»Vor einigen Monaten«, schreibt Clemens Setz, »fand ich in einer Mappe einige alte Erzählungen wieder, die ich als Achtzehn- oder Neunzehnjähriger verfasst hatte. Als ich diese Texte durchblätterte, fiel mir auf, dass ihre Titel, wenn man sie untereinander schreibt, ein Gedicht im Stil der New York Poets ergeben. Ich stellte die Titelliste auf den Suhrkamp-Blog und schrieb Zusammenfassungen einiger Erzählungen. So entstand die Idee zu dem vorliegenden Band. Das heißt, eigentlich schlug mir Kathrin Passig vor, ich solle doch ein ganzes Buch daraus machen.«

Es gibt Geschichten, die sind so abgründig, dass sie sich öffentlich nicht erzählen, sondern nur nacherzählen lassen. Natürlich vom Autor selbst. Hier sind sie. Fünfundvierzig an der Zahl und jede einzelne nicht weniger abgründig illustriert von Kai Pfeiffer.

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Er studierte Mathematik und Germanistik und schrieb bislang vielfach ausgezeichnete Romane, Erzählungen und Gedichte. Glücklich wie Blei im Getreide ist sein erstes Buch mit Nacherzählungen.

Kai Pfeiffer, geboren 1975 in Berlin, Zeichner fiktiver sowie dokumentarischer Comics (u. a. Radioactive Forever zur Katastrophe von Tschernobyl, in: NoNukes, Tokyo 2012), Lehrer für Comics an der Kunsthochschule Kassel (2009-2014). Zuletzt erschienen: Plus si entente (gemeinsam mit der belgischen Comiczeichnerin Dominique Goblet; dt. Ausgabe Frühjahr 2015).

Clemens J. Setz

GLÜCKLICH WIE BLEI
IM GETREIDE

Nacherzählungen

Mit Zeichnungen von
Kai Pfeiffer

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4587

Originalausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Umschlag und Umschlagzeichnung: Kai Pfeiffer

eISBN 978-3-518-74123-8

www.suhrkamp.de

douche chills  An overwhelming feeling of uncomfortable embarrassment brought on by watching someone make a fool of himself.

urbandictionary.com

Inhalt

Vorwort

Sorge um das Satyrspiel im Winter

Der mythische Parkplatz

Der Stylit und der Wolkenkratzer

Warum ich niemals Vater werde

Glücklich wie Blei im Getreide

Fleischmanns Trauer um einen verrückt gewordenen Kirschbaum

Der Meister des Obstklammer Altars

Mein Abend mit den drei vollkommen identischen Tauben

Die Treppe, die Sonde und die silberne Muttergottes

Das große Gefangenendilemma von Alrau

Der rote Raum und die roten Menschen darin

Traum von verdächtigen Mänteln

Das Tormädchen Klara

Die Schwanenhälfte

Das Rätsel bestimmter Besuchszeiten

Ich praktiziere einen Kinofilm

Wie sehr ich auch immer vorhanden sein mag

Wie verzweifelt muss man sein

Wohin mit meiner Haut

Ein seltener Fall von Symbiose

Die Beschwerdeschriften des Monats Mai

Verliebt wie ein brennender Stuntman

Ein Signal kehrt heim

Klara wird ausgesetzt

Erlebnisaufsatz: Wie ich meinen ersten Sklaven bekam

Texttafel vor dem neunten Gehege

Die Stimme vom Elferblock

Worte für die Elster auf dem Galgen

Der Tod eines Gentleman, annonciert in der »Zeppelin-Zeitschrift«

Erlebnisaufsatz: Als ich eines Tages Gedanken lesen konnte

Stellt mir einen Kran aufs Grab

Dumm wie eine geläutete Glocke

Ich habe so Angst vor großen Behältern

Die Löwentür zu Graz

Irgendein Fisch und irgendein Mensch

Die Ratte in den Verhältnissen

Glücklich wie Sand unterm Fingernagel

Ein Fächer für Julia

Szenen aus dem Hinterland der Silofabrik

Ein brüllender und schwirrender, laut knatternder Propeller

Das Licht am Ende des Loopings

Erinnerungen an die Carrera-Bahn

Klara und ich

Die vier Romananfänge meines Sohnes

Suchbild mit Jeff

043.tif

Vorwort  Vor einigen Monaten fand ich einige alte Texte wieder, die ich in den Jahren 2001 bis 2003 verfasst hatte. Sie lagen in einer Mappe, auf die ich damals, aus mir heute nicht mehr vertrauten Gründen, das Bild einer Sphynx-Katze geklebt hatte. Auf dem Bild steht »Der Grübler«, was vermutlich auf das intensive Stirnrunzeln der haarlosen Zuchtkatze anspielt. Mit Edding hatte ich unter das Bild auf die Mappe geschrieben: »Geschichten, 2001-2003«. Und anstelle einer Signatur gibt es einen kleinen, hydrantenförmigen, koboldhaft tanzenden Pinguin.

Im Herbst 2001 hatte ich begonnen, Germanistik und Mathematik zu studieren, und ich lebte seit kurzem mit meiner Freundin und Komplizin Julia zusammen, zwei Faktoren, durch die ich mir ungewöhnlich erwachsen vorkam. So erwachsen, dass ich jeden Tag gegen halb fünf Uhr aufstand, um zu schreiben. Oft trug ich um diese Tageszeit bereits das helle Sakko, in dem ich später zur Uni fuhr. Ich saß an einem Tisch, der heute nicht mehr existiert (er brach eines Tages in sich zusammen, als ich mich, allerdings nicht allein, auf ihm niederließ), und beschriftete die Seiten eines karierten Collegeblocks. Im Sakko. Oft war meine Hand um acht Uhr früh, also nach zwei, drei Stunden intensiver Arbeit, so müde und verkrampft, dass ich hinterher in der Vorlesung nicht mehr mitschreiben konnte und einfach dasaß und »aktiv zuhören« musste, wie einst in der Schule.

Die früheste Erzählung in der »Grübler«-Mappe, Das Tormädchen Klara, hatte ich noch vor dem Studium begonnen, an einem Sommertag im winzigen Traklpark in Innsbruck. Ich hatte dort, auf einer Bank neben dem Sockel der gestohlenen Dichterbüste sitzend, umbraust vom Nachmittagsverkehr, zuerst versucht, ein stimmungsvolles Gedicht zu schreiben. Ich weiß noch, es waren sechs Zeilen, in zwei Strophen geteilt, der Blumentopf eines Sonetts. Aber dann muss irgendetwas geschehen sein, vielleicht nahm das Sonnenlicht eine günstige Färbung an, vielleicht wölbte sich der Erdboden unter mir, oder das Brummen eines großen Fahrzeugs brachte für eine Sekunde meinen Schädel zum Mitschwingen, jedenfalls sah ich mit einem Mal, in einer strahlend klaren Sekunde, dass diese Zeilen vor mir im Notizblock zutiefst lächerlich waren. Auch der Traklpark war lächerlich, meine Sitzhaltung, meine Gefühle beim Gedichtemachen. Ich war ein Idiot auf einer Parkbank. Also strich ich alles aus und schrieb in Blockbuchstaben einige Sätze darüber, wie ein kleines Mädchen in einem Fußballtor steht und von einem Ball ins Gesicht getroffen wird. Das Kind fällt um, und die Spieler, lauter erwachsene Männer, jubeln »Tooor!«. Das Bild machte mich seltsam glücklich.