
Über die Autoren
Dr.Udo Baer ist Diplom-Pädagoge, Kreativer Leibtherapeut, Mitbegründer und Geschäftsführer der Zukunftswerkstatt therapie kreativ sowie Vorsitzender der Stiftung Würde.
Dr. Gabriele Frick-Baer ist Diplom-Pädagogin, Kreative Leib- und Traumatherapeutin, sowie Mitbegründerin und therapeutische Leiterin der Zukunftswerkstatt therapie kreativ.
Beide Autoren sind seit vielen Jahren Autoren der »Bibliothek der Gefühle«,die mittlerweile zwölf Bände umfasst.
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85846-7)
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von dem Autor und der Autorin erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von den Verfassern übernommen werden. Die Haftung der Autorin, des Autors bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
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© 2014 Beltz Verlag, Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: www.anjagrimmgestaltung.de, Stephan Engelke (Beratung)
Umschlagabbildung: © Pelageya Klubnikina/Getty Images
E-Book: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22319-7
Inhalt
Vorbemerkung
Vom Sinn und Nutzen der Gefühle
Die Gefühle
Sehnsucht
Scham
Schuldgefühle
Angst
Geborgenheit
Die aggressiven Gefühle
Ärger
Wut und Zorn
Hass
Jähzorn
Trotz
Ironie, Sarkasmus, Zynismus und Bitterkeit
Einsamkeit
Würde
Verantwortungsgefühl
Trauer
Mitgefühl
Treue, Verrat und das Gefühl der Verbundenheit
Freude und Glück
Neugier, Interesse, Leidenschaft, Langeweile
Liebe
Eifersucht und Neid
Vom Sich-fremd-Sein zum In-sich-Wohnen
Die Grammatik der Gefühle
Gefühle folgen Regeln
Das Drama der Gefühllosigkeit
Zu gefühlvoll? Zu emotional?
Literatur
Vorbemerkung
Gefühle gehören weder in die Lächerlichkeits- oder Schmuddelecke noch erscheint es uns angemessen, sie als allein selig machende Impulse des Handelns anzubeten. Gefühle sind Kernimpulse menschlichen Erlebens, hilfreich und notwendig, um in der Welt zurechtzukommen, und – so weit wie möglich – glücklich zu werden.
Ohne Gefühle geht nichts, gar nichts. Selbst die Gegenüberstellung von Fühlen und Denken, von Herz und Verstand ist nur eine Hilfskonstruktion. Bei jeder Wahrnehmung, bei jeder Entscheidung, bei jedem Nachdenken sind auch die für die Gefühle zuständigen Regionen des Gehirns beteiligt, das hat die Neurobiologie bewiesen. Im Mathematikunterricht steht das vernunftvolle Denken im Vordergrund, doch Sie alle wissen, welch große Rolle auch in der Mathematik das Interesse oder dessen Fehlen bzw. die Angst, zu versagen, spielen können. Gefühle und Verstand gegeneinander auszuspielen ist töricht. Es sind beide Aspekte wichtig, lebenswichtig.
In diesem Buch wollen wir den Gefühlen Raum geben. Wir wollen Sie damit unterstützen, sich in den Welten der Gefühle zurechtzufinden und eventuell neue Nischen zu entdecken, die Ihr Erleben bereichern. Wer seine Gefühle besser versteht, hat mehr Verständnis für sich selbst und für andere Menschen und hat mehr Möglichkeiten, ein gutes Leben mit seinen Gefühlen zu leben.
Menschen können auch in ihren Gefühlswelten leiden. Sie können in der Trauer feststecken und fürchten, im nie versiegenden Meer ihrer Tränen zu versinken. Sie können ihr Mitgefühl »umtauschen« gegen das Gefühl der Gefühllosigkeit. Sie können von Ängsten »überfallen« werden oder das Interesse an anderen Menschen und am Leben verlieren. Gefühle zu würdigen und ihnen Raum zu geben beinhaltet auch, sich mit dem Leiden rund um die Gefühle zu beschäftigen. Und es bedeutet, sich den vielfältigen Möglichkeiten zu widmen, die uns unsere Gefühle in unserem Leben eröffnen. Beides. Nicht entweder–oder.
Wir werden Ihnen insgesamt siebzehn Gefühle vorstellen. Dabei werden wir am Anfang eines jeden Kapitels jeweils den Sinn und Nutzen dieses Gefühls für die Menschen darlegen und es dann in die Landschaft des menschlichen Erlebens einbetten. Denn um Landschaften geht es: Ein Gefühl steht nie für sich allein. Nehmen wir als Beispiel die Trauer. Neben ihr klingt die Liebe für das Verlorene an, im Hintergrund lauert die Einsamkeit, das Herz wird schwer und die sozialen Kontakte werden weniger … Es gibt Berge und Täler, weite Ebenen und reißende Flüsse in der Gefühlslandschaft. Wenn Sie sie mit uns durchwandern, werden Sie sicherlich der einen oder anderen Überraschung begegnen.
Und wir wissen, dass sich Menschen in diesen Landschaften verirren können, dass sie in Verwirrung geraten und unter den Einseitigkeiten, dem Zuviel und Zuwenig im Gefühlsleben leiden können. Dem geben wir Raum. Der jeweils dritte Abschnitt ist überschrieben mit »Rat und Hilfe« und beinhaltet Hinweise, wie Sie mit Problemen rund um die Gefühle umgehen können.
Rat und Hilfe können nur beispielhaft sein. Sie beruhen auf unseren langjährigen therapeutischen und pädagogischen Erfahrungen. Wir arbeiten als Kreative Leibtherapeut/innen – »kreativ«, weil wir mit künstlerischen Medien arbeiten und auf die Fähigkeit der Menschen zu kreativen Lösungen vertrauen, »Leib«, weil wir uns am Erleben der Menschen orientieren. (Das Wort »Leib« ist nicht mit Körper zu verwechseln, es stammt vom mittelhochdeutschen »lib« und bedeutet: der lebendige und erlebende Mensch.) Wir wissen daher, dass jeder Mensch in seiner Subjektivität, in seinem individuellen Erleben und damit auch in seiner Gefühlswelt einzigartig ist. Wenn Sie drei Menschen fragen, was für sie Liebe bedeutet, wird jeder unterschiedlich antworten. So gilt auch bei Rat und Hilfe, dass sich pauschale und mechanische Antworten verbieten. Gefühle vertragen keine Gebrauchsanweisungen und keine Ideologien – im Gegenteil, wer mit Gebrauchsanweisungen und ideologischen Grundsätzen an Gefühle herangeht, macht die Menschen krank und unglücklich. Und doch werden wir Rat und Hilfe anbieten: Wir bieten Ihnen die Erfahrungen, die uns zu jedem Gefühl am wichtigsten und nachhaltigsten wirksam erscheinen. Wir bitten Sie, sie auszuprobieren, sie zu kosten und sich wie bei einem Buffet das auf der Zunge zergehen und munden zu lassen, was über das gewohnte Geschmackserlebnis hinaus Überraschungen für Sie bereithält und Ihnen schmeckt.
Und noch ein Hinweis: Die Auswahl der Gefühle und deren Darstellung kann nur unvollständig sein. Sie werden sicherlich das eine oder andere Gefühl finden, das Ihnen wichtiger erscheint, aber hier nicht vertreten ist, während einzelne der hier vorgestellten Gefühle für Sie vielleicht keine allzu große Bedeutung haben. Wir haben die hier vorgestellten Gefühle ausgewählt nach der Bedeutung, die sie für uns und die Menschen, denen wir begegnen durften, hatten und haben. In dem Band »Das ABC der Gefühle« (2009) haben wir uns mit deutlich mehr Gefühlen beschäftigt.1 Wir haben dort 60 Gefühle – und selbst das ist eine Auswahl – interviewt, als wären sie jeweils eine Person. Dort werden Sie, wenn Sie Interesse haben, vielen hier nicht erwähnten Gefühlen begegnen.
1 Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Das ABC der Gefühle. Weinheim und Basel, Beltz 2009
Seit vielen Jahren sind wir dabei, an einer »Bibliothek der Gefühle« zu schreiben. Zwölf Bände sind in der Zwischenzeit erschienen ‒ manches haben wir aufgegriffen, zusammengefasst, anders geordnet und erweitert, neue, bislang noch nicht beschriebene Gefühle sind hinzugekommen. Auf der Grundlage dieser Arbeit und unserer langen therapeutischen Erfahrung, bei der wir den Gefühlen bis heute in immer neuen Facetten begegnen, ist dieses Buch entstanden.
Wer Gefühle ernst nehmen möchte, muss sich mit den einzelnen Gefühlen beschäftigen, mit ihren Erscheinungsformen und Symptomen, aber auch mit den Zusammenhängen zwischen Gefühlen und den anderen menschlichen Regungen, mit ihrer inneren Struktur und ihrer Grammatik. Wir sprechen von Grammatik, weil grammatikalische Regeln Ausnahmen zulassen und flexibler sind als die mathematisch orientierte Logik, die Logik des Verstandes. Wir haben uns der Aufgabe, die Grammatik der Gefühle zu erforschen und zu beschreiben, seit Langem gestellt. Sie finden die wichtigsten Ergebnisse am Schluss des Buches, nachdem wir die einzelnen Gefühle vorgestellt haben, und wir hoffen und sind zuversichtlich, dass Sie daraus einen Nutzen ziehen. Wir sind davon überzeugt: Wer seine Gefühle kennt und würdigt, lebt besser.
Udo Baer und Gabriele Frick-Baer
Vom Sinn und Nutzen der Gefühle
Wenn ein Mensch in seinem Schmerz versinkt und die Trauer ihn blind macht für all das, was in seinem Leben erfreulich ist, wenn der Jähzorn unkontrollierbar aufsteigt und Menschen verletzt, die man gar nicht verletzen möchte, wenn die Angstgefühle jemanden nachts aus dem Schlaf reißen – dann sind Gefühle oft eine als sinnlos schmerzhaft empfundene Last.
Doch wenn die Trauer hilft, von etwas Vergangenem loszulassen, wenn der Zorn auf jemanden, der uns verletzt hat, bewirkt, dass wir uns diese Person vom Leib halten, wenn die Angst uns vor einem Unfall bewahrt – dann sind die Gefühle sinnvoll und werden auch als solche empfunden.
Und die Lust am und im Fühlen macht auch Sinn, denn sie ist gespürte Lebendigkeit, Belohnung und Antrieb zugleich.
Gefühle machen also Sinn. Besser ausgedrückt: Sie machen in der Regel Sinn, auch wenn sie zu Leiden führen und Ausdruck von Leiden sein können.
Wie sind Gefühle in den Gesamtorganismus eingebunden?
Die Fähigkeit, zu fühlen und zu erleben, ist immer schon vorhanden, sobald wir lebendig werden. Die phänomenologische Philosophie, der wir uns verbunden fühlen, benutzt dafür den Begriff »Leib«. Der Leib, der sich und seine Welt erlebende Mensch, ist die Grundlage, auf der sich Gefühle und ähnliche Regungen entwickeln. Bevor wir ein Gefühl bemerken, war es schon da.
Gefühle gehören zu den spontanen Lebensregungen wie Atmen, Gehen, Weinen usw. Wir können sie insoweit beeinflussen, wie wir auch unser Atmen und Gehen beeinflussen können. Doch in der Regel atmen und gehen wir so unwillkürlich, wie wir fühlen.
Unser Leib ist immer schon da und wir können ihn bewusst erleben. Ähnlich verhält es sich mit unseren Gefühlen. Sie sind immer schon da und wir können sie achtsam erspüren.
Dies zu wissen ist wichtig. Denn Gefühle sind ja nicht nur die dramatischen Spitzen unseres Erlebens, nicht nur der Tränenschwall, der Zornesausbruch oder die Liebeserschütterung, die wir spontan bei uns wahrnehmen. Gefühle sind immer da, sind auch klein und unscheinbar, können unbewusst bleiben oder erspürt werden. Das achtsame Erspüren von Gefühlen kann wiederum Rückwirkungen auf das Fühlen selbst haben und Gefühle verstärken oder abschwächen.
Gefühle ohne Körpererleben gibt es nicht. Sie sind immer mit körperlichen Aktivitäten, und seien es noch so schwache und kaum bemerkbare, verknüpft. Diese Verbindung zeigt sich in zahlreichen Redewendungen: Der Zorn rast, Furcht ist beklemmend, der Neid nagt an jemandem, die Trauer zerreißt das Herz usw. Angst und Enge haben den gleichen Wortstamm. Gefühle verändern den Atem und das vegetative Nervensystem und rufen Veränderungen im gesamten Körper hervor. Manchmal spürbar, oft unmerklich – wobei die Folgen sich erst nach Jahren zeigen können. Es gibt keine Gefühle ohne Körper, deswegen wird der Körper auch als »Bühne der Gefühle« bezeichnet (Damasio 1997, S. 213). Der Körper ist aber nicht nur passive Bühne, sondern es gibt Rückkoppelungen zwischen den körperlichen und den emotionalen Aspekten der Lebendigkeit. Vielen Menschen helfen z.B. Atemübungen oder Joggen gegen zu starke Ängste oder andere emotionale Überforderungen.
Die Gehirnforschung hat das limbische System im Gehirn als die Region identifiziert, die bei emotionalen Regungen besonders aktiv ist. Sie ist nicht die einzige Region, aber sie ist offensichtlich die für Gefühle besonders zuständige Schaltstelle im Gehirn. Doch Gefühle damit auf Aktivitäten des limbischen Systems zu reduzieren wäre ein Fehlschluss.
Liebe ist auch eine Aktivität des limbischen Systems, aber auch eine Aktivität anderer Teile des Gehirns und vor allem ein Ausdruck einer Beziehung zweier oder mehrerer Menschen, ein körperliches Zugewandtsein und vieles andere mehr. Angst ist auch eine Erhöhung des Pulses, aber auch viel mehr, ein Prozess, der den ganzen Körper ergreift bzw. ergreifen kann, das gesamte Erleben in Fleisch und Blut. Ich liebe oder ängstige mich, ich als ganzer Mensch, nicht ein Teil meines Gehirns, nicht eine Funktion meines Körpers.
Ausgehend von solch einem Verständnis der Gefühle wird deutlich, welchen Sinn die Existenz von Gefühlen hat.
Lebewesen ohne Gefühle reagieren auf äußere Reize unmittelbar: Nahrung bedeutet Fressen, Bedrohung bedeutet Kämpfen oder Fliehen usw. Solche unmittelbaren Reaktionen haben Menschen und andere Lebewesen mit Gefühlen (wie z.B. Hunde) auch, aber sie bestimmen nicht allein unser bzw. deren Verhalten. Gefühle ermöglichen gerade dem Menschen ein differenzierteres Verhalten, differenzierte Reaktionen und verhelfen damit zu größeren Überlebenschancen in einer komplexen Umwelt.
Diese These über den grundlegenden Nutzen der Gefühle wird verständlicher, wenn wir einzelne sinnstiftende Aspekte der Emotionen genauer betrachten. (Wir benutzen die Begriffe »Gefühle« und »Emotionen« synonym. Unterscheidungen, die manchmal in der Fachliteratur getroffen werden, konnten uns nicht überzeugen.) Dazu ist es wichtig, zu untersuchen, was Gefühle bewirken:
Gefühle regulieren Beziehungen zu anderen Menschen. Man kann sie als »soziales Organ« bezeichnen.
Bei manchen Gefühlen ist offensichtlich, dass sie sozialen Bezügen entspringen. Das Schamgefühl kann in einer Beschämungserfahrung wurzeln, die Angst in einer Bedrohung. Neid und Eifersucht können aus Vergleichen mit anderen entstehen, Zorn und Hass Reaktionen auf das Verhalten anderer sein.
Bei anderen Gefühlen stehen eher die Wirkungen auf das Sozialverhalten im Vordergrund. Wer sich verloren fühlt, kann sich zurückziehen oder schaumschlagend auftrumpfen und so tun, »als ob«. Wer hilflos ist, kann aggressiv um sich schlagen oder erstarren.
Auch die Gefühle, deren Quelle in Beziehungen zu anderen offensichtlich ist, bewirken differenzierte Veränderungen des Gerichtetseins zu anderen. Die Scham bewirkt Rückzug, Angst führt zu Vermeidung. Liebe zieht zu jemandem hin, Zorn verändert, Hass vernichtet, Freundschaft verbindet usw. Gefühle sind also nicht in einem Menschen isolierte Regungen. Es gibt kein Gefühl ohne den anderen.
Gefühle verhelfen zu Bewertungen.
Das limbische System im Gehirn ist bei jeder Entscheidung beteiligt, ganz gleich, ob es darum geht, was ein Mensch wahrnimmt, was er mag oder was er tut. Die Trennung zwischen Kognitivem und Emotionalem hat sich als ein Märchen herausgestellt. Es gibt kein Denken ohne Gefühle. Bei jeder Bewertung, die ein Mensch vornimmt, bei jeder Entscheidung, die er trifft, sind Gefühle beteiligt.
Besonders deutlich wird dies beim Interesse. Ob ich mich für etwas interessiere und wofür ich mich interessiere, das ist ein wesentlich emotionaler Prozess.
Oft sind solche Bewertungen nicht so bewusst wie bei der Entscheidung, ob ich diese oder jene Frau, diesen oder jenen Mann heirate, doch wirksam sind sie immer.
Bei einigen Menschen wurde der präfrontale Kortex, eine Gehirnregion, durch Unfälle zerstört. Damit ist eine wesentliche Verbindung zwischen limbischem System und den Regionen unterbrochen, die eher beim kognitiven Denken aktiv sind. Diese Menschen können weitgehend genauso rational denken wie andere Menschen, sie orientieren sich aber nur an unmittelbarer Effektivität – und dies maßlos –, ohne Wertmaßstäbe zu haben. Gerechtigkeitsgefühle sind unbekannt und es gibt keine Bremsen gegen Gewalttätigkeit. Moral braucht also Gefühl (Breuer 2002).
Gefühle stoßen Entscheidungen an, vor allem spontane Entscheidungen.
Meine Angst und mein Schrecken helfen mir, beim Geräusch quietschender Bremsen innezuhalten und dem Auto auszuweichen. Ich reagiere völlig spontan, denn ich habe keine Zeit, lange darüber nachzudenken und das Für und Wider abzuwägen. Das können Gefühle: spontane Entscheidungen bewirken. Meine Freude über das Geschenk führt zu einem Strahlen und einer Umarmung, mein Ärger über die kränkende Bemerkung meines Kollegen bewirkt, dass ich mich spontan von ihm zurückziehe. Solche spontanen gefühlsgeleiteten Reaktionen können häufig beobachtet werden. Auch wenn in vielen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem der Berufswelt, heute spontane gefühlsgeleitete Handlungen verpönt sind, so ist das eher ein Ausdruck gesellschaftlicher Normen oder existierender Ängste vor Spontaneität und Emotionalität als Beschreibung der inneren Wirklichkeit bei den Menschen.
Selbstverständlich können Gefühle auch über das Spontane hinaus lang anhaltende Wirkungen hervorrufen bzw. Verhalten lang andauernd beeinflussen. Der Hass kann ein ganzes Leben bestimmen, ein Schuldgefühl kann die Triebkraft sein, jahrzehntelang mit einem Partner zusammenzuleben, den man nicht mag. Wie bei den spontanen Entscheidungen haben Gefühle hier eine Anstoßqualität. Sie stoßen Entscheidungen zu Verhalten an, dessen Auswirkungen unterschiedlich lang sein können.
Das vernünftige, planende Denken braucht Zeit und Raum. Beides ist bei spontanen Entscheidungssituationen nicht vorhanden. Sind Zeit und Raum für vernünftiges, planendes Denken vorhanden, bieten Gefühle den leiblichen Grund und beeinflussen die Richtung des Denkens. Die Ingenieure berechnen die Konstruktion einer tragfähigen Brücke über den Fluss. Die Sehnsucht und das Interesse, den Fluss überqueren zu können, gaben den Anstoß dazu, überhaupt mit dieser Arbeit zu beginnen.
Gefühle regulieren Intensität.
Wenn ich eine Arbeit erledige, wird das Arbeitsergebnis auch davon abhängen, ob ich mit Freude oder mit Widerwillen arbeite. Wenn mein Interesse schwach ist, werde ich anders handeln, als wenn mich Sehnsucht und Leidenschaft erfüllen. Den kleinen Ärger kann ich vielleicht äußern und damit loswerden oder eher beiläufig abtun. Die große Wut bedarf intensiverer Beschäftigung, sonst wird sie folgenreich gegen mich selbst umgelenkt werden. Ob ich jemanden mag oder von tiefer Liebe zu jemandem erfüllt bin, bewirkt unterschiedliches Erleben. Gefühle beeinflussen die Höhe des Erregungsniveaus und regulieren die Intensität meines Erlebens und meines Handelns.
Gefühle ermöglichen Prozesse.
Sie entscheiden darüber, was wichtig genug ist, dass sich ein Mensch erinnert. An die meisten Treppen, über die ein Mensch gegangen ist, wird er sich nicht mehr erinnern. Die große Treppe am Montmartre, die das Liebespaar während der Flitterwochen in Paris bestiegen hat, wird ebenso unauslöschlich in Erinnerung bleiben wie die Treppe, die jemand hinuntergefallen ist. Die Gefühle des Glücks (in Paris) und des Schreckens (beim Sturz) sind Marker der Erinnerung.
In die aktuellen Erfahrungen z.B. des Treppensteigens fließen solche Erinnerungen mit ein. Die Sorge vor einem erneuten Sturz kann zu einem zukunftsbeeinflussenden Handeln führen, indem an der Haustreppe ein Geländer angebracht wird. Gefühle spannen so Bögen von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft. Sie ermöglichen und gestalten prozesshaftes Erleben.
Diese große Bedeutung unserer Emotionalität findet Ausdruck in der Aussage, dass Gefühle »Kern unseres subjektiven Erlebens« sind (Fuchs 2008, S. 137). Deshalb ist wichtig, ihnen Raum zu geben.
Die Gefühle
Sehnsucht
Sinn und Landschaft
»Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, so wünschte ich mir
weder Reichtum noch Macht, sondern die Leidenschaft der
Möglichkeit; ich wünschte nur ein Auge, das, ewig jung,
ewig von dem Verlangen brennend, die Möglichkeit zu sehen.«
SØREN KIERKEGAARD
Und Matthias Claudius beschrieb seine Sehnsucht:
»Dann saget unterm Himmelszelt
Mein Herz mir in der Brust:
›Es gibt was Bessers in der Welt
als all ihr Schmerz und Lust.‹
Ich werf’ mich auf mein Lager hin
Und liege lange wach
Und suche es in meinem Sinn
Und sehne mich darnach.«
MATTHIAS CLAUDIUS
Die Sehnsucht ist ein Gefühl, das unserem Handeln Kraft gibt und zum Handeln drängt. Sie ist Teil unserer Lebendigkeit. Die Sehnsucht »verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben …« (Bloch 1985, S. 1). Wir leben in einer, unserer Welt, in der wir uns eingerichtet haben. Vieles, was unsere Lebenswelt ausmacht, ist durch die Geschichte geprägt oder wird von anderen vorgegeben. Manches haben wir selber beeinflusst. Aus diesen beiden Faktoren entsteht eine Lebenswelt, unsere Lebenswelt. Unabhängig davon, ob wir mit ihr zufrieden sind oder ob wir unter ihr leiden, unabhängig davon, wie sich Glück und Elend in unserem Leben verteilen: Es ist unsere Lebenswelt, unsere Realität. Aber diese reale Lebenswelt ist nicht das Einzige, was unser Erleben bestimmt. Neben der realen Lebenswelt gibt es das Andere, eine alternative Wirklichkeit, eine Welt der Möglichkeiten. Diese Welt besteht in unseren Vorstellungen, manche werden sagen, »nur« in unseren Vorstellungen. Aber nichtsdestoweniger ist die Vorstellung des Anderen, des Möglichen, des Alternativen wesentlicher Bestandteil dessen, woraus wir die Impulse und die Initiative für unser Handeln nehmen. Verlieren wir Menschen uns in der Vorstellung des Möglichen, geht uns der Bezug zur realen Lebenswelt verloren, dann verlieren wir unseren Boden. Verzichten wir aus welchen Gründen auch immer auf die Vorstellung der Alternative, auf innere Bilder des Möglichen, dann verlieren wir unsere Impulse zum verändernden Handeln.
Sehnsucht gebiert Handeln, veränderndes Handeln. Auch wenn die Sehnsucht begraben ist, können Menschen handeln, manchmal sogar ununterbrochen und mehr, als ihre Kräfte erlauben. Doch oft bedeutet solcherart Handeln kein veränderndes Handeln, zielt nicht darauf ab, das Leben oder einzelne Aspekte des Lebens bzw. der Lebenswelt umzugestalten, sondern beinhaltet mehr ein Getriebensein ohne Perspektive, ein resigniertes Bewahren des Status quo, ein Abrackern ohne Ausweg. Dies hört sich oft so an: »Ich schaffe und schaffe und komme mir vor wie ein Hamster im Rad. Ich tue ganz viel, aber es ändert sich nichts.« Sehnsucht gebiert also nicht einfach nur Handeln, sondern sucht auch nach Inhalten, die für den Einzelnen bedeutend sind.
Ein Abrackern ohne die Perspektive der Veränderung nagt am Selbstwertgefühl und führt häufig dazu, dass Menschen den Sinn für ihre Handlungen verlieren. Geht jedoch die Sehnsucht als Motor der Veränderung in unser Handeln ein, entstehen aus der Sehnsucht Wünsche, die zu praktischen Taten drängen, dann ist auch das Selbstwertgefühl ein anderes, ein aktiveres, oft sinnhafteres und wird mehr beachtet und geachtet.
Die Sehnsucht ist folglich ein Grundgefühl, das Sich-sehnen-Können »eröffnet die Zukunft, genauer, die Dimension des Werdens« (Boesch 1998, S. 23). Dem Sich-sehnen-Können wohnt folglich schon eine grundlegende Qualität inne. Es lohnt sich, sie wieder auszugraben, da mit ihr ein Teil der Lebendigkeit ausgegraben wird. In einem Lied von Friedrich Hollaender heißt es: »Eine kleine Sehnsucht braucht jeder Mensch zum Glücklichsein …«
Beim Prozess des Ausgrabens dieser Sehnsucht kommt häufig einiges von dem Geröll mit nach oben, unter dem die Sehnsucht begraben ist, viel Altresignation, viel Trauer um das Verlorene und Entgangene, viel Angst oder Scham. Wer lange im Dunkeln war, wird, wenn er in die Helligkeit tritt, blinzeln, wer lange seine Sehnsucht begraben hatte, wird anfangs, wenn er sie zeigen möchte, Angst vor Enttäuschungen haben und scheu vor den Reaktionen der anderen sein. Da müssen Menschen, die ihre Sehnsucht wiederentdecken, hindurch, vielleicht allein, vielleicht in Begleitung von Freundinnen und Freunden oder mit Unterstützung eines Therapeuten oder einer Therapeutin.
Durch Geröll oder Asche hindurchzugehen lohnt sich. Denn wenn die Sehnsucht wieder da ist, wird Kraft, manchmal eine gewaltige Kraft freigesetzt: Ja, ich will etwas verändern. Ja, ich habe die Erlaubnis, mein Leben zu gestalten, und manchmal sogar die Pflicht, mein Leben anders zu gestalten und nicht die Verantwortung für meine Unzufriedenheit anderen Menschen zuzumuten. Ja, ich will nicht mehr so leben wie bisher, etwas muss anders werden … Bei manchen entwickelt sich diese Kraft schleichend, Schritt für Schritt, bei anderen explosiv. Der Blick auf die Welt wird ein anderer und damit auch die Haltung zur Welt und zum Leben.
Doch wenn die Sehnsucht wieder ausgegraben wird, ist oft noch nicht klar, wonach man sich sehnt. Der Dichter Heinrich Heine, der darum wusste, schrieb: »Ich suche eine Blume, doch weiß ich nicht, welche …« Das Sehnen steigt auf, kraftvoll, aber diffus. Dann gilt es, auf die Suche zu gehen, wonach man sucht, also das Sehnen zu konkretisieren.
Viele Menschen, die ihre Sehnsucht wiederentdeckt haben, verändern etwas in ihrem Leben, wechseln ihr Lebensumfeld, ihren beruflichen Alltag, wechseln den Partner oder die Partnerin oder verändern mit ihren Wünschen und Forderungen ihre Liebesbeziehung. Manche erweitern ihre Spielräume im Berufsleben oder entdecken ihre Kreativität neu, beginnen zu singen, lernen Musikinstrumente zu spielen, beginnen zu malen oder zu tanzen. »Als regte sich ein Gefühl unter dem dämpfenden Nebel eines Tranquilizers, spürte sie manchmal eine große Unruhe aufsteigen, die Sehnsucht nach dem befreienden Tanz, den Schritten und Bewegungen, mit denen sie alle besiegen würde«, schreibt zum Beispiel A. L. Kennedy in ihrem Roman über die Liebe und die Sehnsucht (2001, S. 55). Andere verändern äußerlich kaum etwas, werden aber eigenwilliger, entwickeln mehr Sinn für das Eigene und wandeln dies in Wünschen und Wollen um. Viele Menschen spüren und entdecken ihre Sehnsucht nach einem eigenen Platz, nach Natur, einer Eigentumswohnung, einem eigenen Zimmer, einem Sessel nur für sich allein …
Verirrungen und Wirrungen
Resignation
Wenn Menschen etwas ersehnen, was immer es auch sein mag, und das Ersehnte nicht erhalten oder erreichen, dann schmerzt das. Vor allem, wenn sie auf der Suche nach Halt und Unterstützung sind. Wenn sie keine Wege wissen, dem Ersehnten näher zu kommen, dann entsteht Hilflosigkeit. Wenn Erwartungen und Hoffnungen enttäuscht werden, wächst Resignation. Enttäuschung und Erfolglosigkeit können, treten sie gelegentlich auf, der Sehnsucht gewöhnlich nichts anhaben. Erstrecken sie sich aber über längere Phasen des Lebens, wiederholen sie sich und verlängern damit auch die Schmerzen, dann suchen Menschen Wege, Enttäuschungen und die Schmerzen zu vermeiden. Ein Weg besteht darin, die Sehnsucht überhaupt zu eliminieren, nach dem Motto: Wenn ich nichts mehr ersehne, kann ich nicht enttäuscht werden, dann tut mir nichts mehr weh. Gerade Kinder sind häufig gezwungen, auf diesen Ausweg zu verfallen, zu groß, zu unaushaltbar sind sonst die Kränkungen und Schmerzen. Sicherlich kann es auch Sinn machen, die Sehnsucht eine Zeit lang nicht zu spüren, um Kraft zu sammeln, das Unaushaltbare zu ertragen und durch es hindurch neue Möglichkeiten der Veränderung zu suchen. Doch häufig geht dabei, leider, das Sehnen dauerhaft verloren.
Der Weg, die Sehnsucht zu begraben, sie abzutöten oder zu verstecken, nimmt individuell unterschiedliche Formen an. Manche Menschen machen sich gefühllos, andere betäuben sich mit Ersatzhandlungen wie zerstörerischer Aggressivität oder mit Alkoholkonsum und anderen Drogen. Einige tauschen die Sehnsucht in andere Gefühle um. Wieder andere begraben die Sehnsucht so tief, dass sie vergessen, dass es sie je gegeben hat. Sehnsucht ist für sie etwas, was in schmalzige Romane oder kitschige Fernsehserien gehört, aber nicht in ihr Leben.
Das Verstecken und Begraben der Sehnsucht kann über viele Jahre gelingen, oft verbunden mit einem bitteren Nachgeschmack, mit der unendlichen Suche nach irgendetwas, »aber ich weiß nicht, was«. Dahinter lauern bei manchen Menschen die Verzweiflung und die Leere. Doch auch, wenn sich Menschen mit der begrabenen Sehnsucht gut eingerichtet haben – sie spüren, dass ihnen etwas fehlt. Es fehlt ihnen an Lebendigkeit, an der Perspektive, etwas zu verändern, der Blick in ein vielleicht anderes, zumindest selbstbestimmter zu gestaltendes Leben.
Sollten Sie unter Resignation leiden, hilft ein Mensch, der Sie darin unterstützt, nach vorne zu schauen, die Glut unter der Asche der Resignation zu suchen und ernst zu nehmen, ein Begleiter oder eine Begleiterin Ihrer Sehnsucht, eine Person, die Fürsprache hält für Ihre Sehnsucht.
Die rückwärtsgewandte Sehnsucht
»Eigentlich könnte ich ja glücklich sein«, sagte der 42-jährige Mann, »ich habe genug Geld, eine tolle Freundin, brauche mir beruflich keine Sorgen zu machen, bin gesund.« Doch auch hier folgte, wie bei jedem Satz, der ein »Eigentlich« enthält, ein »Aber«: »Aber ich bin unruhig und nie zufrieden.« Er erzählte von seiner Ruhelosigkeit. Alles, was er erreicht hatte, war letztlich nicht das für ihn Richtige, nicht das, wonach er sich sehnte. Er strengte sich immer mehr an, wandte sich hierhin und dorthin – doch das Ersehnte wurde für ihn nicht greifbar.
Im Kern sehnte er sich nach dem, was er als Kind zu wenig erfahren hatte: nach mütterlicher Geborgenheit. Die Abwesenheit des Vaters, der Mutter und Kind kurz nach der Geburt verlassen hatte, verstärkte die Sehnsucht noch. Er suchte die mütterliche Geborgenheit bei seinen Freundinnen, er suchte sie im Erfolg, er suchte sie schließlich im Sport. Er »verwechselte« die Sehnsucht nach Geborgenheit mit dem leistungsorientierten Nacheifern seiner erfolgreichen Mutter.
Die Sehnsucht des jungen Mannes war sein Leben lang stark. Sie trieb ihn an und beunruhigte ihn. Er suchte sie hier und dort, er versuchte, sie irgendwie zu verwirklichen, ohne zu wissen, wonach er genau suchte. Seine Sehnsucht war unbewusst rückwärtsgewandt. Er suchte in der Zukunft ein Stück seiner Vergangenheit.
In der Geliebten die mütterliche Geborgenheit, im beruflichen Erfolg die Anerkennung der Eltern zu suchen steckte das Sehnen in ein Gewand, das nicht passte. Das Objekt der Sehnsucht ist nicht gleichzusetzen mit ihrer Substanz. Im Sehnen nach dem neuen Porsche mag die Sehnsucht stecken, endlich einmal anderen etwas vorauszuhaben. Im Sehnen nach der Popstar-Berühmtheit verbirgt sich vielleicht die Sehnsucht, Armut, soziales Ausgegrenztsein oder Missachtung hinter sich zu lassen.
Es spricht dafür, dass das Gewand, die äußere Gestalt, und der Inhalt der Sehnsucht nicht konform gehen, wenn das Erreichen des Ersehnten zu keiner Befriedigung verhilft, sondern gleich in das Sehnen und Streben nach dem nächsten und wieder nächsten Ziel mündet. Sicherlich ändern sich unser aller Wünsche und Sehnsüchte, sicherlich gehört es zur menschlichen Lebendigkeit, nach Neuem zu suchen. Aber wenn diese Suche zum Selbstzweck wird, immer wieder, immer besser …, dann ist es an der Zeit, sich die Frage zu stellen: »Wonach sehne ich mich?«, oder: »Wonach sehne ich mich wirklich?«
Wenn Sie unter einer unbewusst rückwärtsgewandten Sehnsucht leiden und einen vorwärtsgerichteten Weg finden wollen, dann werden Sie wahrscheinlich einem anderen Gefühl begegnen: der Trauer. Denn wahrscheinlich halten Sie an etwas fest, was nicht mehr zu halten ist. Da steht wahrscheinlich an, von etwas loszulassen. Das Gefühl des Loslassens ist das Trauern. Sie werden merken, was von dem Früheren noch lebendig ist und was vorbei ist.
Die mütterliche Geborgenheit, die alte Heimat, die erste Liebe sind nicht wiederzuerlangen. Und das ist traurig. Wer in der rückwärtsgewandten Sehnsucht feststeckt, umgeht das Trauern. Also tut es gut, sich dem Trauern zu stellen.
In der Ferne, in der Zukunft, im Nirgendwo …
Das Ersehnte ist oft eine Leerstelle. Betrachten wir z.B. ein Kinderfoto: Ein 7-jähriger Junge schaut aus dem Fenster, sein Gesicht spiegelt sich im Fensterglas. Seine Augen sind voller Sehnsucht. Worauf er schaut, ist auf dem Foto nicht zu erkennen. Das Ersehnte ist unsichtbar und doch Teil des Bildes. Wonach er sich sehnt, ist dem Betrachter des Bildes nicht bekannt, vielleicht auch dem Jungen nicht. In der Kunst wird diese Perspektive genutzt, um Sehnsucht darzustellen. Wenn am Anfang der Oper »Tristan« die Sehnsucht musikalisch erklingt, ist die Tonart a-Moll. Doch der a-Moll-Akkord als solcher wird zwar immer wieder angepeilt, aber kein einziges Mal gespielt (Schaub 2000, S. 214). Das Ersehnte bleibt für die Liebenden eine musikalische Leerstelle. Es kann sich irgendwann und irgendwo verwirklichen, nicht aber hier und nicht jetzt.
Da Leerstellen eine hohe Spannung erzeugen, die schwer auszuhalten ist, füllen wir Menschen sie gern mit inneren Bildern oder Vorstellungen. Dass Menschen Gegenbilder zur unerträglichen Wirklichkeit schaffen und diese in die Vergangenheit zurückverlegen und so schönen und beschönigen, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Solche Gegenbilder, solche Paradiesvorstellungen werden gern auch in eine ferne Zukunft oder in ferne Orte projiziert: »Wenn ich in Rente bin, dann lebe ich richtig«, »Wenn meine Kinder groß sind, dann gönne ich mir was«, »Wenn ich meine große Liebe gefunden habe, dann tue ich etwas für meinen Körper, mache Sport und Diäten« … Viele Menschen streben das Ersehnte nicht jetzt, sondern in einer mehr oder weniger fernen Zukunft an. Diese Menschen laufen Gefahr, das Leben jetzt zu verpassen. Zwischen dem Leben jetzt und dem ersehnten Leben öffnet sich eine Kluft, die unüberwindbar erscheint.
Wer sein Sehnen nur oder hauptsächlich in die Ferne, in die Zukunft, in ein »Irgendwann und Irgendwo« projiziert, dem fehlt der erste Schritt. Ohne einen ersten Schritt ist kein fernes Ziel zu erreichen. Deswegen gilt es, die große Sehnsucht in konkrete Wünsche umzuwandeln und für einen der Wünsche einen konkreten Schritt zu gehen. Dafür geben wir Ihnen im Folgenden einige Hinweise.
Rat und Hilfe
Wenn die Sehnsucht einen Boden und eine Richtung hat und wenn sie möglichst konkret ist, dann kann das Sehnen praktisch werden, d.h. in Handeln umgesetzt werden. Doch wie geht das? Diese Frage werden viele von Ihnen aufwerfen, diese Frage stellen wir uns und stellen sich zahlreiche unserer Klient/innen.
Vorbilder?
Wie man als »ganz normaler« Mensch Sehnsucht praktisch werden lässt, dafür kennen die meisten Menschen keine Vorbilder in ihrer nahen Lebenswelt. Dort haben »vorbildhaften« Einfluss eher die Menschen, die ihr Sehnen unter der Asche der Resignation verkümmern lassen oder die ihre Sehnsucht einem Tagtraumreservat zuweisen, sie aber nicht leben. Vermeintliche Anregungen und Vorbilder für ihr Sehnen suchen Menschen eher in Filmen und Fernsehserien oder in der Identifikation mit Stars. Um Prinzessin Diana wurde so massenhaft und intensiv getrauert, weil sie die Sehnsucht vieler Menschen verkörperte, Beachtung zu finden (Prominenz), zu lieben und geliebt zu werden, trotz aller Demütigungen Stolz und Würde zu bewahren und über materiellen Wohlstand und Sicherheit zu verfügen. Gerade weil sie keine »geborene« Königin oder Prinzessin war, sondern »eingeheiratet«, konnten sich viele Menschen in ihrem Sehnen mit ihr identifizieren. In der Musikbranche gibt es ähnliche Effekte. Die Sängerin, die, bevor sie berühmt wird, bei McDonald’s gearbeitet hat, die Musikgruppen, die »vorher noch niemand kannte« und die erst über Wettbewerbe im Fernsehen zusammengestellt wurden, die Sängerinnen und Sänger, die noch in die Schule gehen und bei der Castingshow die Chance haben, »groß herauszukommen« – sie alle bieten sich als Identifikationsfläche dafür an, dass Sehnsüchte erfüllbar sind.
Doch die meisten Szenen und Idole, die im Film, Fernsehen und in der Musik präsentiert werden, haben mit den Märchen gemeinsam, dass sie märchenhaft bleiben. In »Pretty Woman« oder »Titanic« und zahlreichen anderen Filmen kommt wie im Märchen der Ritter vorbei und erlöst jemanden aus der Not, der Einsamkeit oder einem unbefriedigenden Leben. Die meisten Menschen können ihr Leben allerdings lang auf den »weißen Ritter«, wie ihn eine Klientin nannte, warten, solange sie selbst nicht aktiv werden. Bruce Willis, Brad Pitt und Tom Cruise wetteifern darum, die Welt zu retten (oder zumindest die Passagiere eines Flugzeuges oder die Bewohner/innen eines Hochhauses) – doch wer rettet den 13-Jährigen vor dem prügelnden Vater? Die Gäste des »Traumschiffs« repräsentieren viele Sehnsüchte der Fernsehzuschauer/innen. Doch wie wird aus dem Traum Wirklichkeit?
Sehnsucht ist eine Kraft, die zum Leben gehört und lebendig hält. Es gibt Träume, die unerreichbar sind und unerreichbar bleiben dürfen; nichts spricht dagegen, sich in ein unerreichbares Vorbild hineinzuträumen. Vor allem aber kann Sehnsucht das Leben bereichern, wenn sie praktisch wird. Damit dies geschehen kann, ist es notwendig, dass aus der Sehnsucht konkrete Wünsche werden.
Das Wünschen
Was können Sie sich wünschen, von wem auch immer, um der Erfüllung Ihrer Sehnsucht näher zu kommen? Viele Menschen haben das Wünschen verlernt und übrig bleibt dann nur eine »stille Sehnsucht« nach etwas. Also gilt es, das Wünschen wieder zu üben oder gar neu zu lernen. Der erste Schritt beginnt damit, sich seiner Wünsche bewusst zu werden. Denken Sie nach, was Sie sich wünschen. Das müssen gar nicht gleich sehr viele Wünsche sein. Wichtiger als deren Anzahl ist, dass sie möglichst konkret sind. Also nicht: »viel reisen«, sondern vielleicht: »ein Wochenende nach Paris und zwei Wochen nach Norwegen fahren«. Schreiben Sie diese Wünsche auf.
Und dann konkretisieren Sie die Wünsche: Wann und wie wollen Sie sie erfüllen (»Nach Paris mit dem Bus, das kostet nicht so viel« und »in diesem Jahr«)? Und was brauchen Sie dafür an Geld, Zeit, Unterstützung usw. (»Für Norwegen wünsche ich mir einen finanziellen Beitrag zu Weihnachten«)? Und ist es eher ein Wunsch, den Sie an sich selbst richten, oder ein Wunsch an andere Menschen? Auch hier: Formulieren Sie möglichst genau! Und schreiben Sie auf, was Ihnen einfällt. Das hilft dagegen, sich selbst zu beschummeln.
Scheuen Sie sich auch nicht davor, sich mit Ihren »Eigentlich«-Wünschen konkret auseinanderzusetzen. Zum Beispiel: »Eigentlich ist meine tiefste Sehnsucht, mein Leben zu ändern …« »Eigentlich will ich endlich meine Arbeitsstelle wechseln …« Auf solche und andere Eigentlich-Sätze folgen zumeist Sätze mit einem »Aber«: »Aber das kann ich mir aus diesem oder jenem Grund nicht leisten …« Solche »Eigentlich«- und »Aber«-Sätze können dazu führen, dass Sie in der Falle bleiben und aus den Wünschen nie etwas wird. Vielleicht kann es helfen, einen konkreten ersten Schritt anzugehen, zum Beispiel: »Ich kann morgen (oder in der nächsten Woche) meine Scheu überwinden und mit einem anderen Menschen über meinen Wunsch sprechen, ihn um Rat und Hilfe und solidarische Unterstützung bitten.«
Wichtig sind – unterschätzen Sie das nicht – andere Menschen. Das Sehnen praktisch werden zu lassen und Wünsche anzugehen – nur aus sich heraus –, das gelingt nach unseren Erfahrungen selten. Wenn Sie sich von sich selbst etwas wünschen, z.B. mutiger zu werden, dann überlegen Sie, wer Ihr Wunschbegleiter, Ihre Wunschbegleiterin werden kann, wer Sie unterstützt, Ihren Wunsch umzusetzen.
Wenn Sie sich mit Ihren Wünschen an andere Menschen richten, dann könnte es hilfreich sein, zu unterscheiden, in welcher Weise Sie dies tun wollen. Warten Sie auf die Erfüllung Ihres Wunsches? Erwarten oder fordern Sie, dass Ihr Wunsch von anderen erfüllt wird? Greifen Sie zu, wenn die Wunscherfüllung in Reichweite gerät?
Das Warten
Das niedrigste Aktivitätsniveau des Wünschens ist das Warten. Sie spielen Lotto und warten darauf, dass Sie gewinnen. Sie zeigen jemandem Ihre Zuneigung oder Liebe und warten darauf, dass sie erwidert wird. Sie äußern im Beruf den Wunsch nach einer anderen Tätigkeit und warten, ob diesem Wunsch entsprochen wird. Das Warten kann intensiv geschehen und mit hoher Spannung und Erregung einhergehen (Sie warten auf den Zug, der heute, da Sie unbedingt pünktlich Ihr Ziel erreichen müssen, zu spät kommt). oder aber eher beiläufig erfolgen (Sie warten wie jeden Tag auf den Zug, weil Sie immer ein paar Minuten früher da sind).
Das Warten ist eine Qualität, die vielen Wünschen innewohnt, und deswegen hat das »Warten« auch so viel mit unserer Sehnsucht zu tun. Da gibt es das sehnsuchtsvolle Warten auf das Glück, dass eine andere Person Sie wahrnimmt oder dass Ihre Liebe erwidert wird, oder das Warten auf das Wohlwollen anderer oder auf den gerechten Lohn für die Mühen Ihrer Arbeit, dass man Sie z.B. die Stelle innerhalb der Firma wechseln lässt. Das Warten beginnt manchmal mit einer aktiven Äußerung des Wunsches oder einer ersten Handlung, die Voraussetzung für die Erfüllung ist (zum Beispiel das Ausfüllen des Lottoscheins), und mündet in eine eher passive Zurückhaltung. Wenn die Wunscherfüllung mit Warten verknüpft ist, beinhaltet dies immer eine Abhängigkeit – die Abhängigkeit von der Reaktion eines oder mehrerer anderer Menschen, von einer bestimmten Situation, vom Schicksal, von Gott oder vom Glück oder Pech … Deswegen sagen viele: »Ich warte nicht gern.«
Häufig erleben und erfahren Sie im Alltag wahrscheinlich auch, dass das Warten nicht reicht, dass es intensiverer Aktivitäten bedarf, um Wünsche zu verwirklichen. Und doch steckt im sehnsuchtsvollen Warten ganz deutlich ein Kern von Wahrheit, der für alle Intensitäten und Qualitäten von Wünschen und Sehnen gilt: die Abhängigkeit vom Gegenüber. Sosehr wir Menschen darin ermutigen, für ihre Wünsche einzutreten, um ihre Sehnsucht zu verwirklichen, Verantwortung zu übernehmen für ihre Wünsche und Sehnsüchte, so sicher sind wir auch, dass es ein kindlicher Traum bleibt bzw. sogar manchmal ein gefährlicher und krank machender Größenwahnsinn ist, zu glauben oder zu behaupten, man müsse es sich nur fest wünschen, dann könne man alles erreichen. Nicht nur bei Wünschen, die vom Glück abhängig sind, sondern gerade in Wünschen, die sich auf andere Menschen beziehen, bleibt die Abhängigkeit bestehen. Erwidern die anderen Menschen diese Wünsche? Wollen sie sie erfüllen? Sind sie in der Lage und bereit, darauf einzugehen, oder nicht? Wer nun meint, es hinge nur von ihm selbst und der Intensität seines Wünschens und eventuell sogar von der Dauer seines Wartens ab, ob z.B. ein Wunsch nach Liebe erwidert wird, kann lange Zeit seines Lebens damit verbringen, vergeblich zu warten. Da macht es mehr Sinn, sich die Abhängigkeit von der Resonanz auf den Wunsch einzugestehen, ohne dabei – und das ist wichtig – den Wunsch bzw. das Wünschen aufzugeben. Sinnvoller, als ewig zu warten, ist es dann sicherlich, die Richtung des Wunsches zu ändern. Wenn die Liebe von einer bestimmten Person nicht erwidert wird, ist der Wunsch, zu lieben und geliebt zu werden, noch lange nicht passé, sondern lebendig zu halten. Dann gilt es, über die Unerfüllbarkeit zu trauern und sich zu öffnen, um andere, geeignetere Adressaten dieses Wunsches zu finden.
Das Erwarten
Stärker und v. a. deutlicher als das Warten ist das Erwarten. »Ich erwarte, dass du heute dein Zimmer aufräumst!« »Ich erwarte, dass du mich anrufst, wenn du wieder spät von der Arbeit kommst!« Sätze, in denen Erwartungen als Erwartungen geäußert werden und nicht in einer Frage versteckt werden oder nur stillschweigend in der Luft liegen, enden in der Regel mit einem Ausrufezeichen statt mit einem Punkt. Auch Erwartungen können ins Leere gehen, auf taube Ohren oder Trotz stoßen. Es mag sein, dass der Partner oder die Partnerin nicht anruft, der Sohn oder die Tochter das Zimmer nicht aufräumt – dann steht man erst einmal machtlos, sozusagen mit leeren Händen da. Doch der Ausdruck im Erwarten ist stärker, die Intensität des Wünschens gewichtiger als beim Warten und damit auch die Chance, dass der Wunsch das Gegenüber erreicht. Wartende Wünsche kommen häufig so leise und flüchtig daher, dass sie von den Adressaten nicht ernst genommen werden oder gar nicht gehört werden können, da sie so still und oftmals heimlich sind. Werden Wünsche – und die damit verbundene Sehnsucht nach etwas – deutlich als Erwartung ausgesprochen, ist die Chance viel größer, dass der Wunsch klar ankommt und dass es darauf zu einer Antwort kommt. Wie diese Antwort ausfällt, das bleibt, wie bei der Qualität des Wünschens, abhängig von anderen und anderem.
Das Fordern
Noch intensiver als das Erwarten ist das Fordern. »Ich fordere dich auf, die Wohnung zu verlassen!« »Ich fordere von dir, dass du mich endlich wahrnimmst und akzeptierst, dass ich eigene Gefühle und eigene Interessen habe!« Im Fordern schwingt eine Drohung mit: »Wenn du auf meinen Wunsch bzw. meine Forderung nicht eingehst, dann …« In Sätzen, die Forderungen beinhalten, klingt meist ein »sonst …« nach. Wenn Menschen ihr Fordern in einer Geste oder Bewegung ausdrücken, strecken sie zumeist die Hände angespannt nach vorn. Fordern ist ein aktiver Prozess. Eine Gehaltserhöhung zu wünschen ist eine wichtige Meinungsäußerung. Wenn diesem Wunsch nicht entsprochen wird, bleibt sie aber in der Regel folgenlos. Eine Gehaltserhöhung zu erwarten ist schon intensiver. Dabei schwingt mit: »Ich habe ein Recht auf die Gehaltserhöhung. Wenn ich sie nicht bekomme, werde ich mir überlegen, was ich daraus für Folgerungen ziehe.« Eine Gehaltserhöhung zu fordern lässt die Drohung mitschwingen: »Sonst gehe ich, sonst bewerbe ich mich woanders!« Etwas zu fordern kann manchmal die Voraussetzung dafür sein, dem Ziel seiner Sehnsucht näher zu kommen. Das kann dann auch ein eher abstraktes Ziel, zum Beispiel die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt, sein.
Wenn Menschen vergeblich warten, erwarten oder fordern, dann mag es sinnvoll sein, die Richtung des Wünschens zu ändern und sich einem anderen Gegenüber zuzuwenden. Spätestens dann stehen eine besondere Qualität und Bewegung des Wünschens an: das Greifen, Ergreifen, Zugreifen.
Das Greifen
Eine Frau erzählte, dass sie seit einem Dreivierteljahr darauf wartete, von einem Arbeitskollegen privat eingeladen zu werden. Sie war sogar so mutig, den Wunsch – allerdings eher beiläufig – auszusprechen: »Darüber könnten wir uns ja mal bei einer Tasse Kaffee unterhalten …« Der Arbeitskollege hatte zustimmend genickt, aber keine weitere Initiative ergriffen. Die Frau wartete nun jeden Tag darauf, dass der Arbeitskollege sie einlud. Vergeblich. Sie überlegte, ob er wohl kein Interesse an ihr hätte, war sich aber »eigentlich« sicher, dass schon Interesse da war, aber … Sie konnte sich sein Zögern nicht erklären und bezog es schließlich doch auf sich, darauf, dass sie zu uninteressant wäre. Als der Therapeut erwähnte, dass auch Männer schüchtern sein können, dass auch Männer oft Wünsche haben und sich nicht trauen, sie zu äußern, und auf eindeutige Signale warten, um sich nicht zu blamieren, war sie erstaunt. Der Kollege hatte »immer so einen sicheren Eindruck« auf sie gemacht, doch als sie nun genauer hinschaute, merkte sie an ihm (wie an anderen Männern auch) zahlreiche Unsicherheiten. Sie stellte schließlich fest, dass sie entweder ewig weiterwarten oder ihren Wunsch aufgeben müsse. Der Therapeut wies sie darauf hin, dass es noch eine dritte Alternative gäbe: »Es gibt auch die Möglichkeit, dass Sie Ihren Arbeitskollegen einladen.« Dies schien ihr erst absurd, sie schämte sich und hatte Angst. Es dauerte einige Zeit und bedurfte der therapeutischen Unterstützung, bis sie Angst und Scham überwand und schließlich die Initiative ergriff. Mit durchschlagendem Erfolg …
Aus der Passivität herauszutreten, selbst die Initiative zur Verwirklichung eines Wunsches zu ergreifen ist sicherlich nicht immer von Erfolg gekrönt, aber es führt aus der Passivität und aus dem Abwarten heraus und verhilft der Sehnsucht nach etwas zu mehr Klarheit. Wenn der erwähnte Arbeitskollege den Vorschlag der Frau, gemeinsam essen zu gehen, abgelehnt hätte, wäre sie wahrscheinlich traurig und enttäuscht gewesen, aber sie hätte Klarheit gehabt und die Möglichkeit, sich in ihren Wünschen anderen Menschen zuzuwenden. Das passive, auf Dauer lähmende und anstrengende Warten wäre zu Ende gewesen. Deswegen ist das »Anpacken«, das »Greifen«, »Ergreifen« oder »Zugreifen« eine besonders wichtige Qualität des Wünschens. Mit den Händen nach etwas zu greifen gilt im übertragenen Sinn, wie in dem erwähnten Beispiel, ebenso wie im wörtlichen, buchstäblichen Sinn.
Scham
Sinn und Landschaft