In der Phase der Neuordnung von Bildung, Erziehung und Therapie behinderter Menschen haben wir versucht, die bildungspolitische Entwicklung und die Theoriekonstruktion der Behindertenpädagogik vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart hinein nachzuzeichnen. Die historische Bestandsaufnahme und ihre Interpretation sind von der Überzeugung getragen, dass sowohl die Leistungen der Vergangenheit als auch ihre zeitgeschichtliche Bedingtheit als Voraussetzungen anzusehen sind, auf denen neue Konstitutionen der Gegenwart aufruhen.
Das Buch ist Ergebnis eines Dialogs zweier schreibender Temperamente, wobei das Erkennen individueller Handschriften und ausgehandelter Kompromisslinien durchaus gewünscht ist und vielleicht zur Farbigkeit der Abhandlung beiträgt.
Wir wünschen uns, dass die Publikation zu Reflexion und Diskussion anregt, zum Nachdenken und durchaus auch zum produktiven Widerspruch. Die Erfolgsgeschichte der Behindertenpädagogik der letzten fünf Jahrzehnte, so vermuten wir, geht in ihrer gegenwärtigen Gestalt dem Ende entgegen. Sie angesichts veränderter Aufgaben und Herausforderungen neu zu entwerfen und zu gestalten, wird die künftige Arbeit sein. Hierbei, so hoffen wir, kann das präsentierte Buch eine Hilfe sein.
Unser Dank gilt den beiden Mitautoren Waldtraut Rath (Sehgeschädigtenpädagogik) und Karl Heinz Wisotzki (Hörgeschädigtenpädagogik), die bereitwillig ihren Sachverstand für die Abfassung fachspezifischer Artikel einbrachten und durch ihre Mitarbeit sicher stellten, dass die Behindertenpädagogik in ihrer gesamten Spannbreite zur Darstellung kommen konnte. Mit Geduld, Sorgfalt und Zuverlässigkeit hat Gisela Frohberg die technische Herstellung des Manuskripts vorgenommen; auch ihr sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Verlag Kohlhammer, der mit dem geschulten Blick des Historikers schnell von der Bedeutung der Publikation zu überzeugen war und die Entstehung professionell begleitet hat.
Hamburg und Berlin im Herbst 2008 |
Sieglind Luise Ellger-Rüttgardt Ulrich Bleidick |
Immer wenn bestehende Formen, Institutionen und Organisationen fraglich geworden sind, Traditionen sich als brüchig herausstellen, erhebt sich die Frage nach dem Warum der Veränderung, nach der Motivation, der Begründung von Reform und Neuerung. Hat sich das Bestehende nicht bewährt? Unter welchen Bedingungen ist es zustande gekommen?
Nicht erst die jüngste PISA-Diskussion um die Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungswesens hat die Kritik an den Selektionstendenzen der Allgemeinen Schule aufleben lassen. Die Forderung nach schulischer Integration und gesellschaftlicher Inklusion behinderter Menschen führte dazu, den Verantwortungsbereich der Allgemeinen Pädagogik auf die schweren Fälle und Unfälle der Erziehung zu erweitern. Identitätskrisen des Sonderschulwesens und der Behindertenpädagogik waren die Folge.
Es ist somit nicht allein historisches Interesse, das nach den vergangenen bildungspolitischen Konstellationen fragen lässt, unter denen unser Erziehungs- und Bildungswesen seine heutige Gesetzes- und Organisationsform erhalten hat. Die Suche nach neuen Konstitutionen und alternativen Formen der pädagogischen Förderung Behinderter ruht auf der Kritik des vorher Bestehenden auf. Sie ist redlicher Weise auf reflektiertes Wissen um die seinerzeitigen Begründungen angewiesen. Ihre Widerlegung bildet das Ferment der Innovation. Damit soll nicht gesagt sein, dass Geschichtsschreibung und Gegenwartsdeutung eine historische „Abrechnung“ mit dem Althergebrachten, ein Rechten mit der Vergangenheit beinhalten. Das Selbstverständnis der neueren Historiografie verlangt eine Hineinversetzung in die Entstehungsbedingungen damaliger Zeiten. Ein solches historisch-kritisches Geschichtsverständnis setzt eine möglichst getreue Kenntnis der Ursprungquellen voraus. Es ist deshalb unabdingbar für ein treffliches Urteil, die originalen Schriften selbst zur Sprache zu bringen.
Die pädagogische Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher und das deutsche Sonderschulwesen sind aus der Heilpädagogik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts hervorgegangen. Sie erfuhr, trotz massiver wirtschaftlicher Einschränkungen, Förderung und Weiterentwicklung zur Zeit der Weimarer Republik. Der Niedergang von Heil- und Sonderpädagogik erfolgte im Dritten Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Sonderpädagogik trotz ihrer Anknüpfung an die Leistungen der Vergangenheit durch bemerkenswerte Richtungswechsel gekennzeichnet. Mit dem Ende des Nationalsozialismus war das Bestreben zunächst auf einen Wiederaufbau des eigenständigen Sonderschulwesens nach dem Vorbild der Weimarer Republik gerichtet. Ab den Siebzigerjahren beginnt sich jedoch die Forderung nach einer stärkeren Einbindung der Allgemeinen Pädagogik durchzusetzen. Bildung und Erziehung behinderter Menschen gelten nunmehr als Verpflichtung des Allgemeinen Schulwesens und der gesamten Pädagogik. Angesichts des endgültigen Endes der Nachkriegszeit dürfte eine Zwischenbilanz der Möglichkeiten und Grenzen neuer Zielsetzungen naheliegend sein.
Es fehlt bis heute eine quellengeschichtlich zuverlässige Abhandlung der Sonderpädagogik für die Zeit von 1945 bis in die jüngste Gegenwart. Kursorische Übersichten referieren zwar die Bildungsgeschichte mitsamt ihren zeitweise tiefgreifenden Wandlungen. Sie machen jedoch nur sehr begrenzte Abschnitte in den bisherigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Heilpädagogik (Möckel 1988 und 2007) sowie der Sonderpädagogik (Solarová 1983; Ellger-Rüttgardt 2008) aus. Es kommt hinzu, dass etliche Dokumente teilweise schwer zugänglich sind und schon deshalb der Aufarbeitung harren.
Während sich die erziehungswissenschaftliche Historiografie der jüngsten Bildungsgeschichte frühzeitig und nachhaltig widmete (exemplarisch: Grams 1990; Horn/Tenorth 1991; Geissler 1992; Zymek 1992; Anweiler u.a. 1992; Cloer/Wernstedt 1994; Benner/Sladek 1998), sind die Veröffentlichungen der Behindertenpädagogik zu diesem Themenkomplex fast an einer Hand abzulesen (Hoffmann 1986a; Bleidick/Ellger-Rüttgardt 1994; Ellger-Rüttgardt/Wachtel 2000; Hübner 2000; Werner 2004; Zimmermann 2004; Becker/Große 2007; Gebhardt 2007).
Angesichts der großen Fülle sonderpädagogischer Publikationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Vielfaches gegenüber der gesamten Zeit vom Beginn der pädagogischen Zuwendung zu behinderten Menschen im 18. Jahrhundert bis zum Ende der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausmachen, ist eine pragmatische Beschränkung bei der Auswahl des Materials vonnöten. Es kommt darauf an, eine gewisse Geschlossenheit übersichtlicher Entwicklungen darzulegen, um den historischen Begründungsduktus der Heilpädagogik, der Sonderpädagogik, der Behindertenpädagogik und der Rehabilitationspädagogik deutlich machen zu können. Durch ausführliche Literaturverweise haben wir versucht, einen möglichst großen Informationshintergrund herzustellen. Das Literaturverzeichnis erhebt deshalb den Anspruch auf eine repräsentative Auswahlbibliographie der Nachkriegszeit.
Sonderpädagogische Theoriebestandteile und regierungsamtliche Verlautbarungen zur Verfassung der Sonderschulen sind immer auch in einen umgreifenden erziehungswissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang eingebettet. Diesem ist nur dadurch Rechnung zu tragen, dass die literarischen Belege in möglichst großer Breite selbst zur Sprache kommen. Das bedingt eine Textverteilung, in der stellenweise Quellenwiedergaben gegenüber ihren Interpretationen überwiegen.
Eine Besonderheit des Buches ist die erstmalig geschlossene Darstellung der DDR-Sonderpädagogik respektive der Rehabilitationspädagogik, vom Beginn der Nachkriegsjahre bis hin zur deutschen Vereinigung. Hierbei kommen sowohl der eigenständige marxistisch-leninistische Ansatz, die geschichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden deutschen Teilstaaten sowie die Neuanfänge einer gesamtdeutschen sonderpädagogischen Bildungspolitik zum Ausdruck.
Die geschichtliche Rekonstruktion sonderpädagogischer Entwicklungslinien vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute verzeichnet überraschende Erkenntnisse hinsichtlich der Originalität und Neuartigkeit bildungspolitischer und schultheoretischer Forderungen, die seit den Eröffnungen der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 an die pädagogische Reform von Erziehung, Unterricht und Therapie behinderter Menschen gestellt werden. Bereits 1960 fordert das Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens der Kultusminister verbesserte Rahmendingungen für das Sonderschulwesen in den Ländern, um den auseinander driftenden Tendenzen Einhalt zu gebieten, sowie ferner die Ausbildung der Sonderschullehrer nach einheitlichen Grundsätzen an wenigen Hochschulen. Der Begriff der Integration taucht bereits in der Empfehlung von 1972 auf, auch wenn diese, anders als die Bildungsratempfehlung von 1973, für den weiteren Ausbau eines separaten Sonderschulwesens plädierte. Ein Maßnahmenkatalog zur Verminderung von Schulschwäche in der Grundschule 1977 beklagt, dass schulversagenden Kindern in der gegenwärtigen Schule noch nicht die erforderliche Förderung zuteil werde. Die damaligen Feststellungen gleichen, manchmal bis in den Wortlaut hinein, den heutigen Analysen. Und so stellt sich die Frage, warum das als notwendig Erkannte nicht verwirklicht wurde. Lehrt die Geschichte, dass eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Proklamation und Realisation besteht? Oder dass man nicht bereit und in der Lage ist, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen? Die vorliegende Darstellung geht gleichwohl von der optimistischen Einschätzung aus, dass die Wiederholung von längst als richtig erkannten Standpunkten keineswegs unnötig ist und zu den erforderlichen Revisionen in Gegenwart und Zukunft durchaus beizutragen vermag.
Das Buch besteht aus vier Teilen, von denen sich drei auf die Theorie der Allgemeinen Behindertenpädagogik und eine auf die einzelnen behindertenpädagogischen Fachrichtungen bzw. Förderschwerpunkte beziehen. Die ersten drei Teile enthalten die Bildungsgeschichte, die Theorie der Behindertenpädagogik und die fachrichtungsspezifischen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland. Der vierte Teil ist der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gewidmet. Das quantitative Übergewicht der westdeutschen Literatur ist mehreren Umständen geschuldet.
Einmal gelten bildungspolitische und wissenschaftliche Publikationen ab 1990 für das Gebiet der gesamtdeutschen Bundesrepublik. Sie können demnach den ersten drei Teilen zugerechnet werden. Ein gänzlich anderer Gesichtspunkt der Aufteilung ergibt sich in Bezug auf die Theorie der Sonderpädagogik einerseits in der BRD und zum anderen in der DDR. Sowohl föderalistische Entwicklungen als auch ein gewisses Missverhältnis zwischen administrativer Behindertenpolitik und oftmals gesellschaftskritisch ausgerichtetem szientifischem Disput haben zeitweise bedingt, dass in der Bundesrepublik die amtlichen Verlautbarungen zur Behindertenpädagogik und die wissenschaftliche Diskussion um die pädagogische Förderung behinderter Menschen nicht nur getrennte, sondern mitunter sogar gegensätzliche Wege einschlugen. Der Begriff der schulischen Integration liefert dafür ein beredtes Beispiel. Dem Zwiespalt haben wir dadurch Rechnung getragen, dass wir die Teile 1 und 2 auseinandergefaltet haben: praktische Bildungspolitik versus akademische Theorie.
Für die damalige DDR galt eine solche Diskrepanz nicht. Es bestand aus Gründen, die historisch hinlänglich geläufig sind und die hier nicht weiter analysiert werden müssen, eine viel stärkere Einheitlichkeit gesellschaftspolitisch gelenkter Wissenschaft auch im sonderpädagogischen Überbau, so dass wir diese Materialien in Teil 4, der sich auf die ehemalige DDR bezieht, zusammenfassen konnten. Es dürfte andererseits aufschlussreich sein, dass in den sonderpädagogischen Fachrichtungen in der BRD und in geringerem Maße ebenfalls in der DDR das Spannungsverhältnis zwischen übergeordneter Politik und praktischer Pädagogik viel weniger zum Tragen kommt. Hier zeigt sich denn auch trotz divergenter politischer Erntwicklungen in den Jahrzehnten von 1945 bis zur Wiedervereinigung der deutschen Staaten 1989 eine bemerkenswerte Übereinstimmung schulischer Organisationsstrukturen. Entgegen unserer ursprünglichen Planung haben wir daher darauf verzichtet, die allgemeine Theorie der Sonderpädagogik und die Fachrichtungen in der DDR in zwei getrennten Teilen 4 und 5 darzustellen. Nach ausführlicher Erörterung des Für und Wider separater Quellenaufbereitung haben wir uns für einen einzigen Teil 4 entschieden, der insgesamt die Sonderpädagogik und die Rehabilitationspädagogik der DDR enthält. In diesen Buchabschnitten überwiegen theoretische Gesamtabhandlungen gegenüber fachrichtungsspezifischen Kapiteln, die wir nur in einzelnen Fällen in ihrer Repräsentanz für das Ganze der sonderpädagogischen Förderung berücksichtigt haben.
Während in der heutigen Bundesrepublik die historischen Vorbilder und die schulorganisatorischen Bestände in den einzelnen Sonderschultypen erhalten sind und weiterwirken, verzeichnet der geschichtliche Entwicklungsgang der DDR-Pädagogik mit der gesamtdeutschen Vereinigung ein jähes Ende. Schon die schnelle Übernahme westdeutscher Fachterminologie der Erziehungswissenschaft – beispielhaft für die Sonderpädagogik sind die in der DDR nicht üblichen Begriffe ‚lernbehindert‘ und ‚geistigbehindert‘ – markiert eher eine einseitige Angleichung als vielmehr einen wechselseitigen Austausch von Erfahrungen und Errungenschaften, wie ihn die erste Bilanz der Behindertenpädagogik im vereinten Deutschland vielleicht hätte erwarten lassen (Bleidick/Ellger-Rüttgardt 1994; Ellger-Rüttgardt/Wachtel 2000). Darin entspricht die Pädagogik den gesamtpolitischen Verläufen. Andererseits möchten wir keineswegs ausschließen, dass in einem bemerkenswerten Abstand zu den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 fruchtbare Fortwirkungen der DDR-Sonderpädagogik wieder zur Geltung kommen. Bestandteile der Vorschulerziehung, der beruflichen Eingliederung, aber auch der Pädagogik der Sprachbehinderten und Sehgeschädigten (Degenhardt/Rath 2001, 137ff.) liefern dafür Beispiele. Ähnlich wie nach dem Zusammenbruch des politischen Systems im Jahr 1945 die Aufarbeitung der Vergangenheit erst Jahrzehnte später einsetzte, so dürfte die historische Nähe zum zeitlichen Ende der DDR bis heute eine distanzierte Betrachtung erschweren. Es kommt hinzu, dass Autorin und Autor des Buches, aus der alten Bundesrepublik stammend, ohne eine intime Kenntnis der schulischen Verhältnisse vor Ort hätten urteilen müssen. Es bleibt ausdrücklich zu betonen, dass wir somit eine ausführliche, quellengeschichtlich gestützte historische Darstellung der DDR-Behindertenpädagogik für ein Desiderat halten, das in angemessener Zeit in Angriff genommen werden sollte.
Die unmittelbare Anknüpfung der sonderpädagogischen Bildungspolitik nach 1945 an die angeblich bewährten Organisationsformen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt in der historischen Analyse eine weitere empfindliche Lücke der geschichtlichen Forschung erkennen. Es fehlt trotz erster aufschlussreicher Einblicke (Höck 1979; Klee 1983 und 1989; Biesold 1988; Rudnick 1990; Berg/Ellger-Rüttgardt 1990; Ellger-Rüttgardt 2004a) eine breit gefächerte Erarbeitung der Heil- und Sonderpädagogik im Nationalsozialismus, ohne die die restaurativen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland und Gegenbewegungen in der Deutschen Demokratischen Republik nicht erklärbar sind.
Der zeitgeschichtliche Blick auf die deutsche Vergangenheit hat sich seit dem Zerfall des Ostblocks und der deutschen Vereinigung grundlegend gewandelt. So wird die Frage nach einer „gemeinsamen Nachkriegsgeschichte“ gestellt (Aus Politik und Zeitgeschichte 2007) und auch das bisherige Denken in Zäsuren und Etappen kritisch gesehen, indem nicht mehr 1945, sondern die Siebzigerjahre als das Ende des „Zeitalters der Extreme“ interpretiert werden (Hobsbawn). Der verengte westliche Blick auf das Jahr 1968 hat sich geweitet, um „das andere 68“ (Zwahr 2007; Hettling u.a. 2008; Wolle 2008) sowie um die Freiheitsbewegungen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Schließlich verschieben sich auch die historischen Perspektiven; weder 1945 noch das Dritte Reich bleiben weitgehend isolierte Perioden, sondern sie sind zunehmend eingebettet in die deutsche Vor- und Nachkriegsgeschichte (Doering-Manteuffel 2006; Gebhardt 2007) sowie in deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten (Hammerstein 2007).
In dieser Phase der Neubesinnung, der Justierung von Positionen und der Formulierung neuer Fragen ist die Auseinandersetzung und Begegnung mit den Überlieferungen der Vergangenheit, der Quellen, auch in der Behindertenpädagogik unverzichtbar. Genau dieses will das vorliegende Buch leisten. Dabei sind sich Autor und Autorin der Erkenntnis bewusst, dass sowohl die Auswahl der Quellen als auch ihre Interpretation interessengeleitet, nämlich standortgebunden sind. Sie beanspruchen keine objektive Darstellung, wohl aber eine begründete Auslegung der jüngeren Geschichte der Behindertenpädagogik.
Der aufmerksame Leser wird bereits beim Studium des Inhaltsverzeichnisses noch eine weitere Besonderheit der historischen Darstellung und damit zweifellos ein Defizit gewahren. Die Darstellung ist im engeren Sinne auf die Schulpolitik der sonderpädagogischen Bildungshilfe beschränkt. Die abgehandelten Theorien sind erziehungswissenschaftliche Theoriegebäude. Es fehlt weitgehend die ausreichende Berücksichtigung eines sozialpolitischen Hintergrundes in der Verfassung der Bundesrepublik, ohne den das Bildungswesen für behinderte Menschen nicht zu denken ist. Wir haben zeitweise erwogen, den Untertitel des Buches als eine schulpolitische Spezifizierung an Stelle der bildungspolitischen Entwicklung zu bezeichnen, uns aber dann für die breitere Formulierung entschieden. Parallel zu der hier vorgelegten bildungstheoretischen Analyse müsste eine gleichzeitige Interpretation der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland stehen, die allerdings den Rahmen dieser, auf Bildungsprozesse fokussierten Darstellung sprengte. Dennoch sind zweifelsfrei Kindergärten, Horte, Jugendhilfe, Freizeitfürsorge, Familienhilfe, Wohnen und nicht zuletzt berufliche Bildung und Beschäftigung behinderter Menschen zumindest von gleichrangiger Wichtigkeit wie Unterricht und Erziehung in der Schule. Die unbefriedigende Aussicht auf eine schulische Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in das allgemeine Bildungswesen erhält einen etwas anderen Stellenwert, wenn die Akzeptanz und Eingliederung behinderter Menschen in die Erwachsenengesellschaft als übergeordnetes und gewichtigeres Ziel aller humanen Anstrengungen in den Fokus der Betrachtung rückt. Die seinerzeit erfolgreiche Intervention des Verbandes Deutscher Sonderschulen bei Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes wirft ein Schlaglicht auf veränderte und dringlich erweiterte Sichtweisen (Bläsig 1962). Wir sind uns der Beschränkung der Thematik in diesem Buch bewusst und müssen auf entsprechende Literatur verweisen (Bengel/Koch 2000; Antor/Bleidick 2006; Cloerkes/Kastl 2007).
Abschließende Bemerkungen zur Terminologie der Leitbegriffe in der Behindertenpädagogik erscheinen zur Vorabklärung angebracht. Erziehung, Unterricht und Therapie bei behinderten Menschen sind – ungeachtet praktischer Hilfen – mit einer Jahrzehnte langen theoretischen Auseinandersetzung um die Hauptbegriffe Heilpädagogik, Sonderpädagogik, Spezialpädagogik, Behindertenpädagogik und Rehabilitationspädagogik belastet. Wir verhalten uns in dieser Frage pragmatisch und verwenden die Wörter synonym. Argumente pro und kontra sind in der vielfältigen Literatur hinreichend aufbereitet. Lediglich in der DDR-Pädagogik, wo es so etwas wie eine verkappte ideologische Konkurrenz zwischen Sonderpädagogik und Rehabilitationspädagogik gegeben hat, werden wir solche, der Sache allerdings kaum noch dienlichen Differenzen, an gegebener Stelle streifen.
Überblickt man die Gesamtgeschichte der pädagogischen Hilfe für behinderte Menschen von ihren ersten institutionellen Anfängen im 18. Jahrhundert bis hinein in die Gegenwart, so erscheint die Zeitspanne vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute nur etwa als ein Fünftel jenes Entwicklungsraumes, den die Behindertenpädagogik für eine Phase benötigt hat, die man ihre jüngere Geschichte nennen kann. Und doch haben sich in dieser Zeit in Deutschland – und eine ähnliche Periode verzeichnen die meisten westlichen Industriestaaten – die größten Wandlungen in gesellschafts- und bildungspolitischen Grundauffassungen wie auch, wenngleich vermindert, in den Organisationsstrukturen vollzogen.
Der erste Unterricht taubstummer Schüler durch den Abbé de l’Epée 1763 in Paris, die Eröffnung der ersten Blindenschule durch Valentin Haüy daselbst 1785 und die frühen Erziehungsversuche bei einem geistigbehinderten Jungen ab 1800 durch Jean Itard sind Ausdruck der Anerkennung der Bildbarkeit Behinderterer, denen vordem dieser Zuspruch verwehrt worden war (Ellger-Rüttgardt/Tenorth 1998; Ellger-Rüttgardt 2008). Der Prozess einer von da an einsetzenden Durchsetzung des Bildungsrechts war, von den ökonomischen und strukturellen Bedingungen her unausweichlich, mit zwei Bestimmungsmomenten verbunden: mit Institutionalisierung und Professionalisierung (Ellger-Rüttgardt 2008, 130). Die Einlösung des Bildungsanspruchs war nur möglich durch die Gründung von „Sonderinstitutionen“, da das allgemeine Bildungswesen mit Schulklassen von über 100 Schülern dieser Aufgabe nicht gewachsen war. Zugleich bedurfte es der Qualifizierung pädagogischer Spezialisten, also der Schaffung einer besonderen Profession, der „Sonderlehrer“.
In der historischen Rückschau war die Gründung von Sonderschulen für eine erfolgreiche Bildung behinderter Menschen mithin notwendig, um ihrer Not zu begegnen. Wir stoßen hierbei auf ein Paradoxon, dass gesellschaftliche Vorgänge der Inklusion nur um den Preis der Exklusion erreicht wurden. Später hat man diesen Vorgang kritisch als Separierung und als Isolierung gebrandmarkt. Der Verlauf einer Rückbesinnung auf die ursprünglichen Bildungsbemühungen der ersten Heilpädagogen, die zugleich auch die „bürgerliche Brauchbarkeit“, die Eingliederung in die Arbeitsgesellschaft zum Ziel hatten, setzt mit einer „Kritischen Sonderpädagogik“ der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik ein. Integration und Inklusion werden im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu bildungspolitischen Leitideen.
Dieser Werdeprozess einer gesellschaftlich vermittelten Behindertenpädagogik lässt sich weltweit beobachten. Lowenfeld (1975) hat am Beispiel der pädagogischen Förderung blinder Menschen in den angelsächsischen Ländern den Weg „from separation to integration“ beschrieben. Sowohl der historische als auch der interkulturelle Vergleich zeigen auf, dass sich der zwangsläufige Entwicklungsgang bis in die jüngste Zeit hinein wiederholt (Bleidick/Rath 1987; Bürli 1994; Kniel 1980; Neubert/Cloerkes 1987).
Wir befinden uns heute in einer veränderten Situation gegenüber den Gründungsjahren des Sonderschulwesens als auch seiner fortdauernden Konsolidierung seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Ausgliederungs- und Differenzierungsprozess, mit dem die pädagogische Förderung Behinderter ihre Bedeutung und ihre Eigenständigkeit im Bildungswesen erlangte, ist zum Stillstand gekommen und erfährt eine Rückwärtsbewegung. Neue soziale Bewegungen haben eine erhöhte Sensibilität für gesellschaftliche Benachteiligungen geweckt. Die Leistungsfähigkeit des Schulwesens ist gegenüber früheren Zeiten unvergleichlich gewachsen. Es spricht indessen für eine nahezu groteske historische Unkenntnis der Entstehungsbedingungen von Heilpädagogik und Sonderpädagogik im 18. und 19. Jahrhundert, wenn nunmehr räsonierend verlangt wird, die damalige „historische Fehlentwicklung“ für eine „separierende“ Sonderpädagogik sei jetzt zu korrigieren, mittels einer „dialektischen Aufhebung der Sonderpädagogik“, die das gemeinsame Lernen von Behinderten und Nichtbehinderten zum Programm macht (Eberwein 1988, 344). Wir sind nun einmal die Resultate früherer Geschlechter, so schrieb Nietzsche 1874 in der Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung, nicht ihre Urheber gewesen; wir haben gleichwohl die Folgen genau zu bedenken. Und auch der Vorwurf, Sonderpädagogik als Theorie, Institution und Profession diene letztlich nur der eigenen Herrschaftssicherung (Hänsel 2003; Hänsel/Schwager 2004), entbehrt jeder historiografischen Glaubwürdigkeit, da vermeintliche Kontinuität postuliert, historische Entwicklungen hingegen nicht in der Blick genommen werden (Ellger-Rüttgardt 2004b; Ellger-Rüttgardt 2005).
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 lag Deutschland danieder. Es bedurfte der größten Anstrengungen, um die Trümmer der Städte zu beseitigen, der drohenden Hungersnot zu begegnen, einfache Lebensfristung sicherzustellen. Erst nach ein bis zwei Jahren kam der öffentliche Schulbetrieb, oft in Notunterkünften und mit behelfsmäßig instruierten Lehrkräften, in Gang. Nach der Währungsreform 1948 und mit Konstitution der Bundesrepublik Deutschland 1949 konnte man erwarten, in einigen Jahren zu halbwegs geordneten Verhältnissen zurückzukehren.
Den Gemeinden oblag die Finanzierung und Organisation des Bildungswesens, somit auch des Schulwesens für behinderte Kinder und Jugendliche. Die Entwicklung folgte dem Duktus der Geschichte vor 150 Jahren. So ist es nicht verwunderlich, vielmehr folgerichtig, dass beim Wiederaufbau des Sonderschulwesens Institutionalisierung und Professionalisierung im Vordergrund stehen. Beide Gesichtspunkte hängen eng zusammen.
Das erste regionenübergreifende Dokument, das ein Gesamtprogramm für den Wiederaufbau der Institution Sonderschule im westlichen Teil Deutschlands umfasst, wurde vom Vorstand des Verbandes Deutscher Hilfsschulen dem Deutschen Städtetag zur Beschlussfassung überreicht. Es war die erste erfolgreiche Aktion eines professionellen Lehrerverbandes nicht nur seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, sondern auch seit der Auflösung bzw. der „Gleichschaltung“ der pädagogischen Lehrerverbände in dem Jahre 1933. Der Verband Deutscher Hilfsschulen (VDH) hatte sich 1949 als Nachfolgeverband des Verbands der Hilfsschulen Deutschlands (VdHD) neu konstituiert. 1955 wurde der Verband in Konsequenz seines erweiterten Aufgabengebietes in Verband Deutscher Sonderschulen (vds) umbenannt. Seit 2003 lautet der offizielle Name Verband Sonderpädagogik e.V.
Erster Bundesvorsitzender des Verbandes Deutscher Hilfsschulen in der Nachkriegszeit von 1949 bis 1957 war Paul Dohrmann. Als Hannoveraner Städtischer Schulrat wusste er entscheidenden Einfluss auf die Beratungen des Deutschen Städtetages zu nehmen, der 1954 die „Stellungnahme zum Heilpädagogischen Sonderschulwesen“ annahm, die der Verband unter Dohrmann erarbeitet hatte (Bleidick 1998b, 100). Die Vorlage ging per Geschäftsführung des Städtetages an alle Schulträger in städtischen und ländlichen Gemeinden. Unter dem Titel „Denkschrift zu dem Ausbau des Heilpädagogischen Sonderschulwesens“ hat sie als konzeptioneller Planungsrahmen den Aufbau des Sonderschulwesens in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich bestimmt. Noch 1968 wirkt der Impetus in einem Anschreiben des vds an den deutschen Städtetag nach:
„In dankbarer Erinnerung an die durch den Deutschen Städtetag und seine Mitglieder in den früheren Jahren gewährte großzügige und vorbildliche Unterstützung der Bemühungen um den Aufbau des Sonderschulwesens wendet sich der Verband Deutscher Sonderschulen heute erneut an Sie mit der Bitte, die Bemühungen um eine ausreichende und angemessene Betreuung der lernbehinderten Kinder in den so zahlreich entstehenden Großsiedlungen der Städte ebenso tatkräftig und nachhaltig zu unterstützen“ (Zeitschrift für Heilpädagogik 1968, 548).
Die Denkschrift zählt fünf Sonderschultypen auf. Nur die Hilfsschule ist organisatorisch und didaktisch ausführlich beschrieben. Die Ausdifferenzierung nach zehn gleichgewichtig eigenständigen Fachrichtungen erfolgte erst in den Sechzigerjahren. Äußerliche, praktisch vordringliche Notwendigkeiten spielen eine große Rolle: neue, eigene Schulgebäude, die Einrichtung der Klassenräume, Werkräume, Freiluftschulerziehung usw. In der ideologischen Begründung schließt sich der Beschluss des Deutschen Städtetages den geläufigen Argumenten an. Das Sonderschulwesen erfährt seine Legitimation, „indem es gehemmten und behinderten Kindern aus Gründen der Menschlichkeit dient und viele davor bewahrt, der Allgemeinheit zur Last zu fallen“. So „bringt es zugleich finanzielle und wirtschaftliche Ersparnisse“, so der Bundesausschuss des vds (Zeitschrift für Heilpädagogik 1957, 518).
Der vollständige Text des Dokumentes ist abgedruckt in der Zeitschrift für Heilpädagogik 1955, 3–55; ferner in Möckel (1998, 306–339). Ein Auszug gibt die wichtigsten Abschnitte zu den allgemeinen Ausführungen wieder, die sich gemäß der Tradition des Verbandes vorwiegend mit dem Hilfsschulwesen beschäftigen. Spezielle Ausführungen im zweiten Teil der Denkschrift beziehen sich auf Detailaufgaben der Hilfsschulen, der Sprachheilschulen, der Schwerhörigenschulen, der Sehbehindertenschulen und der Schulen für gemeinschaftsschwierige Kinder. Blinden- und Gehörlosenschulen sind nicht erwähnt. Sie werden durch eigene Verbände vertreten; in einigen Ländern unterstehen sie außerdem nicht den Kultusministerien, sondern den Gesundheits- und Sozialbehörden.
„(1) Das heilpädagogische Sonderschulwesen ist eine Schöpfung der deutschen Städte. Die Gründung der ersten Hilfsschulen bedeutete ein erhebliches Wagnis und zeugt von dem fortschrittlichen und gesunden pädagogischen Geist der städtischen Behörden.
Um zu Fortschritten in der Entwicklung zu kommen, müssen Notwendigkeiten bestehen. Diese Notwendigkeiten treten aber nicht immer offen zutage, sondern bleiben vielfach verborgen und werden in dem täglichen Geschehen nur zu leicht übersehen. Erst wenn uns Erscheinungen extremer Art zu Gesicht kommen oder wenn sie sich häufen, wird unser Blick auf die neuen Notwendigkeiten und Anforderungen an uns gerichtet. Auf die Geschichte des Hilfsschulwesens übertragen, bedeutet das, daß die schweren und schwersten Fälle geistiger Hemmung zuerst auffielen und daß die großen Schülerzahlen in den Städten zunächst das Problem der minderbegabten Kinder auftauchen ließen.
Tatsächlich hat auch das Hilfsschulwesen seine Entstehung dem Aufkommen des Anstaltswesens vor rund 100 Jahren zu verdanken. Als man begann, die als anstaltsbedürftig zu bezeichnenden ‚Blöd- und Schwachsinnigen‘ auszusondern, stieß man auf eine nicht unerhebliche Zahl von Kindern, die wegen ihrer verminderten Begabung im normalen Volksschulunterricht nicht ausreichend gefördert werden konnten, die andererseits aber geistig nicht so schwer geschädigt waren, daß eine Unterbringung in einer Anstalt erforderlich erschien. Damals entstand der Gedanke, diese Kinder in ihrem Elternhause zu belassen, sie aber durch einen ihrer mangelnden Begabung angepaßten Unterricht zu einer Entwicklung zu bringen, die später eine einigermaßen selbständige Lebensführung, eine nutzbringende Arbeitsleistung und damit einen bescheidenen Broterwerb ermöglichen sollte.
In die Öffentlichkeit drang dieser Gedanke zuerst im Jahre 1863 auf einer Versammlung der Naturforscher und Ärzte in Hannover, die im Hinblick auf diese schwachbefähigten Kinder in einer Entschließung forderte: ‚In allen größeren Städten gründe man Schulen für derartige Kinder, damit diese, die später sonst zum großen
Teil der Gemeinde zur Last fallen, durch geeignete Persönlichkeiten und entsprechenden Unterricht zu brauchbaren Menschen herangebildet werden.‘
Bezeichnenderweise ging dieser erste Ruf an die Städte, und von ihnen wurde dieser Ruf auch gehört. Der Rat der Stadt Leipzig, der Magistrat von Dresden und die Beigeordneten von Elberfeld griffen den Gedanken fast augenblicklich auf. Andere Städte folgten ihrem Beispiel. Dabei bedeutete es ein erhebliches Wagnis für die Städte, besondere Schulen für diese Kinder einzurichten. Es gab keine Vorbilder, keine für die spezielle Arbeit vorgebildeten Lehrer, keine Erfahrungen methodischer und pädagogischer Art, und vor allem blieb die Frage offen, ob die Arbeit auch von dem erhofften Erfolg begleitet sein würde, die Kinder also zu einer wenigstens bescheidenen Lebenstüchtigkeit gebracht werden könnten...
(2) Die ersten Erfolge der Hilfsschularbeit machten die Einsparung sonst unvermeidbarer Kosten deutlich und führten zu einer sprunghaften Ausdehnung des Hilfsschulwesens.
Um die Jahrhundertwende lautete das Problem: ‚Hilfsschule oder Anstalt?‘ Theoretisch ließ es sich nicht lösen, nur die praktische Erfahrung konnte eine eindeutige Antwort geben. Aber schon die ersten Versuchsjahre zeigten, daß es durchaus möglich war, die minderbegabten Schüler der Volksschulen in den Hilfsschulklassen erfolgreich zu unterrichten. Trotz allen wohlgemeinten Warnungen ergab sich an keiner Stelle die Notwendigkeit, diese Kinder der Anstaltspflege zu übergeben. Die Hilfsschulen, so primitiv sie auch damals noch eingerichtet und geführt wurden, konnten die Kinder ohne Herausnahme aus ihrer Familie mindestens zu den gleichen Unterrichts- und Erziehungserfolgen bringen wie etwa die Anstalten. Das aber bedeutete die Einsparung der nicht unerheblichen Kosten einer Anstaltserziehung, und selbst nach Abzug der Unkosten für den Betrieb der Hilfsschulen blieben noch beachtenswerte Mittel erspart.
Die Folge dieser Erfahrung war eine außerordentlich lebhafte Weiterentwicklung der Hilfsschule. Es wuchs nicht nur rasch die Zahl der Orte, die Hilfsschulen einrichteten, sondern es wurden auch schon bestehende Hilfsschulen zu Schulsystemen mit sechs aufsteigenden Klassen, ja sogar mit zwei oder mehr Klassenzügen und mit eigener Leitung ausgebaut.
Diese erneute sprunghafte Entwicklung hatte ihre Ursache in der Erkenntnis, daß sich die für die Hilfsschulen und ihre Schüler verausgabten Gelder auf lange Sicht rentierten. Die Erfahrungen einer Generation hatten gezeigt, daß das ursprüngliche Ziel der Hilfsschularbeit erreicht werden konnte. Es gelang tatsächlich, die Schüler der Hilfsschulen für das spätere Leben so weit vorzubereiten, daß sie zu einer einigermaßen selbständigen Lebensführung und zu einem bescheidenen, aber ausreichenden Broterwerb befähigt wurden. Das aber bedeutete, daß sie nach ihrer Schulentlassung nicht den Gemeinden zur Last fielen...
(3) Aber nicht der nüchtern und sachlich arbeitende Rechenstift bestimmte für die Dauer die Stellung der Städte zu dem Hilfsschulwesen, vielmehr tritt in einem immer stärkeren Maße das Gefühl des Verpflichtetseins und der Verantwortung für das geschädigte Kind in den Vordergrund, und das ist besonders seit 1945 der Beweggrund der Fortentwicklung.
Die Zeit nach 1933 und der Zweite Weltkrieg schlugen dem Hilfsschulwesen tiefe Wunden und bedrohten es sogar in seiner Existenz, da das Menschentum in den gehemmten Kindern einfach verneint wurde. Trotzdem aber konnte der Gedanke der Hilfe für die von der Natur nur kärglich bedachten Kinder nicht zerstört werden, und nach 1945 zeigte es sich, daß bei allen für das Schulwesen entscheidenden Stellen ein durch die Not und die Gefahren der vorausgegangenen Jahre sogar noch geschärftes Verantwortungsgefühl geblieben war. Es läßt sich sogar eine grundsätzlich andere Stellung zu den gehemmten Kindern feststellen. Man will nicht helfen, um dadurch vermeidbare Kosten für die Zukunft einzusparen, sondern man hilft um des Menschentums willen, das auch im schwachen und behinderten Kind erkannt und bejaht wird.
So trat schon bald nach 1945 trotz den vielartigen und lähmenden Schwierigkeiten ein überraschend schneller Aufbau des Zerstörten ein, und heute können wir mit Freude feststellen, daß – wenigstens der Zahl der Schulen nach – der Aufbau des Hilfsschulwesens den Vorkriegsstand wieder erreicht hat.
Natürlich konnten in den wenigen Jahren nach Kriegsende die Schäden und Zerstörungen nicht restlos beseitigt werden, und viel ist noch in den nächsten Jahren zu tun. Aber immerhin kann gesagt werden, daß wir ein gutes Stück vorwärts gekommen sind und daß sich das Tempo des inneren und äußeren Auf- und Ausbaues unseres Hilfsschulwesens beschleunigen wird, da jetzt die allgemeinen Voraussetzungen dazu gegeben sind...
(4) Dem beispiellosen Aufbau des Hilfsschulwesens in dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts muß jetzt ein Aufbau des gesamten heilpädagogischen Sonderschulwesens folgen.
Eigenartigerweise aber sind die anderen Schularten des heilpädagogischen Sonderschulwesens schon von Anfang an in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Auf die Gründe für diese sonderbare Erscheinung einzugehen, erübrigt sich an dieser Stelle. Es genügt hier, die Tatsache zu konstatieren, daß nur in wenigen Städten Sprachheilschulen und Schwerhörigenschulen bestehen und daß nur 4 oder 5 Städte eine Schule für sehbehinderte Kinder besitzen. Schulen für gemeinschaftsschwierige Kinder, also für Kinder, die unter den Sammelbegriff der Schwererziehbarkeit fallen, bestehen lediglich in Berlin. Ein erster Anfang mit dieser Einrichtung wird jetzt in Hannover gemacht.
Dieses offensichtliche Zurückstehen in der Entwicklung der soeben genannten Schularten des heilpädagogischen Sonderschulwesens wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, daß derartige Schulen in allen Großstädten und in den meisten Mittelstädten ohne weiteres eingerichtet werden können. Unter Zugrundelegung der heute verfügbaren Prozentzahlen ist anzunehmen, daß
erforderlich und möglich ist.
Aus dieser Zusammenstellung ergibt sich die Größe der vor uns liegenden Aufgabe.
(5) Der Aufbau des heilpädagogischen Sonderschulwesens ist die Aufgabe unserer Generation. Sie läßt sich nicht in einem Jahr erfüllen, doch muß jetzt ein Anfang gemacht werden.
Zehntausende von hilfsschulbedürftigen Kindern können heute noch keine Hilfsschule besuchen. Das gilt zwar im allgemeinen nur für die Kleinstädte und ländlichen Bezirke, aber leider sind auch in einigen Groß- und Mittelstädten noch nicht alle Kinder erfaßt, für die Unterricht und Erziehung in einer Hilfsschule erforderlich sind. Zehntausende von sprachkranken oder schwerhörigen Kindern müssen heute noch die normalen Volksschulen besuchen und finden dort nicht die Hilfe, auf die sie Anspruch haben.
Tausende von sehbehinderten Kindern führen heute noch – trotz bester Bemühungen ihrer Lehrer – ein trostloses Dasein in den Volksschulen und müssen kümmerlich und hoffnungslos versuchen, mit den vom Schicksal begünstigten normalsichtigen Mitschülern Schritt zu halten.
Zehntausende von gemeinschaftsschwierigen Kindern müssen auf die ihnen zustehende Hilfe verzichten und werden immer mehr in eine gemeinschaftsfeindliche Einstellung hinabgedrängt. Sie sind in ihrer charakterlichen Entwicklung gefährdet und bilden eine Bedrohung für ihre Mitschüler.
Natürlich ist es nicht möglich und in der Sache vielleicht auch falsch, von heute auf morgen die Errichtung sämtlicher für eine Stadt in der Endlösung erforderlichen heilpädagogischen Sonderschulen zu beschließen und durchzuführen. Eine rein verwaltungsmäßige Lösung ist zwar sofort und ohne große Schwierigkeiten möglich, doch bietet sie ihre Gefahren. Es kommt heute nur darauf an, daß die Aufgabe gesehen und daß ein Anfang gemacht wird. Die Entwicklung schreitet dann von selbst organisch fort. Vielleicht wird es ein Jahrzehnt dauern, bis die Aufgabe restlos gelöst ist. In dieser Zeit aber kann die auf Einzelgebieten noch fehlende Erfahrung gesammelt werden, und wir können in Ruhe und mit Sorgfalt die qualifizierten Lehrer suchen und ausbilden, die bereit und geeignet sind, die schwere Arbeit zu übernehmen und sie zum Erfolg zu führen...“ (Denkschrift 1955, 4, 5 – 6, 7 – 9).
Eine kritische Rückschau auf den Text der Denkschrift vermisst ein betontes Eingehen auf die Zeit des Nationalsozialismus, die lediglich gestreift wird und gegenüber der Gründungszeit im 19. Jahrhundert eher eine untergeordnete Rolle spielt. Dies entspricht verbreiteter Verdrängung und Tabuisierung von Verbrechen der Nazizeit, die eher wie ein leidiges Schicksal hingenommen werden. Nicht zum geringsten Teil hatte das damit zu tun, dass leitende Funktionäre selbst als sympathisierende Mitläufer oder sogar als beteiligte Akteure in die Taten des Dritten Reichs verstrickt waren. So verwundert es nicht, dass sie sich auf angeblich bewährte Fundamente unter Verschweigen der unmittelbaren Vergangenheit beriefen. Im Geleitwort der 1949/50 neu gegründeten Zeitschrift für Heilpädagogik (zunächst als „Heilpädagogische Blätter“) heißt es:
„Zeiten des Überganges und des Neuwerdens legen die Verpflichtung nahe, die Fundamente nachzuprüfen, auf denen man bisher baute. Wenn die Hilfsschulpädagogik heute daran geht, sich auf ihre ureigenste Aufgabe zu besinnen, so kann sie dabei nicht vorübergehen an dem, was war. Die deutsche Hilfsschulpädagogik hat eine gute Tradition gehabt bis 1932. Sie hatte als tragendes Fundament eine echte heilpädagogische Gesinnung und edelmenschliche Verpflichtung aus dem Wertereich des Religiösen, Karitativen, Humanen und Sozialen erkannt. Die ‚Heilpädagogischen Blätter‘ wollen das Gute und Bleibende in dieser Tradition pflegen“ (Lesemann/Dohrmann 1949/50, 5).
In der Person Gustav Lesemanns, des letzten Vorsitzenden des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands bis zu seiner Auflösung 1933, manifestiert sich die personelle Kontinuität von der Weimarer Republik über das Dritte Reich bis hinein in die Nachkriegszeit in eindrucksvoller Weise (Ellger-Rüttgardt 1988; 1998c, 68f.). Lesemann war von 1949 bis 1967 Schriftleiter der Zeitschrift für Heilpädagogik, dem publizistischen Organ des Verbandes Deutscher Sonderschulen. Der vds ernannte ihn 1959 zum Ehrenvorsitzenden, ein Amt, das er bis zu seinem Tode 1973 innehatte. Erst spät wurde Lesemanns Rolle während der Nazizeit öffentlich. Er hatte sich in mehreren Veröffentlichungen für die Zwangssterilisation von Sonderschülern ausgesprochen und schon 1932 für die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten eingesetzt. Der Bundesausschuss des vds distanzierte sich – nach zweijähriger kontroverser Debatte in den Landesverbänden – geräuschlos und vorsichtig von seinem ehemaligen Ehrenvorsitzenden (Zeitschrift für Heilpädagogik 1986, 714–715).
Lesemann selbst hat in seiner ausführlichen Autobiografie jegliche Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit vermieden und nur den „Schmelztiegel des Krieges“ und das „Scheidewasser der Kriegsgefangenschaft“ auf einer Seite erwähnt (1969, 128). Die Sonderpädagogik der Nachkriegszeit hat – wie zunächst nahezu die gesamte westdeutsche Pädagogik, im Gegensatz zur DDR – die historische Chance der Selbstprüfung versäumt.
Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) hat zwischen 1960 und 1994 drei regierungsamtliche Texte verfasst: Das „Gutachten zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (1960), die „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (1972) und die „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland“ (1994). Während sich die beiden ersten Veröffentlichungen auf das Gebiet der westdeutschen Bundesrepublik beziehen, gilt der letzte Empfehlungstext für das Gesamtgebiet Deutschlands.
Bei aller Kritik an den Beharrungstendenzen der KMK: die Empfehlungen in drei Jahrzehnten spiegeln getreu den tiefgreifenden Wandel von der Bestätigung traditioneller Organisationsformen über ihre allmähliche Ablösung bis hin zu fortschrittlichen Optionen wieder. Dabei dürfen die Einflussgrößen der Beratung in der KMK zu wechselnden Zeiten nicht übersehen werden. Maßgebend für die Redaktion war jeweils der Arbeitskreis Sonderschulen im Schulausschuss der KMK. Während das Gutachten 1960 in fast abgeschlossener Redaktion des Schulausschusses lediglich unter nachheriger Einholung von Stellungnahmen der Behindertenverbände zustande kam, verrät die Handschrift der Empfehlung von 1972 die Führungsrolle des Verbandes Deutscher Sonderschulen. Der Bundesvorsitzende des vds, Bruno Prändl, war die gestaltende Kraft des Arbeitskreises. Zugleich war er Ministerialrat im Kultusministerium von Baden-Württemberg. Dem Arbeitskreis gehörten weitere Landesvorsitzende des vds an. Die Publikation der Empfehlung erfolgte im Verlag der Zeitschrift für Heilpädagogik, und sie wurde als Beiheft 9 der Zeitschrift herausgegeben. Erst mit den Empfehlungen von 1994 dürfte wieder eine gewisse Unabhängigkeit der kultusministeriellen Bildungspolitik von den Professionsbestrebungen der Verbände erreicht worden sein.
Das Gutachten von 1960 hat zunächst den Zweck, die in den einzelnen Ländern auseinanderdriftenden, unterschiedlichen Entwicklungen zu koordinieren. Dazu werden die nunmehr 12 Sonderschultypen mit einer neuen Klassifikation versehen. Zwei Aspekte sind neu: es wird betont, dass die Sonderschulen nicht zu einer „ungesunden Absonderung“ von der Gemeinschaft führen dürften. Sodann erfolgt – erstmalig, immerhin 15 Jahre nach Kriegsende – eine Distanzierung von der Zeit des Nationalsozialismus, womit das deutsche Volk eine „geschichtliche Schuld abzutragen“ habe: