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ERNST STUMMER

DER EINBRECHERKÖNIG

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Ernst Stummer

Der
Einbrecherkönig

Co-Autor Reinhard M. Czar

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Bildnachweis: Foto S. 8: Felicitas Kruse, Foto S. 51: Ernst Stummer, Fotos S. 89 u. 214: Reinhard M. Czar, Faksimile S. 210: Wiener Zeitung, Faximile S. 208: Kleine Zeitung

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Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

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Leopold Stocker Verlag GmbH
Hofgasse 5 / Postfach 438
A-8011 Graz

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www.stocker-verlag.com

ISBN 978-3-85365-236-7
eISBN 978-3-85365-268-8

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

PROLOG

I. SEX & CRIME

Geburtstag zwischen Anschluss und Weltkrieg

Bäcker und Boxer

Tagwache!

Im Ein-Schilling-Hotel

Erste Liebe, erste Haft

„Stummer“ Verkäufer

Häfensprache

Wieder in Freiheit

Verliebt in Lloyd

Eine oscarreife Vorstellung

On the Road

Auf dem Weg zum Einbrecherkönig

Im Kopenhagener „Luxushäfen“

Reine Ehrensache

Hochschule für angewandte Kriminalität

Herzenssache

Ungewöhnliche Geständnisse

„Weihnachtseinkäufe“ und Robin Hood

Eine etwas andere Gewerkschaft

„Schöne“ Geschäfte

Häfen statt Hochzeit

(Keine) Sternstunden

Neues Wissen und alte Bekannte

Hafturlaub

Das erste Magazin des Landes für Männer

Gerechtigkeit? – Gerechtigkeit!

Frauensachen

Fehlinvestitionen

„Telefonsex“

Fotos statt Nadeln

Promi-Brüche

Erfolg mit zwiespältigen Gefühlen

Eine tierische Geschichte

Happy New Year?

Eine königliche Serie

Alltagsgeschäfte und ein bisschen mehr

Sonnenaufgang in Fernost

Und wieder Salzburg

II. DIE GROSSE FLUCHT

Riskante Vorbereitungen

Fälschung mit Hindernissen

„Heiße“ Preise in Thailand

Auf der Bat Bong mit Ralf

Eine neue Serie für Sewuz

Sachertorte in Siam

Ein Päckchen mit Folgen

Thai-Tanz

Kim

Einbruch in Fernost

Klinik ohne Palmen

III. DER KÖNIG KEHRT ZURÜCK

Von Frankfurt nach München

Der „König“ von München

Lesbe statt Liebe

No Public-Viewing

Auf der Reeperbahn …

Verhindertes Comeback als Verleger

Fernsehstar wider Willen

Sex im Handwagerl

Fleisch und Fleischer

Noch mehr Irrtümer

Der Boden wird zu heiß

Die Schlinge zieht sich zu

Vom Einbrecherkönig zum Ausbrecherkönig

Rückkehr nach Österreich

Österreichrundreise, Teil 1: Graz

Österreichrundreise, Teil 2: Linz

Österreichrundreise, Teil 3: Klagenfurt

Das Ende einer langen Flucht

Blutspur

IV. NEUSTART

Rückblick auf Garsten

Caro!

Der „Porno-Stummer“

In den Mühlen der Bürokratie

Wege aus der Pleite

Die Sex-Mafia

Psychoterror

Wieder bei null

Schadenersatz und freundliche Bankbeamte

„Hinterholz 8“

Der erste Bär

Weitere Einbrüche

„Schulfunk“

V. KAMPF UM GERECHTIGKEIT

Keine stillen Tage in Stein

Entlassung

Ein Seitenwechsel sorgt für Aufsehen

Ausflug nach Rumänien

Praktische Studien

Der gute alte Riegelzug

Internationale Beziehungen

Irina

Ehealltag

Jähes Ende des Alltags

Briefe an Irina

Entfremdung

Neuerlicher Medienrummel

Ein „Betriebsunfall“

Vergebliche Suche nach Gerechtigkeit

Freigänger

Ein Riegelzug im Häfen

Der liebe Augustin

Und wieder in den Schlagzeilen

Junge Liebe

„Rauchzeichen“

Freispruch für Ernst Stummer

EPILOG

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VORWORT

Ernst Walter Stummer ist eine Berühmtheit. Als er am 29. Jänner 2004 zuletzt aus dem Gefängnis entlassen wurde, warteten Fernsehkameras auf ihn. Und als er am 6. November 2007, vertreten durch seinen Rechtsanwalt Mag. Roland Friis, erstmals einen Freispruch ausfasste, war auch das den Medien eine größere Berichterstattung wert. Ich las damals in der „Wiener Zeitung“ vom österreichischen Einbrecherkönig und rief daraufhin seinen Anwalt an, um einen Kontakt herzustellen. Wie wird man so etwas wie ein „Berufsdieb“, fragte ich mich. Und wie nimmt jemand, der die eine Hälfte seines Lebens hinter Schloss und Riegel verbrachte, weil er sich in der anderen deren eigenmächtiger Öffnung widmete, unser Gesellschaftssystem wahr, wie seine eigene Existenz, seinen Lebensentwurf? Sieht er sich als Rebellen, als Robin Hood, als tragischen Helden? Oder als Opfer, als Underdog, als unfreiwillig in die Mühlen eines Mahlstroms Geratenen? Macht sich ein Einbrecherkönig um das Gedanken, was wir landläufig „Moral“ nennen, die Unterscheidung zwischen „Richtig“ und „Falsch“, ja zwischen „Gut“ und „Böse“?

Ich traf Ernst Stummer an einem graukalten Wintertag im Café Tirolerhof, das so etwas wie mein „Büro“ darstellt, wenn ich in Wien zu tun habe. Stummer kam auf die Minute genau, aber ich war noch im Gespräch mit einem anderen Autor. Bescheiden, fast unscheinbar, mit Schirmmütze und schwarzer Lederjacke, wartete er in sicherer Entfernung das Ende dieses Gespräches ab. „Warum sind Sie nicht zum Tisch gekommen, es war doch schon die Zeit, die wir verabredet hatten?“ Na ja, er wollte nicht stören, wer weiß, es wäre mir vor meinem Gesprächspartner vielleicht unangenehm gewesen, wenn plötzlich der stadtbekannte Einbrecher – seit einigen Fernsehauftritten in Talkshows auch von seiner Physiognomie her nicht mehr unbekannt – am Tisch gestanden wäre. In diesem doch, doch sehr bürgerlichen Kaffeehaus.

Zurückhaltend, fast unscheinbar. Diese Beschreibung trifft sicher auf Ernst Stummer zu. Solche Eigenschaften sind vielleicht auch berufsbedingt. Auffälligkeit in seinem Wesen ist vermutlich so ziemlich der letzte Charakterzug, den ein Einbrecher benötigt. Aber erzählen, das kann er. Anekdoten, Geschichten und „Gschichterln“, sie kommen flüssig und ohne Zögern, vorgetragen mit einer Stimme, der man gerne zuhört, die Besonnenheit und Schalk, aber auch Nachdenklichkeit ausstrahlt. Die Worte sind wohlgesetzt. Man merkt, dass hier jemand spricht, der über die Gabe der Selbstreflexion verfügt, dem jene Tragikomik wohl bewusst ist, die menschliches Handeln so oft auszeichnet und die in dem im Vergleich zu unserer „normalen“ bürgerlichen Gesellschaft so radikal anderen Lebenswurf eines Ernst Walter Stummer erst recht deutlich wird.

Ein Buch wie dieses hat es noch nicht gegeben. Natürlich gibt und gab es immer wieder Kriminelle, die von ihrem Leben berichteten, darunter auch solche, die es wie Jack Unterweger zu einer regelrechten Zelebrität brachten. Einbrecher waren meines Wissens aber bisher nicht darunter. Zu diskret, zu verschwiegen ist wohl der Lebensstil dieser Gattung, Selbstdarsteller finden sich unter ihnen eher nicht. Oder es lag auch an der mangelnden geistigen Durchdringung der eigenen Existenz, an der fehlenden sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der gewöhnlichen Einbrecher, dass uns bisher keine solchen Selbstzeugnisse vorliegen?

Selbstzeugnis. Das ist es, was dieses Buch sein will. Ernst Walter Stummer erzählt sein Leben. Nichts sonst. Natürlich reflektiert er, natürlich rechtfertigt er, natürlich versucht er, Erklärungen zu geben, weshalb er in seiner Karriere als Einbrecher fortschritt, warum seine – zahlreichen – Versuche, auf anderem Wege seine Existenz zu sichern, scheiterten. Der Leser wird selbst entscheiden müssen, wie weit er dem Autor dabei folgt. Es geht auch ganz sicherlich nicht darum, eine Lebensweise zu romantisieren, die sosehr den Regeln gedeihlichen Zusammenlebens widerspricht. Worum es geht, ist das „audiatur et altera pars“, das „die andere Seite Hören“. Vielleicht wird der Leser dadurch ein wenig kritischer gegenüber den eigenen Urteilen und Vorurteilen, vielleicht stellt er sich mit Ernst Walter Stummer die Frage, wo und wie auch „die Gesellschaft“ noch mehr dazu beitragen kann, dass sich kriminelle Karrieren nicht fortsetzen, wenn der Akteur zu einer prinzipiellen Neugestaltung seines Lebensweges bereit ist. Vielleicht gelingt es dem Autor auch, Verständnis und grundsätzliche Sympathie seiner Leser zu gewinnen.

Denn immerhin: Gewalttätig war Stummer nie. Der himmelhohe Unterschied zwischen einem Vergehen gegen bloßes Gut und Geld einerseits und gegen menschliches Leben oder auch nur menschliche Gesundheit andererseits war und ist wohl Ernst Walter Stummer so tief bewusst, wie nur jedem anderen auch. Oder muss man nicht sagen: vielleicht sogar mehr als dem Gesetzgeber? Werden nicht Verbrechen gegen Leib und Leben oft verhältnismäßig milde bestraft im Vergleich zu Verbrechen gegen Gut und Geld?

Grundsätzliche moralische und philosophische Überlegungen dieser Art finden in dem vorliegenden Buch aber nur am Rande statt. Denn dieses lässt sich auch als eine Art Schelmenroman lesen, als Sammlung von Anekdoten und Geschichten, die sich tatsächlich so zugetragen haben und die dennoch anmuten, als habe ein reichlich mit Phantasie gesegneter Krimiautor sie entworfen.

Auf die technische Beschreibung seiner Einbruchszüge hat Ernst Walter Stummer dabei verzichtet. Jeder „Lehrbuchcharakter“ sollte vermieden werden. Daher hat der Autor auch bewusst jede Erläuterung unterlassen, wie er sich den technischen Fortschritt bei seinen Unternehmungen zunutze machte. Natürlich ist vorauszusetzen, dass der Wiener Einbrecherkönig auch in dieser Hinsicht immer „auf der Höhe der Zeit“ war. Doch dies sollte nicht zum Thema des Buches gemacht werden. Ebenso wurden alle Eigennamen und Ortsbezeichnungen, wo es sich nicht um große Städte handelt, verändert: Dem Autor ging es nur darum, Zeugnis abzulegen von seinem Leben, ohne dabei andere, die diesen Lebensweg mehr oder weniger gekreuzt haben, in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft zu ziehen.

Mag. Wolfgang Dvorak-Stocker
Verlagsleiter

 

„Der Stummer ist ein alter Einbrecher,
bei mir hat er auch schon eingebrochen.“

(Der Verteidiger eines Komplizen von Ernst Stummer)

PROLOG

Ich schrecke hoch.

„Draußen schleicht einer herum!“

Unverzüglich teile ich meine Beobachtung Curd mit, der neben mir verbissen mit der Bohrmaschine beschäftigt ist, und wir türmen raus in die kalte Novembernacht. Wir eilen zu unserem dritten Komplizen im Bunde, der im Pkw wartet und Wache schiebt, und fragen ihn, ob er jemanden gesehen habe. Doch der hat einfach geschlafen und nichts bemerkt! Schöne Wache.

Wir warten.

Nach rund einer Stunde, in der sich nichts getan hat, wagen wir uns wieder hinein. Das ursprünglich als Stadel genützte Gebäude in Anif bei Salzburg beherbergt einen Heurigen. Uns interessiert allerdings weniger die Weinseligkeit als vielmehr der Tresor, in dem rund eine halbe Million in guten alten Schillingen liegen soll. Woher wir diesen Tipp haben? Ganz einfach, ein Heurigenangestellter, der sich von seinem Chef, dem Heurigenbesitzer, übers Ohr gehauen fühlt, will sich auf diese Weise an ihm rächen und hat uns den Tipp vom vielen Geld im Tresor gesteckt.

Ins Gebäude zu kommen, ist nicht schwer gewesen. Wir haben ein Fenster im Erdgeschoss eingeschlagen und sind durch das Lokal ins Büro im ersten Stock gelangt. Es handelt sich um einen Wandtresor. Erste Hoffnungen Curds, den Tresor einfach aus der Wand zu reißen und mitzunehmen, erweisen sich als undurchführbar. Auch die Möglichkeit, den Tresor vom Nebenzimmer aus – also praktisch von hinten – aufzumachen, zerschlagen sich schnell: Der Raum dient als Rumpelkammer, und genau vor der Wand zum Tresor lagern Berge von Betonteilen. Also bleibt nur Bohren.

Bereits vor der unfreiwilligen Unterbrechung durch den unbekannten Herumtreiber haben Curd und ich gute Vorarbeit geleistet. Ausgestattet mit nur sieben Bohrern – Curd hat die restlichen in Wien vergessen, und in Salzburg verfügen wir über keine Kontakte, um spät am Abend noch weitere Metallbohrer aufzutreiben –, haben wir uns schon durch die erste Metallplatte gearbeitet. Unter erheblichen Anstrengungen, denn Curd hat beim Bohren bald Ermüdungserscheinungen gezeigt, und ich als gelernter Bäcker habe Bohrer um Bohrer durch Abreißen „vernichtet“, was wir uns bei der mageren Ausstattung von nur sieben vorhandenen Bohrern wahrlich nicht leisten können. Also hat wieder Curd, der sich schon aufgrund seiner Ausbildung als Schlosser wesentlich besser auf die Materie versteht, das Bohren übernommen und die kreisförmig angeordneten Bohrlöcher mit einem Meißel zusammengeklopft. Ich habe dann die sich zwischen Außen- und Innenplatte befindende Glaswolle herausgeholt – dafür muss man nicht bohren können, sondern höchstens gelenkige Finger haben!

Nach der Wartezeit draußen geht es schneller. Die zweite Platte ist nämlich dünner, in wenigen Minuten ist Curd durch. Ich greife mit der Hand durch die schmale Öffnung in den Tresor. Wirklich, der Angestellte hat nicht gelogen. Im Tresor liegt Geld. Aber das Loch ist fast zu schmal. Nur mit den Fingerspitzen kann ich die Geldscheine erwischen und herausziehen. Plötzlicher Schmerz! An den scharfen Zacken des Bohrlochs habe ich mir die Haut aufgerissen und blute. Trotzdem mache ich weiter und ziehe Schein um Schein aus der Öffnung.

Um fünf Uhr morgens lassen wir es gut sein und verschwinden.

Die Enttäuschung ist groß, als wir in Salzburg die Geldscheine zählen, die ich aus dem Tresor gefischt habe: Das sind gerade einmal 60.000 Schilling. Und die müssen wir auch noch durch drei teilen. Danach trennen sich unsere Wege. Curd und ich gehen zum Bahnhof, um zurück nach Wien zu fahren.

Resignation.

Doch ich habe nicht mit Curd gerechnet. Als wir im Zug nach Wien sitzen, holt er plötzlich 70.000 Schilling aus der Hosentasche.

„Die hab’ ich doch glatt vergessen“, grinst er.

Für den Tipp und fürs Aufpassen, meint Curd, sei ein Drittel von 60.000 Schilling auch genug. Zufrieden lehne ich mich in den Sitz zurück. Insgesamt 130.000 Schilling habe ich also durch das winzige Loch des Tresors gezogen – nicht schlecht!

Und das Blut, das ich wegen des Schnitts am Tatort hinterlassen habe, beunruhigt mich auch nicht wirklich, denn wir schreiben das Jahr 1986, wo es keine genetischen Analysen gegeben hat. Wenn uns das heute passieren würde, wären wir wahrscheinlich schon innerhalb weniger Stunden hinter Gittern.

Aber damals …

I. SEX & CRIME

Geburtstag zwischen Anschluss und Weltkrieg

Kennen Sie Romy Schneider?

Natürlich kennen Sie Romy Schneider!

Der charismatische Leinwandstar mit dem neckischen Blick kam im gleichen Wiener Spital zur Welt wie ich – und das am selben Tag, dem 23. September 1938. Damals war allerdings noch kein Hauch von Hollywood zu spüren, im Gegenteil. Österreich war seit Kurzem Teil Hitler-Deutschlands, und der Zweite Weltkrieg stand bevor.

Für meine Geburt zwischen Anschluss und Weltkrieg kehrte meine Mutter eigens von England nach Österreich zurück. Die britischen Behörden hatten das angeordnet, und so ging die Zeit des Aufenthalts meiner Eltern – Vater war Butler, die Mutter Köchin – auf der Insel Jersey zu Ende. Da mein Vater bei seinem Dienstherrn beliebt war, gab ihm dieser Kleidung und andere Wertgegenstände mit auf die Reise, so dass meine Eltern im verhältnismäßig armen Österreich durchaus als wohlhabend bezeichnet werden konnten. Dazu kam eine gut dotierte Stelle in Wien, die Vater auf Vermittlung von Verwandten meiner Mutter erhielt. Neben einem bescheidenen Wohlstand brachte mein Vater aus England noch eine gefährliche Vorliebe mit: Er hörte heimlich englischsprachige Untergrundsender, was während des Nationalsozialismus bekanntlich absolut verboten war. Außerdem galten seine Sympathien dem Kommunismus – ebenfalls eine gefährliche, wenn nicht gar tödliche Angelegenheit unter dem Hakenkreuz. Gegrüßt wurde damals mit „Heil Hitler“, Lebensmittel gab es nur rationiert auf Karten, und Aufschriften auf den Hauswänden warnten „Feind hört mit!“ oder vor dem „Kohlenklau“.

Mich als kleines Kind kümmerte die Politik freilich nicht. Ich streifte durch die Wallensteinstraße in Wien, wo wir wohnten, besuchte die Volksschule und erinnere mich noch gut an den Bombenalarm, der regelmäßig den Unterricht unterbrach.

Und an noch eine Begebenheit aus meiner Kindheit erinnere ich mich: Ständig den Blick zu Boden gerichtet, fand ich immer wieder verschiedenste Dinge – Knöpfe, Schmuck, manchmal auch Geld. Eines Tages, es war schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, entdeckte ich eine dicke Brieftasche. Meine herbeigerufene Mutter äußerte sich noch abfällig über das „Klumpert“, bei genauerem Nachsehen entpuppte sich die schmutzige Börse allerdings als ähnlich bedeutsam wie ein Lottogewinn. Russisches, ukrainisches und deutsches Geld befand sich darin, dazu ein russischer Stern. Wir teilten mit meiner ebenfalls anwesenden Cousine und deren Eltern. Trotzdem reichte das Geld, so dass sich mein Vater damit und mit zwei von Jersey mitgebrachten Anzügen eine Beiwagenmaschine leisten konnte – heute preislich vergleichbar mit einem teuren Mercedes. So wurde mir das Finden sozusagen bereits in frühester Jugend schmackhaft gemacht. Später sollte ich es darin zu wahrer Meisterschaft bringen, fand ich doch Geld und Schmuck schon, bevor sie verloren wurden!

Mein Vater war im Zweiten Weltkrieg zur Armee eingezogen worden. Er absolvierte seinen Militärdienst in Znaim, ging dort allerdings unter dem Vorwand, Arzt zu sein, mit einer Tschechin fremd und schwängerte sie. Diese wusste nichts Besseres, als den Vorfall meiner Mutter zu erzählen, die die Sache wiederum dem zuständigen Militärkommandanten meldete. Mit fatalen Folgen für meinen Vater: Er wurde nach Russland abkommandiert und an vorderster Front so schwer verwundet, dass man ihn in ein Lazarett auf dem Semmering schicken musste.

Neumarkt in der Steiermark war die zweite Station meines jungen Lebens. Die letzten Monate vor Kriegsende zogen meine Mutter und ich zu einer Tante, die dort einen Bergbauernhof besaß. Am Land war es sicherer. Es gab kaum Bombenangriffe, außerdem war die Versorgung mit Lebensmitteln besser. Das Leben auf dem Bauernhof verlief beschaulich, ich bekam von meinem Onkel etliche Tiere geschenkt, darunter ein Kalb, ein Ferkel und einen Hasen.

Diese Tiere wollte ich mitnehmen, als es vom Landleben Abschied nehmen hieß. Einige Monate nach Kriegsende zogen wir zurück nach Wien – leider kam nur der Hase mit, der mich später, als er gekocht auf dem Mittagstisch lag, lange Zeit zum Vegetarier machte. Um nichts auf der Welt hätte ich einen Bissen von meinem geliebten Häschen hinuntergebracht, und es dauerte Tage, bis sich meine Weinkrämpfe legten, und Jahre, bis ich wieder Fleisch essen konnte.

Mehr Glück hatten wir mit der Wiener Wohnung. Das Haus, in dem sie sich befand, stand noch, was angesichts der schweren Bombenangriffe keine Selbstverständlichkeit darstellte. Wasser und Strom gab es allerdings nicht mehr im Haus, und wir mussten das Wasser mit Kübeln aus einem Bombentrichter in der Jägerstraße herbeischaffen.

Mein Vater hatte sich inzwischen von seiner Kriegsverletzung erholt. Trotzdem bekamen ihn meine Schwester Elvira und ich nicht zu Gesicht – er lebte im Untergrund. Und von dort kehrte er auch nicht zu uns zurück, sondern zu einer Witwe mit drei Kindern, die er in der Straßenbahn kennen und lieben gelernt hatte und die eine Gasse weiter wohnte als wir. Angesichts der zerrütteten Ehe meiner Eltern nicht weiter verwunderlich. Kurz danach wurde diese überhaupt geschieden. Mein Vater musste für uns Kinder Unterhalt zahlen, meine Mutter erhielt das Wohnrecht für unsere Wohnung. Beides war allerdings nur von kurzer Dauer. Denn Vater zahlte aus dem Erlös, den er für den Verkauf der Beiwagenmaschine erzielte, die Alimente für mehrere Jahre im Voraus – kurz vor einer Geldentwertung. Und die Wohnung tauschte meine Mutter bald gegen eine kleinere, die dafür über Wasser und WC verfügte und – ein entscheidender Vorteil – in der amerikanischen statt in der russischen Besatzungszone lag.

Unsere neue Heimat, der Gemeindebau „Professor-Jodl-Hof“ am Döblinger Gürtel, verfügte über einen kleinen Park, in dem meine Schwester und ich uns herumtrieben und mit den anderen Kindern der Siedlung Fußball spielten. Oft pflückten wir Obst von den Bäumen benachbarter Grundstücke, und der Hunger ließ uns dabei Gartengrenzen und versperrte Gartentüren „vergessen“ – ein fließender Übergang vom Lausbubenstreich zum späteren Diebstahl. Unrechtsbewusstsein war für uns Kinder kein Kriterium, wenn der Magen knurrte und wir uns etwas zum Essen „organisierten“. Im Gegenteil, nicht nur von meiner Mutter, sondern auch von den Eltern anderer Kinder gab es Lob, wenn wir geklautes Essen nach Hause brachten. Und als einige meiner Freunde zum zwölften Geburtstag ein Fahrrad geschenkt bekamen, schlug meine Mutter, die sich so ein Geschenk nicht leisten konnte, vor, ich solle doch einfach ein Fahrrad stehlen. Damals traute ich mich aber (noch) nicht.

Mit dem schlecht bezahlten Job als Heimnäherin konnte uns Mutter nämlich kaum über Wasser halten. Das Ergebnis: Im Sommer ging ich barfuß zur Schule, um die Schuhe zu schonen, und die Hosen waren geflickt. Aber nicht nur meine, sondern die vieler Schulkollegen. Eine Tafel Schokolade, die ich vom Kinderfreunde-Ausflug mit den US-Soldaten nach Hause brachte, stellte für meine Schwester und mich so etwas wie Weihnachten und Ostern zusammen dar.

Die Kinderfreunde und überhaupt das sozialistische Umfeld des „Jodl-Hofs“ prägten mich. Dazu kamen Visionen meines Vaters, mit dem ich auch nach der Scheidung der Eltern Spaziergänge durch das Viertel unternahm. Würde Österreich kommunistisch, so träumte er von einem besseren Leben, würden alle Häuser mit Bassenawohnungen rund um den Wallensteinplatz abgerissen und durch moderne Bauten ersetzt. Auf meinen Einwand, dass das mit und ohne Kommunisten passieren werde, meinte er: „Ja, aber mit den Kommunisten ginge es schneller.“

Schulisch ging es bei mir weniger schnell. Nach der Rückkehr nach Wien kam ich gleich in die zweite Volksschulklasse, obwohl ich aufgrund der Unterbrechung durch unseren Aufenthalt in Neumarkt nur wenige Monate in der ersten Klasse verbracht hatte. Mit dem Ergebnis, dass ich die zweite Klasse wiederholen musste. Dafür lernte ich anderweitig einiges: Meine Mutter, die noch von ihrer Zeit auf Jersey her perfekt Englisch sprach, ging gelegentlich mit amerikanischen Besatzungssoldaten aus. Diese brachte sie in stockbetrunkenem Zustand mit nach Hause. Während sie bei uns auf der Bank ihren Rausch ausschliefen, stibitzte sie ihnen einige alliierte Dollar aus der Hosentasche, mit denen man in eigens eingerichteten Geschäften einkaufen konnte. Mein Part war es aufzupassen, dass das Opfer nicht urplötzlich aufwachte.

Sonst aber war meine Mutter eine fleißige Frau. Schon um vier in der Früh stand sie auf, um zu Fuß zu einem Schuhgeschäft in der Kärntner Straße zu gehen, in dem sie vor dem Aufsperren aufräumte. Auf diese Weise sparte sie Geld für den Straßenbahnfahrschein. Die notwendige Sparsamkeit hatte einmal auch Folgen. Als mich meine Mutter zu meinem Vater schickte, um dort zu übernachten, während sie in Mödling einem weiteren Nebenjob als Aufräumerin nachging, ärgerte ich mich so darüber, dass ich unverzüglich wieder zurückging und mich vor unserer versperrten Wohnungstür im Stiegenhaus schlafen legte. Die Nachbarn lasen mich auf, brachten mich zur Polizei, und von dort ging es in die Kinderübernahmestelle in der Lustkandlgasse, von wo ich einem Heim zugeteilt wurde. Einige Monate musste ich dort bleiben, aber es sollte nicht das letzte Mal sein, dass ich gegen meinen Willen irgendwo festgehalten wurde.

Bäcker und Boxer

Rrrring – um drei Uhr in der Früh klingelte der Wecker – für mich der absolute Horror. Aber es half alles nichts, um vier war Dienstbeginn in der Bäckerei. Dort fielen mir sofort wieder die Augen zu. Die Kollegen meinten, ich solle mir doch einen Sessel organisieren, dann könnte ich im Sitzen die Fliesen putzen. Fliesen zu putzen und für die Gesellen Bier zu holen, waren nämlich die Hauptaufgaben der Lehrlinge. Übrigens ein blöder Scherz: Denn als ich, wie befohlen, einen Sessel holte, um mich darauf zu setzen, wurde ich unverzüglich entlassen.

Es brauchte mehrere Anläufe, bis es mit der Bäckerlehre klappte. Lieber wäre ich zwar weiter zur Schule gegangen – wegen vieler ungünstiger Umstände wie dem häufigen Wohnungswechsel während und nach dem Krieg konnte ich die Hauptschule nicht abschließen –, aber ich folgte dem Rat meines Vaters und begann eine Bäckerlehre.

Auf seine Vermittlung hin verschaffte mir ein Onkel eine Lehrstelle in einer Bäckerei in Graz. Dort wurde ich allerdings wie alle anderen Lehrlinge nur ausgenutzt, und ich gewann mit Unterstützung der Arbeiterkammer sogar einen Prozess gegen den unfairen Dienstgeber. Dann kehrte ich nach Wien zurück, wo ich schließlich bei der Bäckerei Schrammel, später eine der größten Bäckereien Wiens, Glück hatte. Dieses Glück währte freilich nicht lange. Als ich nach neun Monaten Lehrzeit meinen Urlaub antreten wollte, wurde ich von der Urlaubsliste gestrichen: Bei Schrammel hatte ich nämlich erst fünf Monate gelernt. Ich aber rechnete meine Monate in Graz dazu, kam auf neun Monate, ab denen man Anspruch auf Urlaub hatte – und trat den Urlaub an. Zu Schrammel kehrte ich nicht mehr zurück.

Meine Lehrjahre waren zugleich Wanderjahre: Erziehungsheim Hohe Warte, in dem die Zöglinge auch geschlagen wurden und in Folge extreme Hassgefühle auf die Erzieher entstanden; Lehrlingsheim Augarten; nach der Rückkehr aus Graz wieder daheim bei meiner Mutter. Unter der Voraussetzung, dass ich eine Lehrstelle hatte, stimmte die Jugendfürsorge meiner Heimkehr zu. Da es mit der Lehrstelle nun ja wieder vorbei war, stellte mir die Jugendfürsorge das Erziehungsheim Eggenburg in Aussicht. Ein ehemaliger Klassenkamerad, der in diesem Heim lebte, erzählte mir von den vielen Sportmöglichkeiten dort, und ich entschied mich in der Folge freiwillig für Eggenburg.

Sogar eine Lehrstelle als Bäcker wurde mir im Heim versprochen, allerdings erst in einigen Monaten. Also verließ ich Eggenburg wieder und machte mich auf den Weg Richtung Wien. Zwei Männer, die mir eine Mitfahrgelegenheit auf ihrem Lkw boten, lieferten mich direkt zur Gendarmerie – es war in Hollabrunn –, und ich wurde zum ersten Mal in meinem Leben in eine Zelle gesteckt.

So ist das Leben in Österreich: Im Alter von zehn Jahren gabelt es sich. Die einen gehen in die Hauptschule und werden Tischler, Fleischer oder Hilfsarbeiter; die anderen kommen ins Gymnasium, gehen eventuell auf die Uni und werden Bankangestellte, Journalisten oder Politiker. Bei der Arbeit strengen sie sich kaum an und machen sich nicht schmutzig. Wieso bekommt ein Akademiker für seine Tätigkeit dann mehr Geld als ein Arbeiter? Noch dazu, wo der Arbeiter mit seinen Steuern für die Universitäten bezahlt? So gesehen, wird den schlecht bezahlten Handwerkern auch ein Teil ihres Geldes gestohlen, um das restliche System zu finanzieren.

Am nächsten Tag war es mit dem Grübeln vorbei. Ich wurde vom Gendarmerieposten Hollabrunn abgeholt und setzte nach einem mehrmonatigen „Zwischenstopp“ in einem so genannten Durchgangsheim meine Bäckerlehre in Eggenburg fort.

Obwohl ich mit meinen 15 Jahren aussah wie ein Elfjähriger, erfreuten mich die vielen Sportmöglichkeiten im Heim. Besonders das Boxen faszinierte mich. Wir lieferten uns packende Kämpfe, und ich zählte bald zu den Besten. Leider gab es immer wieder die eine oder andere Verletzung, weshalb das Boxen von der Tagesordnung des Heims gestrichen wurde. Aber auch im Fußball und in der Leichtathletik stand ich meinen Mann und brachte es schon ein Jahr früher als vorgesehen zum „Österreichischen Sport- und Turnabzeichen“. Schade, dass es damals noch kein Bodybuilding gab, wer weiß …

Auch beruflich ging es aufwärts. Nach zwei Jahren in Eggenburg absolvierte ich in Horn die Lehrabschlussprüfung und war Bäckergeselle.

Zurück in Wien fand ich Arbeit in einer Bäckerei im 20. Bezirk. Damals waren die 370,- Schilling (rund 27,- Euro), die ich in der Woche verdiente, viel Geld. Meinen ersten Wochenlohn, ich erinnere mich noch genau, verspielte ich trotzdem schnell am Franz-Josefs-Bahnhof. An einem Stand konnte man seinen Einsatz vervielfachen, wenn man einem kleinen Männchen mit einer an einer Schnur hängenden Kugel den Kopf abschoss. Natürlich gelang das keinem.

Später, im Gefängnis, klärten mich Mithäftlinge auf, dass das Kunststück ohnehin niemandem gelingen konnte. Der Standbetreiber lenkte durch kaum wahrzunehmende Bewegungen der Anlage die Kugel und verhinderte auf diese Weise einen ehrlichen Gewinn der Teilnehmer am Spiel. Wie beim legendären Hütchenspiel!

Und immer wieder rrrring – Tag für Tag klingelte um drei Uhr in der Früh der Wecker. Nach einigen Tagen hörte ich ihn nicht mehr, verschlief und war meine Arbeit wieder los. Aber es gab bald neue Arbeit. Dieses Mal in der großen Zuckerbäckerei Benka Bennersdorfer & Co. Es ging darum, mit einer Kreissäge mundgerechte Stücke aus riesigen Fruchtschnitten zu schneiden. Eine Tafel Schokoschnitten, eine Tafel Zitronenschnitten, eine Tafel Orangenschnitten, eine Tafel Himbeerschnitten – immer das Gleiche. Mit mir arbeiteten vier nette Mädchen, die mich wesentlich mehr interessierten als die Schnitten. Die Folge: Ich unterhielt mich mit ihnen, war abgelenkt und schnitt die Schnitten, wie es mir gerade gefiel. Bald wurde ich einer anderen Abteilung der Zuckerbäckerei zugeteilt.

Angesichts dessen, was ich in meinen Jugendjahren schon alles erlebt hatte, kann man wohl kaum davon reden, dass der Ernst des Lebens für mich erst mit dem Einberufungsbefehl begann. Anfangs setzte ich große Hoffnungen in meine Einberufung zum Österreichischen Bundesheer – es sollte aber eine sehr abrupte Tagwache folgen …

Tagwache!

„STUMMER – ABRÜSTEN!“

Der Befehl donnerte mir wie ein Faustschlag in die Magengrube. Nach nur neun Monaten vorzeitig aus dem Dienst entlassen! Dabei hatte ich mich für 15 Monate verpflichtet. Beim Boxen hätte ich mich wehren können. Aber beim Bundesheer?

Eigentlich bin ich ja kein Befehlsempfänger. Exerzieren und unnötige Schikanen ärgern mich in Wahrheit. Trotzdem hatte ich mich für einen längeren Zeitraum als den gesetzlich vorgeschriebenen verpflichtet, weil ich mich mit dem Gedanken trug, Berufssoldat zu werden. In der Panzertruppenschule Götzendorf an der Leitha wurde ich zum Panzeraufklärer ausgebildet. Nebenher fotografierte ich beim Bundesheer mit meiner vom letzten Lohn gekauften Hapo-57-Kamera alles, was mir vor die Linse kam, und genoss eine schöne Zeit. Mit meinem Sport- und Turnabzeichen auf der Uniform pflanzte ich meine Vorgesetzten, mittels einer aus einem Büro organisierten Schreibmaschine korrespondierte ich mit aller Welt, bevorzugt mit deutschsprechenden Japanerinnen, Ausgangsscheine ließ ich aus dem Büro des Kommandanten mitgehen und stempelte sie gleich ab – wenn ein Kamerad einen Ausgangsschein benötigte, konnte er ihn von mir haben. Auch Essen wurde in der Küche „organisiert“. So lange es anderen nützte, schien Diebstahl also in Ordnung zu sein!

Warum meine Zeit als Panzeraufklärer des Österreichischen Bundesheeres vorzeitig zu Ende ging, hat mit alldem freilich nichts zu tun. Verantwortlich dafür ist eine Vorgeschichte, die einige Jahre zurückreicht, in die Zeit meiner Lehre im Erziehungsheim Eggenburg. Mit Mädchen tat ich mir damals sehr, sehr schwer. Ich war zu schüchtern und hatte wegen meines Aufwachsens in den verschiedenen Heimen Minderwertigkeitskomplexe ihnen gegenüber. Sah ich irgendwo ein Mädchen, das mir gefiel, traute ich mich nicht, es anzusprechen. Als ich vom Erziehungsheim Eggenburg einmal zum Weihnachtsurlaub nach Hause kam, übernachtete eine Dreizehnjährige bei der (neuen) Familie meines Vaters. Wenn die Eltern außer Haus waren, hatten meine Stiefbrüder mit dem Mädchen gelegentlich Geschlechtsverkehr. Einmal luden sie mich ein mitzumachen, ich verzichtete aber darauf.

Die Rechnung hatte ich allerdings ohne meine leibliche Mutter gemacht. Als ich ihr später von dem Vorfall erzählte, zeigte mich meine Mutter kurz vor der Verjährung des vermeintlichen Delikts wegen Verführung einer Minderjährigen bei der Polizei an. Dabei ging es gar nicht um mich, sondern Mutter wollte lediglich ihrem Ex-Mann, meinem Vater, eins auswischen. Dafür war ihr jedes Mittel recht.

Meine Stiefbrüder kamen in Untersuchungshaft, und ich wurde am 3. März 1958 vom Landesgericht Wien wegen Notzucht zu sechs Monaten bedingter Haft verurteilt. Dass ich das Mädchen nur kurz berührt hatte, zählte nur wenig. Denn die Kriminalbeamten setzten mich unter Druck, drohten auch mir mit Untersuchungshaft, wenn ich nicht zugeben würde, das Mädchen ebenfalls verführt zu haben. In meiner Unerfahrenheit wusste ich nichts Besseres, als ein falsches Geständnis abzulegen, um der U-Haft zu entrinnen.

Dieses falsche Geständnis brachte mir also nicht nur eine Vorstrafe ein, sondern kostete mich in der Folge auch meine „Karriere“ beim Österreichischen Bundesheer. Aber wer weiß, wozu es gut war – vielleicht hätte mich auch meine Abneigung gegen das ganze Gehorsamsgetue eine Karriere als Panzeraufklärer gekostet.

Statt Tagwache lautete das Motto vorerst auf jeden Fall einmal Müßiggang. Mit einem meiner Stiefbrüder verbrachte ich meinen ersten ungestörten Urlaub. Wir zelteten am Erlaufsee bei Mariazell und ließen den Herrgott einen guten Mann sein.

Im Ein-Schilling-Hotel

Rrrring – statt des vertrauten Schreis „Tagwache“ um sechs Uhr morgens riss mich nun wieder das Läuten des Weckers mitten in der Nacht aus den Träumen. Wie angenehm war doch die offizielle Tagwache beim Heer im Vergleich zur täglichen Aufsteh-Tortur um drei Uhr, um in der Tretmühle der verschiedensten Bäckereien zu bestehen. Ich schätze, es dürften rund „hundert“ Bäckereien gewesen sein, die ich im Laufe von zwei, drei Jahren mit meiner Arbeitskraft beehrte. Zur „natürlichen“ Müdigkeit, die beim Aufstehen um drei Uhr in der Früh für die meisten leicht nachvollziehbar erscheint, kam so etwas wie eine künstlich geschaffene Müdigkeit: Trotz meiner Schüchternheit flanierte ich nämlich nächtelang gerne mit Mädchen herum, was sich beim Aufstehen am Morgen bitter rächte. Als ich wieder einmal wegen Zu-spät-Kommens aus einer Bäckerei flog, flog ich im Anschluss auch aus der Wohnung meiner Mutter, bei der ich nach dem Bundesheer Unterschlupf gefunden hatte.

Ohne einen Groschen Geld stand ich auf der Straße. Der Abend näherte sich, ich wusste nicht wohin. Also entschloss ich mich zu einem Aufenthalt im Ein-Schilling-Hotel. Sie werden sich jetzt vielleicht wundern, dass die Hotels damals derart günstig waren, dass man schon um einen Schilling – das entspricht nur wenig mehr als sieben Cent – übernachten konnte. Mit dem Ein-Schilling-Hotel bezeichneten wir aber nichts anderes als das öffentliche WC in der Opernpassage in Wien. Um einen Schilling konnte man dort die Kabinen benützen, die freilich nicht zum Schlafen gedacht waren. Alle fünf Minuten rüttelte es an der Tür. Ab der nächsten Nacht zog ich ins Männerheim in der Wurlitzergasse, was mich sehr beschämte – so tief war ich gefallen!

Ganz unten …

Es ging aber wieder aufwärts. Meine nächste Stelle, bei der ich nach dem Backen das Gebäck mit einem Moped der Marke Puch gleich auch selbst ausführte, gefiel mir. Der Kontakt zu den Leuten machte Spaß, außerdem gab’s immer wieder kleine Trinkgelder. Bald suchte ich mir ein Zimmer. In der Aegidigasse 3 wurde ich fündig. Es handelte sich um ein ziemlich baufälliges Objekt, das ich in meiner Freizeit renovierte. Weil mir von meiner neuen Heimat der Weg zur Arbeitsstätte zu weit war, wechselte ich wieder zu Benka Bennersdorfer & Co, wo zusätzlich „meine Mädchen“ auf mich warteten.

Stille und friedliche Tage hätten folgen können – daraus wurde nichts, ein Fahrrad verhinderte sie, genauer gesagt ein Fahrradpedal. Als ich eines Tages mit meinem gebraucht gekauften Fahrrad auf Besuch zu meinem Vater fuhr, brach ein Pedal. Mein Stiefbruder wusste Rat. Gleich ums Eck, so meinte er, stünde ein altes Fahrradwrack, bei dem wir ein Pedal abmontieren könnten. Gesagt, getan. Es dauerte allerdings nicht lange, bis die Polizei auftauchte. Jemand hatte uns beobachtet, geglaubt, wir wollten das Rad stehlen, und die Polizei verständigt.

Wir wurden zur Einvernahme mitgenommen.

„Ich wollte das Rad nicht stehlen“, verteidigte ich mich.

Sogar der inzwischen ausgeforschte Besitzer der Fahrradleiche meinte: „Bist du nicht bei Trost? Wie kann man nur so einen Krempel stehlen! Ich wollte ihn schon wegwerfen. Weißt du was, ich schenke ihn dir.“

Damit hätte die Sache erledigt sein können, wäre nicht schon schriftlich die Anzeige aufgenommen worden. Mein Stiefbruder durfte gehen – ich bestätigte, dass er nichts mit der Sache zu tun hatte. Ich musste noch bleiben.

Als ich später die Wachstube verließ, wartete mein Stiefbruder draußen mit meinem Fahrrad auf mich. Da staunten sogar die Polizisten.

„Der hat ja ein Fahrrad“, sagte einer.

„Aber da fehlt ein Pedal“, bemerkte der andere.

Wieder der erste: „Der wollte gar kein Fahrrad stehlen, sondern nur ein Pedal abmontieren. Aber was soll’s? Jetzt ist die Anzeige schon geschrieben.“

Die Endstation der Bequemlichkeit eines Polizeibeamten lautete für mich Landesgericht II Wien: Am 18. 11. 1958 hatte ich Verhandlung wegen der fälschlicherweise protokollierten Anzeige. Wer nun glaubt, mit der Wahrheit hätte ich wenigstens vor dem Richter bestehen können, der irrt. Er ließ mich die Sache gar nicht erklären, sondern forderte mich gleich zu Beginn der Verhandlung auf, den Diebstahl zuzugeben. Sonst würde es eine gewaltige Strafe setzen.

Also gab ich einen Fahrraddiebstahl zu, den ich nie begangen hatte.

„Ja, ich wollte das Fahrrad stehlen.“

„Drei Tage Arrest“, donnerte der Richter.

Deprimiert verließ ich das Gerichtsgebäude. Und wurde gleich noch deprimierter. Das durfte doch alles nicht wahr sein: Das Rad, mit dem ich zur Verhandlung gefahren war, war weg. Gestohlen! Und das, obwohl ich es mit einem Fahrradschloss gesichert hatte.

Dieses Fahrrad brachte mir wahrlich kein Glück.

Erste Liebe, erste Haft

Zum ersten Mal war ich – sieht man von der einen Nacht am Gendarmerieposten in Hollabrunn ab – wirklich in Haft: drei Tage oder doch länger, schließlich hatte ich ja noch sechs Monate bedingt. Die Tage vergingen langsam, allzu langsam. Und jede Sekunde die Ungewissheit: drei Tage oder sechs Monate?

Es blieb dieses Mal bei den drei Tagen. Den Bescheid, dass ich die bedingte Strafe nicht antreten musste, erhielt ich erst Monate später.

Dazwischen ereilte mich das erste wirkliche Liebesglück in Gestalt einer Freundin meiner Schwester. Irmgard hieß sie. Meine Schwester und Irmgard hatten sich im Heim kennen gelernt. Die beiden verbrachten gemeinsam einige Tage bei mir in der Aegidigasse. Gleich in der ersten Nacht funkte es, obwohl Irmgard eigentlich wegen ihres Freundes, eines Fußballers der Austria Klagenfurt, ausgebüchst war, ihn aber nicht in seiner Wohnung vorgefunden hatte. Mit Schnitten von Benka Bennersdorfer & Co fütterte ich Irmgard und meine Schwester durch, denn das Geld war wieder einmal knapp.

Irmgard war schön, wunderschön. Zu schön fürs Leben. Eine Woche, nachdem sie aus dem Heim ausgerissen war, drei Tage, nachdem sie aus meinem Zimmer in der Aegidigasse ausgezogen war, war sie tot. Ein Autounfall auf der Fahrt nach Klagenfurt kostete sie und ihren Fußballer das Leben.

Nicht alle kleinen Liebschaften gingen ähnlich tragisch zu Ende. Manuela beispielsweise verlor ich aus Ungeschicklichkeit. Ich begleitete sie zum Elisabethspital, wo sie als Krankenschwesternschülerin arbeitete. Um länger mit ihr zusammen sein zu können, machte ich einen weiten Umweg. Offenbar zu weit! Sie kam zu spät zum Dienst, hatte deswegen große Schwierigkeiten und wollte – mich nicht mehr sehen!

„Stummer“ Verkäufer

In seinen Memoiren schreibt der Herausgeber der Kronen Zeitung, Hans Dichand, das Modell der so genannten „stummen Verkäufer“ – das sind die Selbstbedienungsstände für Tageszeitungen am Sonntag – hätte er im Ausland kennen gelernt. Mag sein. Ein Blick auf meine „Erfindung“ rund um den Wiener Westbahnhof hätte ihm aber auch weiterhelfen können. Aus alten Brettern zimmerte ich einige kleine Tische, stellte diese bei den Straßenbahnstationen auf und legte Exemplare der Kronen Zeitung darauf. Daneben stellte ich eine Untertasse und ein Schild, auf dem stand, ich sei gerade kurz weg, die Leser mögen bitte so nett sein, sich ihre Zeitung selbst zu nehmen und das Geld dafür auf die Tasse zu legen. An stark frequentierten Haltestellen, so meine Überlegung, würde sicher niemand die Zeitung mitgehen lassen, ohne zu bezahlen. Ich, Ernst Stummer, als Erfinder der stummen Verkäufer sozusagen. Die Rechnung ging auf. Nach einer kurzen beruflichen Station bei der Wiener Wach- und Schließgesellschaft im Rayon Johnstraße/Linzer Straße verdiente ich auf diese Weise als Zeitungskolporteur der Krone gut. Zusätzlich verkaufte ich die Zeitungen in Gast- und Kaffeehäusern, was mich unter die Leute führte und mir immer wieder Trinkgeld einbrachte.

Erheblichen Ärger hingegen bereitete mir die Umsetzung einer Idee, die mich schon seit Längerem reizte: die Scheibe eines Elektrogeschäftes einzuschlagen, einige Geräte zu entwenden und schnell davonzulaufen. Schließlich zählte ich in Eggenburg zu den schnellsten Läufern und wurde im 60-Meter-Lauf mit einer Zeit gemessen, mit der ich in offiziellen Wettkämpfen zweitschnellster Österreicher gewesen wäre. Diese Marke galt zwar nicht offiziell, aber es dürfte für den Fall, dass man türmen musste, wohl keinen entscheidenden Unterschied darstellen, ob man offiziell schnell rannte oder inoffiziell.

Bei einer Elektrohandlung in der Gumpendorferstraße setzte ich den Plan in die Tat um. Mit einem Schraubenschlüssel durchschlug ich die Auslagenscheibe, als gerade ein Auto lärmend vorbeifuhr, schnappte mir sechs Transistorradios und steckte sie in meinen mitgebrachten Seesack. Alles verlief wie geplant und völlig klaglos.

Vorläufig.

Zuhause stellte sich die Frage, was ich mit den sechs Radios eigentlich tun sollte. Selbst benötigte ich nur eines. Also verschenkte ich die anderen Geräte, nachdem ich die Fabrikationsnummern abgekratzt und überklebt hatte.

Das Ganze flog auf, als ein Bekannter, den ich in meinem Zimmer übernachten ließ, nichts Besseres zu tun hatte, als mir ausgerechnet das geklaute Transistorradio wiederum zu klauen, um es im Dorotheum zu versetzen. Eine kriminaltechnische Untersuchung ergab sehr schnell die eigentliche Herkunft des Radios. Meine Ausrede, ein Freund, dessen Anschrift ich leider nicht kennen würde, hätte mir die Geräte geschenkt, fiel bei der Kriminalpolizei nicht wirklich auf fruchtbaren Boden. Im Gegenteil, sie bezweifelten generell die Möglichkeit eines derartigen Verhaltens.

„Kein Mensch bricht ein, stiehlt die Geräte und verschenkt sie dann.“

„Aber er ist wirklich ein Freund, Sie wissen schon. Wir sind homosexuell“, versuchte ich zögernd die Kurve zu kratzen.

„Nicht einmal dein homosexueller Freund schenkt dir seine ganze Einbruchsbeute. Außerdem ist Homosexualität in Österreich verboten. Dafür wirst du auch bestraft.“

Ausweglos.

Dass die Kripo mit ihrem Argument, niemand breche ein und verschenke die Beute, die Wahrheit total verkannte – ich selbst hatte die Geräte nach dem Diebstahl ja ebenfalls verschenkt –, mochte ein kleiner Triumph für mich sein. Geholfen hat es mir damals auf jeden Fall nicht: Einzelzelle, vier mal zwei Meter.

Häfensprache

24 Stunden später wurde ich ins Landesgerichtliche Gefangenenhaus Wien überstellt. Ein riesiger Bau mit einem gewaltigen Zellentrakt, in dem man vom Parterre bis in den vierten Stock sehen konnte. Vor den Zellen verlief in jedem Stockwerk ein Gang aus Stahlplatten, von dem aus man zu den Zellen Zutritt hatte. Die Zellen selbst maßen acht mal zwei Meter, verfügten über zwei Betten und einen Klapptisch. Rechts neben der Tür stand die Klomuschel, nur durch einen Vorhang abgetrennt. Keinerlei Intimität. Eine Stunde pro Tag durften wir in Zweierreihen im Hof spazieren gehen.

Drinnen herrschten nicht nur eigene Gesetze, sondern auch eine eigene Sprache. Rettich, Bündel Heu und Kas bezeichneten keine landwirtschaftlichen Produkte, sondern die Klomuschel, eine Packung Tabak und den Justizwachebeamten – Kas als Abkürzung für Kaiserlicher Arrestschließer, wie er früher hieß.

Das Fenster und den Türspion nannte man Guck, der Stärkste in größeren Zellen mit mehr Insassen, der das Kommando innehatte, war der Zellenvater. Laut offizieller Hausordnung wurde der Älteste Zellenvater, in Wirklichkeit entschied meistens eine Rauferei über diese Position. Wurde man in den Keller geführt, wo einen die Kas verprügelten, ging es in die so genannte Kurie. Halbgesperre und Waggon bezeichneten Räumlichkeiten, in denen man dem Untersuchungsrichter oder den Anwälten vorgeführt wurde. Letztgenannte Bereiche dienten auch dem heimlichen Austausch von schriftlichen Nachrichten unter den Gefangenen, den G’sieberln. Erwischte man dabei einen Wams, dann gab’s Ärger – denn ein so benannter Verräter leitete das G’sieberl an die Wachebeamten weiter. Natürlich nicht, ohne sich dafür einen Vorteil zu sichern.

Eine andere Möglichkeit des Tauschens stellte das Pendeln dar. Dabei kletterte man zum Guck, hängte den zu tauschenden Gegenstand an einer Schnur hinaus und ließ ihn so lange gegen die Mauer pendeln, bis er das gewünschte Zellenfenster erreichte. Vor allem Tabak wurde auf diese Weise gerne getauscht. Für mich als Nichtraucher zahlte sich die Rauchfreiheit übrigens schon damals aus, als es noch keine Diskussionen über Raucheroder Nichtraucherlokale gab: Da jeder Häftling pro Woche nur 50 Gramm Tabak erhielt, war meine Ration bei den rauchenden Häftlingen naturgemäß sehr begehrt.