Dieses Buch ist Gabriela gewidmet – Danke!
Das Böse ist unspektakulär
und stets menschlich,
es teilt unser Bett
und sitzt mit uns am Tisch.
W. H. Auden
Ich hab’ das Fräul’n Helen baden sehn, das war schön!
Da kann man Waden sehn, rund und schön im Wasser stehn!
Und wenn sie ungeschickt tief sich bückt so,
da sieht man ganz genau bei der Frau, oh!
Ich hab’ das Fräul’n Helen baden sehn, das war schön!
Da kann man Waden sehn, rund und schön im Wasser stehn!
Man fühlt erst dann sich recht als Mann,
wenn man beim Baden gehn Waden sehn kann!
Fritz Grünbaum, 1926
I. Moni
1
Sie sitzt auf einem Ast und versucht, mit Hilfe ihrer Gedanken den dünnen Zweig zu bewegen. Tatsächlich wippen die Blätter leicht auf und ab. Das könnte natürlich auch am Wind liegen.
Moni ist zwar tot, aber nicht blöd.
Überhaupt erstaunt es sie, dass sie immer noch so vernünftig denkt. Dass sie immer noch scherzen kann und dass sie immer noch Bedürfnisse verspürt. So wie jetzt das Bedürfnis zu wippen. Auf und Ab.
Sie lächelt und fragt sich gleichzeitig, womit. Ihr Blick geht nach unten.
Oh ja, sie fühlt ihren Blick, wie sie ihr Lächeln fühlt. Der Körper dazu mag fehlen, aber die Gefühle, die sinnlichen Wahrnehmungen sind intensiver als je zuvor.
Auf dem Ast, der erste winzige, grüne Knospen hat, sitzt eine Amsel und pfeift. Einen einzigen Ton. Ist es ein Ton der Überraschung, weil der Vogel sie tatsächlich wahrnehmen kann? Ein Vogel, der ein Medium für Verstorbene ist? Esoterischer Unsinn oder neue Dimension?
Vieles ist anders, seit sie ihren Körper verlassen hat.
Es war zu viel.
Zuviel Schmerz und Blut, zu viel Panik und Angst. Ganz abgesehen davon, dass sie in all der unendlich qualvoll und langsam verstreichenden Zeit nicht einmal ohnmächtig geworden war.
Also raus und tschüs!
Moni macht sich nichts vor. Sie hat ihren Körper nicht verlassen, um später wieder heimzukehren, um mit Blaulicht und Sirene ins Krankenhaus gebracht und dann wiederbelebt zu werden. Um von einem Tunnel zu erzählen und ihrem Vater, der sie abholen gekommen war, nur um sie dann doch wieder zurück in ihr, wenn wir ehrlich sind, doch etwas langweiliges Leben zu schicken.
Sie dreht sich einmal im Kreis, die Amsel flattert erschrocken auf. Verschwindet im Grau des frühen Morgen.
Die Sonne wird erst um kurz nach sieben aufgehen, noch liegt ein dunkler Schleier über dem Kölner Stadtwald. Aber sonnig soll es werden, Moni erinnert sich an die Wettervorschau. Tatsächlich hat sie noch den Wetterbericht gesehen, bevor es losging.
Kein Mensch weit und breit.
Auch kein Nichtmensch, kein schon Verstorbener. Papa kam mal wieder nicht. Hatte nicht nur Monis Einschulung und Brittas Kommunion und ersten Ball verschwitzt, sondern auch das Versterben seiner jüngeren Tochter nach seinem eigenen Herzanfall.
Gab es dieses Wort? Versterben?
Keine Möglichkeit ins Internet zu gehen.
Kein Smartphone in der Zwischenwelt.
Moni sieht etwas gelangweilt nach unten. Dort gibt es etwas, das noch aus Fleisch und Blut besteht. Zwar seelenlos, aber anwesend. Noch. Bevor die Zersetzung beginnt.
Unter dem Baum, zum Teil unter dem untersten dicken Ast verborgen, liegt Monis Körper. Abgelegt wie ein Stück erlegtes Vieh.
Unbedeckt. Vollkommen nackt.
Seltsamerweise stört Moni die Nacktheit ihres früheren Seelenhauses nicht im Geringsten. Sie fühlt keine Verbindung mehr zu dieser fragilen Hülle. Eher neutral schaut sie darauf. Wenn sie sich die Schnittwunden und Verletzungen wegdenkt, ist es ein junger und schöner Körper gewesen. Gerne hätte sie ihn länger bewohnt.
Sie fragt sich, wann die Fliegen und Käfer ihn finden und mit ihrem Frühstück beginnen werden. Sie hätte große Lust nach den Stadien einer Leiche zu googeln, aber das war vorbei.
Oder würde es ein himmlisches Facebook mit einem Account für andere ruhelose Seelen geben? Oder inkarnierte man immer wieder und sie hockt hier im Baum auf einem Ast, um sich auf ein neues Leben als Ameise vorzubereiten. Wie hieß noch mal dieser Roman über genau eine solche Inkarnierung …?
Nee, Inkarnation heißt das Wort richtig.
Die Beine ihres Körpers liegen bis zum Knie im Wasser des Weihers. Sanfte kleine Wellen berühren ihre bleiche Haut.
Moni sieht ihre rechte Wade, die einen schweren Bluterguss aufweist. Der Knochen vorne am Schienbein macht unter dem Knie einen Knick. Dort ist er gebrochen worden.
Sie merkt, dass die Erinnerung an die Schmerzen wie weggeblasen ist. Ein weiterer Pluspunkt für das Leben als Untote.
Quatsch, das klingt nach Zombie. Auf keinen Fall ist sie ein Zombie!
Moni lässt den Ast los. Sie segelt nach unten und setzt sich neben ihren leblosen Körper. Es fühlt sich zumindest wie Sitzen an.
Das gebrochene Schienbein, zwei ausgeschlagene Zähne, Blutergüsse im Gesicht und an den Oberarmen. Ein tiefer Schnitt im Fleisch ihrer Wange.
Aber die Schnittwunden am Bauch sind am schlimmsten. Kreuz und quer wie ein blutiger Jägerzaun. Die Haut klafft auf und wirkt an den blutigen Rändern wie oft gelesene Buchseiten.
Sie denkt an das Zimmer, in dem ihr Körper litt, tatsächlich ihr eigenes Schlafzimmer, in dem sie tausend und mehr Nächte geschlafen hatte, voller Vertrauen und Geborgenheit. Ihre vier Wände, die sie immer beschützt hatten, seit sie von zu Hause, von Mama, weggezogen war.
Sie erinnert sich an die Blutlache, die unter ihrem Körper größer und größer wurde. Ein roter See, gebildet aus dem Wasserfall ihres eigenen Lebenssaftes. Sie erinnert sich an die Schreie, die, erstickt durch das Klebeband, ihren Kehlkopf und ihre Lunge wie einen Feuerball explodieren ließen.
Richtig gestorben ist sie erst hier am Wasser.
Hier erwachte ihre Seele ohne den Körper. Mit einer weichen Heiterkeit, einer luftigen Ausdehnung, die bald weit über den Horizont hinausreichen wird.
Diese poetischen Sätze zu ihrem Tod hätte sie aufgeschrieben, sie gepostet, sie für andere sichtbar gemacht, sie eingeflochten in eine kleine Story, die man Wie ich mein junges Leben verlor hätte taufen können. Vielleicht hätte sie die gesamte Geschichte auch verkaufen können, wie viele ihrer kurzen und amüsanten Artikel in Zeitschriften und Anthologien. Diesmal eine Story von eurer Moni, grausamer und endgültiger als sonst.
Ihre Hand- und Fußgelenke weisen tiefe rote Kerben von der Wäscheleine auf. Ihre rechte Schulter ist ein dicker Klumpen, sie hatte sie sich ausgerenkt, als sie sich vor Schmerzen aufbäumte und wie eine Wahnsinnige an den Wäscheleinenfesseln riss. An ihrer rechten Hand stehen der Zeige-, Mittel- und Ringfinger steil nach oben. Verbogen, gebrochen. Arme rechte Hand. Schreibhand. Kusshand. Liebeshand.
Sie sucht wieder nach dem Gefühl zu diesen unvorstellbaren Schmerzen, findet aber nur trockenen Humor. Ob die Leute vom Bestattungsinstitut die Finger wieder nach unten biegen werden? Sie möchte nicht wie Quasimodo, der entstellte Glöckner, in ihrem Sarg liegen.
Schritte lassen sie aufhorchen.
Jemand kommt.
Jemand kommt auf sie zu.
Moni steigt wieder nach oben, diesmal über den Ast, über den Baum hinaus.
Die ersten Strahlen der kühlen Märzsonne tauchen am Horizont auf. Es muss kurz nach sieben sein. Der Himmel zeigt in seinem werdenden Blassblau einige weiße Wolken, die später einen kleinen schnellen Regenschauer bringen werden.
Der Jogger biegt um die Kurve, vorne an der kleinen Brücke. Um diese Uhrzeit, an einem Samstagmorgen, ist er einer der ersten, die im Stadtwald unterwegs sind. Bald werden es mehr werden, Läufer, Leute mit Hunden, frühe Spaziergänger.
Der Mann ist von etwas fülliger Statur, geschätzte vierzig Jahre alt und er keucht. Aus seinem Mund steigen bei jedem Ausatmen weiße Wolken auf, es ist noch ziemlich kalt Anfang März. Er trägt eine wollene Mütze auf dem Kopf und hat sich einen Schal um den Hals geschlungen. Dafür stecken seine Beine in einer kurzen und definitiv zu knappen Radlerhose.
Wenn er Richtung und Tempo beibehält, wird er direkt an Monis Körper vorbeilaufen. Sein Blick ist nach unten auf den Weg gerichtet. Er nimmt seine Umgebung nicht wirklich wahr, konzentriert sich auf das Laufen, das Keuchen, vielleicht auch schon auf ein zunehmendes Seitenstechen.
Plötzlich wünscht sich Moni, dass er den Kopf drehen und sie sehen soll. Wünscht sich wahrgenommen zu werden, mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen, mit einem kleinen Seitenblick entdeckt. Sie stellt sich vor zu winken, albern, aber wer weiß? Ihr Herz klopft vor Aufregung … oder nein, sie fühlt ein körperloses Klopfen.
Der Mann dreht seinen Kopf tatsächlich in dem Moment, als er am Ufer des Weihers an der großen Weide, deren Zweige bis ins Wasser hängen, vorbeiläuft. Er dreht seinen Kopf nach links, nimmt Monis Körper für Sekundenbruchteile ins Visier und läuft weiter. Einfach so.
Zum ersten Mal lässt Monis gelassene Heiterkeit nach und wenn sie noch einen Atem und Stimmbänder gehabt hätte, hätte sie vor Enttäuschung tief geseufzt.
Männer und ihre Art an den Dingen vorbeizuschauen, hindurchzublicken ohne wahrzunehmen, Anteil zu nehmen. Selbst als weibliches Geisterwesen seufzt sie über das andere Geschlecht. Und hofft doch auf einen weiteren Blick des Mannes. Immer noch. Hört das denn nie auf?
Der Jogger bleibt abrupt stehen.
Steht eine Minute reglos.
Noch eine Minute.
Dreht sich auf den Fersen herum. Kommt drei Schritte zurück. Noch mal drei. Bleibt wieder stehen.
Starrt auf Monis Körper.
Sein Herz pumpt Blut in seinen Kopf, sein Atem stößt Lokomotiv-Wölkchen aus. Aus Fassungslosigkeit wird Begreifen. Sein linkes Auge zuckt.
Moni sinkt tiefer, hält einen Meter über der Szenerie an und wartet auf die Reaktion, die ihr nackter, geschundener Körper auf den Mann hat. Noch immer bewegt er keinen Muskel. Sie schwebt neben ihn und lässt sich auf seiner rechten Schulter nieder. Dann erfasst sie Neugierde und sie beugt sich weit vor, um sein Gesicht genauer zu beobachten. Ein rundliches weiches Gesicht mit unrasiertem Kinn. Grüne Augen, braunes Haar, ein Ansatz zum Doppelkinn.
Schon glaubt Moni, dass der Schrecken ihn zur Salzsäule erstarren ließ, und pustet auf seine Wangen. Als wollte er eine Fliege wegwischen, geht die linke Hand des Mannes an seinem Gesicht vorbei, fällt schlaff nach unten.
Noch eine Minute vergeht.
Eine Entenfamilie schwimmt über den Weiher und ihr Schnattern lässt ein Zittern durch den Mann laufen. Er blinzelt und wischt wieder über seine Wange.
Dann greift er in seine Jacke und kramt sein Handy heraus. Wählt. Wartet.
Nennt seinen Namen, Moritz Sebastian Gehler.
Nennt seinen Standort. Der Stadtwald in Lindenthal, dort an der Dürener Straße, wo er beginnt, gleich hinter dem Hotel, nach der kleinen Brücke, direkt am Weiher, unter dem großen Baum.
Nennt den Grund.
»Da liegt eine. Ich glaube, die ist tot. Oh mein Gott.«
Legt auf. Steht da. Eine weitere Minute. Zwei. Sein Atem weiße Wölkchen. Sein Herz Trommelwirbel.
Ein weiterer Läufer kommt über die Brücke gejoggt. Dynamischer, schlanker und jünger als Moritz Sebastian Gehler. Bremst ab.
»Da liegt eine Leiche«, sagt Moritz leise.
Der Jüngere läuft weiter. Schnell. Dreht sich nicht um.
Moritz lässt den anderen laufen. Greift sich an den Kopf und nimmt die Wollmütze ab. Hält sie in beiden Händen vor seinen Bauch. Erweist der unbekannten Toten die letzte Ehre.
Moni schwebt jetzt direkt vor Moritz Gehlers Augen. Sieht die Spur von Tränen in den Winkeln. Mag ihn, spontan. Einer von der netten Sorte. Letztendlich doch. Leider zu spät für mehr. Die gelassene Heiterkeit ist wieder da. Sie drückt Moritz einen Kuss auf die Lippen. Versucht ihn zu schmecken.
Moritz Sebastian Gehler öffnet seine Lippen, als wolle er den Kuss tatsächlich erwidern.
Moni schmunzelt. In ihrer menschlichen Gestalt hätte sie sich das bei einem fremden Mann nie getraut.
Oben auf dem Ast hört Moni die Amsel wieder diesen einen langen Pfiff ausstoßen. Sie hat ihren Platz zurückerobert. Moni schwebt hoch und pustet in das schwarze Gefieder. Der Vogel flattert hoch. Mit ihm erhebt sich auf dem Weiher eine ganze Entenhorde und der Lärm der Flügel lässt Moritz Sebastian Gehlers Zittern stärker werden. Sein Körper bewegt sich ohne sein Zutun, er schaukelt im Stehen, vor und zurück. Er berührt mit seinen Fingern seine Lippen, er streicht über seinen Kopf, er setzt die Mütze wieder auf.
Das Wasser des Weihers trägt höhere Wellen über den nackten toten Frauenkörper, schwemmt über die Oberschenkel, berührt ihre Scham. Moritz’ Tränen fließen stärker, schmecken salzig. Er schließt seine Augen, drückt die Tränen nach unten, lässt sie ungehindert über sein unrasiertes Kinn laufen.
Dann erschrecken Sirenen das morgendliche Köln.
Moni löst sich vom Ast der Amsel und steigt höher.
Über die Weide hinaus, über den Stadtwald hoch, sie sieht, wie zwei Polizeiwagen mit Blaulicht und Sirene über den Gürtel kommen, gleich dahinter ein Krankenwagen. Der Lärm schwillt an, erschreckt Frühaufsteher, lässt Hunde bellen und Babys weinen. Moni erhebt sich in das weite Blau dieses neuen Tages, ihres Todestages.
Da taucht eine Erinnerung auf.
Eine Erinnerung an ihren ersten Flug mit gerade mal sechs Jahren. Da oben, ganz oben im Himmel, da wollte sie das kleine ovale Fenster des Flugzeugs aufreißen und nach den Wolken greifen. In die weiße Zuckerwattewelt hineingreifen und kosten, ob sie süß schmecken, süß wie der gesponnene Zucker auf dem Rummel. Ihre Mutter hat gelacht und ihr die kleine Hand geküsst, Wolken sind nicht zum Naschen da, Moni! Schätzchen!
Jetzt wird Moni Wolken naschen. Nach diesem letzten Kuss. Der schmeckte so gut.
Mama, denkt Moni, Mama. Oh, was werden meine Mama und meine Schwester weinen. In diesem Moment geht die Sonne auf.
Moni! Schätzchen! fliegt zu den Wolken und schließt die Augen.
So kommt es ihr zumindest vor.
2
Moritz Gehler öffnet seine Augen und Zeit ist vergangen.
Ihm wird klar, dass er die letzten zwanzig Minuten oder so verpasst haben muss, sein Gehirn hat alles ausgeblendet. Er hat einen Zeitsprung nach vorne gemacht.
Er sitzt auf der Bank, einige Meter von der Weide und dem Ufer des Weihers entfernt. In der Hand hält er einen weißen Plastikbecher, der mit einer schwarzen kalten Flüssigkeit gefüllt ist. Kaffee? Über seine Schulter ist eine Decke gelegt, doch ihn friert es vor allem an den Beinen. Warum nur musste er mit der kurzen Hose laufen gehen? Unter der Bank zwischen seinen weißen Laufschuhen sieht er Erbrochenes. Erkennt eine halbe Banane in dem gelben Schleim. Sein Läuferfrühstück. Peinlich berührt schiebt er mit dem rechten Laufschuh Kies und Sand vom Boden darüber. Dann schaut er sich um.
Für einen Moment glaubt er sich in die alten Polizeiserien versetzt, die er als Kind mit seiner Schwester stundenlang mit selbst gemachtem Popcorn geguckt hat. Wenn die Eltern außer Haus waren, ihren Ausgeh-Abend hatten.
Lea wollte unbedingt gucken und fürchtete sich allein. Ließ den kleinen Bruder an ihrer Seite. Bis die Eltern zurück waren. Immer zu früh und immer überraschend für die Geschwister. Wie oft hatte er das Ende verpasst und musste, ohne zu wissen, wer der Mörder war, zurück in sein Zimmer.
Seine Schwester bekam eine Standpauke, solche grausigen Geschichten wären doch nichts für kleine Kinder, Moritz wurde wortlos ins Bett geschickt. Lea hatte schuldbewusst genickt und ihm zugleich zugeblinzelt. Beide Kinder wussten, am nächsten Ausgeh-Abend würden sie wieder zu zweit auf der Couch sitzen und Derrick oder die Straßen von San Francisco mit Popcorn zelebrieren. Doch seine Eltern irrten in einem Punkt. Er hatte sich nie gefürchtet oder erschrocken. Schon als kleiner Junge war ihm klar gewesen, dass es nur Geschichten waren, die im Fernsehen liefen. Erfindungen. Schauspieler, die niemals wirklich starben und sich später in den Magazinen, die seine Mutter las, grinsend fotografieren ließen.
Doch heute Morgen ist er in eine reale Story gestolpert.
Über dreißig Jahre nach den Ausgeh-Abenden seiner Eltern. Heute ist er selber Vater eines kleinen Sohnes, der nach acht Uhr keine Krimis gucken darf. Niemals. Moritz fällt ein, dass er seine Frau anrufen muss, bevor sie sich Sorgen macht. Er holt sein Handy zum zweiten Mal aus der Jacke, kann die Nummer aber nicht wählen, steckt es weg. Noch nicht. Später, wenn er Worte gefunden hat.
Ein rot-weißes Band mit der Aufschrift Polizeiabsperrung ist weitläufig um den Tatort gezogen. Oder ist es nur der Fundort der Leiche? War er jetzt der sogenannte Hauptzeuge? Oder würde er verdächtigt werden?
Silke und Daniel hatten noch geschlafen, als Moritz müde, aber willig gegen Stress und Pfunde anzulaufen, gestartet war. Und jetzt?
Wie die Frau da gelegen hatte, so nackt, bleich und verloren. Und ihr Bauch sah so aus als … Weiter will Moritz nicht denken. Diese Erinnerung lässt er lieber zurück in der verlorenen Zeit.
Moritz wagt einen Blick hinüber zum Ufer des Weihers. Eine weiße Plastikplane deckt den Körper jetzt vollständig ab.
Beamte in Uniform und in Zivil tummeln sich wie Ameisen rund um den Weiher, auf dem Weg davor, bis vorne an die Dürener Straße. Auf der kleinen Brücke parkt ein Polizeiwagen mit offenen Türen. Dahinter, mitten auf der kleinen Wiese, steht ein Rettungsfahrzeug. Eine Trage lehnt nutzlos an der seitlichen Front, hier gibt es kein Leben mehr zu retten. Weitere Wagen vor dem Hotel und auf der Joggingstrecke.
Ein Mann mit Handykamera wird an Moritz vorbei aus der abgesperrten Zone geschoben, dahinter sieht Moritz eine Schar von Schaulustigen. Mit gezückten Handys und Kameras. Moritz erkennt vorne an der Absperrung den jungen Jogger, der vorhin einfach weitergelaufen war. Jetzt hält auch er sein Smartphone in die Höhe und filmt.
Plötzliche Wut rollt in Moritz hoch, er würde gerne hingehen und dem Typen eine scheuern.
Ein Sanitäter in einer rot-gelben Weste taucht neben Moritz auf, wirft einen Blick auf seinen vollen Plastikbecher.
»Wollen Sie nicht noch was trinken, Herr Gehler?«
Wann hat er dem Mann seinen Namen genannt?
»Nein, der Kaffee ist schon kalt.«
Der Sanitäter mit der grellen Weste lächelt ihm aufmunternd zu. Wenn sich Moritz nur erinnern könnte, wann er sich bei ihm vorgestellt hat? Die verlorene Zeit macht ihm zu schaffen.
»Das ist kein Kaffee, das ist Tee. Hier, Herr Gehler, ich schenke Ihnen nach, ist mein eigener, wärmt von innen.«
»Danke.«
Moritz schüttet seinen kalten Rest auf den Boden. Der Kies läuft dunkel an.
Wieder schiebt er mit seiner Laufschuhspitze Sand darüber. Hätte der Täter die Frau nicht vergraben können? Ein anderer, vielleicht mit einem buddelnden Hund hätte sie gefunden. Moritz wird es kurz schwarz vor Augen, er möchte wegtauchen, versickern wie kalter Tee.
Der Sanitäter hat eine Decke in der Hand, legt sie über Moritz’ frierende Oberschenkel und Knie, füllt den Plastikbecher mit dampfendem Tee aus einer knallgrünen Thermoskanne auf, klopft Moritz auf die Schulter. Einmal, zweimal. Moritz spürt, wie seine Handinnenfläche erhitzt wird von dem jetzt heißen Becher, die Hitze steigt über seinen Unterarm bis zu seinem Ellbogen hoch. Rote Punkte sind auf seinen weißen Fingerkuppen aufgetaucht und leuchten wie Bremslichter.
Moritz schaut wieder zu den Schaulustigen an der Absperrung, sieht wie der junge Jogger ihm zuwinkt und hasst den Mann aus tiefstem Herzen. Schnell wendet er seinen Blick auf die andere Seite, die zugedeckte Tote wirkt friedlicher als die Gaffer.
Wie Fliegen kreisen die Ermittler um den Fundort. Jeder Zentimeter um die Leiche herum wird fotografiert, kleine Tafeln mit fortlaufenden Nummern markieren mögliches Beweismaterial auf dem Boden. Die Männer und Frauen tragen weiße Überzüge wie Raumfahrer, die einen neuen Planeten betreten.
Eine Ecke der schlichten weißen Plastikplane über der toten Frau schwimmt im Wasser. Keinen Meter weiter paddeln zwei Enten über den Wellen. Ein absurdes Bild, das sich Moritz einprägt.
Ein weiteres Fahrzeug trifft ein, wird von drei Polizisten durch die Schaulustigen gelotst, parkt hinter dem Rettungswagen. Ein beleibter Mann mit ausgeprägter Wampe und Doppelkinn steigt aus.
Es könnte ein Szene aus Kojak sein, denkt Moritz. Obwohl der Neuankömmling kein Glatzkopf mit Lolli ist.
»Harry, endlich!«, ruft jemand und Moritz horcht auf.
»Schau sie dir an, Harro«, sagt eine jüngere Frau mit Gummihandschuhen und einem wippenden Pferdeschwanz.
Also doch kein Harry, der den Wagen vorfahren soll, sondern nur ein Harro, der, während er große Schritte auf die Leiche zu macht, auch Gummihandschuhe aus seiner Jacke fischt.
Moritz steht auf, die Decke rutscht von seinen Schenkeln, landet zum Glück neben seinem verbuddelten Erbrochenen. Er macht einen großen Schritt über Decke und Kotze und trinkt sich zugleich Mut an mit seinem Tee. Er spürt wie die Wärme seinen Hals und seine Speiseröhre nach unten glüht, macht einen weiteren großen Schritt, möchte hingehen, möchte sich die tote Frau anschauen, von Angesicht zu Angesicht, möchte gerne wissen, wie und warum sie hier liegt. Möchte sich einbringen und mithelfen. Möchte Teil der Veranstaltung sein. Teil der Ermittlungen. Nur so, erkennt er in diesem Moment, wird es ihm möglich sein, das Erlebte zu verarbeiten. Nur so wird er sich die Wiederholungen der guten alten Serien ansehen können, ohne zu weinen oder zu kotzen oder beides gleichzeitig.
Die junge Frau mit dem Pferdeschwanz stellt sich Moritz in den Weg, sie hat den Gummihandschuh von ihrer Linken abgestreift. Ihre Hand ist klein und rosig. Kinderhand.
»Wurde Ihre erste Aussage schon aufgenommen, Herr Gehler?«
Sie weiß schon, wer er ist.
»Moritz Sebastian Gehler.«
Er wiederholt seinen Namen trotzdem. Betont seine beiden Vornamen, vielleicht lässt sie ihn vorbei, wenn sie seinen ganzen Namen kennt.
»Wurde Ihre erste Aussage schon protokolliert?«
»Nein, ich …«
Sie dreht sich von ihm weg, er sieht ihren Pferdeschwanz fliegen. Er fürchtet sich plötzlich, obwohl sie nicht furchterregend aussieht, sondern eher zu jung für den Job. Sie dreht sich zu einem der Polizisten, packt mit ihrer linken kleinen Hand seinen uniformierten rechten Ellbogen, spricht so schnell und leise, dass Moritz es nicht verstehen kann. Der Mann wird blass und sein Augenlid zuckt, dann nickt er so schnell, dass seine Mütze über seine Augenbrauen rutscht.
Der Sanitäter legt Moritz eine Hand auf die Schulter, eine auf den Oberarm. Moritz lässt sich zurück zur Bank ziehen. Setzt sich. Der Sanitäter hebt die Decke vom Boden auf, legt sie Moritz wieder auf die Schenkel. Wie ein alter Mann wird er behandelt. Ihm wird klar, dass er niemals Teil der Ermittlungen sein wird, sein Trauma wird er anderswo verarbeiten müssen.
Der Uniformierte kommt mit einem Block und einem Stift in der Hand zu Moritz’ Bank. Tippt sich an die Kappe. Setzt sich.
»Erzählen Sie mir bitte, was passiert ist, Herr Gehler.«
Verdammt, wissen denn alle hier seinen Namen?
Moritz nickt und seufzt zugleich. Er hat nichts zu sagen. Nur, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Er sieht sich vor dem Fernseher sitzen, klein und aufgeregt. Lea neben ihm. Er muss seine Schwester anrufen und über frühere Zeiten reden. Er sucht in seiner Jacke nach seinem Handy. Es ist Viertel vor acht. Moritz kann es kaum glauben, dass noch keine Stunde vergangen ist, seit er losgelaufen ist. Warum nur in diesen kurzen Hosen, bei der Kälte? Diese Frage wird größer und wichtiger. Darüber vergisst er seinen Anruf. Vergisst Kojak und Derrick. Grübelt über seine Laufhosen nach, dann über Zeit im Allgemeinen und die zwanzig Minuten, die er verloren hat, darüber, wann er allen hier seinen Namen mitgeteilt hat. Rührt in dem Vergessen, ohne sich erinnern zu wollen.
Moritz trinkt einen Schluck Tee.
Der ist wieder kalt geworden.
Moritz schüttet den Rest auf den Weg. Der Kies läuft dunkel an. Déjà-Vu. Dieses Mal vermeidet er es, mit seinem Laufschuh Sand darüber zu scharren.
Der Uniformierte neben ihm holt Luft.
Plötzlich fällt Moritz ein, wann er seinen Namen genannt hat. Der Notruf. Gleich nach der 112.
Erleichtert über diese kleine Erkenntnis im großen Chaos beginnt er mit seiner Aussage.
»Heute Morgen, vor einer knappen Stunde, hier beim Joggen hab ich die Frau gefunden, wäre fast daran vorbeigelaufen, wer denkt denn, dass …«
3
Sie sitzt im Wagen und knabbert an ihren Nägeln.
Einer nach dem anderen ist dran. Es knackt und sie versucht die abgebissenen Stücke aufzufangen. Es wäre ihr peinlich, wenn Harro später ihre Nagelteilchen finden würde. Wie sie ihn in der kurzen Zeit, seit sie in Köln arbeitet, kennengelernt hat, wäre es gut möglich, dass er auch noch diese DNS im Labor entschlüsselt.
Also hört sie auf und bohrt stattdessen in der Nase.
A Gfrett ist das, von einer ekligen Angewohnheit zur anderen, kein Wunder, dass sie allein lebt.
Sie hat sich kurz ins Auto von Rechtsmediziner Harro deNärtens zurückgezogen, um etwas Wärme und einen freien Kopf zu bekommen. Jeder hat eine Frage, jeder zerrt und zieht, will sich absichern. Solange der leitende Hauptkommissar Peter Kraus oder ein anderer ranghöherer Kollege noch nicht hier sind, muss sie den Überblick behalten. Peter Kraus, ihr neuer Vorgesetzter, nicht der ewig junge Rock ’n’ Roller. Obwohl man den Eindruck haben könnte, hier würden heute Morgen die Vorbereitungen für ein großes Freiluftkonzert stattfinden.
Sie sieht in den Rückspiegel. Die Menge der Schaulustigen hinter der Absperrung ist angeschwollen wie eine eitrige Beule. Musste keiner von ihnen zur Arbeit oder zum Wochenendeinkauf oder seine Kinder, Hunde, Partner versorgen?
Am inzwischen blauen Himmel ziehen immer mehr weiße Wolken auf. Sonnig und heiter, heißt es in der Wettervorschau, gegen Nachmittag Eintrübung, mit Glück könnten gegen Mittag zweistellige Temperaturen aufkommen. Noch ist es kühl, keine 4 Grad. Die Standheizung müht sich, wärmere Luft herein zu blasen, vergeblich. Willa kann ihren Atem sehen.
Als das Handy vor einer knappen Stunde geklingelt hatte, hätte sie den Anruf am liebsten wieder weggedrückt. Bitte kein Verbrechen so früh. Am besten nur ein verwählter, falsch verbundener Anrufer.
Willa liebt es, an den seltenen freien Tagen lange in den Morgen hinein im Bett zu bleiben. Mit den Augen blinzeln, sich strecken und sich wieder einrollen wie ein Katzerl. Schnurr! Jimmy, ihr Kater, der hat öfter als sie Zeit und Muse, sich ins Kissen zu kuscheln, sich in abenteuerliche Welten zu träumen und dabei diese Mischung aus Schnarchen und Schnurren von sich zu geben.
Ob die Tote ein Haustier hatte?
Wenn ja, wer wird sich darum kümmern? Sie selbst hat sich schon zu einem überreden lassen. Aber wer hätte den roten Kater damals im Tierheim Graz verkommen lassen, nachdem sein Frauchen auf so brutale Weise getötet worden war? Willa Stark nicht. Sie hat ein Herz für Tiere. Weil Tiere nicht lügen, nicht betrügen und nicht morden.
Na ja, Jimmy beobachtet die Vögel nicht aus Freude an ihrem Gesang oder wegen der Schönheit ihres Gefieders. Er lauert und spioniert sie aus, um im richtigen Moment zuzuschlagen und Beute zu machen. Die Köpfe seiner Eroberungen legt er vor die Terrassentür, als Geschenk, als Anerkennung für sein gerettetes Leben. Doch Jimmys tödliche Jagd ist ein angeborener Trieb. Kein sozial gestörtes Verhalten oder böswilliges Tun.
Jimmy hätte sich nie einen Draht genommen, ihn einer 75-jährigen Rentnerin um den Hals geschlungen und zugezogen, bis ihre Zunge blau und geschwollen aus dem Mund hing und ihre Augen zu der Größe von Golfbällen anschwollen.
Alte Frauen sollen nicht unzüchtig tanzen … hatte der Täter später zu Protokoll gegeben. Widerlich. Bäh!
Aber sie hatten ihn gekriegt, den Grazer Würger.
Das Team. Sie alle, damals bei der Kriminalpolizei Graz. Auch wenn die Medien es allgemein so darstellten, als wäre Willa Stark, die blutjunge Anfängerin, allein mit dem Fall beschäftigt gewesen. Alle im Team hatten gute Arbeit geleistet, mühselige Arbeit, nur leider ohne konkrete Ergebnisse.
Aber sie hatte es gefunden. Willa Stark. Sie allein.
Das falsche Alibi.
Die entscheidende Verknüpfung zwischen all den Verdächtigen und Motiven. Vielleicht weil in ihren Adern Mörderblut floss? Nein, das war Schwachsinn. Onkel Willi hatte im Affekt zugeschlagen und seine Verlobte war damals unglücklich gestürzt und versuchter Totschlag im Affekt mit Todesfolge war nicht Mord und blablabla …
Doch tief in ihrem Inneren glaubt sie an eine Mitschuld, ohne selbst je schuldig geworden zu sein. Hatte die Depression ihrer Mutter nicht direkt nach Willis tödlichem Blackout begonnen? Schwester eines Mörders, Verzeihung, Totschlägers zu sein war noch schlimmer als nur seine Nichte, sein Patenkind zu sein, oder? Willi und Willa.
Was für a totaler Blödsinn, denkt sie schroff. Da draußen läuft ein ganz anderer Mörder als Onkel Willi rum. Einer, der eine junge Frau sicher nicht im Affekt tötete.
Wenn ihr Chef Peter Kraus seinen Auftritt hat, will sie nichts vergessen haben. Was gibt es noch zu tun? Hat schon einer der Polizisten Fotos von den Schaulustigen geschossen? Vielleicht ist der Täter unter ihnen.
Der Grazer Würger war immer in der Nähe seiner Opfer geblieben. Er hatte ein Alibi gehabt und war bei den Damen beliebt. Er kümmerte sich um den Kaffee und den Kuchen. Heinz Navratil, der nette Ober im Tanzcafé Waldfrieden in Raaba bei Graz.
Ober heißt Kellner hier in Köln. Faschiertes ist Hackfleisch und ein Topfentascherl ist eine Quarktasche. Österreich und Deutschland … Deutsch ist oft nicht gleich Deutsch. In Bayern hätte man Willa eher verstanden als in Nordrhein-Westfalen.
Willa Stark, die junge Grazer Ermittlerin, damals keine drei Monate bei der Kripo. Nach der Grundausbildung beide weiterführenden Ausbildungen im Eiltempo durchgezogen, fast an ihrer Größe von einem Meter zweiundsechzig gescheitert. Man musste mindestens einen Meter dreiundsechzig groß sein in Österreich, die 10 Millimeter waren ihr geschenkt worden. Noch während des letzten Ausbildungsjahres hatte sie drei Praktika absolviert und danach als frischgebackene Frau Kriminalinspektorin angefangen. Und schon tauchte der Würgerfall auf.
Ihre Kollegen hatten ihr die Publicity übel genommen.
Ihr Gesicht war in allen Medien gewesen. Nicht nur in ganz Österreich. Hatte der Fall doch europaweites Interesse erregt. Nach Jack Unterweger und Josef Fritzl war der seniorinnenerwürgende Psychopath Heinz Navratil ein hübscher Aufmacher auf den Titelseiten gewesen. Junge Inspektorin Willa Stark stellt sich dem Monster oder Willa und der Wahnsinnige waren nur die Highlights der reißerischen Schlagzeilen.
Der Leichenwagen sollte längst hier sein, Harro deNärtens wird im gerichtsmedizinischen Institut, das auch im Bezirk Lindenthal liegt, weitermachen. »Weitermachen« heißt die Leiche aufschlitzen und in ihre Einzelteile zerlegen. Wo bleibt Peter Kraus? Willa holt das Handy aus der Hosentasche, wählt seine Nummer, die Mailbox geht an, sie legt wieder auf. War er wie sie ein Langschläfer und immer noch dabei aus dem Bett zu kommen?
Noch kennt sie die neuen Kollegen hier kaum. Aber sie hatte auch ihre alten Kollegen in Graz gerade erst angefangen kennenzulernen. Drei Monate bei der Truppe und schon eine Außenseiterin. Hätte sie damals ihre Entdeckung, dass die eine alte Dame, die Heinz Navratil sein Alibi gab, trotz ihrer 82 Jahre ein unstatthaftes Verhältnis mit ihm hatte und sich durch ihre beginnende Demenz wunderbar manipulieren ließ, mit den anderen im Team teilen sollen? Ja, sicher. Aber Willa war der Versuchung ihres Ehrgeizes erlegen. Ohne ihren Alleingang wäre der Fall als Team gelöst und sie wäre zu Hause in Graz nicht von den Kollegen gemobbt worden.
Sie hatte die Anfrage über Europol, bei einem länderübergreifenden Entführungsfall mitzuhelfen, schneller mit Ja beantwortet als den Heiratsantrag von Michi damals. Obwohl sie den Namen des Verbindungsbeamten nicht richtig mitbekam und später Papiere unterschrieb, die sie gerade mal kurz überflogen hatte.
Sie war nach Köln geflogen, Oberstaatsanwalt Theo Prunk war durch den Würgerfall auf sie aufmerksam geworden. Zuerst für drei Wochen im Januar ins Hotel, doch der Fall des Stalkers mit österreichischem Pass, der mit der kleinen Tochter eines prominenten Talkmasters verschwunden war, hatte sich in die Länge gezogen.
Am ersten freien Wochenende war sie zurück nach Graz gereist, hatte Kater Jimmy und ein paar ihrer Sachen eingepackt. Sie hatte übers Internet eine Wohnung mit begrüntem Innenhof in Neuehrenfeld für Jimmy und sich gefunden. Sie hatte tatsächlich jeden Tag hochdeutsch geübt. Mit Vera Balser-Eberles sprechtechnischem Übungsbuch, das sich sonst Schauspieler kaufen.
Es würde reichen, um nicht täglich verspottet zu werden, aber man konnte es noch hören, den Singsang in ihrer Stimme und natürlich die sprachlichen Ausrutscher, Paradeiser statt Tomaten.
Willa hatte begonnen, sich wohlzufühlen in dieser Stadt mit dem Dom und dem Karneval und den offenherzigen Menschen. Sie mochte es, Kölsch zu trinken und als »lecker Mädche« bezeichnet zu werden. Sie hatte geschuftet, verhört, ermittelt und sich abends an Jimmys weiches Fell gekuschelt.
Ihr Verlobter Michi hatte sie in der Zeit mit einer anderen betrogen. Ironie des Schicksals: mit der neuen Pächterin des Tanzcafés Waldfrieden in Raaba bei Graz. Das besser lief als vorher. Willa hatte sich getrennt, den Verlobungsring in einem Laden für Goldankauf für 350 Euro zurückgelassen und weiter gearbeitet.
Der Fall des Stalkers war vor einer Woche beendet worden. Dem Kind ging es gut, der Entführer saß hinter Gittern und es war dem Talkmaster, seinem Management und der Polizei tatsächlich gelungen, den Fall aus den Schlagzeilen herauszuhalten.
Das Fräulein Inspektorin Willa Stark hätte wieder zurückgehen können nach Graz, der Stadt mit dem Uhrturm und der Murinsel, Hauptstadt der schönen grünen Steiermark.
Doch sie wollte noch bleiben, »bitte« hatte sie gesagt, und noch mal »bitte«, und der »prunkvolle Theo«, so sein Spitzname intern, der noch eine uralte Großtante in Tirol hatte, hatte ihren Einsatz für die Kölner Kriminalpolizei verlängert.
Nun ja, heute ist sie am frühen Morgen von der Einsatzzentrale hierher beordert worden. Mit den anderen, die noch nicht da sind.
Ihr ist kalt und sie ist immer noch müde und keiner kann sich je an solche Anblicke gewöhnen. Auch nach über zwanzig Jahren Arbeit als Gerichtsmediziner ist ihr Kollege Harro deNärtens blass um die Nase geworden, als der den nackten Körper näher untersucht hat.
Fesselspuren. Blutergüsse. Die Lippen wund von einem Klebeband. Das Schienbein zertrümmert, drei Finger gebrochen. Eine endlose Liste an Grausamkeiten. Dann der Bauch. Das Fleisch kreuz und quer aufgerissen, als hätte ein wildes Tier gewütet. Nein, kein Tier, eine menschliche tollwutverseuchte Kreatur.
Die junge Frau ist eindeutig nicht hier misshandelt worden. Es gibt keine Blutflecke an der Leiche oder um den toten Körper herum. Irgendwo in dieser Nacht zu Tode gequält, dann gesäubert und hier wie Sperrmüll abgelegt.
Harro deNärtens schätzt den Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens. Noch vor Eintreten der Leichenstarre, meint Harro, muss sie an den Weiher gelegt worden sein. Sie könnte sogar noch gelebt haben und hier erst gestorben sein. Die rötlich-blauen Leichenflecken sind am Rücken zu sehen gewesen. Schmeißfliegen haben mit ihrer Eiablage begonnen.
Wie war die Frau hierher gebracht worden? Mit einem Auto? Eingewickelt in ein Tuch oder in einen Teppich gerollt? Oder hatte sie der Täter in der Dunkelheit über die Schulter geworfen und durch die Straßen getragen? Wo waren die Schaulustigen da gewesen? War sie vorher vergewaltigt worden? Oder hinterher?
Willa friert, nur ihr Hirn läuft mit Fragen heiß.
Deshalb ist sie doch zur Polizei gegangen oder? Um die zu finden und zu fangen, die sich Menschen nennen, aber grausamer wüten als wilde Tiere. Oder ist es nur eine Erleichterung, auf der richtigen Seite des Zauns zu stehen?
Es hat jedenfalls nichts mit Onkel Willi zu tun.
»Schluss jetzt! Nix mehr von diesem Gfrett, diesem Blödsinn im Hirn drin!«
Willa merkt, dass sie laut gesprochen hat. Wieder an ihren Nägeln knabbert. Sie sieht im Rückspiegel, dass der Leichenwagen durch die Menge gelotst wird. Ihre Finger sind trotz der Standheizung nicht warm geworden. Ihre abgekauten Fingernägel gaffen sie vorwurfsvoll an. Ihre ohnehin schon zarten Hände wirken dadurch noch kindlicher.
»Gebt mir Lego und ich baue euch einen Tatort.«
Es ist Zeit.
Der Jogger, der die junge Frau gefunden hat, sollte noch einmal von ihr vernommen werden. Zuerst wird sie aber seine erste protokollierte Aussage durchgehen. Um eventuelle Widersprüche zu erkennen.
Wenn schon der erste Hauptkommissar Peter Kraus sich nicht meldet, wo ist dann Clemens Wächter, ihr Kollege und Mentor für die Zeit in der Mordkommission? Es kann doch nicht sein, dass alle heute ihr Handy abgestellt haben, Samstagmorgen hin oder her.
Nur keinen Mist bauen. Was fehlt noch?
Die Presse nicht vergessen! Nun ja, die wird Willa Stark sicher wieder an ihrem Erfolg beim Würgerfall messen. In Zeiten des Internets kann jeder in einer Minute alles über sie nachlesen. Ihr die passenden Fragen stellen. Wenn sie es wäre, die heute Morgen die Handschellen um den Täter legen könnte, der der Einfachheit halber gleich dieser Jogger ist, wäre es ihr wirklich so zuwider?
Ihr Handy klingelt. Eine helle eindringliche Tonfolge.
Peter Kraus ruft an. Sein Name blinkt auf dem Display. Ohne Foto. Willa hebt ab und kann ihn keuchen hören. Macht er Gymnastik?
»Willa ist hier.«
So meldet sie sich immer. Wie ein kleines Kind, das die Satzstellung verwechselt. Auch das mag sie.
»Weiß Bescheid, bin unterwegs. Alles klar, Fräulein Ösi?«
Ihr Spitzname, schon zwei Tage nach ihrer Vorstellung bei der Mordkommission. Das Fräulein Inspektorin aus Österreich war zu lang. Fräulein Ösi ist geblieben.
Ein zweiter Anruf kommt herein, Clemens Wächter klopft an. Ja, jetzt sind sie alle aufgewacht.
»Alles klar!«, sagt Willa zum einen, dann zum anderen, dann legt sie auf.
Sie reibt die kalten Hände aneinander, steigt aus.
4
»Du sollst nicht töten.«
»Was Papa?«
Der kleine Junge schaut zu seinem Vater auf. Unter dem Parka und der Jeans trägt er noch seinen Schlafanzug. Als die Polizei mit heulenden Sirenen durch ihre Straße an ihrem Haus vorbeifuhr, ist er aus einem Traum mit Piraten und Segelbooten aufgeschreckt. Als dann noch der Krankenwagen mit Blaulicht kam, wollte er unbedingt raus und gucken.
Jetzt zeigen seine Wangen hektische rote Punkte vor Aufregung und sein kleines Herz klopft wild in seiner Brust.
»Das heißt ›Bitte‹, Jakob.«
»Was Papa?«
Der Vater lächelt mild zu seinem Sohn hinunter.
»Nicht, ›Was Papa?‹ sondern ›Bitte Papa?‹, verstehst du? Wenn du etwas nicht richtig gehört oder verstanden hast, fragst du mit ›Bitte?‹ nach. Okitoki, mein Kleiner?«
»Okitoki!«
Jakob kräht vor Freude, ›Okitoki‹ ist zur Zeit ihrer beider Lieblingswort.
»Papa, heb’ mich hoch, ich will doch die Polizisten sehen.«
Es ist nicht leicht ein Kind großzuziehen. Der Vater seufzt. Dann hebt er den Jungen hoch über seinen Kopf, er ist ein großer Mann und auf seinen Schultern hat der Junge den besten Ausblick.
Der Vater fragt sich, ob es gut war, den Kleinen mit hinauszunehmen zu dem abgegrenzten Tatort. Doch als er sich umsieht, bemerkt er noch andere Kinder, die zwischen den Erwachsenen in der Menschenmenge stehen. Eine Frau hat einen Kinderwagen dabei, ein Mann trägt ein kleines Mädchen, sicher noch jünger als sein Sohn, auf dem Arm. Die großen Kulleraugen der Kleinen sind gerötet, als hätte sie geweint.
»Du sollst nicht töten, Jakob«, sagt der Vater noch mal eindringlicher zu dem Kind auf seinen Schultern.
Eine korpulente Frau mit einem Handy in der Hand dreht sich zu ihnen um.
»Da glaubt man, man wohnt in einer sicheren, weil teuren Ecke und dann so was.«
Die korpulente Frau reibt sich die Augen, ihr Atem riecht nach saurer Milch, die Neugierde war so groß, sie konnte sich nicht einmal die Zähne putzen, bevor sie raus auf die Straße und hinüber zum Stadtwald gelaufen ist.
»Sind Sie auch von der Sirene geweckt worden, Madame?«
Der Junge winkt von oben der Frau zu und die lacht zu ihm hinauf.
»Ein nettes Kerlchen haben Sie da. Höflich. Hoffentlich bekommt er keine schlechten Träume.«
Der Vater streichelt sanft das Knie seines Sohnes. Es gefällt ihm, dass Jakob die Frau Madame genannt hat. Seine Erziehung fruchtet.
»Ich denke, man muss den Kindern früh zeigen, wie die Welt sein kann, damit sie darin zurechtkommen.«
»Ja, vielleicht haben Sie Recht, aber diese ungesunde Neugier ist doch was Schreckliches«, sagt die Frau, dreht sich wieder nach vorne und macht mit ihrem Handy Fotos. Um sie bei der nächsten Grillparty zu zeigen?
Der Vater schaut weiter über die Absperrung, über die Polizisten, zu dem abgedeckten Körper, der am Ufer des Weihers liegt. Was soll er seinem Sohn sagen, wenn der ihm später an diesem Morgen beim Frühstück Fragen über den Tod stellt?
Er seufzt wieder und drückt die Knie seines Sohnes fest an seine Brust.
»Jakob, lass uns gehen!«
»Bitte, Papa?«
Das Herz des Vaters klopft vor Freude. Jakob ist ein guter Junge.
»Lass uns nach Hause gehen, Kleiner, ich frier mir die Pobacken ab. Okitoki?«
Der Junge kichert, aber widerspricht nicht. Auch ihm ist kalt.
Der Vater hebt mit einem Schwung den Jungen von seinen Schultern herunter und nimmt ihn fest an die Hand. Dann drängeln sich die beiden durch die Menschenmenge. Auf der Dürener Straße, die am Stadtwald entlang läuft, ist der samstägliche Wochenendverkehr aufgekommen.
»Da unter der Decke, war das ein toter Mensch, Papa?«
Der Vater schluckt. Jakob hat also doch nicht nur die Polizisten beobachtet.
Beide bleiben an der Ampel stehen. Der Vater geht in die Knie und sieht seinem Sohn tief in die Augen.
»Du sollst nicht töten. Jakob! Oki …Verstanden?«
Jakob nickt, obwohl er nicht versteht. Doch wenn Papa so eindringlich etwas zu ihm sagt, nickt er immer. Er hat Hunger und Durst und freut sich auf sein Frühstück. Mama wartet. Wenn er Glück hat, hat sie genug Häuser an Fremde verkauft und er hat ein ganzes Wochenende mit beiden zusammen, Mama und Papa.
Die Ampel schaltet auf Grün.
»Papa?«
»Ja, Jakob?«
»Wenn du mal tot wirst, gehst du dann weg von uns?«
Der Vater streicht seinem Sohn über die Haare.
»Nein, keine Angst, heute bleib ich zu Hause, und morgen auch und übermorgen. Und nächste Woche und nächstes Jahr. Und das hundert Jahre noch. Solange, bis es Mama und dir zuviel wird und ihr mich aus dem Haus jagt.«
Jakob lacht. Ein helles freies Kinderlachen.
»Ich hab’ keine Angst Papa, niemals, ich bin wie du!«
II. Helene
5
Wochenendausgabe Kölner Stadtanzeiger 20./21. April:
Zum immer noch unaufgeklärten Mord an Monika D.
Mörder zeige dich.
Ein Kommentar von Peter Oblautten.
April, April, macht, was er will. So heißt der Spruch gemeinhin. Dieses Motto könnte nun langsam auch auf die Kölner Polizei und ihre Suche nach dem Mörder von Monika D. zukommen.
Wir erinnern uns: In der Nacht vom 2. auf den 3. März wurde die 27-jährige Moni D. in ihrer Wohnung in Nippes zu Tode gequält. Sie starb infolge des Blutverlustes, nachdem der Täter mit einem Küchenmesser ihren Bauchbereich regelrecht zerschnitten hat. In einem unglaublich dreisten Akt hat der Mörder danach die tote junge Frau von Nippes nach Lindenthal transportiert und nackt am Ufer des kleinen Weihers an der Dürener Straße abgelegt. Dies kommt einem Messerstich ins Herz dieses städtischen Erholungsgebietes mit dem Weiher, dahinter dem Tierpark und der feinen Wohnlage gleich. Moritz Sebastian G., der die Leiche bei seinem frühmorgendlichen Joggen fand, ist bis heute traumatisiert, wie er vor zwei Wochen bei Stern TV in einem Interview erklärte. Köln und ganz Deutschland waren geschockt.
Die Dreistigkeit des Täters ging noch weiter. Er hatte in keiner Weise versucht seine Spuren zu verwischen, was die Bevölkerung zu der vorschnellen Annahme verführte, das Verbrechen als so gut wie aufgeklärt zu empfinden. Fingerabdrücke gab es. Haare, Hautschuppen und somit ein komplettes DNS-Profil lagen als Beweisführung vor. Ein Leichtes also – in Zeiten von Internet und digitaler Verbecherjagd – den Täter zu finden, möchte man meinen. Zwei Fallanalytiker wurden hinzugezogen. Experten quer durch die Republik analysierten den Fall in den Medien.
Dazu kamen jede Menge Verdächtige, da die junge Frau vor ihrem Tod auf Partnersuche gewesen war und sich bei mehreren Online-Partnerportalen angemeldet hatte. Also gaben sich bei den Verhören junge Männer fast die Klinke in die Hand. Zusätzlich gab es den Sonderbeitrag von Aktenzeichen XY im Fernsehen. Die zur Aufklärung gegründete SOKO Moni brachte in den ersten drei Wochen nach der Tat im Abstand von zwei Tagen immer wieder mögliche, anonym gehaltene Verdächtige mitsamt einer Beinahe-Verhaftung aufs Parkett. Die Beamten mussten alle wieder ziehen lassen. Selbst ein groß inszenierter Gentest, bei dem über 300 Männer im Alter zwischen dreißig und vierzig, in Nippes gemeldet, getestet wurden, ergab keinen Treffer.
Monika D.’s Schwester Britta hatte sogar eine private Fahndung über Facebook initiiert, was die Hysterie in der Bevölkerung und den Stress der ermittelnden Beamten in schwindelerregende Höhen trieb. Fazit: Über 7000 – in Worten siebentausend – Hinweise. Fazit: Alles Nullnummern.
Wie uns der April mit seinem unsteten Wetter an der Nase herumführt, so scheint auch der Mörder von Monika D. nicht zu fassen zu sein. All die herrlich präsentierten Spuren verliefen im wahrsten Sinn des Wortes im Sand, keine Fahndungsdatei ergab einen Treffer, keine der zahlreichen Aussagen führte zu einer heißen Spur. Hauptkommissar Peter Kraus, Leiter der SOKO Moni, gestand erst diesen Dienstag in einer Stellungsnahme die vorläufige Niederlage seiner Polizeibehörde ein, bat die Mutter und die Schwester der Toten offiziell um den Mut zur Geduld und versicherte, dass steter Tropfen auch diesen Stein höhlen und der Täter früher oder später den Beamten ins Netz gehen würde.
DamischGfrett
Jimmy kletterte aus seinem Katzenklo und musterte sein Frauchen eindringlich.