Unser Hauptziel mit dem vorliegenden Band Therapeutische Skills kompakt: Rational-Emotive Verhaltenstherapie ist es, Ihnen als praktizierendem Kliniker einen leicht zugänglichen und umfassenden Überblick über die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT) zu verschaffen.
Der erste Teil des Buches konzentriert sich auf die Beantwortung der Fragen danach, wie wann und wo die REVT entstanden ist. Dabei erörtern wir die philosophischen Wurzeln der Theorie ebenso wie die zentralen Gründe dafür, dass Menschen psychische Störungen entwickeln und diese bei ihnen anschließend bestehen bleiben.
Einige Kapitel haben wir der praktischen Durchführung der REVT gewidmet. Wir beginnen mit einer Darstellung der diagnostischen Phase in der Therapie und beschreiben anschließend die Vielzahl kognitiver, emotionaler und behavioraler Interventionen, die in diesem Ansatz üblicherweise verwendet werden. Auch haben wir etliche Fallbeispiele beigefügt, um Ihnen den Lernprozess zu erleichtern.
Schließlich haben wir ein Kapitel zur Integration der REVT mit einer Reihe anderer theoretischer Schulen eingefügt. Ob Sie nun ein Neuling auf diesem Gebiet oder bereits ein erfahrener Kliniker sind, wir hoffen, dass Ihnen dieses Buch gefällt und Sie es auch in Zukunft als Nachschlagewerk nutzen werden.
Die REVT steht rigiden diagnostischen Kriterien, wie denen im DSM-IV, skeptisch gegenüber, da sie Menschen manchmal in übergeneralisierender Weise mit Etiketten versehen. Natürlich können derartige Kriterien hilfreich sein, wenn festgestellt werden soll, wie schwer beeinträchtigt Ihre Klienten sind, wie lange die Behandlung voraussichtlich dauern wird und welche Methoden für einzelne Klienten vermutlich am besten geeignet sein werden.
Bei den bevorzugten diagnostischen Methoden handelt es sich um kognitiv-behaviorale Tests und Materialien (Kendall & Hollon, 1980) anstatt psychodynamischer Tests wie dem Rorschach-Test, die Spielraum für viele unterschiedliche Interpretationen lassen. Dennoch gilt, dass kein Test mit absoluter Sicherheit eine Aussage treffen kann, denn sogar „objektive“ Tests auf die anerkannten irrationalen Überzeugungen eines Klienten können bewusst oder unbewusst beschönigt werden. Unser Aufnahmeprogramm am New York Institute beinhaltet sowohl einige standardisierte Tests als auch Formulare für biografische Daten und Informationen zu früheren Therapieerfahrungen. Darüber hinaus lassen wir unsere Klienten alle vier bis sechs Wochen ein Instrument zur Erhebung der „Lebenszufriedenheit“ bearbeiten, um den Therapiefortschritt schematisch darzustellen.
Die Diagnostik beinhaltet die folgenden Aspekte:
Wir vertreten normalerweise die Vorgehensweise, zunächst die problematischen Konsequenzen (Cs) eines Klienten zu identifizieren, da diese das Thema sind, mit dem der Klient bei Ihnen vorstellig wird, und weil Sie mit diesen leichter einschätzen können, ob der Klient sich rational fühlt / verhält oder ob er sich wegen irgendeiner Sache in seinem Leben irrationalerweise selbst in ein emotionales Ungleichgewicht gebracht hat. Um die Cs zu ergründen, können Sie beispielsweise fragen: „Wie fühlen Sie sich dabei?“, „Was empfinden Sie körperlich, wenn dies geschieht?“ und „Was tun Sie dann?“. Die Reaktionen auf diese Fragen fallen sehr unterschiedlich aus, und Sie müssen eventuell tiefer bohren, um wirklich zu verstehen, was sich in den betreffenden Situationen abspielt. Ein Klient kann zum Beispiel berichten, dass er sich „erschüttert“ fühlt. Dies ist ein Anfang, aber Sie müssen erfahren, welche Art von Erschütterung er erlebt. Ist es Ärger, Niedergeschlagensein, Neid, Angst oder eine Kombination unterschiedlicher Gefühle? Ist es Trauer, Frustration oder Enttäuschung? In diesen Fällen könnte die Erschütterung eine rationale Reaktion sein. Zeigt der Klient irrationales übermäßiges Essen, wenn er sich schlecht behandelt fühlt, oder entscheidet er sich dafür, keine Zeit mit Leuten zu verbringen, die nicht sonderlich nett zu ihm sind?
Zu Beginn seiner ersten Therapiesitzung zeigte Morgan sich aufgebracht wegen seines Geschäftspartners Bill. Genauer nach der Art seiner emotionalen Erschütterung befragt, berichtete er von Gefühlen der Wut und Enttäuschung. Seine Enttäuschung war die Folge davon, dass er mit Bill nicht die Art von Arbeitsbeziehung hatte, die er gern gehabt hätte. Somit war die Enttäuschung eine vernünftige Reaktion, die auf der Nichterfüllung eines Wunsches gründete, und wir entschieden uns, an der Wut zu arbeiten, die ungesund war und ihm viel Stress verursachte.
Sobald Sie die Cs identifiziert und dem Klienten zugestimmt haben, mit ihm an der für ihn wichtigsten oder belastendsten Konsequenz zu arbeiten, ist es Zeit, die den Konsequenzen vorausgehenden As (widrige auslösende Ereignisse) gründlich zu eruieren. Wenn mehrere Cs vorliegen, werden Sie einige Zeit für die Entscheidung darüber aufwenden müssen, an welchen Sie arbeiten und in welcher Reihenfolge. Kaum ein Klient erlebt seine Erschütterung ständig. Daher ist es wichtig, die Klienten bei der Identifikation der Situationen, Menschen oder Gedanken, die ihre nicht hilfreichen Konsequenzen auslösen, zu unterstützen. Geeignete Fragen sind etwa: „Wann fühlen / verhalten Sie sich auf diese Weise?“ oder „Welche Situationen führen normalerweise zu dieser Konsequenz?“. Sie können Ihren Klienten auch von seiner jüngsten Erfahrung mit den Konsequenzen berichten lassen, um einen Eindruck von den As zu bekommen.
Morgan wurde wütend auf Bill, wenn er in bestimmten Situationen glaubte, dass Bill sich im Büro nicht „richtig ins Zeug legte“. Kürzlich war Bill früher gegangen, um ein Baseballspiel anzusehen, anstatt noch zu bleiben, um die tägliche Arbeit zu beenden. Morgan hingegen war nicht nur länger geblieben, sondern hatte sich auch den ganzen Abend darüber geärgert und konnte wegen seiner invasiven Gedanken im Hinblick auf Bills „schlechte Arbeitsmoral“ später nicht einschlafen. In den nächsten Tagen war er Bill gegenüber kurz angebunden und unfreundlich. Wie Morgan berichtete, geschahen solche Dinge ein- oder zweimal die Woche.
Der nächste Schritt besteht darin, die Bs (Überzeugungen) zu identifizieren, die die Konsequenzen (Cs) verursachen. Passende Fragen hierfür sind: „Was sagen Sie zu sich selbst, wenn Sie sich eifersüchtig / niedergeschlagen machen (übermäßig essen) etc.?“ und „Wie machen Sie sich selbst wütend / ängstlich etc.?“ sowie „Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich so fühlen / verhalten?“. Mit diesen Fragen werden Sie in der Regel sowohl an rationale als auch irrationale Überzeugungen rühren. Bedenken Sie Folgendes:
Morgan sagte, dass er Dinge wie „Es ist nicht fair, dass ich so hart arbeiten muss und er nicht“, „Er investiert nicht genug Zeit (wie er es tun sollte)“, „Er ist ein wirklicher Mistkerl, mich in diese Lage zu bringen“ und „Ich wünschte, ich könnte auch so oft Pause machen“ dachte, wenn er wütend auf Bill wurde. Die letzte Aussage war wohlgemerkt gesund und rational. Morgans Wunsch, auch einmal Pause zu machen, brachte ihm keine Probleme ein. Sie führte ihn dazu, sich enttäuscht zu fühlen, aber verursachte bei ihm keine übermäßige Erschütterung oder unangemessene Handlungen. Die ersten beiden Überzeugungen allerdings brachten ihn in große Schwierigkeiten. Er hatte den rigiden und irrationalen Anspruch, dass Bill nicht so sein solle, wie er es offenkundig war. Auch steckte er Bill global in die Kategorie „Mistkerl“, da er sich in einem bestimmten Bereich schlecht verhielt. Darüber hinaus hatte er seine Ansicht, dass Bill mehr Zeit investieren solle, in die starke und unlogische Überzeugung gewandelt, dass Bill dies tun müsse. Und schließlich zeigte er in seiner Überzeugung, dass er selbst nicht so hart arbeiten solle, niedrige Frustrationstoleranz.
Nachdem Sie die ABCs einer bestimmten Konsequenz gemeinsam mit Ihrem Klienten identifiziert haben, können Sie damit beginnen, die in der Diagnostik zutage geförderten IBs zu untersuchen, zu bewerten, zu prüfen und am Ende hoffentlich zu ersetzen. In Kapitel 5, 6 und 7 werden zahlreiche hierfür geeignete Ansätze erörtert. Da manche Klienten mit dem ABC-Modell nicht vertraut sind, kann es längere Zeit dauern, bis die erste Diagnostik abgeschlossen ist, damit Sie ein besseres Gefühl für die individuelle REVT bekommen und Ihr Klient mehr über die Therapie weiß. Eine Möglichkeit, dies eher zu erreichen, besteht darin, das Modell und die Theorie der REVT gleich zu Anfang mit den Klienten durchzusprechen, sodass diese ein grundlegendes Verständnis davon entwickeln und Gelegenheit haben, Fragen zu stellen. Mit zunehmender Therapieerfahrung werden Ihre Klienten dann von sich aus beginnen, ihre Probleme im ABC-Format darzustellen – dies ist, wie die meisten Dinge, lediglich eine Frage der Übung!
Was Sie ebenfalls im Gedächtnis behalten müssen, ist die in Kapitel 3 im Beispiel von Bruce und Grace dargestellte Tatsache, dass die Cs Ihrer Klienten sich oft in As wandeln. Das bedeutet, eine Konsequenz kann eine ganze weitere ABC-Diagnostik erfordern, und die Klärung, ob dies erforderlich ist, ist auch essenziell für die Klärung des ursprünglich untersuchten Problems. Als Morgan beispielsweise wütend auf Bill war, fühlte er sich später schuldig deswegen und wurde niedergeschlagen. Seine Wut (das C im ersten Beispiel) wurde ein zweites A, da sie ihn dazu veranlasste, sich schuldig und niedergeschlagen zu fühlen. Der Grund hierfür waren Selbstaussagen (IBs) wie „Ich hätte nicht so gemein zu Bill sein sollen“, „Es ist schlecht von mir, so wütend auf einen Freund zu werden“ etc. Sie können sekundäre Probleme aufspüren, indem Sie fragen: „Was halten Sie von sich selbst, wenn Sie daran denken, sich (wütend / ängstlich / niedergeschlagen) etc. zu fühlen und / oder sich so zu verhalten?“ Als Faustregel gilt, wenn Sie herausfinden, dass Ihr Klient sekundäre (oder sogar tertiäre) Erschütterung wegen eines Problems erlebt, dann beginnen Sie bei der tertiären (oder sekundären) Erschütterung und arbeiten sich von da aus zu dem primären Problem zurück. Nebenbei bemerkt, Klienten können zu Beginn der Therapie das, was sich später als sekundäres Problem herausstellt, als Hauptproblem darstellen, weshalb es wichtig ist, über den gesamten Verlauf der Therapie immer wieder Fragen zu stellen und Hypothesen zu formulieren und zu prüfen.
Die Diagnostik ist in der REVT ein fortwährender Prozess, und die Therapie selbst ist die zentrale diagnostische Methode, weil sich bei ihrer Durchführung rasch zeigt, wegen welcher widrigen auslösenden Ereignisse (As) die Klienten sich am meisten selbst erschüttern, welche IBs sie in Bezug auf diese As haben, wie genau sie ihre IBs erkennen können, wie gut und nachdrücklich sie sie in der Disputation angehen, welche effektiven neuen Philosophien (Es) sie daraus ableiten etc. Sie als Therapeut sehen die wichtigsten Aspekte der Störungen Ihrer Klienten und auch, wie die Klienten sich mittels der Anwendung von REVT-Methoden verändern oder nicht verändern. So können Sie bei jedem individuellen Klienten die für ihn wirksamen Methoden intensiver lehren und weiterverfolgen und die für ihn weniger wirksamen aufgeben. Dabei sind Sie auch nicht auf Ihre bevorzugten REVT-Techniken beschränkt, sondern können auch von Ihnen weniger bevorzugte anwenden – oder sogar Techniken aus anderen therapeutischen Systemen, die Sie im Allgemeinen ablehnen.
Es gibt kein Müssen in der Anwendung der vielen möglichen REVT- und Nicht-REVT-Methoden – nur Präferenzen, die durch ihre Effektivität bei unterschiedlichen Klienten geleitet werden. Wie Paul (1967, S. 11) beobachtete, muss man sich als Therapeut fragen: „Welche Behandlung, nach wessen Methode, ist am effektivsten bei dieser Person mit diesem spezifischen Problem, und unter welchen Bedingungen?“ Wie immer ist die REVT auch hier vor allem eines, nämlich flexibel!
Die REVT hat, wie wir in diesem Buch gezeigt haben, ihre eigenen speziellen Theorien und Praktiken. Sie überlappt sich mit anderen großen Therapiesystemen, weist jedoch auch Unterschiede zu diesen auf. Wir werden im Folgenden erörtern, wie die REVT mit diversen anderen Systemen integriert wird.
Psychoanalytische Therapien legen die Annahme zugrunde, dass Menschen bewusste wie auch unbewusste Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen zeigen, dass sie oft unbeabsichtigterweise Störungen bei sich selbst hervorrufen und dass sie ihre unbewussten Motive ans Licht bringen sollten, wenn sie ihre Symptome lindern wollen (Freud, 1965). Die REVT stimmt dabei insbesondere der psychoanalytischen Idee zu, dass Klienten sich ihrer irrationalen Überzeugungen sehr oft nicht bewusst und sich ihrer rationalen Überzeugungen gewissermaßen zu bewusst sind. Allerdings erkennt die REVT die Annahme nicht an, dass Klienten diese Überzeugungen häufig „verdrängen“, dass die meisten davon – etwa wie der Name von jemandem, den man gerade vergessen hat – gerade eben unter der Oberfläche des Bewusstseins liegen und dass man sie leicht hervorholen kann, wenn man ihnen gestattet, sich ihren Weg selbst zu bahnen, anstatt angestrengt danach zu suchen. Ein großer Teil der REVT besteht darin, die Klienten beim Auffinden ihrer verborgenen oder unbewussten IBs zu unterstützen, sie deutlich ins Bewusstsein zu bringen und sie dann in der Disputation anzugehen.
Die REVT entlehnt ebenfalls Teile von Freuds System der Abwehrmechanismen; praktisch alle Menschen zeigen gelegentlich Abwehr, wenn es darum geht, sich „schlechtes“ oder „falsches“ Verhalten einzugestehen. Insbesondere dann, wenn sie glauben, sie müssten sich auf eine bestimmte Weise verhalten, und dies nicht tun, neigen Menschen zu Verdrängung, Rationalisierung, Projektion oder anderen Abwehrhandlungen, denn wenn sie ihre „schlechten“ Handlungen eingestehen würden, würden sie sich selbst bloßstellen. Den Klienten zu zeigen, dass Abwehrverhalten in Wirklichkeit „schlechtes“ Verhalten ist, kann oft mehr schaden als nützen. Daher lehrt die REVT die Klienten ihre Philosophie der bedingungslosen Selbstakzeptanz (USA) und hilft ihnen, ihre „schlechten“ Taten einzugestehen, aber nicht ihr Selbst, nicht sich als Person herabzuwürdigen. Wenn ein Klient die Perspektive der USA wirklich „angenommen“ hat, ist er in der Regel weniger abwehrend (vor allem zeigt er weniger Verdrängung) und bewertet sein Verhalten anstelle seines Selbst.
Die REVT steht der Selbstpsychologie von Kohut (1991) näher als den Freud’schen Theorien über Sexualität und ödipale Phasen. Sie betrachtet Selbstverunglimpfung als zentralen Aspekt vieler Störungen und widmet besonders den Selbstbeurteilungen viel Aufmerksamkeit. In mancherlei Hinsicht ähnelt sie mehr der Objektbeziehungstheorie[7] von Klein (1984) und Winnicott (1975), da sie den meisten Klienten übermäßige Beschäftigung mit ihren zwischenmenschlichen Beziehungen zuschreibt. Außerdem hilft sie den Menschen vor allem dabei, ihre irrationalen Überzeugungen hinsichtlich ihrer Beziehungen zu erkunden, zu verstehen und zu verändern, und sie legt viel Gewicht auf das Training der sozialen Fertigkeiten.
In der REVT finden üblicherweise keine langwierigen Analysen der frühen Kindheitsgeschichte der Klienten statt, vielmehr konzentriert man sich auf die gegenwärtige Störung. Um den Klienten das Verständnis ihrer irrationalen Überzeugungen zu erleichtern, zeigt man in der Therapie jedoch oft auf, welchen Ursprung diese IBs in früheren Lebensabschnitten haben und wie sie dann unkritisch bis heute beibehalten wurden. Man untersucht ebenfalls, wie selbstschädigende emotionale und behaviorale Reaktionen in früheren Lebensabschnitten etabliert wurden, jedoch noch heute aktiv (und manchmal unbewusst) aufrechterhalten werden.
Maggie beispielsweise kam in die Therapie, da sie sich „benutzt“ und „wie eine Steckdose“ fühlte, nachdem sie Geschlechtsverkehr mit ihrem Ehemann hatte – was sie nur selten tat und auch nur dann, wenn er besonders hartnäckig darauf drängte. Obwohl sie ansonsten eine recht gesunde, offene und kommunikative Beziehung hatten, war ihre Ehe wegen dieser Sache in Gefahr. Maggie wollte dies unbedingt ändern und gab an, sich stark zu ihrem Ehemann hingezogen zu fühlen. Ausgiebige Experimente mit längerem Vorspiel, nicht sexueller Intimität und nicht koitaler sexueller Intimität hatten praktisch keine Verbesserung gebracht. Bei eingehenderer Betrachtung stellte sich heraus, dass Maggie als Kind von ihrem Adoptivvater regelmäßig sexuell missbraucht worden war. Zu dieser Zeit hatte sie das der Realität entsprechende Gefühl gehabt, von ihm in unangemessener Weise benutzt zu werden. Leider, und wohl auch verständlicherweise, trug sie diese Überzeugung nach wie vor mit sich und generalisierte sie auf alle sexuellen Kontakte. Somit hatte sie die unbewusste Überzeugung, dass jeglicher Sex „schlecht“, „falsch“ und „extrem bedrohlich für sie“ sei. Sie empfand auch große Wut auf ihren Ehemann wegen seines Drängens auf sexuelle Kontakte mit ihr.
Hier ein weiteres Beispiel: Sarah führte ihre Angst vor Kritik darauf zurück, dass ihre schizophrene Mutter fast alles, was Sarah in ihrer Kindheit getan hatte, mit Kritik überzogen hatte. Deswegen wurde sie, wie sie glaubte, auch heute wütend und niedergeschlagen, wenn sie jemand kritisierte. Sie war kaum von dieser Idee abzubringen; noch nicht einmal, als AE ihr vor Augen führte, dass ihre Zwillingsschwester Sally, die der Kritik ihrer Mutter in gleichem Maße ausgesetzt gewesen war, eine fast genau gegensätzliche Einstellung hatte und niemandes Kritik allzu ernst nahm. Daher konnte es, wie AE vermutete, nicht die Mutter allein gewesen sein, die Sarah so heftig auf Kritik reagieren ließ. Es war A, die unfaire Nörgelei ihrer Mutter, multipliziert mit B, Sarahs Überzeugungssystem, das sie bei C, ihren emotionalen Konsequenzen, so empfindlich werden ließ.
Sarah schenkte dieser Analyse keinen Glauben und bestand darauf, dass es nur die Geißelung durch ihre Mutter war, die sie als Kind so sehr erschüttert hatte und die sie auch als dreißigjährige Erwachsene immer noch erschütterte. AE half Sarah dabei, zu erkunden, was sie im Kindesalter zu sich selbst gesagt hatte und was sie wütend und niedergeschlagen gemacht hatte. Dies war leicht. Sarah erinnerte sich deutlich daran, wie sie seinerzeit zu sich selbst gesagt hatte: „Das ist so was von unfair! Ich tue alles, um ein braves Mädchen zu sein, und bin nett zu allen Leuten, ganz besonders zu meiner Mutter, und sie sucht nur nach Dingen, wegen derer sie mich kritisieren kann, und sie findet auch immer welche. Wie kann sie nur so unfair sein? Sie ist ein verkommenes Miststück! Und wenn meine eigene Mutter mich ohne Grund ständig kritisiert, werden andere Leute auch immer unfair zu mir sein und ich werde das mein ganzes Leben lang durchmachen müssen. Wie verkommen doch die Menschen sind! Wie niederschmetternd! Die Leute sollten nicht so unfair sein!“
Sarah erkannte, dass sie als Kind diese Überzeugungen immer wieder aufgesagt hatte und dass sie ebenso wie alles andere zu ihren Gefühlen von Wut und Niedergeschlagenheit beitrugen. „A“ verursachte nicht allein „C“, es war vielmehr A x B.
Nachdem AE Sarah überzeugt hatte, bei sich nach diesen Überzeugungen zu suchen, fand sie heraus, dass sie noch immer an ihnen festhielt. Sie glaubte nach wie vor, dass niemand – vor allem nicht ihre Mutter – sie unfair behandeln sollte; dass wenn dies geschah, alle Menschen nachziehen und sie abscheulich behandeln würden und dass sie überhaupt nicht mit dieser Art von Kritik zurechtkäme. Es war ihr kaum bewusst – obwohl sie etliche Gespräche mit Sally gehabt hatte, die mit Härte auf unfaire Behandlung reagierte –, dass es nicht die vergangene oder gegenwärtige unfaire Behandlung selbst war, die ihre Erschütterung verursachte, sondern ihre eigene, persönliche Reaktion darauf. Je mehr AE ihr verdeutlichte, dass die Überzeugungen in ihrer Kindheit im Wesentlichen dieselben waren wie die Überzeugungen im Alter von dreißig Jahren, desto mehr erkannte sie, dass ihre Überzeugungen – nicht die Widrigkeiten des Lebens – das Hauptproblem darstellten.
Sarah begann mit einer Neubewertung ihrer frühen Überzeugungen und kam nach wie vor zu dem Schluss, dass ihre Mutter sehr unfair gewesen war – wie gestörte Menschen es nun mal oft sind. Aber sie kam auch zu dem Schluss, dass gestörte Menschen unfair sein sollen; dass nicht alle von ihnen in dieser Hinsicht wie ihre Mutter waren und dass sie selbst ebenso wie ihre Schwester Sally die unfaire Behandlung zwar verabscheuen konnte, sich aber deswegen nicht selbst in Wut und niedergeschlagene Stimmung versetzen musste. Sie scheute immer noch vor ihrer Mutter und anderen unfairen Menschen zurück, aber sie verzieh ihrer Mutter, dass sie schizophren war, und sie akzeptierte andere Menschen – aber nicht ihr Verhalten –, wenn diese sie unfair behandelten.
Indem AE Sarahs Überzeugungen aus ihrer Kindheit erkundete und sie dazu veranlasste, über diese nachzudenken und sie zu prüfen, verdeutlichte AE ihr auch, dass sie auch heute noch in weiten Teilen an ihren Überzeugungen festhielt, wie irrational diese Überzeugungen waren und dass sie sie besser aufgeben sollte. AE nutzte die Vergangenheit – die vorüber und bereits weit entrückt war –, um Sarah zu zeigen, wie sie bis heute an den früheren Ideen festhielt und wie sie sie in einer rationalen Disputation angehen konnte. Sie führte diese Disputation ihrer IBs sogar in die Zukunft, nahm in der Imagination einen Job unter einem neuen Chef an, von dem sie wusste, dass er hochgradig kritisch war, und konnte sich selbst im Voraus beweisen, dass seine unfaire Kritik nicht so schlimm war und nichts über ihren Wert als Person aussagte. So ging sie das Risiko ein, den Job tatsächlich anzunehmen, und lernte in der Arbeit mit diesem schwierigen Chef, auf unberechtigte Kritik mit Traurigkeit und Frustration zu reagieren, jedoch nicht mit Wut und Selbstherabwürdigung.
Diverse Therapien, wie die Gestalttherapie (Perls, 1969) und die Körperpsychotherapie (z. B. Reich, 1960), betonen Techniken des Fühlens. Dies tut die REVT jedoch ebenfalls! Sie vertritt die Ansicht, dass Gedanken und Gefühle nicht getrennt voneinander existieren, sondern intrinsisch miteinander verbunden sind. Auch stellt sie heraus, dass Menschen deshalb irrationale Überzeugungen haben, weil sie oft starke Wünsche zu einem Anspruch oder einem „Müssen“ (das an sich kognitiv-emotiv ist) steigern. Darüber hinaus beginnt die Behandlung normalerweise mit der Fokussierung auf die gestörten Emotionen des Klienten (etwa in Form von Angst oder Niedergeschlagensein).
Die REVT beinhaltet außerdem, wie in Kapitel 6 ausgeführt, einige vorwiegend emotive Techniken, von denen einige von AE und anderen REVT-Therapeuten erfunden wurden. Hierzu zählen Schamüberwindungsübungen (Ellis, 1973), Rational-Emotive Imagination (Ellis, 1993; Maultsby, 1984) und nachdrückliche Bewältigungsaussagen und Selbstdialoge, um die Veränderung von Gedanken und Verhaltensweisen zu erleichtern (Ellis & Velten, 1992). Man verwendet in der REVT auch erlebensorientierte Übungen, Encountergruppen, Marathonsitzungen und andere Methoden, die aus vorwiegend auf das Fühlen hin orientierten Therapien entlehnt wurden (Ellis & Dryden, 1997). Tatsächlich legt die REVT von den diversen heute gebräuchlichen Formen der Kognitiven Verhaltenstherapie vermutlich am meisten Wert auf Techniken des Fühlens.
Die REVT ist eine Verhaltenstherapie. Verhaltenstherapie beinhaltete seit jeher kognitive Methoden, insbesondere die Unterweisung der Klienten in diversen behavioralen Techniken. Aber es mangelte ihr an kognitiven Anwendungen, bis AE zu betonen begann, welch wichtigen Part irrationale Überzeugungen bei der Entstehung von Störungen spielten, und spezifische Methoden zur Disputation dieser IBs detailliert beschrieb (Ellis, 1962, 1994). Im Laufe der letzten 40 Jahre ging die Verhaltenstherapie größtenteils zu einem kognitiv-behavioralen Modell über, da heute nur noch wenige Verhaltenstherapeuten den Kognitionen in ihrer Theorie und besonders in ihrer Praxis keinen Platz zukommen lassen.
Die Theorie der REVT, schon immer in hohem Maße behavioral, besagt, dass stark vertretene irrationale Überzeugungen zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führen und dass Handlungen (wie phobisches Vermeidungsverhalten) IBs verstärken. Ebenso wichtig ist die Aussage der REVT, dass manchmal der beste (und womöglich einzige) Weg zur Veränderung der IBs mancher Klienten darin besteht, diese gegen ihre IBs handeln zu lassen. Menschen mit einer Furcht vor Fahrstühlen legen ihre dysfunktionale Überzeugung, der zufolge Fahrstühle gefährlich seien, möglicherweise nie ab, wenn sie sich nicht unbequemerweise selbst dazu zwingen, Fahrten in Fahrstühlen zu „riskieren“.
AE: „Lassen Sie mich nochmals betonen, dass ich die REVT wohl niemals entwickelt hätte, wenn ich nicht im Alter von 19 Jahren meine eigene Furcht vor dem Halten öffentlicher Reden und meine soziale Angst überwunden hätte, indem ich mich selbst zwang, viele In-Vivo-Desensibilisierungen durchzuführen.“ Die REVT bevorzugt diese Form der Exposition daher gegenüber Wolpes (1958) imaginative Desensibilisierungsmethode. Aber sie nutzt auch viele andere behaviorale Methoden, wie Hausaufgaben, paradoxe Hausaufgaben, Verstärkung, Reizkontrolle, Rückfallprävention und Selbstbehauptungstraining sowie weitere Formen des Fertigkeitstrainings (siehe dazu Kapitel 7 über behaviorale Interventionen). Noch mal: Die REVT ist eine Verhaltenstherapie – und ebenso eine der Pionierformen der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die radikale Verhaltenstherapie betont Skinners Theorie und Praxis der operanten Konditionierung. Demgegenüber beinhaltet die → Akzeptanz- und Commitment-Therapie (Hayes, 1987) auch eine Reihe kognitiver Methoden. Sie scheint mit der REVT dahingehend übereinzustimmen, dass eine profunde philosophische Veränderung ebenso notwendig ist wie eine Verhaltensveränderung, um fundamentale Verbesserungen hervorzurufen, stellt jedoch paradoxe und manipulative Methoden stärker in den Vordergrund als die Methoden zur kognitiven Umstrukturierung von A. Beck (1976) und Ellis (Ellis & Dryden, 1997; Ellis, Gordon, Neenan & Palmer, 1998). Die REVT beinhaltet nichtsdestotrotz ein hohes Maß an skinnerianischen Methoden der operanten Konditionierung, von pawlowscher Verstärkung ganz zu schweigen, in ihren Therapieprozeduren.
Carl Rogers (1975) und viele andere Therapeuten mit existenzialistischer Ausrichtung, wie May (1969) und Yalom (1990), gehen davon aus, dass das Individuum ausgeprägte Wahlfreiheit hat. Die Menschen können sich diverse Muster von Denken, Fühlen und Handeln zum Teil selbst aussuchen und so ihre selbstunterstützenden wie auch ihre selbstschädigenden Verhaltensweisen konstruieren. Sie unterscheiden sich vorwiegend dadurch von anderen Arten im Tierreich, dass sie sich zwischen negativen oder positiven Sichtweisen ihres Selbst oder ihrer Person entscheiden und eine positive oder negative Sichtweise ihres Selbst oder ihres Seins zu einem wichtigen Teil ihrer Funktionalität machen.
Die klientenzentrierte und existenzialistische Position versucht daher, Klienten zu einer bedingungslosen Akzeptanz von sich selbst zu verhelfen (oder zu dem, was Rogers als „bedingungslose positive Wertschätzung“ bezeichnete), einfach nur, weil sie lebendig und Menschen sind, und nicht in bedingter Weise deshalb, weil sie sich allein oder gegenüber anderen Menschen gut verhalten. Sobald dies erreicht ist, verfügen sie immer über Selbstakzeptanz und müssen sich niemals selbst herabwürdigen, obwohl sie natürlich nach wie vor in der Lage sind, ihr Handeln unter praktischen und moralischen Gesichtspunkten eindeutig zu bewerten. Damit Klienten die bedingungslose Akzeptanz ihrer eigenen Person erreichen, geben klientenzentrierte und existenzialistische Therapeuten ihnen diese. Es wird erwartet, dass, wenn die Therapeuten ihre Klienten trotz deren Fehlern und Makeln akzeptieren, die Klienten sich an diesem Modell orientieren und sich daher selbst vollkommen akzeptieren.
REVT-Praktiker folgen diesem personenzentrierten und existenzialistischen Modell und unternehmen alle Anstrengungen, um ihren Klienten bedingungslose Akzeptanz zu geben, da diese für effektive menschliche Funktionalität so wichtig ist. Aber die REVT erkennt außerdem an, dass viele Klienten sich nur deshalb selbst akzeptieren könnten, weil der Therapeut sie akzeptiert, und somit eine hochgradig bedingte Akzeptanz erwerben. REVT-Praktiker geben ihren Klienten daher nicht nur bedingungslose Akzeptanz, sondern lehren sie auch, wie wichtig es ist, sich diese selbst zukommen zu lassen.
Tatsächlich nutzt die REVT zwei Hauptwege zum Erlangen von USA:
Die REVT ist somit eine der existenzialistischsten Psychotherapien. Aber während die meisten derartigen Therapien relativ passiv sind – wie es auch Carl Rogers selbst in der Tat war –, nutzt die REVT diverse aktiv-direktiven Methoden und geht davon aus, dass diese die Therapie effektiver machen. In ihr modelliert der Therapeut die bedingungslose Akzeptanz nicht nur, sondern lehrt diese auch aktiv.
George Kelly (1955) war ein Pionier der konstruktivistischen Psychotherapie – ebenso wie Epiktet und diverse andere antike Philosophen. Die REVT ist definitiv eine konstruktivistische Psychotherapie, wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt wurde. Viele konstruktivistisch orientierte Therapeuten folgen jedoch einer gewissermaßen nicht direktiven Abwarten-bis-der-Klient-zu-seinen-eigenen-Schlussfolgerungen-gelangt-Prozedur (Guterman, 1994). Demgegenüber vermengt die REVT aktiv-direktive Therapie mit dem Konstruktivismus (Ellis, 1997). Sie lehrt konstruktivistische und existenzialistische Philosophie direkt und ermutigt Klienten, diese zu ihrem eigenen schöpferischen Vorteil zu nutzen.
Harry Stack Sullivan (1953) leistete Pionierarbeit dabei, Klienten durch die Beziehung zu ihrem Therapeuten beim Erlangen sozialer Anpassung zu unterstützen, und Klerman et al. (1979) betonten diesen Aspekt der Therapie, indem sie ihren Ansatz als interpersonelle Psychotherapie (IPT) bezeichneten. Die REVT hat interpersonelle Beziehungen stets stark betont, da AE zwischen 1943 und 1947 stark in der Sexual- und Paartherapie aktiv war, bevor er Psychoanalytiker wurde: