerspiegelt (das wird noch Thema sein). Und tatsächlich sind mit der Ära Spock die Debatten um die richtige Erziehung ja erst losgegangen – bis heute wird von konservativen Kreisen behauptet, die US-amerikanischen Babyboomer seien durch die neue Erziehungshaltung verdorben worden (»a generation Spocked when they should have been spanked«, wie der konservative Kolumnist Stewart Alsop es ausdrückte – eine Generation also, der man lieber den Hintern hätte versohlen sollen, als sie mit Spock’s Ideen zu verziehen).
Von diesem Wandel des Erziehungsstils war im deutschen Mainstream lange Zeit nichts zu spüren. Am Anfang der Nachkriegszeit stand ja nicht die Euphorie einer neuen Zeit, da beherrschten zerstörte Beziehungen, Traumata und Trümmer den Alltag – keine gute Voraussetzung für die Gestaltung einer »beziehungsorientierten« Erziehung. Die gängigen deutschen Erziehungstraktate der Nachkriegszeit setzten die Nazitradition in der Erziehung praktisch lückenlos fort. Sie bauten weiterhin auf Säuglingspflege nach der Uhr und Körperstrafe bei »mutwilligem« Schreien des Säuglings – so etwa die ab 1949 massenhaft verbreiteten Heftchen von Edith Krüger. Auch an der menschenunwürdigen Behandlung der Kinder änderte sich zunächst nichts. Dieselbe Hartherzigkeit, dieselbe Brutalität: »Der Haltegurt wird auch dazu verwendet, ein lebhaftes Kind vor dem Einschlafen in seinem Bettchen zum Stillliegen zu zwingen« (hier zititert aus einem Ratgeber des Jahres 1965). Und auch, wo es um die Schulkinder ging, vernahm man in der Elternliteratur den alten Kasernenton: »Das Kernziel aller Erziehung ist die Erziehung zum Gehorsam. (…) Jeder Ungehorsam muss sofort und ohne Ausnahme bestraft werden.«
Erst 1957 erschien eine deutsche Übersetzung von Dr. Spocks Ratgeber. Und es sollte dann noch viele Jahre dauern, bis die Welle der »Neuen Erziehung«, wie sie damals auch genannt wurde3, im Mainstream der Bundesrepublik ankam (die »Neue Erziehung« hat übrigens nichts mit der »antiautoritären« Erziehung zu tun, die ab Beginn der 1970er-Jahren in bestimmten sozialen Milieus praktiziert wurde).
Erst mitten im Wirtschaftswunder wurde schließlich die nächtliche Stillpause von acht Stunden hinterfragt – bis dahin galt, dass nur »schwächliche Kinder« nachts zu füttern seien. Die Klassiker der nationalsozialistischen Erziehungsliteratur, wie etwa die Bücher von Johanna Haarer blieben – leicht umbenannt und um offenkundige nationalsozialistische Bezüge bereinigt – noch bis in die 1980er-Jahre hinein in Gebrauch. Die letzte Auflage von »Die Mutter und ihr erstes Kind« erschien im Jahr 1987.
ZWEI
Standortsicherung
Sind Eltern in Sachen Erziehung also Blätter im Wind? Die vielen Umbrüche, Moden und Kehrtwendungen in der Erziehungspraxis legen es nahe. Während die Eltern oft annehmen, sie selbst säßen in dem als privat und intim angesehenen Prozess der Erziehung allein am Steuer, zeigt die Geschichte: In der Erziehungsdebatte sitzen immer auch die mit am Tisch, die die Kinder als zukünftige Funktionsträger sehen – ob als Soldaten, Bewohner eines angeblich freien »Lebensraums« im Osten, als sozialistische Normerfüller, antifaschistische Vorkämpfer, als Fabrikarbeiter oder als spätere Fachkräfte, Forscher, IT-Spezialisten oder Konsumenten. So seltsam es in unserem heutigen, nach allgemeiner Lesart auf die Individualität der Menschen ausgerichteten Zeitalter auch klingen mag: Was wir als gut und richtig in der Erziehung der Kinder ansehen, hat nicht nur mit den Kindern und ihren Bedürfnissen zu tun, sondern beruht immer auch auf der Meinung derer, die an einem bestimmten Beitrag der Kinder interessiert sind. Die Kleinen mögen die Schätze ihrer Eltern sein. Für andere sind sie aber auch Schätze – wenn auch in einem anderen Sinne.
Die verwertbaren Talente im Fokus
Blickt man zurück in die Geschichte, so zeigen sich die Fremdinteressen in der Erziehung deutlich – vielleicht deutlicher, als sie uns heute erscheinen. Als Erstes bestätigt sich, dass die jeweils gängigen Leitbilder für die Kindererziehung stark von Institutionen und Personen propagiert wurden, die mit Kindern eigentlich gar nichts zu tun hatten. Adel und Klerus im Mittelalter wussten genau, worauf es in der Erziehung ankommt – auch wenn das mit den Kindern gerade für die Geistlichen eine Art Trockenschwimmen war. Die Generäle im Kaiserreich hatten eine klare Vorstellung, wie Kinder zu erziehen seien – ja, sogar wie man Babys am besten behandele. Auch die Politiker wussten schon immer, was die Aufgabe der erziehenden Mütter sei. »In meinem Staate ist die Mutter die wichtigste Staatsbürgerin«, prahlte Adolf Hitler. »Was der Mann an Opfern bringt im Ringen seines Volkes, bringt die Frau an Opfern im Ringen um die Erhaltung dieses Volkes in den einzelnen Zellen.« Ebenso mischten die Fabrikbesitzer und Industriebarone des Frühkapitalismus in der Erziehungsdebatte kräftig mit und waren beispielsweise der Meinung, dass Kinder in Schulen nichts verloren hätten.
Auch die medizinischen Experten hielten mit ihren Meinungen nicht hinterm Berg. Jedenfalls war ein guter Teil von ihnen verlässlich zur Stelle, wenn es darum ging, die jeweils herrschende Erziehungsdoktrin »wissenschaftlich« zu begründen. Der bedeutende Kinderarzt Adalbert Czerny etwa gab in seinem in vielen Auflagen verbreiteten Buch »Der Arzt als Erzieher des Kindes« dezidierte Anweisungen, wie das »Nervensystem« des Kindes richtig zu erziehen sei – nämlich durch strikte »Regelmäßigkeit« in der Nahrungsaufnahme und bei den Pflegemaßnahmen. Das sei nicht nur für die Gesundheit des Kindes wichtig, sondern auch »die erste Erziehung zur Beherrschung der Triebe«.4 Im »Dritten Reich« war es das (wenn auch nicht in allen Ansichten vergleichbare) Tandem Haarer/Hetzer, die eine Lungenfachärztin, die andere Entwicklungspsychologin, das die Bevölkerung in populären Ratgebern auf die geforderte Kampfbeziehung zu den Babys einschwor: Man beschäftige sich »nie länger als 5 bis 10 Minuten auf einmal mit einem Kind des ersten Lebenshalbjahres und nicht mehr als 10 bis 15 Minuten im zweiten Lebenshalbjahr«, so der Rat der Fachfrauen.
Erziehung nach Geschäftszweck?
Bei den unterschiedlichen Vorstellungen zur Erziehung wurden zu jeder Zeit andere Prioritäten gesetzt, was die jeweils zu »fördernden« Talente und Verhaltensmerkmale anging. Aus der großen Torte kindlicher Entwicklungsmöglichkeiten wurden immer diejenigen Stücke herausgeschnitten, die gerade als besonders wichtig oder nützlich erschienen. Adolf Hitler etwa fand die Förderung der »geistigen Fähigkeiten« zweitrangig, dafür lag ihm viel an gestählten Körpern: »Der völkische Staat hat […] seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Linie […] einzustellen […] auf das Heranzüchten kerngesunder Körper. Erst in zweiter Linie kommt dann die Ausbildung geistiger Fähigkeiten.« Heute würden wir uns schieflachen, wenn etwa die PISA-Tests das Abschneiden bei Liegestützen messen würden.
Dass die jeweils priorisierten Merkmale extrem unterschiedlich waren (und bis heute sind), wird niemanden überraschen – zur Rettung des Vaterlandes oder zum Aufbau einer »klassenlosen Gesellschaft« braucht es andere Qualitäten als zur Rettung des Wirtschaftsstandorts. (Die Kinder, die die jeweils angesagten Merkmale entwickelten, wurden von den Erwachsenen übrigens immer mit besonders positiven Eigenschaftswörtern dekoriert. Sie galten je nach Zeitalter als »tugendhaft«, »schicklich«, »tapfer« oder auch »brav« und »wohlerzogen«. Heute verstehen manche Eltern das Wort »hochbegabt« in einem ähnlichen Sinn.)
Eine Frage der Perspektive
Schauen wir noch einmal genauer hin zu dem Tisch, an dem über das gesellschaftliche Leitbild von Erziehung und Bildung diskutiert und gestritten wird. Die da sitzen, bewerten Kinder aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Aus Sicht der Eltern sollte sich ihr jeweiliges Kind so in die Gesellschaft einpassen, dass es sein materielles und seelisches Auskommen findet – ein individueller Blick. Der Blick der anderen Teilnehmer an dem Tisch ist dagegen auf die Kinder in ihrer Gesamtheit gerichtet: Es sollen genug Funktionsträger für die anstehenden (oder erträumten) Aufgaben bereitstehen. Genug Rekruten. Genug pünktliche Fabrikarbeiter. Genug gehorsame Minenarbeiter. Genug hochqualifizierte Führungskräfte. Genug freundliche und flexible Servicekräfte. Anders gesagt: Für die Eltern steht das Schicksal ihres Kindes im Vordergrund. Den Machteliten am Tisch dagegen geht es um die Kinder – um deren Beitrag zur jeweils als wichtig oder vorteilhaft erachteten Agenda.
Diese Unterscheidung der Perspektiven ist nicht trivial und wird uns noch – in ihrer ganzen vertrackten Dialektik – intensiv beschäftigen. Denn man könnte das Geschehen am Tisch ja sehr unterschiedlich interpretieren:
…Auf eine für die Eltern wenig schmeichelhafte Weise. Sie stünden aus dieser Sicht nämlich als Kollaborateure der herrschenden Machtinteressen da. Schließlich ziehen sie ihren geliebten Kleinen gegenüber etwas durch, was nicht unbedingt sie selbst auf den »Erziehungsplan« geschrieben haben! Wenn wir an die Mütter im Nationalsozialismus denken oder an die Väter im alten Sparta fällt uns diese Interpretation sicher leichter, als wenn wir uns selbst betrachten.
…Oder man könnte einen Gewinn für alle sehen: Was für die Machteliten gut ist, ist auch gut für die Eltern – und damit auch für ihre Kinder. Schließlich wird das richtige Funktionieren der Kinder gut entlohnt – mit einem Arbeitsplatz, gesellschaftlicher Achtung, materiellem Aufstieg. Mit Status also, der sozialen Währung schlechthin.
Erziehung im Zeitalter der globalisierten Marktwirtschaft
Bevor wir uns aber an diese vertrackte Dialektik mit ihren vielen Perspektiven wagen, schauen wir uns noch einmal das Hier und Heute genauer an. Es ist geprägt von einem nicht zu übersehenden Wissenszuwachs – auch über Kinder. Richtet sich damit Erziehung jetzt nicht an dem aus, was Wissenschaftler alles an Neuem entdeckt haben? Was sie inzwischen über die Synapsen, Rezeptoren und Bedürfnisse der Kinder wissen? Entzieht das nicht diesem ständigen Schielen nach der zukünftigen Verwertbarkeit der Kinder den Boden?
Zunächst einmal fällt auf, wie weit sich die heutigen Kompetenzerwartungen von denen unserer Großeltern, aber auch von denen unserer Eltern wegentwickelt haben. Das Highlight des Erziehungsalltags ist ganz gewiss nicht mehr, wenn das Baby das gewünschte Resultat ins Töpfchen drückt5 oder wenn das Kleinkind zur Begrüßung brav einen »Diener« macht – sondern wenn es mit möglichst elaborierten ersten Worten seine gehobene Intelligenz erkennen lässt. Die Eltern freuen sich nicht deshalb, weil das Kleine endlich sein Löffelchen richtig halten kann (Zeigefinger oben, Daumen an der Seite), sondern daran, dass es »selbstständig« einschläft. Und wenn es dann seinen Zahlenraum noch im Kindergartenalter auf 50 aufpumpt, pocht das Elternherz in fester Gewissheit: Aus meinem Kind wird einmal ein erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft. Jetzt muss es nur noch rasch mehrsprachig werden.
Auch die Individualität des Kindes steht jetzt ganz oben auf der Agenda. Als Knabe hieß man bis in die Nachkriegszeit hinein zum Beispiel Gustav. Und das ganz gewiss nicht, weil der Mutter der Name so sehr gefiel, sondern weil es da einen Ahnen namens Gustav gab. Zu Beginn der 1960er-Jahre brachte es unser Modellknabe dann immerhin schon auf »Herbert« – auch wenn die Ahnenreihe dicht mit »Hermann« besetzt war. Ab den 1990ern klingen die Kinder dann wie Verheißungen. Die Schauspielerin Uma Thurman etwa gibt ihrem Baby gleich fünf Vornamen: Rosalind Arusha Arkadina Altalune Florence. Gut, wenn da mal nicht noch ein paar Geschwisterchen dazukommen.
In seiner Einzigartigkeit soll das Kind darüber hinaus in der Lage sein, sich gegen die anderen einzigartigen Kinder zu behaupten – schließlich bekommt man die guten Jobs nicht etwa durch einen schönen Vornamen (oder fünf). Und auch das »Urvertrauen« – noch in der Generation zuvor häufig als wichtigstes Erziehungsziel genannt und mit Schaffell und langem Stillen angebahnt – hilft da nur bedingt. Heute ist eher Durchsetzungsvermögen gefragt. Wenn Pädagogen der Universität Innsbruck jetzt beklagen, dass »Mädchen schon als Dreijährige deutlich seltener zum Leistungswettbewerb mit Gleichaltrigen bereit sind als Jungen«, so liegt die Schlussfolgerung auf der Hand: »Das Wettbewerbsverhalten von Frauen [ist] schon in jungen Jahren gezielter zu fördern, um einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu leisten.«
Die Kompetenzerwartungen heutiger Eltern im gesellschaftlichen Mainstream drehen sich somit vor allem um drei individuumsbezogene Kardinaltugenden: eine möglichst rasche sprachliche und kognitive Entwicklung, möglichst frühe Autonomie sowie Durchsetzungsvermögen. Auf der Erziehungsagenda der bürgerlichen Mittelschicht sind damit genau die persönlichen Qualitäten gelandet, die in der globalisierten Wirtschaft als die entscheidenden Produktivitätsressourcen gelten. Mit anderen Worten: Das Kind soll fit werden für den Wettbewerb.
Dieses Kleeblatt wäre unvollständig, wenn wir nicht noch eine weitere, scheinbar paradoxe Forderung an die Kinder herantragen würden: Sie sollen nämlich – bei aller individuellen Leistungsbereitschaft – auch teamfähig sein. Also mit den anderen Kindern auskommen, sich an Regeln halten und auch mal warten können, bis sie dran sind. Dass auch in diesem Ziel die Anforderungen der heutigen, auf Vernetzung und Serviceorientierung angelegten Arbeitswelt mitschwingen, zeigt die Tatsache, dass auch die OECD die Teamfähigkeit heute zu den »Schlüsselkompetenzen« der kindlichen Bildung rechnet und darauf hinweist, dass die guten zwischenmenschlichen Beziehungen der »Bildung von Sozialkapital« dienen und deshalb »zunehmend auch für den wirtschaftlichen Erfolg wichtig« seien.
Bildung zur Standortsicherung?
Der derzeit gültige »geheime Lehrplan« der Erziehung ist also noch gar nicht so alt. Er stammt aus der Zeit der Globalisierungseuphorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Damals, nach dem Fall der Mauer, schien die »Systemfrage« geklärt, der Kapitalismus stand als Sieger fest. Mancher Historiker redete gar vom Ende der Geschichte. Die Freiheit, die sich da auf dem politischen Feld durchgesetzt hatte, wurde jetzt zunehmend als Freiheit des einzelnen Marktteilnehmers gesehen – der auf einem möglichst unregulierten Markt seine Vorteile zu suchen habe.
Gleichzeitig lösten die rasanten Fortschritte in der Biotechnologie und vor allem der Informationsverarbeitung ungeheure Hoffnungen aus – die Dienstleistungsgesellschaft sei auf dem Weg in die »Wissensgesellschaft«. Mit dem neuen Rohstoff Wissen ließen sich das Kapital und die eingesetzten »Humanressourcen« immer effektiver nutzen, Waren immer billiger herstellen, Dienstleistungen immer schneller erbringen. Der goldene Weg zu unermesslichem Wohlstand!
Man staunt nicht schlecht, wie schnell gerade die Eltern und Erzieher für den neuen Masterplan gewonnen werden konnten. Ging es in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren in den Kindergärten noch darum, ob Wasserpistolen okay seien und die Kleinen ihre Schäufelchen gerecht teilen (oder sich zumindest kreativ »in die Gruppe einbringen«), wurden jetzt Bildungspläne gedruckt, in denen es vor allem um die kognitiven Kompetenzen der Kleinen ging. Spielen – wenn davon überhaupt noch die Rede war – wurde jetzt als Unterabteilung der Intelligenzentwicklung gesehen: »Intelligente Wissensspiele« hießen auf einmal die Buchtitel und »Falten und Spielen – intelligent durch geschickte Finger«. Auf den Kita-Elternabenden lassen sich jetzt Eltern der Republik über das Konzept der »Metakognition« aufklären, und die größte deutsche Bildungsmesse, die Didacta, lädt ein zu Fachvorträgen mit Titeln wie: »Die kindliche Bildungsbiografie optimieren«. Der auf Effizienz und Ertrag gerichtete neue Zeitgeist fordert jetzt auch das: die pädagogische Mästung von Anfang an.
In der populären Presse wird gleichzeitig die Grenze ausgelotet, wie weit man denn mit dem Streben nach mehr Bildung gehen dürfe. In dem Bestseller »The battle hymn of a tiger mother« (deutsch: »Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kinder das Siegen beibrachte«) beschreibt die chinesischstämmige Harvard-Juristin Amy Chua nicht weniger als die Diktatur der Bildung – in ihrem Namen sei die Kindheit in ein pädagogisches Reservat zu verwandeln, in dem den Kleinen auch schon mal anzudrohen sei, dass ihr Lieblingsteddy verbrannt wird, wenn sie nicht öfter Klavier üben. Selbst die der Mutter überreichten Geburtstagszeichnungen seien streng auf Qualität zu prüfen und – falls das Niveau nicht stimmt – zurückzugeben: You can do better!
In Deutschland setzt man dabei weniger auf die Eltern selbst als auf die Bildungsanstrengungen der Institutionen. Immerhin 25.000 Kitas sind inzwischen als »Haus der kleinen Forscher« zertifiziert – das Bildungsmodell geht auf die Initiative der Unternehmensberatung McKinsey & Co zurück, deren damaliger Chef, Prof. Jürgen Kluge, so argumentierte: »Bildung und damit Humankapital ist die Voraussetzung für Innovation, Wachstum und Wohlstand. (…) Beginnen wir also, Kinder ernst zu nehmen. (…) Beginnen wir mit dem Lernen ab der Geburt und nicht erst in der Schule …« Das mit solchen Worten aus der Taufe gehobene Forschermodell für die Kitas bietet den Kleinen »mathematische, naturwissenschaftliche oder technische Projekte« an, die ihre »Begeisterung für naturwissenschaftliche Phänomene und technische Fragestellungen wecken und langfristig zur Nachwuchssicherung der entsprechenden Berufsfelder beitragen«. Das pädagogische Konzept der Forscher-Häuser wiederum stammt von der Telekom-Stiftung (und wird uns noch beschäftigen).
Die unsichtbare Hand
Da ist sie also wieder, die ewige Kehrseite der Erziehungsmedaille – die (interessengebundene) Perspektive derer, die im öffentlichen Raum gerade den Ton angeben. Erstaunlich nur, dass sie der Vorderseite so ähnlich ist: Spricht man mit Eltern, so sehen sie in dem, was sie ihren Kindern vermitteln wollen, etwas ganz Persönliches. Etwas, das ihre ureigenen Werte und Ansichten widerspiegelt. Selbstständigkeit? Je früher desto besser! – Intelligenz? Haben nicht die Neurowissenschaften gezeigt, dass das kindliche Hirn sich gerade jetzt in seiner sensibelsten Phase befindet? – Bildung? Klar geht es da vornehmlich um Wissen – wir leben schließlich in einer »Wissensgesellschaft«! Wie durch Zauberhand scheint sich der Bedarf der Wirtschaft in die Köpfe der Eltern gemogelt zu haben.
Selbst in der modernsten aller Welten, die sich auf das Versprechen gründet, dass jeder seinen individuellen Platz und Lebensentwurf suchen kann, funktioniert offenbar diese uralte, wundersame Mimikry: Was die Eltern für ihr eigenes, unvergleichliches, ganz besonderes und, selbstverständlich, individuell erzogenes Kind anstreben – ist genau das, was der »Standort« gerade braucht.
DREI
Von dem, was uns richtig erscheint
Auf eine seltsam verworrene Art scheint das, was hier und jetzt gerade als wichtig erachtet wird (von wem und für was, ist dann erst die zweite Frage), sich auch richtig anzufühlen. Fehlt der Achse, um die sich unser Leben dreht, vielleicht die feste Aufhängung?
Menschen mögen aus demselben Lehmklumpen geformt sein – aber was haben sie nicht schon alles für das richtige Leben gehalten! Denken wir an die Menschen im Mittelalter – wichtig und richtig war das gottgefällige Leben im christlichen Glauben. Des Lebens höchste Bestätigung: ein Tod, den wir »gerüst, willig und bereyt« antreten. Die größte Angst: im Moment der Wahrheit, also angesichts des Todes, vom Glauben abzufallen und in die Fänge des Teufels zu geraten – er wartet ja auf so mancher zeitgenössischen Darstellung direkt neben dem Sterbebett. Typisch also für die damalige Zeit, wenn ein Sterbender versichert, er bleibe in der Todesnot seinem Glauben treu, auch wenn er »aus Schwachheit des Hauptes« gegebenenfalls etwas anderes sagen sollte.
Dieser Blick auf das Richtige wird noch verworrener, wenn wir ihn auf andere Kulturen erweitern – Filme über ferne Kulturen sind ja gerade deshalb so spannend, weil wir mit der Kamera im Grunde in andere Gehirne hineinzuschauen versuchen: Was geht da drin vor? Was treibt diese Menschen an? Was ist für sie die Essenz eines »gelungenen« Lebens? Oft genug bleiben diese Fragen unbeantwortet.
Genauso wie die Fragen so manches Vaters und mancher Mutter unbeantwortet geblieben sind, was denn ihre Kinder antreibe, die da gerade zum Sprung ins Erwachsenenleben ansetzen. Man denke nur an die Zeit, als dem Wirtschaftswunder so langsam die Puste ausging, die Zeit der langhaarigen »Gammler«: Wie bitte? So stellen die sich das Leben vor? Und wie sie auch noch aussehen! O Gott, und die werden einmal das Altersheim für uns aussuchen?
Begegnungen zwischen innerer und äußerer Welt
Wie kommt das, was uns als »richtig« erscheint, unter die Schädeldecke? Wer flüstert uns ein, was Wert hat und was nicht?
Um es kurz zu machen: Unter der Schädeldecke begegnen sich die innere und die äußere Welt. Da treten Seele und Umwelt in Resonanz – und bringen dieses Flüstern auf den Weg, das letzten Endes auch unser Fühlen und Denken leitet. Je nachdem, wie die Innen- und Außenräume der Menschen gestaltet sind, werden da sehr unterschiedliche Ansagen erklingen …
An den Innenflächen dieses Resonanzraumes wird schon in der frühesten Kindheit gearbeitet. Die Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass Kinder ihr grundlegendes emotionales »Arbeitsmodell« an ihren Erfahrungen in den kleinkindlichen Beziehungsprozessen ausrichten. Auch die kulturvergleichende Forschung kann zeigen, dass der grundsätzliche Umgang der Erwachsenen mit den kindlichen Emotionen auch auf deren spätere Beziehungsmuster, auf ihr Selbstbewusstsein und sogar auf das Bild ausstrahlt, das sich die Kinder generell von der Welt machen. Dieses Arbeitsmodell wird dann im weiteren Leben entweder bestätigt, modifiziert oder verworfen – je nach dem, welche Erfahrungen dazukommen. Das ursprüngliche, in den ersten Lebensjahren entwickelte Arbeitsmodell ist also beileibe kein Stempel für das Leben – sondern in der Tat ein Modell, in das dann die Erfahrungen mit der äußeren Welt laufend integriert werden.
Bei der Entstehung des inneren Flüstertons spielt die äußere Welt aus einem weiteren Grund eine entscheidende Rolle: Zum einen liegt dort ja das tagesaktuelle kulturelle Angebot an Ideen, Werten, Überzeugungen und Denkmustern aus. Zum anderen aber warten dort ganz handfeste Rollen auf uns Menschen – sei es bei der Erwerbsarbeit, in der Familie oder bei der Freizeitgestaltung. Und die Erfahrungen, die wir in den Rollen machen, in die wir da hineinschlüpfen, wirken wiederum auf unser Innenleben zurück – und wie!
Denn mit diesen Rollen, die da immer wieder neu im Angebot einer Gesellschaft ausliegen, ist das so eine Sache. In manchen Rollen fühlen wir uns wohl, in anderen sind wir gestresst und unzufrieden. Generell haben wir in solchen Rollen Aufwind, in denen wir uns sozial eingebunden fühlen, in denen wir uns als wirksam und kompetent erfahren und in denen wir bei wichtigen Dingen mitentscheiden können.6
Wie stark das Rollenangebot einer Gesellschaft auf die psychische Verfassung und auch die Werte und Überzeugungen ihrer Mitglieder zurückwirkt, zeigt die Sozialpsychologie. Ist es um das Rollenangebot einer Gesellschaft schlecht bestellt – sind also in der Gesellschaft nur wenige seelisch auskömmliche Aufgaben und Arbeitsplätze im Angebot –, so neigen die Menschen eher zu Ressentiments, Ausgrenzung Andersdenkender, Gewalt und dogmatischem Denken. (Das zeigt sich etwa, wenn Gesellschaften in Krisen rutschen, Massenarbeitslosigkeit herrscht oder ganze Bevölkerungsschichten verarmen. Plötzlich kann sogar ein Krieg als richtig oder auch »heilig« gelten.)
Resonanzraum der Geschichte
Dass sich in einer Gesellschaft auf einmal neue Werte (und dazu gehören auch neue Überzeugungen über den »richtigen« Umgang mit Kindern) entwickeln, liegt also daran, dass der innere Kompass der Menschen immer wieder neu geeicht wird – und zwar sowohl an den Erfahrungen, die sie in ihrem Beziehungskosmos machen, als auch an ihren Erfahrungen bei der Bemeisterung der Welt dort draußen.