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Henry Kissinger

Weltordnung

Aus dem Amerikanischen von
Karlheinz Dürr und Enrico Heinemann

C. Bertelsmann

Die Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel »World Order«
bei Penguin Press, New York, erschienen.

1. Auflage

© 2014 by Henry Kissinger

© 2014 für die deutsche Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15548-3

www.cbertelsmann.de

Für Nancy

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Die Suche nach einer Weltordnung

KAPITEL 1
Europa: die pluralistische Internationale Ordnung

KAPITEL 2
Das europäische Kräftegleichgewicht und sein Ende

KAPITEL 3
Islamismus und der Nahe Osten: eine Welt in Unordnung

KAPITEL 4
Die Vereinigten Staaten und der Iran

KAPITEL 5
Die Vielfalt Asiens

KAPITEL 6
Zu einer asiatischen Ordnung

KAPITEL 7
»Um der Menschheit willen«

KAPITEL 8
Die Vereinigten Staaten: eine ambivalente Supermacht

KAPITEL 9
Technik, Gleichgewicht und menschliches Bewusstsein

SCHLUSSFOLGERUNG
Weltordnung in unserer Zeit?

Danksagung

Namensregister

Sachregister

Einleitung: Die Suche nach einer Weltordnung

Als junger Akademiker berief ich mich in einer Rede, die ich 1961 in Kansas hielt, auf Präsident Harry S. Truman. Er hatte auf die Frage, was ihn als Präsidenten besonders stolz gemacht habe, geantwortet, »dass wir unsere Feinde völlig besiegten und sie dann als Gleichgestellte in die Völkergemeinschaft zurückgeführt haben. Ich nehme an, dass nur Amerika so etwas tun würde«. Truman war sich der riesigen Macht Amerikas bewusst, aber stolz war er vor allem auf die humanitären und demokratischen Werte der USA. Er wollte, dass man sich weniger an die Siege Amerikas als vielmehr an seine Versöhnungsleistungen erinnerte.

Seit Truman haben sich alle Präsidenten diese Auffassung in irgendeiner Form zu eigen gemacht und sich voller Stolz auf ähnliche Attribute der amerikanischen Geschichte berufen. Und für den größten Teil dieses Zeitraums spiegelte die Völkergemeinschaft, für deren Erhalt diese Präsidenten sich einsetzten, einen amerikanischen Konsens wieder – eine sich stetig ausbreitende, kooperative Ordnung von Staaten, die gemeinsamen Regeln und Normen folgen, liberale Wirtschaftssysteme haben, territorialer Eroberung abschwören, nationale Souveränität achten und sich partizipative und demokratische Regierungssysteme geben. Amerikanische Präsidenten beider Parteien drängen andere Staaten unermüdlich und oft sehr nachdrücklich und mit großer Überzeugungskraft, sich dem Schutz und der Achtung der Menschenrechte zu verpflichten. Und in vielen Fällen trägt die Verteidigung dieser Werte durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten dazu bei, dass sich die Lebensbedingungen der Menschen grundlegend verändern.

Heute jedoch steht dieses »regelbasierte« System vor großen Herausforderungen. Schon die häufigen Ermahnungen an andere Länder, »ihren angemessenen Teil beizutragen«, sich an »die Regeln des 21. Jahrhunderts zu halten« oder sich in dem gemeinsamen System als »verantwortungsbewusste Akteure« zu verhalten, verdeutlichen die Tatsache, dass es keine allgemeine Definition des Systems und auch kein gemeinsames Verständnis dessen gibt, was denn nun ein »angemessener« Beitrag sein könnte. Außerhalb der westlichen Welt wird die Gültigkeit dieser Regeln in ihrer derzeitigen Form von Staaten und Regionen infrage gestellt, die eine minimale Rolle bei ihrer ursprünglichen Formulierung spielten; sie lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie diese Regeln modifizieren wollen. Während man sich heute vielleicht häufiger als in jeder anderen Ära auf »die internationale Staatengemeinschaft« beruft, bietet uns diese Gemeinschaft kein klares Bild, keine fest vereinbarten Ziele, Methoden oder Grenzen.

Unser Zeitalter sucht beharrlich, und manchmal geradezu verzweifelt, nach dem Konzept einer Weltordnung. Chaos droht, doch zugleich herrscht eine noch nie da gewesene Interdependenz: im Hinblick auf die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, den Zerfall von Staaten, die Auswirkungen der Umweltzerstörungen, die immer wieder begangenen Völkermorde und die Ausbreitung neuer Technologien, die es ermöglichen, Konflikte so weit zu eskalieren, dass sie unkontrollierbar und letztlich auch undurchschaubar werden. Neue Methoden der Verfügbarkeit und der Weitergabe von Informationen verbinden und einen die Regionen dieser Welt wie nie zuvor und projizieren jedes Ereignis auf eine globale Ebene. Doch das geschieht auf eine Art und Weise, die jede Reflexion behindert und die politischen Führer zwingt, ihre Reaktionen unverzüglich kundzutun, und das in der möglichst schlichten Form von Schlagzeilen. Stehen wir vor einem neuen Zeitabschnitt, in dem die Zukunft durch Kräfte bestimmt wird, die durch keine Ordnung mehr begrenzt werden?

Varianten der Weltordnung

Bis heute gab es keine wahrhaft globale »Weltordnung«. Was unsere Zeit als Ordnung versteht, wurde vor fast vier Jahrhunderten in Westeuropa entworfen, auf einer Friedenskonferenz in Westfalen. Sie fand ohne Beteiligung oder auch nur Wissen der meisten anderen Kontinente oder Zivilisationen statt. Vorausgegangen war ein Jahrhundert religiöser Konflikte und politischer Umwälzungen in Mitteleuropa, die schließlich im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) ihren Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt erreicht hatten – einem wahren Flächenbrand, in dem sich politische und religiöse Zwistigkeiten vermischten, die Konfliktparteien den »totalen Krieg« gegen die Bevölkerungszentren führten und fast ein Viertel der mitteleuropäischen Bevölkerung an Kriegsfolgen, Krankheiten oder Hunger starb. Die erschöpften Kriegsparteien einigten sich schließlich auf eine Reihe von Vereinbarungen, durch die weiteres Blutvergießen verhindert werden sollte. Die religiöse Einheit war brüchig geworden: Der Protestantismus hatte überlebt und sich weiter ausgebreitet. Politische Vielfalt war schon in der schieren Menge autonomer politischer Einheiten angelegt, die sich so lange bekämpft und doch nur ein Patt erreicht hatten. Doch damit zeigte Europa bereits bestimmte Bedingungen unserer heutigen Welt auf: Es existierte eine Vielzahl politischer Einheiten, von denen keine stark genug war, um alle anderen zu besiegen, und die zum Teil gegensätzlichen Philosophien anhingen und unterschiedliche Regierungssysteme hatten. Nun jedoch begaben sie sich gemeinsam auf die Suche nach neutralen Regeln für ihr Verhalten und für die Schlichtung ihrer Konflikte.

Im Westfälischen Frieden spiegelte sich eine pragmatische Anpassung an die Realität und keineswegs eine einzigartige moralische Einsicht. Er beruhte auf einem System unabhängiger Staaten, die davon Abstand nahmen, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen, und die die jeweiligen Bestrebungen der anderen durch ein allgemeines Gleichgewicht der Kräfte zu kontrollieren suchten. In den europäischen Konflikten hatte sich kein Anspruch auf eine alleinige Wahrheit und keine universale Vorherrschaft durchzusetzen vermocht. Vielmehr wurden nun alle Staaten mit dem Attribut der Souveränität über das eigene Territorium ausgestattet. Jeder Staat anerkannte die inneren Strukturen und das religiöse Bekenntnis der anderen Staaten als Realitäten und enthielt sich jeder Infragestellung ihrer Existenz. Das Mächtegleichgewicht wurde nun als natürlich und erwünscht angesehen; auch die Bestrebungen der Herrscher wurden in ein Gleichgewicht gestellt, und zumindest theoretisch wurde die Tragweite der Konflikte begrenzt. Teilung und Vielfalt, Zufallsprodukte der europäischen Geschichte, wurden zu Kennzeichen eines neuen Systems der internationalen Ordnung, das eine eigene, klare philosophische Perspektive hatte. In diesem Sinne gestaltete und umriss das damalige Bemühen, den Flächenbrand in Europa zu beenden, bereits die moderne Befindlichkeit: Es enthielt sich eines Urteils über das Absolute zugunsten einer pragmatischen und ökumenischen Weltsicht, und es wollte Ordnung schaffen, indem es die bestehende Vielfalt anerkannte und gleichzeitig gegenseitige Zurückhaltung zusicherte.

Die Verhandlungsführer des 17. Jahrhunderts, die den Westfälischen Frieden aushandelten, konnten natürlich nicht ahnen, dass sie das Fundament für ein global anwendbares System legten. So unternahmen sie auch keinen Versuch, das benachbarte Russland einzubeziehen. Russland hatte gerade seinen eigenen Albtraum hinter sich, die sogenannte »Zeit der Wirren« (russ. »Smuta«, eine von politischen Unruhen, Hungersnöten und Interventionen ausländischer Mächte geprägte Periode, 1598–1613; A. d. Ü.), und machte sich nun daran, seine innere Ordnung neu zu festigen. Dabei wurden bestimmte Prinzipien verankert, die in einem ausgeprägten Gegensatz zum Westfälischen Gleichgewicht standen: ein einzelner, absolut regierender Herrscher, eine einheitliche religiöse Orthodoxie und ein Programm territorialer Expansion in alle Himmelsrichtungen. Auch die anderen wichtigen Machtzentren betrachteten den Westfälischen Frieden (sofern sie überhaupt davon erfuhren) als für ihre eigenen Regionen nicht relevant.

Die Idee einer Weltordnung bezog sich damals nur auf den geografischen Raum, der den zeitgenössischen Staatsmännern bekannt war – und dieses Muster wiederholte sich auch in anderen Regionen. Der Hauptgrund ist darin zu sehen, dass der damalige Stand der Technologie die Steuerung eines einzigen globalen Systems weder beförderte noch überhaupt zuließ. Da es weder Instrumente einer kontinuierlichen Interaktion noch einen Bezugsrahmen gab, durch den sich die Macht einer Region im Vergleich zu einer anderen einschätzen ließ, betrachtete jede Region ihre eigene Ordnung als einzigartig und definierte die anderen Völker als »Barbaren« – die in einer Weise regiert wurden, welche der etablierten Ordnung unverständlich und für ihre Ziele irrelevant erschien, sofern sie nicht sogar als Bedrohung wahrgenommen wurde. Jede Ordnung definierte sich selbst als Mustervorlage für die legitime Organisation der Menschheit und wollte durch ihre Herrschaft über die unmittelbare Umgebung auch zugleich die Welt ordnen.

Am Europa entgegengesetzten Ende der eurasischen Landmasse bildete China das Zentrum seines eigenen, hierarchischen und theoretisch universalen Ordnungskonzepts. Es war ein System, das seit Jahrtausenden funktioniert hatte – es hatte bereits bestanden, als das Römische Weltreich Europa als Einheit beherrschte. Das chinesische Ordnungskonzept gründete nicht auf der souveränen Gleichheit von Staaten, sondern auf der Annahme, dass der Einfluss des Kaisers grenzenlos sei. In diesem Konzept gab es keine Souveränität im europäischen Sinne, weil der Kaiser über alles »unter dem Himmel« herrschte. Er stand an der Spitze einer politischen und kulturellen Hierarchie, einzigartig und universal, und seine Macht strahlte von der »Mitte der Welt«, der Kaiserstadt Peking, auf den ganzen Rest der Menschheit hinaus. Die Bewohner der China umgebenden Menschheit wurden in verschiedenen Abstufungen als Barbaren klassifiziert, je nach dem Grad ihrer Vertrautheit mit der chinesischen Schrift und den kulturellen Institutionen Chinas (eine Kosmographie, die bis in die Moderne hinein überdauerte). Dieser Sichtweise zufolge sollte China die Welt vor allem dadurch ordnen, dass es andere Gesellschaften durch seine großartigen Kulturleistungen und seinen ökonomischen Reichtum in Erstaunen versetzte und sie in Beziehungen einband, durch die das Ziel der »Harmonie unter dem Himmel« verwirklicht würde.

In einem großen Teil der zwischen Europa und China liegenden Gebiete herrschte das andersartige universale Weltordnungskonzept des Islam mit seiner Vision eines einzigen, von Gott sanktionierten Herrschaftssystems, das die Welt eint und befriedet. Im 7. Jahrhundert hatte sich der Islam auf einer beispiellosen Welle religiöser Begeisterung und imperialer Expansion über drei Kontinente ausgebreitet (die »Islamische Expansion« bezeichnet die Eroberungspolitik der Araber im 7. und 8. Jahrhundert, A. d. Ü.). Nachdem der Islam die arabische Welt geeint, die Reste des Römischen Imperiums übernommen und das Persische Reich erobert hatte, herrschte er über den Nahen Osten, Nordafrika, große Teile Asiens und sogar Teile Europas. Nach dieser Version einer universalen Ordnung war der Islam dazu bestimmt, sich über das »Gebiet des Krieges« (Dār al-Harb) auszudehnen, wie alle von Ungläubigen bevölkerten Regionen genannt wurden, bis schließlich die ganze Welt zu einem einheitlichen, durch die Botschaft des Propheten Mohammed harmonisierten System verschmolzen werden sollte. Während Europa an seiner Vielstaatenordnung baute, entstand auf erobertem byzantinischem Boden in Anatolien das Osmanische Reich, durch das der Anspruch des Islam auf ein einziges legitimes Herrschaftssystem neu belebt und seine Vorherrschaft über die arabischen Kernlande hinaus über das Mittelmeer, den Balkan und Osteuropa weiter ausgedehnt wurde. Der Islam war sich der Tatsache bewusst, dass in Europa eine neue zwischenstaatliche Ordnung im Entstehen begriffen war; aus islamischer Sicht stellte sie jedoch kein Modell, sondern die Quelle weiterer Zerwürfnisse dar, die zum Zweck der westgewandten osmanischen Expansion ausgenutzt werden konnten. Das wird aus den Worten deutlich, mit denen Sultan Mehmed II. (»der Eroberer«) die italienischen Stadtstaaten schalt, die schon im 15. Jahrhundert eine frühe Form der Multipolarität praktizierten: »Heute aber seid ihr zwanzig Herrschaften und Mächtegruppen in eurem Lande, seid untereinander uneins und euch von Herzen feind.« Doch dürfe es auf der Welt nur ein Reich, einen Glauben und ein Kaisertum geben.1

Hundertfünfzig Jahre später machte man sich auf der anderen Seite des Atlantiks, in der »Neuen Welt«, daran, die Grundlagen einer andersartigen Weltordnung zu schaffen. Während im Europa des 17. Jahrhunderts politische und religiöse Konflikte tobten, hatten sich puritanische Siedler aufgemacht, um durch ihren »Errand into the Wilderness« Gottes Plan auszuführen und sich damit von den etablierten und in ihren Augen verdorbenen Herrschaftsstrukturen in Europa zu befreien. In der »Wildnis« wollten sie »eine Stadt auf einem Hügel« erbauen, wie es Gouverneur John Winthrop 1630 in einer Predigt auf einem Schiff ausdrückte, das sich auf der Fahrt zu der Siedlung in Massachusetts befand. Es sollte ein Gemeinwesen werden, das die Welt durch einfache, gerechte Prinzipien inspirieren und ihr als überzeugendes, leuchtendes Beispiel vorangehen würde. In der amerikanischen Sicht einer Weltordnung sollten sich Frieden und Gleichgewicht auf natürliche Weise ergeben und alte Feindschaften überwunden werden – wenn erst einmal anderen Nationen dasselbe prinzipielle Recht eingeräumt wurde, über ihr Herrschaftssystem selbst zu bestimmen, mit dem die Amerikaner ihr System gestalteten. Aufgabe der Außenpolitik war deshalb nicht so sehr die Verfolgung eines spezifisch amerikanischen Interesses als vielmehr die Kultivierung gemeinsamer Grundsätze. Im Laufe der Zeit sollten die Vereinigten Staaten so zum unentbehrlichen Verteidiger der von Europa entworfenen Ordnung werden. Doch während sich die Vereinigten Staaten mit vollem Einsatz diesem Ziel widmeten, zeigte sich eine Ambivalenz – denn die amerikanische Vision beruhte nicht auf der Übernahme des europäischen Systems des Mächtegleichgewichts, sondern der Friede sollte durch die Verbreitung demokratischer Prinzipien geschaffen werden.

Von all diesen Ordnungskonzepten stellen die Prinzipien des Westfälischen Friedens derzeit die einzige allgemein anerkannte Grundlage dessen dar, was als Weltordnung existiert. Das Westfälische System verbreitete sich auf der ganzen Welt als Rahmen für eine auf Nationalstaaten beruhende internationale Ordnung, die viele unterschiedliche Zivilisationen und Regionen umfasst, weil die europäischen Staaten bei ihrer weiteren Expansion diese Blaupause für eine internationale Ordnung mit sich führten. Die Europäer vernachlässigten es allerdings oftmals, das Konzept der Souveränität auch auf ihre Kolonien und die kolonisierten Völker anzuwenden. Doch als diese Völker nun ihrerseits die Unabhängigkeit einforderten, taten sie das unter Berufung auf die Westfälischen Konzepte. Die Prinzipien der nationalen Unabhängigkeit, der staatlichen Souveränität, des Nationalinteresses, der Nichteinmischung erwiesen sich nun als wirksame Argumente gegen die Kolonialherren selbst, nicht nur während der Unabhängigkeitskämpfe, sondern auch danach, als es darum ging, Schutzansprüche für die neu gebildeten Staaten zu begründen.

Das heutige, nunmehr globale Westfälische System – das wir umgangssprachlich als Weltgemeinschaft bezeichnen – ist darauf gerichtet, den an sich anarchischen Charakter der Welt durch ein umfangreiches Netz internationaler Rechts- und Organisationsstrukturen zu bändigen. Es soll freien Handel und ein stabiles internationales Finanzsystem fördern, allgemein akzeptierte Prinzipien zur Lösung internationaler Streitfragen etablieren und, sollte es doch zu Kriegen kommen, diesen Konflikten Grenzen setzen. Dieses Staatensystem umfasst heute alle Kulturen oder Religionen. Ihre Institutionen stellen einen neutralen Rahmen für die Interaktionen sehr verschiedenartiger Gesellschaften zur Verfügung, und er ist in hohem Maße unabhängig von ihren jeweiligen Werten.

Doch die Westfälischen Prinzipien werden von allen Seiten infrage gestellt, manchmal auch im Namen der Weltordnung selbst. Ein großer Teil Europas steht im Begriff, über das von ihm selbst entworfene Staatensystem hinauszugehen und es durch gemeinschaftliche Souveränität, also durch einen Herrschaftsverband, zu ersetzen. Und obwohl Europa das Konzept des Mächtegleichgewichts erfand, schränkt es ironischerweise das Element der Macht seiner neuen Institutionen bewusst und weitgehend ein. Durch die Verringerung seiner militärischen Kapazitäten verfügt Europa jedoch nur über schwache Möglichkeiten zur Reaktion, wenn universale Normen verletzt werden.

Im Nahen Osten rütteln Dschihadisten auf beiden Seiten der sunnitisch-schiitischen Trennlinie an den Fundamenten mehrerer Gesellschaften. Sie bringen ganze Staaten zum Einsturz, um ihre Vision einer weltweiten Revolution auf der Grundlage ihrer fundamentalistischen Version des Islam zu verwirklichen. Hier ist der Staat selbst gefährdet – wie auch das ganze auf dem Staat basierende regionale System; er wird von Ideologien angegriffen, die seine funktionsbedingten Zwänge als illegitim ablehnen, und von terroristischen Milizen, die in manchen Ländern bereits stärker sind als die bewaffneten Streitkräfte der Regierungen.

Erstaunlicherweise ist Asien in gewisser Hinsicht die erfolgreichste Region, wenn man die Umsetzung des Konzepts der staatlichen Souveränität zum Maßstab nimmt. Doch auch Asien erinnert sich nostalgisch an alternative Ordnungskonzepte, und auch dort brodeln jene Rivalitäten und historischen Ansprüche, die Europas Ordnung vor hundert Jahren zerschmetterten. Fast jedes asiatische Land hält sich für eine »aufstrebende Nation« und reagiert auf abweichende Meinungen mitunter mit offener Konfrontation.

Die Vereinigten Staaten schwanken zwischen zwei Extremen: Einerseits verteidigen sie das Westfälische System, andererseits geißeln sie das Westfälische Prinzip des Mächtegleichgewichts und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, das sie für unmoralisch und überholt halten. Und manchmal vertreten sie beide Positionen gleichzeitig. Sie beharren weiterhin auf der universalen Gültigkeit ihrer Werte beim Aufbau einer friedlichen Weltordnung und behalten sich das Recht vor, diese Werte global zu verteidigen. Doch nachdem sich die Vereinigten Staaten innerhalb von nur zwei Generationen aus drei Kriegen hatten zurückziehen müssen – von denen jeder einzelne mit idealistischen Aspirationen und breiter öffentlicher Unterstützung begonnen wurde, aber in einem nationalen Trauma endete –, bereitet es nun auch Amerika große Mühe, das Verhältnis zwischen seiner (immer noch gewaltigen) Macht und seinen Prinzipien zu definieren.

Alle wichtigen Machtzentren stützen sich mehr oder weniger auf Prinzipien der Westfälischen Ordnung, aber keines betrachtet sich als natürlicher Verteidiger des Systems. Alle durchlaufen signifikante interne Prozesse des Wandels. Könnten denn Regionen mit derart unterschiedlichen Kulturen, geschichtlichen Erfahrungen und überlieferten Ordnungsvorstellungen jemals die Legitimität eines gemeinsamen Systems verteidigen?

Um derartige Bemühungen zum Erfolg zu führen, ist ein Ansatz erforderlich, der sowohl die Mannigfaltigkeit der menschlichen Natur als auch die tief verwurzelte Sehnsucht des Menschen nach Freiheit respektiert. Eine Ordnung in diesem Sinne muss gepflegt und gehegt werden, und sie kann nicht aufgezwungen werden. Das gilt ganz besonders in einer Zeit, die durch verzögerungsfreie Kommunikation gekennzeichnet und von revolutionärem politischem Wandel geprägt wird. Jedes Weltordnungssystem muss, soll es dauerhaft bestehen, als gerecht empfunden und akzeptiert werden, nicht nur von den Staatsführern, sondern auch von den Bürgerinnen und Bürgern. Das System muss zwei Wahrheiten widerspiegeln: Ordnung ohne Freiheit, auch wenn sie von momentaner Begeisterung getragen wird, schafft letztlich ihr eigenes Gegenteil. Und Freiheit lässt sich ohne einen friedenssichernden Rahmen nicht gewährleisten oder erhalten. Ordnung und Freiheit, die manchmal als Gegensätze im Erfahrungsspektrum beschrieben werden, sollten stattdessen als interdependent begriffen werden. Können die heutigen Staatslenker über die Dringlichkeit der Alltagsereignisse hinauswachsen, um diese Balance zu erzielen?

Legitimität und Macht

Die Antwort auf diese Frage muss sich mit drei Kategorien des Ordnungsbegriffs befassen. Mit dem Begriff Weltordnung wird das Konzept bezeichnet, das in einer Region oder Zivilisation im Hinblick auf die Beschaffenheit gerechter Regeln und die Verteilung der Macht akzeptiert und auf die ganze Welt für anwendbar gehalten wird. Internationale Ordnung bezeichnet die praktische Anwendung dieser Konzepte auf einen substanziellen Teil der Welt – groß genug, um das globale Gleichgewicht der Mächte zu beeinflussen. Regionale Ordnungen beziehen sich auf dieselben Prinzipien, jedoch begrenzt auf ein bestimmtes geografisches Gebiet.

Jedes dieser Ordnungssysteme gründet sich auf zwei Komponenten: eine Anzahl allgemein akzeptierter Regeln, welche die Grenzen zulässigen Handelns bestimmen, und eine Machtbalance, die Zurückhaltung erzwingt, wenn die Regeln zusammenbrechen. Unerlässlich ist eine politische Einheit, die ein einzelnes Mitglied dieser Ordnung daran hindert, alle anderen zu unterjochen. Ein Konsens bezüglich der Legitimität bestehender Regeln schließt – heute ebenso wenig wie in der Vergangenheit – Wettbewerb oder Konfrontationen keineswegs aus, kann aber dazu beitragen sicherzustellen, dass sie nur auftreten, um die bestehende Ordnung an die Gegebenheiten anzupassen, und nicht, um sie grundsätzlich infrage zu stellen. Das Gleichgewicht der Kräfte an sich kann nicht den Frieden sichern, aber wenn es überlegt etabliert und angewandt wird, kann es die Reichweite und Häufigkeit fundamentaler Konflikte begrenzen und, sollten sie denn auftreten, die Erfolgschancen einzelner Akteure verringern.

Kein Buch kann sich mit allen historischen Ansätzen einer internationalen Ordnung oder mit allen Staaten befassen, die sich an der Gestaltung der Angelegenheiten dieser Welt beteiligen. Dieses Buch konzentriert sich daher auf jene Regionen, deren Ordnungskonzepte sich am stärksten auf die Evolution der modernen Ära auswirken.

Die Balance zwischen Legitimität und Macht ist außerordentlich komplex; je kleiner das geografische Gebiet ist, in der sie gestaltet wird, und je kohärenter die kulturellen Überzeugungen innerhalb dieses Gebiets sind, desto leichter ist es, einen funktionsfähigen Konsens herauszufiltern. Doch in der modernen Welt besteht der Bedarf einer globalen Weltordnung. Eine Ansammlung von Einheiten, die weder durch ihre Geschichte noch durch ihre Werte miteinander in Beziehung stehen (es sei denn auf eine gewisse Distanz) und die sich im Wesentlichen nur durch die Grenzen ihrer eigenen Fähigkeiten definieren, wird wahrscheinlich eher Konflikte als Ordnung hervorbringen.

Bei meinem ersten Besuch in Beijing 1971 wollte ich nach zwei Jahrzehnten der Feindschaft wieder erste Kontakte knüpfen. Damals merkte ich an, dass China für die amerikanische Delegation ein »Land voller Geheimnisse« sei. Premierminister Zhou Enlai antwortete: »Sie werden entdecken, dass es nicht geheimnisvoll ist. Wenn Sie erst einmal mit dem Land vertraut werden, wird es Ihnen nicht mehr so mysteriös erscheinen.« Es gebe 900 Millionen Chinesen, fügte er hinzu, denen ihr Land vollkommen normal erscheine. Die Suche nach einer Weltordnung in unserer Zeit wird es erforderlich machen, auch die Sichtweisen von Gesellschaften einzubinden, deren Wirklichkeit andersartig und in sich geschlossen ist. Das Mysterium, das enträtselt werden muss, ist allen Völkern gemeinsam, ganz gleich, welche unterschiedlichen und abweichenden historischen Erfahrungen und Werte zu einer gemeinsamen Ordnung geformt werden könnten.

1 Franz Babinger, Mehmed der Eroberer und seine Zeit: Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 1959, S. 193 ff.; vgl. ebenda, S. 450.