SEILFREI
Impressum
1. Auflage
Copyright © 2013
egoth Verlag GmbH
Untere Weißgerberstraße 63/12
1030 Wien
Österreich
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer Abbildung, sind vorbehalten.
eISBN: 978-3-902480-80-4
Redaktionelle Mitarbeit: Marlies Czerny
Fotos: Privatarchiv Albert Grüner
Grafische Gestaltung und Satz:
oetztal.at marketing gmbh&cokg - www.oetztal-marketing.at
Umschlaggestaltung:
Clemens Toscani - www.studio.toscani.at
Printed in the EU
Gesamtherstellung
egoth Verlag GmbH
www.egoth.at
Vom Leben und Sterben in Fels und Eis
Gewidmet all jenen,
die über die Berge wandern und auf diese steigen, die staunend die Schätze und Formen der Natur bewundern, und die dem Himmel näher sind, doch diesen auf Erden finden.
Gewidmet all jenen,
die sich an den steilsten und eisigsten Wänden der Welt versuchen, die den Partner am Seil ehren und achten in guten wie in schlechten Momenten, und die sich den Bergen respektvoll, aber furchtlos und wagemutig nähern.
Gewidmet all jenen,
die es als Erste bis ganz hinauf geschafft haben, die als Erste die steilsten Wände durchstiegen haben, und die uns allen gezeigt haben, dass alles möglich ist.
Gewidmet all jenen,
die eine Abkürzung auf ihrem Weg in das Himmelreich genommen haben, die in den Bergen umgekommen sind und nun in der Ewigkeit klettern, und die in unseren Erzählungen über vergangene Abenteuer weiterleben.
Gewidmet meinem Bruder Otto,
der mir mehr als einmal in den Bergen das Leben gerettet hat, der der Bedächtigere, Vorsichtigere, Überlegtere von uns beiden war, und der mir heute noch, viele Jahre nach seinem Unfall, schmerzlich fehlt.
Gewidmet meiner Familie und meinen
engsten Angehörigen, die mir immer wieder vertrauten,
die während meiner Abwesenheit sich anderweitig beschäftigen mussten, die Verständnis für mein Tun und die Ausdauer während meiner Genesungen hatten, die mich bei all meinen Verletzungen pflegten und mich immer wieder aufrichteten.
Und gewidmet all jenen,
die eine Gänsehaut bekommen, wenn sie über Matterhorn oder Mount Everest lesen, die dabei sind, erste Schritte in Klettergärten oder Klettersteige zu unternehmen, und die große oder kleine Ziele haben in den Bergen – erfüllt sie euch!
Möge dieses Buch Motivation und Inspiration sein für alle, die es lesen, und möge es ein Schutzschild gegen die Vergessenheit sein für alle, die es nicht mehr lesen können.
Vorwort
Hansjörg Auer
In der Tradition der Geschichte
Albert Grüner
Vom Superstar zum Buhmann
Bumiller-Pfeiler und Ortler-Nordwand
Lust auf eine „Schaumrolle“
An der Nordwand der Königsspitze
Der Bizeps-Test
Die Rotwand
Ein Kiesel der Hoffnung
Matterhorn-Nordwand im Winter
Maurer der Nordwände
Eiger und Matterhorn in einem Streich
Eine blutige Sache
Eiger-Nordwand im Winter
Rollende Steine
Am Walkerpfeiler der Grandes Jorasses
Ein „großes Geschäft“
Am Frêney-Pfeiler des Mont Blanc
Klimmzüge an der Dachrinne
Wie alles begann
Seilfrei durch die „Schubert“
Am Piz de Ciavazes/Sella-Gruppe
Verzweifelt verloren
Von der Dresdner zur Ambergerhütte
„Alles paletti!“
In der Nord-West-Wand der Civetta
Über alle Berge
Torre Trieste
„Grazie, Ali…“
Die Marmolata-Tragödie
Stille Mahner
Gedanken an die, die nicht mehr sind
Mülldepot-Kletterei
Die Marmolata
Auf dünnem Eis
Eisklettern
„Lass mich nicht allein!“
Die Tragödie vor der Haustür
Im vertikalen Rausch
Zwischen Alpen und Dolomiten
Hansjörg Auer
Warum steigt man auf Berge? Geht es wirklich nur um den Moment, oben zu stehen, am höchsten Punkt, dort wo die Felsgrate aller Himmelsrichtungen zusammentreffen? Oder ist es vielmehr der Aufstieg, um dorthin zu gelangen?
Es sind die Erinnerungen an die schwierige Route der steilen Westseite, die Erfahrungen während der Kletterei entlang dem logischen Kaminsystem an der Ostwand oder vielleicht der Tanz mit Steigeisen und Pickel über das Eiscouloir der schattigen Nordwand.
Ein meist kurzer Händedruck oder eine Umarmung ist alles, was der kurze Moment am Gipfel zu bieten hat. Müdigkeit und Ausgelaugtsein stehen im Vordergrund und lassen kaum Emotionen zu. Der Abstieg steht bevor. Der Tag ist fortgeschritten und die tiefstehende Sonne mahnt, wieder aufzubrechen, zurück in die Dunkelheit des Tales. Doch der zeitliche Abstand an das Erlebnis lässt in uns die menschliche Seite wieder erwachen. Freude kommt auf, die Erinnerungen und einzelnen Gedanken in Form unterschiedlichster Puzzleteile formen wieder ein Ganzes.
Die Kraft, die uns antreibt, ist stark, sehr stark. Die Sehnsucht allein zu sein oder nur mit den engsten Freunden, vielleicht mit dem Bruder, lässt uns immer wieder neue Abenteuer erleben. Die selbstauferlegten Herausforderungen und der ständige Kampf zwischen Leidenschaft und Vernunft begleiten uns ein Leben lang.
Die Geschichten von „Seilfrei“ haben nichts mit Vernunft zu tun. Zu stark war die Leidenschaft der Protagonisten. Eine Passion die sie an ihre Grenzen und hautnah mit dem Tod in Verbindung gebracht hat. Von der Seilschaft der „Krumpens“ habe ich bereits als junger Bub gehört. Die Wilden aus Längenfeld und die Geschichte der Marmolata sind mir noch in Erinnerung aus Erzählungen meiner Eltern. Und dann habe ich als 14-jähriger Bub, am Gipfel des Hörnle oberhalb von Längenfeld sitzend, zum ersten Mal den Otto gesehen. Er sei beim Trainieren für einen Kurztrip nach Chamonix mit Ali, hat er mir gesagt. Und dann noch irgendetwas vom Peutereygrat, von dem ich damals natürlich noch nichts wusste und der mir wahrscheinlich nur des speziellen Namens wegen in Erinnerung blieb.
Er redete nicht viel und wird wohl gemerkt haben, wie sehr ich ihn bewunderte. So schnell wie er gekommen war, hüpfte er förmlich auch wieder davon. Es war schon später Nachmittag aber er wolle noch die Gratüberschreitung zum Breiten Grießkogel machen, hatte er gemeint. Ich schaute ihm noch lange nach, ehe er hinter dem ersten großen Gratzapfen verschwand.
Es musste dann einige Jahre später wohl einfach sein, dass sich diese Eisplatte genau an jener Stelle gebildet hat, wo Otto seinen letzten Schritt gemacht hat. Einer von den vielen, die ihm so viel Freude und Erlebnisse bereitet haben. Unglaublich war für mich die Nachricht seines Todes, und jedes Jahr erinnert uns das Lichtlein oberhalb von Oberried an seinen Jahrestag – erinnert mich an die wenigen, doch sehr intensiven Minuten unseres Treffens am Hörnle.
Ich wünsche dem Ali und euch allen noch viele schöne Erlebnisse und eine stets gesunde Heimkehr in der für uns so bedeutungsvollen steilen Welt der Berge.
Hansjörg Auer, August 2013
Ali Grüner
Zwei Finger kleben in einem Seitengriff in einem Loch, das diesen Ausdruck gar nicht verdient – viel eher ist es eine kleine Unregelmäßigkeit in der Wand. Ich setze all meine Kraft ein, um den Körper nach oben zu hieven, so weit, dass sich meine Hand letztlich unter der Kniehöhe befindet. Und dann greife ich dynamisch mit der anderen, freien Hand nach dem nächsten Griff weiter oben… Später vermerke ich in meinem Tourenbuch über diesen 27. August 1993: „Dies ist mit Abstand eine der Hammertouren des Wettersteins. Eine von Wolfgang Güllich und Kurt Albert erstbegangene Tour, die einem Durchschnittsbergsteiger einiges abverlangt. Die erste Seillänge im Vorstieg wollte ich an diesem Sonntagmorgen in Angriff nehmen. 40 Meter im unteren achten Grad mit drei Fixpunkten trieben mir einige Schweißperlen aus dem angespannten Körper. Auch die zweite sowie die vierte Seillänge sind mit höchster Konzentration und großem Mut zu klettern. In diesen vier Seillängen muss ein Bergsteiger einiges wagen, um sich im Nachhinein an einer sauberen, fairen Begehung zu erfreuen.“
Dieser „Locker vom Hocker“ im achten Schwierigkeitsgrad, die „Direttissima“ am Predigtstuhl (8-), Mon Cherie, Piranhas, die „Gletschersymphonie“, der Tofanapfeiler (alle 7+), das „Adlerauge“, die Nordwand der Westlichen Zinne, die Comici-Führe der Großen Zinne oder die Däumling-Ostkante im siebten Grad, dazu noch Sportkletterrouten bis hinauf in den niedrigen neunten Schwierigkeitsgrad – all dies sind Erinnerungen, die mir lieb und teuer sind. Ich liebte es, gegen die Wand anzutreten, wie in einem Duell quasi, und herauszufinden, ob ich fähig bin, sie zu bezwingen. Meistens gelang es, wenige Male nicht.
Doch Berge und Klettereien bieten weit mehr als das Bewerten von Routen nach Schwierigkeitsgraden und das Erklären von Griffen und Techniken. Die Bergwelt ist ein Abenteuer-Spielplatz, in dem der Akteur zu einem hohen Maß die Handlung beeinflussen und dennoch nicht alle Eventualitäten ausschließen kann. Plötzlich fällt Schnee und Regen ein, und eine Kletterei muss abgebrochen werden bzw. findet erst gar nicht statt. Plötzlich sind zu viele Seilschaften in der Wand unterwegs, und das Risiko eines Stein- oder Eisschlags erhöht sich um ein Vielfaches. Plötzlich sind keine Möglichkeiten vorhanden, einen guten und sicheren Standplatz zu bauen – oder man muss, ganz banal, aufs Klo: Was tun?
Es gibt Kletterer und Bergsteiger, die auf weitaus höheren Bergen waren als ich, und es gibt jene, die vor mir durch die berühmtesten Wände der Alpen gestiegen sind. Ich bin ein Kind meiner Zeit. In den 1980er und 1990er Jahren waren alle großen Berg-Probleme der Alpen gelöst. Und das Höhenbergsteigen hat mich nicht wirklich interessiert. Macht mich dies zu einem besseren oder schlechteren Alpinisten? Es ist eine rhetorische Frage – rückblickend bin ich stolz auf das, was ich geleistet habe. In den prominentesten Nordwänden der Alpen, auf den schönsten Routen der Dolomiten habe ich mich beweisen können, nicht als Erster, nicht als Bester, sondern als einer, der einfach nur den Großteil seines Lebens in den Bergen verbracht hat. Ich war ein Abenteurer, ein Suchender nach den eigenen Grenzen. Diese habe ich gefunden und zuweilen auch überschritten.
Als die Idee des nun vorliegenden Buches geboren wurde, wollten wir – mein Ghostwriter Egon Theiner und ich – es in der Tradition vergangener Bergsteigerbücher gestalten: mit spannenden Erzählungen über Begehungen, in denen tatsächlich die Post abging. Deswegen orientierte ich mich bei der Auswahl der Touren weniger an den Schwierigkeitsgraden und mehr am Unterhaltungswert der Geschichten, ohne in den Kitsch abzurutschen. Es sind dies Erzählungen, die im Kreis von Freunden und Verwandten, am Stammtisch, auf langen Autofahrten zum Besten gegeben werden. Und die einen Blick zurück ermöglichen und die Fragen beantworten, wie es war – damals, am Walkerpfeiler, oder in der Eiger-Nordwand, oder in der Marmolata.
Eine gute und spannende Lektüre wünscht Ihnen
Albert „Ali“ Grüner
Längenfeld/Ötztal, im Spätsommer 2013
BUMILLER-PFEILER UND ORTLER-NORDWAND
VOM SUPERSTAR ZUM BUHMANN
Stress in 72 Stunden in Eis und Schnee
Etwas verdattert stehe ich da und werde vor meinem Bergkameraden kleiner und kleiner. „Du Trottel“, schreit er mich an, „was fällt dir überhaupt ein, du Idiot? Du hast uns alle gefährdet, du Vollkoffer.“ Nein, eigentlich ist das, was er sagt, ungleich schlimmer. Trottel, Idiot, Vollkoffer fallen eher in die Kategorie der wenig schmeichelhaften Kosenamen während einer zehnminütigen Tirade, die ich in meinem Bergsteigerleben vorher noch nie gehört habe und nachher nie wieder hören würde. In diesem Sommer 1985 bin ich zwar erst 22 Jahre alt, aber kein Anfänger mehr. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt, doch nur Otto verteidigt mich, wie immer. Die anderen sind schockiert und mehr oder weniger beleidigt. Und einer eben ganz besonders. Eigentlich müssten er und auch alle anderen mir dankbar sein! Es ist meine Idee gewesen, den Bumiller-Pfeiler in direktem Ausstieg über eine überhängende Eisnase zu bezwingen. Und dafür werde ich jetzt nun beschimpft?!
Dabei hat sich unser ältester Bruder Norbert etwas wirklich Schönes einfallen lassen – eine Tour auf den 3905 Meter hohen Piz Palü über den 1887 von Hans Bumiller erstbegangenen Nordpfeiler des Mittelgipfels und anschließend, sofern wir noch bei Kräften wären, weiter auf den höchsten Berg Südtirols, auf den 3904 Meter hohen Ortler. Und zwar über dessen Nordwand.
Otto und Norbert waren dabei, Patrick Gufler aus Längenfeld und Robert Stenico aus Landeck/Zams. Wir brachen zu viert auf, wollten Robert bei sich zu Hause abholen und wussten, dass wir uns beeilen mussten, um die letzte Gondel vor Betriebsende vom Berninapass auf die Diavolezza-Hütte zu erwischen. Doch als wir bei unserem Klettergefährten eintrafen, lief gerade ein Formel-1-Rennen im Fernsehen, auf das er nicht verzichten wollte. Wir warteten und warteten, und als ich zu drängen begann – „wir müssen endlich los“ –, beruhigten mich die anderen. Als wir endlich unterwegs waren, ging es flott rein ins Engadin, nach Pontresina, Richtung Bernina. Doch als wir auf den Parkplatz der Seilbahn ankamen, fuhr gerade die allerletzte Gondel über unsere Köpfe hinweg Richtung Hochgebirge.
Ich war verärgert. Verärgert über Robert und über Beamte im Allgemeinen – Personen, die nicht gelernt haben, mal Gas zu geben, wenn es notwendig ist. Das ist eine bösartige Verallgemeinerung – doch in diesem Moment schob ich ihm alle Schuld zu, dass wir jetzt fast 900 Höhenmeter bis zur Hütte aufsteigen mussten. Dort würden wir in der tiefsten Nacht ankommen und ich würde den Bumiller-Pfeiler, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, nicht betrachten können. Und das alles nur wegen eines dummen Formel-1-Rennens. Die Energie, die ich heute aufbringen musste, hätte ich viel lieber morgen am Pfeiler verpulvern wollen. Aber wie auch immer: Wenn du den Bumiller erklimmen willst, dann muss du eben heute noch da hoch, koste es, was es wolle. Uns blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß den Hüttenanstieg zu bewältigen. Allerdings sprach ich mit den älteren beiden Bergkameraden nicht wirklich viel, denn in diesen Augenblicken waren sie mir einfach nur, nun ja: unsympathisch.
Immerhin erhielten wir noch ein Abendbrot, als wir auf der Diavolezza-Hütte eintrafen. Die Nacht war kurz, um vier Uhr stiegen wir mit Stirnlampen rund 200 Höhenmeter auf dem Persgletscher ab. Als wir den Wandfuß des Pfeilers erreichten, war der Plan, dass wir das erste Drittel seilfrei klettern würden und dann Otto mit Patrick und Norbert mit Robert die Seilschaften bilden sollten. Ich wollte weiterhin ungesichert aufsteigen. Die Eiskletterei und die Felspassagen erschienen mir nicht schwierig, der Eisschlag konnte noch die größte Gefahr darstellen. Aber dafür hatten wir ja Helme dabei (und auch aufgesetzt!).
Doch manchmal nützen die schönsten Pläne nichts. In der ersten Seillänge warf der Berg einen halben Kubikmeter Steine nach mir, hatte aber zu ungenau gezielt. Sie zischten ein paar Meter von mir entfernt vorbei. Norbert befahl und wir alle gehorchten: „Ans Seil!“ Ich hatte nicht die Courage, meinem älteren Bruder zu widersprechen – im Gegenteil, in diesem Moment schätzte ich sein Verantwortungsbewusstsein. Just als wir angeseilt waren, wurde es bitterkalt: Ein Eissturm kam auf, und er wehte Schneekristalle in unsere Gesichter. Otto zog einen nagelneuen Anorak aus dem Rucksack, doch kam nicht dazu, ihn anzuziehen – der Wind riss ihm das Kleidungsstück aus der Hand, und weg war es. Wenig später stürzte auch sein Fotoapparat die Wand hinunter, was mich mehr ärgerte als ihn. Wir würden keine Bilder von unserer Besteigung haben.
Der 800 Meter hohe Bumiller-Pfeiler bot an diesem Tag eine nette kombinierte Fels-Eis-Kletterei im fünften Schwierigkeitsgrad, die auch mit groben Bergschuhen gut bewältigt werden konnte. Locker überholten wir zwei andere Seilschaften. Und dann standen wir, nach rund sechs Stunden, vor den letzten 60 oder 70 Metern des Seracs unter dem überhängenden Ausstieg. Es hätte auch eine leichtere Variante gegeben, doch dieses Heldenstück wollte ich mir nicht nehmen lassen: den Bumiller-Pfeiler in der „Direttissima“ zu besteigen, den Hängegletscher direkt zu überwinden und ihn nicht zu umgehen. Also bat ich darum, im Vorstieg klettern zu dürfen und schaffte es unproblematisch zwei Drittel des Weges hinauf. Dort baute ich einen Stand und ließ Norbert nachkommen, der dann Otto nachsicherte. Dieser wiederum sicherte die beiden anderen. Doch die letzten Meter erwiesen sich als heimtückisch. Die Eisgeräte fanden eineinhalb oder zwei Meter unter dem Ausstieg keinen Halt mehr und rutschten durch. Schon interessant: Zwar stand ich noch auf Eis, doch über mir lag pappiger Schnee. Das wird spannend, dachte ich mir. Gedanken über Gedanken durchwanderten mein Gehirn: Wie stelle ich das an? Abseilen geht auf keinen Fall - dazu bin ich schon zu weit gegangen. Gib dir jetzt nur ja keine Blöße, redete ich mir ein. Aber wie um aller Welt komme ich über diese Schlüsselstelle drüber?
Ich versuchte alles, damit ich über diese Schneewechte einen Weg finden konnte: Ich probierte, die Eisgeräte zu drehen, während sie im tiefen, pappigen Schnee versanken, ich drehte sie sogar um 180 Grad, ich versuchte es mit bloßen Händen. Nichts. Langsam war ich mit meinen Kräften am Ende, und meine Oberarme wurden in diesem überhängenden Serac immer dicker und dicker. So legte ich durch andauerndes Auf- und Absteigen zuerst einmal eine Art Trittspur in den teils überhängenden Hängegletscher mit 800 Metern Luft unter den Sohlen an. Dann fixierte ich die Eisgeräte am höchsten Punkt der Eis- und Schneewand, an der sie einigermaßen stabil hingen, und zog meine Hände aus den Geräteschlaufen. Zuletzt verlangte ich von Norbert viel Seil – ich wusste, dass er ein Sicherheitsdenker war, der mit dem Strick geizte: Je weniger Seil, desto weniger tief kann man bei einem Sturz fallen. Doch in diesem Fall benötigte ich viel Seil, denn ich wollte mich mit aller Kraft und etwas Glück über die Wechte winden – da durfte ich auf keinen Fall den geringsten Seilzug spüren.
Dann ging es los. Ich stieg so weit wie möglich nach unten, so, dass ich die Eisgeräte am untersten Ende gerade noch halten konnte, lief mit Anlauf so schnell ich nur konnte in den vorher angelegten Trittstufen mit wenigen Schritten hinauf, hechtete in der immer weicher werdenden, überhängenden Schneenase nach oben und begann mit aller Gewalt ein außergewöhnliches Unterfangen. Während ich mich mit der einen Hand noch an einem Steileisgerät festhielt, griff ich mit der anderen Hand weit oberhalb meines Kopfes in den Schnee und begann, darin zu wühlen. Sobald ich etwas Halt gefunden zu haben schien, nahm ich die andere Hand zu Hilfe. Ich kam mir vor wie ein Schwimmer – eben nur nicht im Wasser. Doch dann hatte ich es geschafft, mich über Fels, Eis und Schnee den Bumiller-Pfeiler hochzukämpfen. Am Ende meiner Kräfte wälzte ich mich zufrieden im Schnee, juchzte und war einer der glückseligsten Gestalten auf Gottes Erdboden. Ich hab‘s geschafft, rief ich in mich hinein, ich bin der Chef hier am Bumiller-Pfeiler.
Nun sollte ich einen Standplatz für meine Freunde bauen, doch ich befand mich auf einem großen schneebedeckten Plateau auf knapp 3900 Metern Seehöhe, auf dem es keinen Felsen, keinen Stein und kein Eis gab. Zudem hatte ich nur eine Reepschnur, eine rund 20 Zentimeter lange Eissschraube und meine Handschuhe zur Verfügung. Alles andere war unten am Standplatz. Was tun?
Ich begann mit der flachen Hand ein Loch zu graben, das letztlich so tief war wie mein Arm – also rund 40, 50 Zentimeter. Mein Ziel war es, einen so genannten „toten Mann“ zu bauen. Ich legte in einen der Wollhandschuhe die Eisschraube, stülpte den anderen Handschuh aus der entgegengesetzten Richtung ebenfalls darüber, band die Reepschnur darum und achtete darauf, dass ich die im Handschuh eingepackte Eisschraube sauber in die Mitte des Schneeloches legte. Dann schüttete ich das Loch mit viel, viel Schnee zu, stapfte ihn fest und hängte einen Karabiner an die aus dem Schnee ragende Reepschnur, und an diesen das Seil. Ich hatte einen Stand!
„Norbert, Stand“, schrie ich nach unten. „Gewaltig, Ali! Sensationell, du Wildsau, du!“, bellte er zurück, während die anderen inzwischen noch im überhängenden Serac standen und unbedingt so rasch wie möglich zu mir nachsteigen wollten. Denn hierbei handelte es sich um eine sehr schwierige, vor allem total ausgesetzte Kletterei mit viel Luft unter den Steigeisen, die jeder gerne hinter sich gebracht haben wollte.
Entgegen anderer Usancen habe ich mich nicht ausgehängt. Zwar hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, doch gleichzeitig war ich mir auch sicher, dass der Stand einen Sturz aushalten würde. Oder sagen wir: ziemlich sicher. Ich war eben in der Situation eines Verdurstenden. Dieser würde trinken, was immer er bekommen könnte. Und ich musste einen Stand bauen mit dem, was mir zur Verfügung stand. Ich hatte so gut wie nichts.
In der Wand standen meine Bergkameraden aufgefädelt. Ich sicherte gerade Norbert und Otto, letzterer Patrick und Robert. „Stand!“, rief ich nochmals und stellte mich auf den Schnee, unter dem eine Eisschraube und zwei Handschuhe lagen. Ich wollte das wenige Material mit so viel Gewicht wie möglich belasten und hoffte, dass alles gut gehen möge. Norbert hängte sich aus dem Standplatz aus und kletterte am leicht gespannten Seil nach, und er tat sich verdammt schwer bei dieser Aktion an seiner Leistungsgrenze…
…und dann stürzt Norbert. Innerhalb von einer Schrecksekunde werde ich weiß im Gesicht, und innerhalb der gleichen Sekunde muss ich von einem Ohr zum anderen grinsen: Der Stand hält! Freilich versuche ich mit meinem Körper so viel Last wie nur möglich vom Sturz aufzunehmen, doch hätte der Stand nachgegeben, wären wir alle gestürzt. Otto steigt als nächster aus der Wand, sturzfrei klettert er bis zu mir nach, dann kommt Patrick, den zuvor eine Eisscholle an der Lippe getroffen hat, blutend und grantig zu uns hoch: Auch er belastet den Stand mit einem Sturz. Es ist der zweite Sturz. Immer noch bin ich sehr unsicher, aber erleichtert und froh, dass es auch Patrick nicht mitsamt allen anderen ins Leere reißt. Als letzter ist Robert an der Reihe. Wir sehen bereits seine Kappe, dann seine Augen, beobachten, wie er sich über die Kante schiebt – er freut sich schon unsere fröhlichen Gesichter zu sehen – doch dann geht auch ihm der Saft aus und er verschwindet wieder aus unserem Blickfeld. Es ist der dritte Sturz, den mein Stand überlebt. Ich bin fast stolz, nein: sehr stolz auf mich.
Als wir alle wieder vereint sind, liegen wir uns in den Armen, gratulieren uns und freuen uns unheimlich über unsere Leistung. Ich werde von allen als Held gefeiert. „Super Albert“, sagen sie, „ein Wahnsinn, was hast du dir dabei gedacht…“ Ich komme mir vor, als hätte ich etwas Überirdisches geleistet. Meine Kameraden loben mich in den Himmel, und ich bin derart stolz, dass ich mich über diese Gratulationen mehr freue als über den nahe liegenden Gipfelerfolg. Dann sortieren wir unser Material, wir wollen ja weiter zum nahegelegenen höchsten Punkt des Piz Palü, während Patrick den Stand abbauen soll, und er beginnt zu graben. Patrick ist ein gutmütiger, vor allem aber ein bedachter Mann, der Ruhe ausstrahlt und Sicherheit vermittelt. Einen Schritt nach dem anderen machen, ohne Hektik – das ist sein Motto: Was ich heute nicht erledige, das werde ich morgen oder übermorgen machen. Patrick hat einen gutmütigen Charakter, er ist selten zornig oder böse, nein: Er ist eigentlich die Ruhe selbst.
Wahrscheinlich denkt Patrick, dass er zwei Eisschrauben findet, gar ein Eisgerät – jedenfalls mehr als das, was er letztlich in Händen hält. Als er die Hälfte des „toten Mannes“ ausgegraben hat, wird er kreidebleich, starrt angewurzelt auf das kleine Häufchen Handschuhe, zieht die Schraube heraus und beginnt fluchend auf mich zu zeigen. „Was soll das, nennst du das hier einen Stand? Hast du wirklich an diese mickrigen Dinger die Leben von zwei deiner Brüder und zwei deiner Freunde gehängt, in einem überhängenden Serac?“ Sein Wortschwall ist imminent und nicht enden wollend. „Wir haben 800 Meter Luft unter den Sohlen, und du baust einen solchen Scheiß-Stand!? Hast du überhaupt keinen Verantwortungssinn? Du dumme Nuss, du Trottel, du Arsch. Mit dir zu klettern ist ja gemeingefährlich.“ „Was hätte er sonst machen sollen?“, meint mein Bruder Otto, doch seine Verteidigung und meine Rechtfertigungen prallen an den Ohren der anderen ab. Norbert, unser Sicherheitsfanatiker, wird sich auch gedacht haben: „Diesen Irren nehmen wir nicht mehr mit.“ Dennoch will ich nicht sofort den Schwanz einziehen und versuche, mich herauszureden, gehe fast zu einem sinnlosen Gegenangriff über. „Ja, was wollt ihr denn! Das war doch wohl ein tadelloser Stand, zumal ihr euch alle einen Sturz geleistet habt, die der Stand verkraften musste.“ „Das ist doch das Mindeste – dass ein Stand hält“, hallt es fast gleichzeitig aus allen Mündern. Ich gebe es auf, ziehe langsam ab von meinen schimpfenden Gefährten und marschiere Richtung Gipfel. Jammert nur da hinten, denke ich mir, ich hab‘s geschafft, den Bumiller mit dem direkten Ausstieg und das im Vorstieg bei diesen Verhältnissen zu bezwingen. Dass ich innerhalb von Minuten vom Superstar zum Buhmann gestempelt werde –ich werde es überleben. Im Nachhinein verstand ich sie schon auch ein bisschen. Sie hingen alle an meinem seidenen Faden – an einer sechs Millimeter dünnen Reepschnur, die an einer 18 Zentimeter langen, im Schnee eingegrabenen Eisschraube befestigt war.
An einem wunderschönen Sommertag marschiere ich also mit den anderen wie ein Häufchen Elend stumm zum Gipfel. Spätestens da gratulieren mir dann jene Kameraden, die mich vor wenigen Minuten noch steinigen wollten, nichtsdestotrotz in guter Bergsteigertradition. Ein kräftiger Händedruck, ein ehrlicher Blick ins Gesicht, eine Umarmung. Lediglich Patrick ist immer noch ein wenig sauer und beleidigt auf mich. Wird schon vergehen, denke ich mir und bin wieder voller Stolz, als uns andere Bergsteiger auf dem Gipfel, die unseren Ausstieg mitbekommen haben, auf das Ehrlichste gratulieren.
Vom Piz Palü geht es über den Ostgipfel und den Gletscher zurück zur Diavolezza-Hütte, und mit dem Verstreichen der Höhenmeter beruhigen sich auch wieder die Gemüter. Jeder ist innerlich froh, den Pfeiler überwunden zu haben, und jeder mag auch ein wenig stolz sein, den direkten Ausstieg geklettert zu sein. Zweieinhalb Stunden und 1000 Höhenmeter später sind wir wieder Kameraden. „Das war echt lässig“, sagt der eine, „einfach nur super“, stimmt der andere zu.
Normalerweise stößt man nach solch einer Tour an, lässt sich hochleben und fährt wieder nach Hause. Doch wir hatten uns für dieses Wochenende vom 13. bis 15. Juli 1985, von Samstag bis Montag, etwas ganz Besonderes vorgenommen. Wir fünf wollten auch noch die Ortler-Nordwand durchsteigen. So verloren wir auf der Diavolezza-Hütte keine Zeit, fuhren mit der nächsten Gondel zurück zur Talstation und mit dem Auto über den Berninapass Richtung Bormio. In der Nähe der norditalienischen Stadt campierten wir hinter dem Auto, um tags darauf die Fahrt Richtung Sulden fortzusetzen.
Dort angekommen, stiegen wir auf die Tabarettahütte hoch und querten von dort weiter den Fuß der Wand, wo wir zwischen Steinen biwakierten. Wir hatten auch unsere Schlafsäcke dabei, doch diese konnten uns nicht vor einem schlechten, harten Untergrund bewahren. Es waren nur Steine, alles nur Steine weit und breit, auf denen wir etwas schlafen hätten können. Die Nacht war sternenklar. Immer noch aufgeputscht von den Erlebnissen am „Bumiller“ wusste ich, dass es klettertechnisch zwar einfacher, konditionell allerdings um einiges schwerer werden würde. Nervosität war keine zu spüren, dafür aber wuchs der Respekt mit jeder Stunde. Ich war jedenfalls froh, als wir um zwei Uhr nachts aufbrachen.
Die Ortler-Nordwand war keines der großen, ungelösten Probleme der mitteleuropäischen Bergwelt. Sicher, mit 1200 zu überwindenden Höhenmetern ist sie eine der größten Wände der Alpen, doch sie bietet technisch wenige Probleme. Wir wussten aus Erzählungen und aufgrund unserer Recherchen, dass man früh unterwegs sein musste, um Eis- und Steinschlag zu entgehen, der von der „Gurgel“ – der Verengung der Wand zwischen zweitem und drittem Eisfeld – nach unten donnert, wenn die Sonne diese Stelle zu küssen beginnt. Deswegen war unsere Strategie wieder einmal auf Schnelligkeit angelegt. Wir wollten zwei Drittel der Wand seilfrei erklettern; dass es eine mehr oder weniger reine Eiskletterei war, kam mir entgegen – im Eis fühlte ich mich besonders wohl!
Doch auch wenn wir sehr früh aufgebrochen waren, konnten wir den Gewalten der Natur nicht entrinnen. Es regnete Eis und Stein, und ich wusste: Wir sind, trotz all unserer Vorsätze, zu spät unterwegs. Kaum hatte ich diesen Gedanken fertig gedacht, traf mich ein faustgroßer Eisbrocken am Knie, doch außer eines stechenden Schmerzes, der wieder nachließ, blieb dieser Gletschergruß ohne weitere Folgen. Je höher wir kamen, umso intensiver wurden allerdings Eis- und Steinschlag.
So waren wir alle glücklich, nachdem wir es durch die „Gurgel“ geschafft hatten. Wir seilten uns für die verbliebenen 400 Höhenmeter an und erreichten problemlos den Ausstieg. Auf dem Weg zum Gipfel setzte mir – wie gewohnt – die dünne Luft zu, aber müde waren wir alle. Über den Normalweg ging es hinunter zur Payer-Hütte, dann über die Tabaretta-Hütte zum Wandfuß, wo wir unser deponiertes Biwak-Material auflasen. Und schon waren wir wieder auf dem Rückweg nach Sulden und nach Hause.
Ali in kombinierter Kletterei
Out and about with my brothers Norbert and Otto, as well as our friends Patrick and Robert, with a demanding challenge on our minds: to climb the Bumiller buttress at the Piz Palü and the Ortler North Face in only three days! We make it, but when my fellow climbers see the belay station I built directly at the tail of the Bumiller buttress about 800 meters above the glacier and below the summit, they get very upset. As I was standing on a snow field with hardly any or, virtually, no gear left -- the only thing I could do was put an ice screw in two gloves, wrap some Prusik cord around the makeshift anchor and bury this package at half an arm’s length in the snow. I then fastened the cord to the rope I was hanging on. “Belay on,” I called down to the others. “You mad beast! Well done,” my brother Norbert shouted back and began to climb up – until he falls and my face turns as white as a ghost. A moment later, I start grinning: My risky makeshift belay station is holding up! I have to admit, I can see that my fellow climbers aren’t really too happy with it. However, it hurts to see how all the praise for my excellent lead climbing turns into criticism so fast. Thank goodness, all animosities are forgotten a few hours later and we also climb the Ortler North Face, which was already awaiting us with falling ice and rocks.
En chemin avec mes frères Norbert et Otto, accompagnés de nos amis Patrick et Robert, et avec un objectif ambitieux : gravir l’éperon Bumiller sur le piz Palü et la face nord de l’Ortler en trois jours ! Nous y arrivons, mais l’excitation monte lorsque mes coéquipiers découvrent le relais que j’ai construit, directement à la sortie de l’éperon Bumiller, 800 mètres au-dessus du glacier et en dessous du sommet. Étant donné que je me trouve sur un champ de neige et que je n’ai peu, ou pour ne pas dire, plus de matériel sur moi, je n’ai d’autre choix que d’entourer une broche à glace de deux gants autour desquels j’enroule une cordelette, et d’enterrer ce paquet de la profondeur d’un avant-bras dans la neige. J’attache la cordelette à la corde à laquelle je suis également suspendu. « Relais vaché ! », m’exclamé-je en direction du bas. « Espèce de casse-cou, super ce que tu as fait », me répond mon frère Norbert avant de commencer à grimper – juste avant de chuter, moi blanc comme un linge, puis de ricaner : mon relais de fortune supporte la chute ! Que mes coéquipiers ne soient pas transis de joie, je peux le concevoir jusqu’à un certain point. Mais cela me fait mal de voir avec quelle rapidité les éloges de mon acte précédent se transforment en réprimandes. Dieu soit loué, quelques heures plus tard, les animosités sont balayées, et nous atteignons également la face nord de l’Ortler qui nous a attendus avec des chutes de glace et de pierres.
Sono in compagnia dei miei fratelli Norbert e Otto e con i nostri amici Patrick e Robert. L’obiettivo è ambizioso: salire in tre giorni il pilastro Bumiller sul Piz Palü e la parete nord dell’Ortles! Ce la facciamo, ma i miei compagni si agitano non poco quando vedono la sosta che ho costruito all’uscita del pilastro, 800 metri sopra il ghiacciaio e in prossimità della cima. Siccome mi trovo su un nevaio e non ho praticamente più materiale, cosa faccio? Avvolgo una vite da ghiaccio in due guanti, ci giro intorno un cordino e seppellisco il pacchetto nella neve fonda fino all’altezza di mezzo braccio. Poi attacco il cordino alla corda alla quale sono appeso. “Sosta”, grido giù agli altri. “Che furbo! Geniale come hai fatto!”, mi dice Norbert e comincia a salire, poi cade, io divento bianco come uno straccio, ma subito dopo me la rido: la sosta, anche se a rischio, riesce a sostenere la caduta! Che i miei compagni non siano al massimo della felicità, è comprensibile. Ma mi dispiace un po’ che le lodi per la mia bella idea nel salire, ora si trasformino in rimproveri. Per fortuna dopo qualche ora gli animi si sono placati e attraversiamo la parete nord dell’Ortles che ci attendeva con scariche di sassi e di ghiaccio.
AN DER NORDWAND DER KÖNIGSSPITZE
LUST AUF EINE «SCHAUMROLLE»
Von einem Spaltensturz und großer Lawinengefahr
Dieses Joghurt. Dieses verdammte Joghurt. Es muss schlecht gewesen sein – anders kann ich mir nicht erklären, dass es mir so miserabel geht. Wobei miserabel ein Hilfsausdruck ist. Mir geht es eher – beschissen. Die linke Hand klebt an meinem Rücken, die rechte hinter meinem Kopf, und ich kann mich nicht bewegen. Ich stecke wie ein Keil in einer engen Spalte am Sulden-Ferner, nicht in einer Gletscherspalte, sondern in einem Loch im toten Ferner, der aus Schutt und Geröll und aus eben unsichtbaren Vertiefungen besteht. Es mag vielleicht eine Stunde her sein, als ich meine Bergkameraden verlassen habe am Fuße der Königsspitze-Nordwand. Ich fühlte mich einfach nicht wohl genug, in die Wand einzusteigen. Und so suchte ich mir meinen Weg zurück nach Sulden, wo ich auf die anderen warten wollte.
Ich quere den oberen Königswand-Ferner, seile mich auf den Ortler-Ferner ab und muss mich ein paar Mal übergeben. Immerhin, denke ich, kotze ich mir dieses Joghurt aus dem Magen. Auf dem Sulden-Ferner wandere ich querfeldein, mit den Gedanken bei meinen Seilpartnern, die nun schon mitten in der Wand sein dürften, mit den Gedanken bei meinem Gesundheitszustand. Der Mulde, in die ich trete, messe ich keine Bedeutung bei – erst dann, als es zu spät ist: Der Boden öffnet sich und scheint mich zu verschlingen. Geistesgegenwärtig greife ich im Fallen an die Lippe der Spalte, doch kann den Sturz nicht verhindern. Der Stein, an dem ich mich halte, löst sich und trifft mich am Schädel, ohne allerdings größere Schäden anzurichten. Ich falle vier Meter, und jetzt stecke ich hier fest – verdammtes Joghurt, alles nur deine Schuld!
Zuerst ärgere ich mich minutenlang über meine Unaufmerksamkeit, dann wird mir bewusst, dass ich mich aus dieser Situation nicht alleine befreien werde können. Mehr noch. Da ich keine Steigeisen mehr trage, die mir an der Spaltenwand Halt geben könnten, sinke ich immer ein wenig mehr ein.
Nach wenigen Minuten wird mir die Aussichtslosigkeit meiner Lage bewusst. Ich merke, wie ich immer weiter in die Spalte rutsche: Von Minute zu Minute, unaufhörlich, setzt mir die Kälte zu. Nicht nur, dass ich tiefer und tiefer einsinke, dass ich meine Arme und Hände in diesem engen Loch nicht bewegen kann – der Moränen-Korridor, über den ich gegangen bin, ist hunderte von Meter breit. Es gibt keinen Schnee und somit keine Schneespur, und es gibt auch keinen Weg, der vorgeschrieben oder empfohlen wird. Hier findet mich niemand mehr, denke ich. Wenn nicht ein Kletterer direkt an meinem Gefängnis vorbeikommt und ich nicht in just diesen Momenten nach Hilfe rufe, dann war’s das mit meinem Leben. Mit einem Joghurt als Henkersmahlzeit. Mit einem lausigen, abgelaufenen Joghurt.
Wie so oft haben wir Bergsteigerfreunde uns in diesen Augusttagen des Jahres 1986 nach der Samstagabend-Messe auf dem Dorfplatz getroffen, um zu besprechen, welche Tour wir als nächste angehen sollten. Der Feiertag am 15. August – Maria Himmelfahrt – kam uns entgegen, und wir entschieden, einen Tag zuvor nach Sulden zu fahren und die Nordwand der Königsspitze zu bezwingen. Ortler, Zebrú, Königsspitze – dieses Dreigestirn hat mich jedes Mal fasziniert, wenn ich über den Reschenpass kommend den Obervinschgau hinuntergefahren bin. Richtung Königsspitze waren auch die beiden Brüder Florian und Patrick Gufler mit uns – sie wollten über die Minnigerode-Rinne, die nach ihrem Erstbesteiger so benannt war, nach oben. Otto und ich dachten hingegen insgeheim daran, den Nordwand-Ausstieg über die „Schaumrolle“ zu nehmen. Kurt Diemberger, einer der Erstbesteiger dieses Abschnitts, hatte 1956 den Eisüberhang so getauft. Zu bewältigen gewesen wären drei oder vier Seillängen im überhängenden Eis, und wir hatten für die technische Kletterei alles notwendige Material mitgebracht, begonnen bei den Strickleitern. Otto und ich wollten es wissen – zum damaligen Zeitpunkt wäre es erst die fünfte Begehung der „Schaumrolle“, einer der großen alpinistischen Herausforderungen des Alpenraums im 20. Jahrhundert, gewesen. Ich wusste, dass wir es schaffen können, wir waren voll motiviert, gut im Training, bestens vorbereitet für Steileis-Verhältnisse, und auch die Moral war intakt.
Wir ließen uns also am Reschenpass von den Königen der Ostalpen begrüßen, fuhren nach Sulden, kauften dort noch ein wenig ein und begannen unseren Zustieg zur Nordwand der Königsspitze, der uns über die Hintergrathütte führte. Zu diesem Zeitpunkt war mir bereits elendig schlecht, und je höher wir stiegen, umso mehr rumorte mein Magen. Brechreiz quälte mich, gleichzeitig schien jeden Moment Durchfall einzusetzen. Doch ich biss die Zähne zusammen, querte mit den anderen den Sulden-Ferner und überwand den Königswand-Ferner. Morgen, sagte ich mir, morgen bin ich wieder fit. Morgen hätte ich, hätten wir, fast nicht erlebt! Wir lagen in unseren Schlafsäcken, und entgegen unseren Gepflogenheiten auch auf mitgebrachten Matten, um das Biwak einigermaßen erträglich zu machen, als gegen 23 Uhr das Ende der Welt über uns hereinbrach. Regen und Schnee, Blitz und Donner ließen uns um unser Leben fürchten. Wir schleuderten all das, was Elektrizität von oben hätte anziehen können, in hohem Bogen von uns. Pickel und Steigeisen landeten dutzende Meter entfernt von uns. Jeder von uns vier zog sich in seinem Biwaksack zurück, und jeder ging auf seine Art mit der prekären Situation um. Gebetet haben wir alle, spätestens dann, als noch Eis- und Steinschlag einsetzten und es in einer Tour um uns herum rumpelte. „Hoffentlich erwischt es uns nicht, Herrgott, hilf uns!“, betete ich und auch alle anderen – jeder mit seinen eigenen Worten. Meinem Magen ging es immer schlechter denn besser, mich dünkte, als würde er sich zusammen- und auseinanderziehen wie ein Gummiband. Doch ganz ehrlich: In dieser Situation war es das geringste meiner Probleme. An Schlaf war nicht zu denken aufgrund der Nässe, die sich ihren Weg auch in den Biwaksack bahnte, und aufgrund der Sorge, vom nächsten Blitz, vom nächsten Stein erschlagen zu werden. In einer Situation wie dieser bist du keine 50 Groschen wert, dachte ich mir, hier bist du so klein, als hättest du keine Bedeutung, als hätte es dich nie gegeben. Hoch über Sulden hätte es in dieser Nacht zu einer Katastrophe mit vier Todesopfern kommen können.
Doch wir alle überlebten.
Maria Himmelfahrt 1986 bescherte uns einen strahlend blauen Himmel. 20 oder 30 Zentimeter Neuschnee waren gefallen, doch wir fanden all unsere Schlosserei unter dem Schnee. Oder, korrekter formuliert: Die anderen fanden das Material. Ich stand lediglich von Schmerzen gepeinigt am Wandfuß herum, konnte mich kaum mehr bewegen und musste mich schweren Herzens entscheiden, nicht mitzuklettern. „Ich schaffe es nicht“, sagte ich Otto. „Ich werde absteigen und in Sulden auf euch warten.“ So packte ich mein Zeug zusammen und stieg ab, während das Trio nun gemeinsam in die Minnigerode-Rinne einstieg.
Und nun hänge ich hier fest in dieser Spalte, und bin mit der Situation (und dem Joghurt) überfordert. Ich habe Kopf- und Bauchschmerzen, habe keine Panikattacken, aber doch Überlebensängste und das miserable Gefühl, als müsste ich nur noch auf den Tod warten. Ist er gar schon hier bei mir in dieser Schutt-Spalte?
„Guten Tag, Herr Grüner, ich bin’s wieder einmal.“
„Schon wieder du. Wir begegnen uns ein wenig zu oft, meine ich.“
„Nun ja, Ihre Zeit wäre schon einige Mal gekommen gewesen, wissen Sie noch, damals in der Angerwand, als Sie beim Soloklettern der linken Route 20 Meter über dem Boden abgestürzt sind, und Sie sich nur durch einen Hechtsprung bei Ihrem Bruder am Seil halten konnten, als er sich daneben abseilte. Oder als er Ihnen wiederum beim Soloklettern im Angerwand-Wasserfall ein Seil holte, um Sie zu retten, oder als Otto Ihnen ein Seil zugeworfen hat, weil Sie allen zeigen wollten, dass Sie ohne diesen Strick den Ostriss an der Martinswand durchsteigen könnten und dann an der Schlüsselstelle weder vor- noch zurückkamen.“
„Will ja jetzt nicht belehrend oder beleidigend klingen – aber wieso hat es denn nie hingehauen, Monsieur Tod?“
„Meistens ist mir eben Ihr Bruder in die Quere gekommen. Wie er Sie aus all Ihren misslichen Lagen befreien konnte – Respekt. Und wie er Sie immer wieder festgehalten hat – große Klasse. Mit ihm hatten Sie ja wirklich einen Schutzengel.“
„Warum hatten? Es ist noch nicht vorbei.“
„Machen’S keine Schwierigkeiten, Herr Grüner. Sie sitzen in dieser Spalte, Ihr Bruder ist an der Nordwand der Königsspitze unterwegs, hier kann er Sie nicht finden! Es reicht mir, einmal ist genug, Herr Grüner!“
„Aber warum muss das sein? Bin ich dir tatsächlich so wichtig? Ich bin noch jung, ich habe viel vor, viele Pläne – und dann: auf diese Art und Weise?! Mich, einen guten Kletterer, willst du in den Bergen in einer Spalte abholen? Hast du keinen Anstand?!“
„Immer das gleiche Bla-bla-bla mit euch Menschen, wenn die letzte Stunde anbricht. Immer viele Fragen und Ausflüchte und nie eine konstruktive Mitarbeit!“
„Jetzt sei nicht gleich so beleidigt, du Affe. Wenn du glaubst, dass es sein muss, dann tu es halt. Aber richtig oder fair ist es nicht.“
„Selten ist ein Tod richtig oder fair. Und dennoch gehöre ich zu Ihrem Leben.“
„Ja, ja, schon klar. Aber nur, dass du es weißt – Schiss vor dir habe ich nie gehabt. Ich habe viele Entscheidungen getroffen auf den Bergen, in den Wänden, und nie habe ich mir gedacht, dass es meine letzte sein könnte. Und Angst vor dem Sterben habe ich nie verspürt, weder im Fels noch im Steileis. Jetzt, vielleicht. Ist ja nicht so, dass du ein guter Freund und angenehmer Gesprächspartner wärst… jedenfalls, Sensenmann, es hat sich allemal gelohnt, so zu leben, wie ich es tat.“
„Na dann is‘ ja gut, Herr Grüner, gemma’s an, wenn Sie jetzt alles gesagt haben.“
„… halt – hör ich da nicht jemanden kommen?“
„Sie müssen sich täuschen.“
„Halt’s Maul… HILFE, HILFE, HILFE.“
„Wieder Ihr Bruder! Der Mann wird mir langsam unheimlich. Nichts für ungut, Herr Grüner. Und nur dass Sie’s wissen. Mindestens einmal werden wir uns sicher nochmal begegnen.“
„Aber ein bisschen musst noch warten, Sensenmann, wahrscheinlich sogar lange noch…“
Eine Stunde, nachdem ich losgekrochen bin, hält es Otto in der Wand nicht mehr aus. Ihn plagen Gewissensbisse, er findet es nicht richtig, mich, einen Kranken, den Weg nach Sulden alleine bewältigen zu lassen. Also sagte er den Gufler-Brüdern vorläufig Lebewohl und steigt ab, mir hinterher. Geht über die Ferner den Weg, den ich mit meinen Spuren vorgezeichnet habe, und denkt auf dem toten Ferner so wie ich zuvor. Er kommt an meiner Spalte vorbei, und noch heute frage ich mich, was es war, als er sich sagte: „Mir ist nicht wohl dabei, dass Albert allein absteigt“, oder als er dieselben Entscheidungen traf, die ich vor ihm getroffen hatte. Dass er mich findet, ganz ohne Schneespur, ist Glück, Zufall, Fügung, Schicksal, Intuition – man kann es nennen, wie man will. Ich bin 23, er 22 Jahre jung, wir haben die gleiche Denkweise, wie zwei Brüder, die sich sehr nahe stehen, aber zugleich ist es die Denkweise von zwei Personen, von denen weder der eine noch der andere ein Experte am Berg ist. Wenn Otto 20, 30 Meter links oder rechts an mir vorbei geht, begleitet mich der Tod in eine andere Welt. Und mein Bruder sucht mich erfolglos in Sulden.
Eine Stunde benötigt Otto, um mich zu bergen. Zuerst einmal muss er zu mir absteigen, um mir einen Klettergurt anzulegen. Dann befreit er mich mit Hilfe eines Seilzugsystems aus der Spalte. In jenen Momenten, in denen sich mein Freund und Bruder über das Loch beugt, habe ich das erste Mal gefühlt, echt Glück gehabt zu haben in der Tour!