Der große Heilpädagoge Paul Moor fordert Erzieher und Lehrer auf, sich zuerst um ein Verstehen der Kinder in ihren problematischen Lern- und Lebenssituationen zu bemühen, bevor sie zur Tat schreiten und diese erziehen und fördern. Diesem Leitsatz fühlen sich die Autoren des vorliegenden Buches verpflichtet. Indem zunächst ein knapper Überblick über den aktuellen Erkenntnisstand zum Schreiben und Lesen, zum Erwerb der Schriftsprache und zur Legasthenie gegeben wird, soll beim Leser eine erste theoretische Wissensgrundlage entstehen, auf der die Besonderheiten, die Probleme und die Schwierigkeiten lese-rechtschreibschwacher Kinder besser nachvollziehbar sind. Als ein weiterer Zugang zum Verständnis legasthener Kinder und ihren individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen werden im zweiten Schritt entsprechende diagnostische Methoden und Vorgehensweisen angeboten. Auf diese Weise wird der Boden für ausführliche Erwägungen bezüglich praktischer Fördermöglichkeiten und deren gezielten Einsatzes bereitet und so kann dieses Buch auch für die Hand des Praktikers hilfreich werden.
Im ersten Kapitel dieses Buches geht es darum, wie die Prozesse des Lesens und Rechtschreibens beim geübten Leser und Schreiber vor sich gehen, mit welchen kognitiven Modellvorstellungen die Verarbeitung von Schrift beschrieben wird. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Erlernen der Schriftsprache, was – im Gegensatz zum mühelosen Erwerb der Lautsprache – für Kinder zumeist eine echte Herausforderung darstellt und deswegen einer gezielten Unterweisung bedarf. Schriftspracherwerbsmodelle und didaktische Modelle werden diskutiert. Die weiteren Kapitel des Buches setzen sich mit den Störungen des Schriftspracherwerbs auseinander, indem zunächst der Begriff der Legasthenie definiert und kritisch beleuchtet wird. Im Rahmen eines interaktiven Modells werden daran anschließend Verursachungsfaktoren beschrieben und in besonderer Weise auf neuropsychologische Entstehungsbedingungen eingegangen. Das Kapitel zu den Ursachen der Legasthenie schließt mit Erläuterungen zu präventiven Maßnahmen, die in engem Zusammenhang zu spezifischen und unspezifischen Vorläuferfertigkeiten stehen.
Kapitel sechs widmet sich der Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung, das heißt dem Bestreben, Kinder mit Problemen im Schriftspracherwerb in ihrer Not besser zu verstehen, um in der Folge dann Förderstrategien und Förderansätze zu entwickeln. Dabei wird zurückgegriffen auf Anamnese, Verhaltensbeobachtung, Analyse schulischer Leistungen (zum Beispiel durch Fehleranalysen) und selbstverständlich auch auf entsprechende psychometrische Verfahren.
In Kapitel sieben werden ausgewählte Förderkonzepte und Fördermaterialien beschrieben, die aufgrund ihrer nachgewiesenen Qualität aus der Fülle des kaum noch zu überblickenden Materialangebotes herausragen. Herausgegriffen werden deshalb evaluierte Programme zur Förderung des Lesens und Rechtschreibens sowie entsprechende Computerprogramme, die gängigen Benutzerstandards genügen und über eine solide theoretische Grundlage verfügen. Das Kapitel zur Förderung endet mit einer Bewertung aller erfassten Interventionsprogramme bezüglich ihrer Indikation, also ihren spezifischen, gezielten Einsatzmöglichkeiten im Förderprozess.
Erwin Breitenbach und Katharina Weiland
Zunächst soll es darum gehen, wie Lesen und Schreiben ablaufen, wie der Lese- und Rechtschreibprozess beim geübten Leser und Schreiber vor sich geht. Die meisten Modellvorstellungen zum Prozess der Verarbeitung von Schrift sind primär kognitive Modelle, die spezielle für die Schriftverarbeitung verantwortliche und miteinander interagierende kognitive Einheiten annehmen.
Die kognitive Psychologie und die empirische Leseforschung gehen davon aus, dass Lesen oder die Sprachrezeption im Allgemeinen keine passive Rezeption von Informationen ist, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit den jeweiligen Inhalten. Leseverständnis gelingt nur, wenn Wörter, Satzteile und Sätze auf Grundlage des vorhandenen individuellen Vorwissens interpretiert werden (Schneider, 2004).
Lesen ist ein Prozess, der auf Wort-, Satz- und Textebene stattfindet. Das Leseverständnis auf Wortebene wird von folgenden Faktoren beeinflusst:
Wird beim Herstellen von Wortbedeutungen der vorhandene Kontext berücksichtigt, bewegt sich der Leser im Grunde bereits auf der Satzebene. Ergänzend müssen jedoch auf dieser Ebene auch noch die grammatischen Strukturen berücksichtigt werden. Auf Textebene findet dann die satzübergreifende Integration einzelner Sätze zu umfassenden Bedeutungseinheiten sowie der Aufbau einer kohärenten Struktur der globalen Gesamtbedeutung eines Textes statt. Metakognitive Fähigkeiten wie etwa das schemageleitete Textverstehen spielen auf dieser Ebene eine besondere Rolle.
Der geübte Leser erkennt beim Lesen die Bedeutungen einzelner Wörter und liest somit im Wesentlichen Wort für Wort. Dieser Vorgang wird recht gut von der Zwei-Wege-Theorie oder Dual-Route-Theory (s. Abbildung 1) beschrieben, die zwei mögliche unterschiedliche Verarbeitungsmechanismen kennt: einen direkten lexikalischen und einen indirekten nicht-lexikalischen (Coltheart & Rastle, 1994).
Beim ersten Weg wird über das Schriftbild direkt ein Eintrag im mentalen Lexikon (orthographisches, phonematisches und semantisches Lexikon) aktiviert und das Wort ist somit unmittelbar zugänglich und verständlich. Gelingt dieser direkte Zugriff nicht, ist also ein Wort im Lexikon nicht vertreten, wird die indirekte Route gewählt. Dabei muss das entsprechende Wort über die Phonem-Graphem-Korrespondenz Buchstabe für Buchstabe erlesen werden.
Der Einfluss des Kontextes auf die Worterkennung ist bislang noch ungeklärt. Zwar gelingt es geübten Lesern mit Hilfe des Kontextes leichter, Vorhersagen über das nächste folgende Wort zu machen und Lesefehler zu korrigieren, aber sie greifen, glaubt man den vorliegenden Studien, wohl relativ selten auf diese Fähigkeit zurück. Als gesichert gilt, dass der Lesevorgang schon auf Wortebene nicht nur von basalen Verarbeitungsmechanismen oder Bottom-Up-Prozessen abhängt, sondern auch von Top-Down-Prozessen mitbestimmt wird.
Abb. 1: Zwei-Wege-Theorie oder Dual-Route-Theory des Lesens
Beim Verstehen eines Satzes müssen nicht nur einzelne Wörter einer Wortfolge erkannt werden, sondern diese müssen darüber hinaus auch noch miteinander in Beziehung gesetzt und in eine Gesamtstruktur integriert werden. Die dazu erforderliche Analyse der semantischen und syntaktischen Bezüge einzelner Satzteile kann mit Hilfe der Phrasenstrukturgrammatik recht gut beschrieben werden (s. Abbildung 2).
Da jeder Satz (S) aus mindestens einer Nominal- und Verbalphrase zusammengesetzt ist, kommt diesen beiden „Satzteilen“ eine besondere Bedeutung zu. Eine Nominalphrase (NP) besteht im Deutschen aus einem Nomen (N) sowie einem Artikel (Det) und einer beliebige Anzahl von Adjektiven (A), die dem Nomen vorangestellt werden.
Die Verbalphrase (VP) wird aus einem Verb (V) und gegebenenfalls aus einer weiteren Nominalphrase gebildet. Der Beispielsatz in Abbildung 2 besteht aus der Nominalphrase „Der flinke Junge“ und der Verbalphrase „wirft den Ball“.
Abb. 2: Syntaktische Struktur des Satzes „Der flinke Junge wirft den Ball.“
Weiterhin besitzt ein Satz immer eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur. Unter der Oberflächenstruktur wird die tatsächlich vorhandene Kombination von Wörtern verstanden und unter der Tiefenstruktur der syntaktische Überbau. Die beiden Sätze „Manche Menschen sind schwer zu verstehen“ und „Manche Menschen sind unfähig zu verstehen“ besitzen zwar die gleiche Oberflächenstruktur, aber eine unterschiedliche Tiefenstruktur. Bei den beiden Sätzen „Die Katze frisst die Maus“ und „Die Maus wird von der Katze gefressen“ ist es genau umgekehrt. Sie besitzen eine unterschiedliche Oberflächenstruktur, aber eine identische Tiefenstruktur (Christmann & Groeben, 1999; Richter & Christmann, 2002).
Die Analyse der Tiefenstruktur wird im sogenannten garden-path-Modell beschrieben, das im Wesentlichen aus zwei Prinzipien besteht: Nach dem „minimal-attachment-Prinzip“ wird die zu rekonstruierende Satzstruktur so gebildet, dass sie möglichst wenige Verzweigungen aufweist, und entsprechend dem „late-closure-Prinzip“ wird das gerade gelesene Wort nach Möglichkeit mit der zuletzt aktiven Phrase verbunden (Ferstl & Flores d’Arcais, 1999).
Über das Zusammenwirken von Syntax und Semantik bei der Interpretation von Sätzen existieren momentan zwei gegensätzliche Positionen. Die interaktionistische Syntaxtheorie geht davon aus, dass der semantische Kontext die syntaktische Analyse beeinflusst und somit syntaktische und semantische Prozesse parallel ablaufen. Die autonome Syntaxtheorie behauptet dagegen, die syntaktische Analyse gehe der semantischen zeitlich voraus (Christmann & Groeben, 1999).
Um einen Text zu verstehen, müssen die durch die Entschlüsselung der einzelnen Sätze gewonnenen Information satzübergreifend integriert werden. Zu diesem Zweck existieren in unserer Sprache Bindeglieder und Verweise zwischen einzelnen Sätzen, sogenannte Kohäsionsmittel (Christmann & Groeben, 1999), wie etwa Rück- und Vorverweise, Wortwiederholungen oder Wiederaufnahmen von ganzen Satzfolgen durch Pro-Formen (z.B. „dies“, „das“ oder „so“).
Mentale Modelle oder Situationsmodelle sind die momentan vorherrschenden theoretischen Konzepte zum Textverständnis. Gemäß dieser Theorien konstruiert der Leser beim Verarbeiten grundlegender Textaussagen ein mentales Modell, das den im Text beschriebenen Ereignissen und Situationen entspricht. Die neu aufgenommenen Informationen werden hierbei in bereits vorhandenes Vorwissen eingebettet. Können die neuen Informationen Vorwissen aktivieren, erleichtert das den Vorgang des Textverstehens (Artelt et al., 2001).
Diese beim Verstehen eines Textes sich entwickelnden mentalen Modelle müssen ständig auf ihre innere Kohärenz und ihre Übereinstimmung mit dem Gelesenen überprüft werden. Diese Überwachung des eigenen Textverständnisses ist eine wichtige metalinguistische Fähigkeit, mit deren Hilfe wir zum Beispiel Unstimmigkeiten oder logische Fehler in einem Text entdecken. Mentale Modelle versetzen uns auch in die Lage, zwischen oder hinter den Zeilen zu lesen (inferenzielles Lesen), also Informationen aus dem Text aufzunehmen, die nicht wortwörtlich im Text zu finden sind.
Wie das Lesen wird auch das Rechtschreiben mit einem Zwei-Wege-Modell beschrieben (s. Abbildung 3), das sich auf neuropsychologische Befunde von Patienten mit erworbenen Rechtschreibschwierigkeiten stützt. Auch hier steht einem direkten, lexikalischen Zugang ein indirekter, nichtlexikalischer über die Phonem-Graphem-Korrespondenz gegenüber. Allerdings geht die moderne Forschung nicht mehr davon aus, dass der Vorgang des Rechtschreibens lediglich als spiegelbildlicher Prozess des Lesens zu verstehen ist. Dagegen spricht zum Beispiel, dass Schreiben viel langsamer vonstatten geht und dass deswegen die Informationen über das Niederzuschreibende auch länger im Graphembuffer präsent gehalten werden müssen. Der wichtigste Unterschied ist jedoch darin zu sehen, dass die Graphem-Phonem-Korrespondenz beim Lesen viel regelmäßiger ist als die Phonem-Graphem-Korrespondenz beim Schreiben. Ein Laut kann im Allgemeinen durch mehrere unterschiedliche Zeichen in Schrift umgesetzt werden. Aus diesem Grund stellt sich die Frage nach dem Beitrag der beiden Zugangsmöglichkeiten hier viel eindringlicher. Insgesamt gesehen wird von vielen Autoren dem lexikalischen oder direkten Zugang der Vorrang gegenüber dem nichtlexikalischen eingeräumt, da diese Route selbst beim Schreiben von Pseudowörtern, wie beim Lesen, noch eine gewisse Rolle spielt. Dies spricht letztlich für eine relativ enge Interaktion zwischen den beiden Zugangswegen.
Abb. 3: Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens
Klicpera et al. (2007) weisen darauf hin, dass das Zwei-Wege-Modell nicht alle Rechtschreibprobleme ausreichend gut erklären kann und deshalb weitere Annahmen notwendig sind:
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit dem Erlernen der Schriftsprache, was im Gegensatz zur Lautsprache für Kinder zumeist eine echte Herausforderung darstellt. Die Aneignung der mündlichen Sprache verläuft bei Kindern in der Regel mühelos, wohingegen das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens einer gezielten Unterweisung bedarf. Aus diesem Grund wird das Schriftsprachentwicklungsmodell von Günther (1986, 1989) auch durch didaktische Modelle ergänzt.
Obwohl Lesen und Schreiben, wie bereits erwähnt, nicht als spiegelbildliche Prozesse verstanden werden können, hängen sie jedoch eng zusammen und ihr Erwerb wird deshalb von Frith (1985a) und Günther (1986, 1989) als ein sich wechselseitig beeinflussender Strategieerwerb in einem Interaktionsmodell beschrieben.
Günther (1986, 1989) beschreibt den Schriftspracherwerb, indem er sich auf das dreistufige Modell von Frith (1985a) bezieht, als fünfstufigen Prozess, bei dem die Verwendung unterschiedlicher Strategien zu beobachten ist. Die beiden Modalitäten Lesen (Rezeption) und Schreiben (Produktion) sind dabei die Träger der jeweiligen Erwerbsstrategien. In jeder der fünf Phasen wird abwechselnd zwischen diesen beiden Modalitäten eine neue Strategie verwendet, die den gesamten Prozess des Schriftspracherwerbs auf ein höheres Niveau bringt. Folgende, einen Strategiewechsel mit sich bringende Stufen, macht Günther (1986, 1989) aus (s. Abbildung 4):
Abb. 4: Darstellung der kritischen Phasen beim Entwicklungsprozess der Schriftsprache nach Günther (1986)
Auf der Produktionsseite gewinnt das Kind im handelnden Umgang mit Dingen und Menschen eine Fülle von Wissen über die Welt. Auf der Rezeptionsseite erkennt das Kind Gegenstände aus seiner Umgebung auch in Form bildlicher Darstellungen wieder. Über die bildliche Darstellung kommt es zu einem ersten Loslösen vom konkreten Gegenstand. Das Erkennen eines im Bild zweidimensional dargestellten Gegenstandes erfordert bereits ein gewisses Maß an Abstraktionsfähigkeit und einfaches Symbolverständnis. Daran anschließend werden auch auf der Produktionsseite erste Abstraktionen im eigenen Malen oder im Symbolspiel vorgenommen. Gegen Ende dieser ersten Phase beginnt das Kind, Schrift nachzuahmen, ohne sich der kommunikativen oder gedächtnisstützenden Funktion der Schrift bewusst zu sein.
Das Kind kann nun Schriftzeichen von anderen graphischen Darstellungen unterscheiden. Es erkennt einzelne Schriftzeichen oder Wörter, zum Beispiel den Anfangsbuchstaben seines Namens oder seinen gesamten Namen. Es bedient sich dabei einer rein visuellen Strategie. Hervorstechende, charakteristische Details der Buchstaben oder Wörter helfen ihm bei diesem visuellen Wiedererkennen. Auf der Produktionsseite benutzt das Kind diese logographemische Strategie, indem es sich diese visuellen Eindrücke einprägt und versucht, sie zu schreiben und somit selbst zu produzieren. Mit Hilfe dieser Strategie ist das Kind in der Lage, eine gehörige Anzahl von Wörtern zu lesen und zu schreiben. Die Ganzwortmethode im Erstunterricht macht sich dies zunutze. Beim Schreiben unterlaufen dem Kind jedoch immer wieder typische Fehler. Statt „Heike“ schreibt ein Mädchen zum Beispiel „Heke“. Die fehlerhafte Schreibweise ähnelt dem Wortbild des Originals sehr stark. Solche Verschreibungen zeigen dem Kind die Begrenztheit und die Unzulänglichkeit der visuellen Strategie. Um solche Fehler zu vermeiden und um viele Wörter schreiben zu können – später sogar solche, die man vorher nie gesehen hat –, muss die Strategie gewechselt werden. Strategiewechsel bedeutet jedoch nicht, dass die zunächst dominante Strategie gänzlich aufgegeben wird, sondern sie wird im Entwicklungsverlauf in die neue Strategie, die als Tätigkeit höherer Ordnung zu sehen ist, integriert.
Die alphabetische Strategie besteht im Kern aus der Lautanalyse des Gehörten und einer festen Phonem-Graphem-Korrespondenz. Kleine Lauteinheiten und ihre Position in komplexen Lautgebilden müssen wahrgenommen und mit einzelnen Lautzeichen fest verbunden werden. Alle Wörter, auch die unbekannten, können mit Hilfe der neuen Strategie lautgetreu geschrieben und erlesen werden. Auf der Rezeptionsseite, beim Lesen, zeigt jedoch die alphabetische Strategie auch ihre Unzulänglichkeit. Durch die strenge Konzentration auf die Analyse aller Einzelzeichen werden erlesene Wörter von Kindern manchmal klanglich so verfremdet, dass sich kein Bezug zu einem bekannten Wort herstellen lässt. In einem solchen Fall lässt sich der Sinn des Gelesenen nicht erfassen.
Die Ineffektivität der alphabetischen Strategie zeigt sich vor allem auf der Rezeptionsseite und zwingt deshalb auch an dieser Stelle zu einem erneuten Strategiewechsel. Mit der orthographischen Strategie ist das Kind nicht mehr auf die Analyse und Synthese einzelner Buchstaben angewiesen, sondern es beginnt, sich beim Lesen auf größere Einheiten (Silben, häufige Buchstabengruppen, Morpheme) zu konzentrieren. Auf der Produktionsseite werden mehr und mehr die Konventionen der deutschen Rechtschreibung, die Rechtschreibregeln, gelernt und beachtet. Mit dem Erwerb der orthographischen Strategie findet der Schriftspracherwerb im engeren Sinne seinen Abschluss.
Die integrativ-automatisierte Stufe stellt keine neue Strategie mehr dar, „sondern bezeichnet den schriftlichen Sprachgebrauch des kompetenten Lesers und Schreibers in einem autonomen und funktionsspezifischen Repräsentationssystem Sprache“ (Günther, 1986, S. 43).
Bei Haarmann (1993) lassen sich grundsätzlich zwei Vorgehensweisen im Erstunterricht finden, mit deren Hilfe man Kindern das Lesen und Schreiben lehrt:
Empirische Untersuchungen (Hanke, 1997; Brügelmann, 1998; Poerschke, 1999; Hanke et al., 2001; Einsiedler et al., 2000), die verschiedene didaktische Ansätze auf ihre Effektivität hin überprüfen und miteinander vergleichen, kommen zu dem Schluss, dass die unterschiedlichen Vorgehensweisen im Erstunterricht zu keinen signifikanten Leistungsunterschieden im Lernergebnis führen. Folgt man diesen Ergebnissen, kann festgehalten werden, dass sich die jeweilige Lehrmethode nicht alleine und im Wesentlichen für das Gelingen oder das Scheitern des Schriftspracherwerbs verantwortlich machen lässt.
Entscheidender als die verwendete Methode könnte sein, wie genau eine Lehrkraft den Erwerbsprozess ihrer Schüler verfolgt und kontrolliert, um beim Auftreten erster Schwierigkeiten sofort mit zusätzlichen Hilfen und unterstützenden Fördermaßnahmen eingreifen zu können. Diese Möglichkeit bietet dem Lehrer das didaktische Konzept von Möckel (1997). Darüber hinaus ist dieses Konzept (s. Kapitel 6.3.4) ebenfalls hilfreich bei der Analyse und Förderung, wenn bereits eine Lese-Rechtschreibschwäche vorliegt.
Die Vielzahl an Publikationen aus verschiedensten Sichtweisen auf das Thema Lese- und Schreibschwierigkeiten eröffnet eine Diskussion um Bezeichnungen und Bestimmungen, die Günther (2007) zusammenfassend als „Dilemma der Begriffe“ (S. 64) charakterisiert, Klicpera und Gasteiger-Klicpera (2007) sprechen gar von einem erschreckenden „babylonischen Sprachengewirr“ (S. 186). Neben dem in der Forschung traditionell verwendeten Terminus „Legasthenie“ steht heute als Synonym der Begriff „(umschriebene, spezifische) Lese-Rechtschreibstörung (LRS)“; hinzu kommen die allgemeineren Bezeichnungen „Lese-Rechtschreibschwierigkeiten“ bzw. „-schwäche“ und aus der englischsprachigen Literatur schließlich der Terminus „(Entwicklungs-)Dyslexie“. All diese Begriffe meinen vom Prinzip her das gleiche – gravierende Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und (Recht-)Schreibens –, jedoch unterscheiden sie sich in ihrem Bedeutungsgehalt hinsichtlich der angenommenen Ursachen und Spezifität. Im Folgenden wird zunächst die Diskrepanzdefinition der LRS erläutert, anschließend sollen die wichtigsten Kritikpunkte kurz zusammengefasst und das Erscheinungsbild der Legasthenie hinsichtlich ihrer Fehlertypologie dargestellt werden. Den Abschluss des Kapitels bildet der aktuelle Stand der Forschung zur Häufigkeit der LRS und ihrer Begleitstörungen.
Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10; deutsche Version vgl. Remschmidt et al., 2006) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) führt die Lese-Rechtschreibstörung im Kapitel V (Psychische und Verhaltensstörungen) in der Systematik F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten auf. Zu unterscheiden ist die Lese- und Rechtschreibstörung (F81.0) von der isolierten Rechtschreibstörung (F81.1). Im Rahmen der multiaxialen Klassifikation und Diagnostik ist die Lese-Rechtschreibstörung von klinisch-psychiatrischen Syndromen (z.B. Schulangst), von Lernstörungen aufgrund von Intelligenzminderung sowie aufgrund körperlicher und neurologischer Erkrankungen (z.B. [unkorrigierter] Sehbehinderung, Schwerhörigkeit) abzugrenzen und darf nicht außergewöhnlichen psychosozialen Umständen (z.B. unzureichender Beschulung) geschuldet sein (Plume & Warnke, 2007). Das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM-IV; deutsche Bearbeitung von Saß et al., 2003) der American Psychological Association (APA) führt zudem noch die Störung des schriftlichen Ausdrucks auf, die sich als Ausdrucksschwierigkeiten auf syntaktischer (Bilden grammatisch korrekter Sätze) und textstruktureller (Organisation von Textteilen) Ebene zeigen.
Hauptmerkmal der umschriebenen LRS sind Lese- und Schreibleistungen erheblich unter dem Niveau, das ausgehend vom Lebensalter des Betreffenden, dessen Intelligenz und Beschulungssituation zu erwarten wäre (Remschmidt et al., 2006). Die Diskrepanzdefinition umfasst also die Differenz zwischen der Leistung des Kindes in einem standardisierten Lese- und Rechtschreibtest und seiner Intelligenz und seinem Alter. Die Angaben zur Höhe dieser Diskrepanz schwanken allerdings, sie liegen etwa im Bereich von ein bis zwei Standardabweichungen. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) setzt folgende Kriterien zur Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung an (vgl. Warnke et al., 2002):