Autorenverzeichnis

Professor Dr. med. Manfred Wolfersdorf, Arzt für Psychiatrie – Psychotherapie –, Arzt für Psychosomatische Medizin; Leiter der Abteilung Depressionszentrum/Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin; Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Dr. med. Michael Schüler, Arzt für Psychiatrie und Neurologie – Psychotherapie –; Leitender Arzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie der Klink für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses Bayreuth, Stellvertretender Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Frau Dipl.-Psych. Angela LePair, Diplom-Psychogerontologin, Psychologische Psychotherapeutin; Psychologische Leiterin der Gerontopsychiatrischen Depressionsstation der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Dr. med. Christian Mauerer, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Leiter des Demenzzentrums mit Gedächtnisambulanz der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Wolfgang Bär, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Oberarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Frau Hella Schulte-Wefers, (ehemals) Stationsärztin der Gerontopsychiatrischen Depressionsstation, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Nordring 2, 95445 Bayreuth

Dr. med. Stefan Dipper, niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin – Psychotherapie – in eigener Praxis, Lohbauerstraße 6, 70597 Stuttgart

1 Einleitung – Alter und psychische Erkrankung

„For the first time in history most people in societies such as our own can plan on growing old ... Even those who are currently „old“ can expect to life for many years ....“: Eine fast enthusiastische Einleitung des amerikanischen Lehrbuches „Geriatric Psychiatry“ (2. Auflage) von Spar und La Rue (1997). Hintergrund dieser Anmerkung ist der drastische Wandel in der Altersstruktur, dem die Weltbevölkerung in einem bisher nicht gekannten Ausmaße unterliegt. So erwartet das Statistische Bundesamt (1998) in seinem Gesundheitsbericht für Deutschland eine mehr als 10 %ige Steigerung des Anteils der über 60-jährigen Menschen im Jahre 2010 auf 24,9 %. Damit erhält der Altersaufbau der Bevölkerung ein deutlich verändertes Gesicht und es entwickelt sich aus einer „Alterspyramide“ ein eher „pilzförmiges“ Verteilungsgebilde mit einem hohen Anteil älterer und alter Menschen. Nicht nur aus allgemeiner gesundheitspolitischer Sicht, sondern auch aus psychiatrisch-psychotherapeutischer kommt den höheren Altersgruppen damit steigende Bedeutung zu.

Soweit heute vom höheren Lebensalter die Rede ist, wird weitgehend von den über 65-Jährigen ausgegangen (Häfner 1991), obwohl diese Altersgrenze einigermaßen willkürlich gewählt ist und ihre Begründung darin findet, dass mit Ende des 65. Lebensjahres meist das Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben vorgegeben ist, damit soziologisch die Altersphase des menschlichen Lebenszyklus eingeleitet wird. Dabei wird zunehmend deutlich, dass auch dieser Lebensabschnitt sich in unterschiedliche Phasen teilen lässt, denkt man z. B. an die über 80-Jährigen als sog. Hochbetagte. Das biologische Altern und auch das psychologische Altern befinden sich bei vielen Menschen zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr dagegen in einem kontinuierlichen Prozess, woraus sich die Unschärfe der Zugehörigkeit mancher Erkrankungen zum mittleren und höheren Lebensalter ergibt. Weiterhin ist zu bedenken, dass alle Aussagen nur für die gegenwärtige Altenbevölkerung, nicht für die Vergangenheit oder die Zukunft gelten können, zumal die Zusammensetzung in den letzten 50 Jahren in den Industrienationen relativ und auch hinsichtlich der absoluten Zahlen steil zugenommen hat (Tabelle 1 und 2).

Diesen altersdemographischen Veränderungen stehen strukturelle gegenüber, die hier nur punktuell angeführt werden können, so die niedrigen Geburtenziffern, die in jüngeren Generationen veränderten Familienstrukturen, die Zunahme nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, von Single-Haushalten und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen. Dies würde sich z. B. auf die Forderung von häuslicher Pflege auswirken, die dann nur noch schwer erfüllbar wird und die Verfügbarkeit privater und eine verstärkte Notwendigkeit professioneller Hilfen bedingen würde. So fehlen wahrscheinlich auf längere Sicht Personen, die eine immer größer werdende Anzahl unterstützungs-, hilfs- und pflegebedürftiger älterer Menschen versorgen können.

Nach Angaben der „Gesundheitsberichtserstattung des Bundes“ (Kruse et al. 2002) sind derzeit 2,4 % von rund 82 Millionen

Tabelle 1: Altersstrukturelle Verschiebungen in der Bevölkerungsentwicklung Deutschlands

1950

1995

2010

Bevölkerung insgesamt in Tausend

69346

81817

83433

Alter in Jahren

in %

<1

1,5

0,9

0,8

1–4

5,3

4,0

3,2

5–14

16,4

11,2

9,1

15–19

7,3

5,4

5,4

20–39

26,4

30,7

24,6

40–59

28,6

26,7

31,9

60–79

13,6

17,0

20,4

80–89

1,0

3,6

4,0

>90

0,0

0,5

0,5

Quelle: StBA, Bevölkerungsstatistik, 8. koordinierte Vorausberechnung. Aus: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Gesundheitsbericht für Deutschland. Metzler-Poschel, Stuttgart 1998, S. 18, mod.

Tabelle 2: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

  • Bevölkerung 2001 (in 1000) (Stand 30.09.2001)

m

40 255

w

42 148

gesamt

82 403

  • nach Altersgruppen

Alter von ... bis unter ... Jahren

(Angaben in %)

unter

6–

15–

18–

21–

45–

65

Jahr

6

15

18

21

45

65

u. älter

1991

m

7,1

10,1

3,2

4,1

38,9

26,2

10,4

w

6,3

9,0

2,8

3,6

34,4

24,7

19,1

ges

6,7

9,5

3,0

3,8

36,6

25,4

14,9

1995

m

6,4

10,6

3,4

3,3

38,9

25,8

11,5

w

5,8

9,6

3,1

3,0

34,7

24,4

19,4

ges

6,1

10,1

3,3

3,1

36,7

25,1

15,6

2000

m

6,0

10,3

3,5

3,6

37,0

26,4

13,2

w

5,5

9,3

3,1

3,3

33,5

25,3

20,0

ges

5,7

9,8

3,3

3,5

35,2

25,9

16,6

nach BMG Statistisches Taschenbuch „Gesundheit 2002“ (Tabelle 1.1 – 1.3), Quelle StBA

Einwohnern in Deutschland, d. h. 18,4 Millionen Menschen, 60 Jahre und älter. Die mittlere Lebenserwartung der Frauen betrug im Jahre 1900 rund 48 Jahre, die der Männer rund 45 Jahre und stieg im Laufe des Jahrhunderts bis 1998 auf 80 Jahre für Frauen und 74 Jahre für Männer. Verantwortlich hierfür ist u. a. auch das Sinken der Sterblichkeit in den höheren Altersgruppen. Dabei nahm die Zahl der Hochaltrigen, d. h. der 80 Jahre und älteren Menschen, kontinuierlich zu und wird sich für das Jahr 2010 auf rund 4 Millionen und für das Jahr 2020 auf ca. 5,3 Millionen und damit von 3,5 % derzeit auf 6,6 % erhöhen. Die Altersstrukturverschiebung der Bevölkerung in Deutschland wird sich voraussichtlich auch in Zukunft weiter fortsetzen und dazu führen, dass der Bevölkerungsanteil junger Menschen in absehbarer Zukunft kleiner sein wird als jener der alten Menschen (Kruse et al. 2002).

Tabelle 3: Aspekte eines erweiterten Verständnisses von Gesundheit

Körperliche und seelische Erkrankungen

Körperliches und seelisches Wohlbefinden

Körperliche und geistige Leistungsfähigkeit

Erhaltene Aktivität im Sinne der Ausübung persönlich bedeutsamer Aufgaben

Selbstständigkeit im Alltag

Selbstverantwortung in der Alltagsgestaltung und Lebensplanung

Offenheit für neue Erfahrungen und Anregungen

Fähigkeit zur Aufrechterhaltung und Gründung tragfähiger sozialer Beziehungen

Fähigkeit zum reflektierten Umgang mit Belastungen und Konflikten

Fähigkeit zur psychischen Verarbeitung bleibender Einschränkungen und Verluste

Fähigkeit zur Kompensation bleibender Einschränkungen und Verluste

Quelle: Kruse 1999

Dabei gilt eine selbstständige, selbstverantwortliche und persönlich sinnerfüllte Lebensgestaltung als ein wesentliches Merkmal (Tabelle 3) der Gesundheit im Alter (zitiert nach Kruse et al. 2002). Wenn auch prozentual der Anteil psychisch kranker Menschen mit dem Alter steigt – 22 % der 65-Jährigen und der älteren Menschen gelten als krank (Tabelle 4) –, so ist doch festzuhalten, dass der Großteil, nämlich 77 %, der über 65-Jährigen als nicht krank oder unfallverletzt gilt. Auffällig ist dabei (Tabelle 5), dass der Anteil psychischer Erkrankungen zwar bei Männern und Frauen von 65–74 auf 75 und mehr Jahre jeweils um 60 bis 70 % ansteigt, psychische Krankheiten und die vollstationären Krankenhausbehandlungsfälle nach Häufigkeit eher im unteren Drittel rangieren. Nach Kruse et al. (2002) spricht dies einerseits für eine hohe psychische Widerstandsfähigkeit alter Menschen. Allerdings, so die Autoren, geht diese bei einer Kumulation von Beeinträchtigungen und bei einer gleichzeitigen Abnahme der physischen, kognitiven, sozialen und materiellen Ressourcen zurück, und es nimmt dann in Situationen deutlich verringerter körperlicher Widerstandsfähigkeit auch die Gefahr psychischer Störungen zu.

Geht man mit Dilling und Weyer (1984) sowie Fichter (1990) für einen ländlichen Raum von 23,1 % bzw. 19,7 % bei den 65–74-Jährigen und 28,1 % bei den über 75-Jährigen und für den städtischen Raum am Beispiel Mannheim (Cooper und Sosna 1983) von 24,4 % psychische Störungen in der 65 und mehr Jahre alten Bevölkerung aus, dann ist es naheliegend, dass sich aus dem Gesamtgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie das Teilgebiet herausschälte, das sich als „Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ für die psychischen Störungen bei älteren Menschen zuständig fühlt. Unter der Vorstellung, dass ein psychisch kranker alter Mensch zwar ein Erwachsener ist, für den psychische Konflikte, Triebbedürfnisse und psychodynamische Gesetzlichkeiten genauso gelten wie für einen Jüngeren, gleichzeitig aber die psychosozialen und biographischen Prägungen andere sind, der alte Mensch deutlich mehr mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert ist und er in dieser letzten Lebensphase einerseits Fertigkeiten und neue Formen des Erlebens und Handelns erwerben kann, andererseits aber auch neuen Belastungen und Krisen ausgesetzt ist, die er bewältigen muss, dann folgen daraus mehr oder minder spezifische und altersbezogene diagnostische, therapeutisch-rehabilitative und pflegerische Notwendigkeiten, die in einer zunehmenden Differenzierung von Gerontopsychiatrie und -psychotherapie im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich deutlich werden.

Tabelle 4: Gesundheitszustand der Bevölkerung in Deutschland

Alter in Jahren m/w gesamt

Bevölkerung mit Angaben über die Gesundheit

Kranke

Unfallverletzte

nicht krank/unfallverletzt

keine Angaben

Anzahl in 1000

%

%

%

%

unter

m

5 568

4,5

0,4

95,1

13,4

15 J

w

5 268

4,3

0,4

95,3

13,3

ges

10 836

4,4

0,4

95,2

13,4

15 –

m

12 192

5,4

1,1

93,5

14,1

40 J

w

11 626

5,8

0,5

93,7

13,9

ges

23 818

5,6

0,8

93,8

14,0

40 –

m

12 292

10,8

0,8

88,3

12,4

65 J

w

12 217

10,5

0,6

88,0

12,3

ges

24 509

10,7

0,7

88,6

12,3

65 u.

m

4 778

21,4

0,5

78,1

10,8

älter

w

7 414

22,4

1,0

76,7

12,9

ges

12 193

22,0

0,8

77,2

12,1

insgesamt

m

34 830

9,4

0,8

89,8

12,9

w

36 525

10,5

0,6

88,9

13,1

ges

71 355

10,0

0,7

89,3

13,0

Mikrozensus April 1999; nach BMG Statistisches Taschenbuch „Gesundheit 2002“ (Tabelle 3.1); Quelle StBA

In der Praxis war die „Psychiatrie des höheren Lebensalters, die Gerontopsychiatrie“ lange Zeit eine Psychiatrie der dementiellen Erkrankungen und ein Ort für vielfältig hilfs- und pflegebedürftige Menschen, auch unter dem Einfluss eines vorherrschenden Defizitmodells des Alters, in welchem überwiegend Verlust und Abbau gesehen wurden und der Mensch der nachlassenden Funktionsfähigkeit schicksalhaft ausgeliefert betrachtet wurde. Auch das „Disuse“-Modell, wonach Funktionen zwar nicht altersbedingt abgebaut, sondern durch mangelnden Gebrauch nicht mehr nutzbar werden, war nicht befriedigend.

Tabelle 5: Anzahl vollstationärer Krankenhausbehandlungsfälle 1998, pro 100 000 der Bevölkerung nach Krankheitsklassen, Altersgruppen und Geschlecht

ICD9

65–74
Männer

75+
Männer

65–74
Frauen

75+
Frauen

001–139

Infektiöse und parasitäre Krankheiten

380

640

340

616

140–239

Neubildung

7 714

7 986

5 174

4 573

240–279

Endokrinopathien, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten sowei Störungen im Immunsystem

971

1 296

1 427

1 932

280–289

Krankheiten des Blutes und der blutbildenen Organe

245

645

240

634

290–319

Psychische Krankheiten

699

1 218

844

1 413

320–389

Krankheiten des Nervensystems und der Sinnesorgane

2 316

4 214

2 487

4 487

390–459

Krankheiten des Kreislaufsystems

13 117

18 320

7 885

14 245

460–519

Krankheiten der Atmungsorgane

2 276

4 515

1 116

2 341

520–579

Krankheiten der Verdauungsorgane

3 769

5 198

2 716

4 117

580–629

Krankheiten der Harn- und Geschlechtsorgane

2 452

3 560

1 832

1 809

680–709

Krankheiten der Haut und des Unterhautzellgewebes

376

534

317

532

710–739

Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes

2 304

2 110

3 280

2 818

780–799

Symptome und schlecht bezeichnete Zustände

1 443

2 361

997

2 067

800–999

Verletzungen und Vergiftungen

1 876

3 467

2 541

6 143

Quelle: Stat. Bundesamt, Krankenhausdiagnosestatistik

Erst das z. B. von Kruse (1989) formulierte „Kompetenzmodell“ richtete den Blick auf das, was ein alter Mensch kann und nicht wie früher auf Art und Anzahl seiner Defizite. „Dieses Kompetenzmodell ist weit mehr als der Vergleich zwischen halb vollem oder halb leerem Glas“, so Schüler (1998): Es ist eine ressourcenorientierte Denkweise.

Beim alten Menschen sind die Übergänge zwischen gesund und krank häufig fließend, leichte psychische Auffälligkeiten wie Vergesslichkeiten in Einzelbereichen sind nicht immer gleich krankhaft. Soll z. B. das Ausmaß von Hirnleistungsstörungen eines alten Menschen festgestellt werden, so muss zu deren Beurteilung der frühere Intelligenzstand, die berufliche Einbettung und Herkunft, die aktuelle Lebenssituation einfließen, um nicht ein falsches Bild von den aktuellen kognitiven Fähigkeiten zu erhalten. Dies kann von erheblicher Bedeutung hinsichtlich der Entscheidung werden, welche Unterstützung, Behandlung oder Pflege einem kranken alten Menschen angeboten wird, nämlich ressourcenorientiert und nicht defizitorientiert. Die Beschäftigung der Psychiatrie mit den Erkrankungen des höheren Lebensalters reicht nach Häfner (1991) bis in den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück; so seien damals die senile Demenz von Esquirol oder die Depression im höheren Lebensalter von Griesinger bereits beschrieben worden. Heute hat sich die Gerontopsychiatrie von einer Psychiatrie der Demenzen und der Pflegebedürftigkeit entwickelt hin zu einer „Psychiatrie und Psychotherapie des höheren Lebensalters“, wobei naturgemäß die Diagnostik und Behandlung dementieller Erkrankungen als einer dem ausgehenden mittleren und dem höheren Lebensalter zugewiesenen Erkrankung einen breiteren Raum einnimmt als beispielsweise die Behandlung schizophrener oder süchtiger Störungen, deren Ersterkrankungsalter überwiegend im frühen Erwachsenenalter anzusiedeln ist.

Gegenstand der Psychiatrie und Psychotherapie des höheren Lebensalters sind also psychische Erkrankungen – deren Erscheinungsbild, Verlauf, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation sowie Ausgang -, die in dieser Lebensphase verstärkt auftreten. Die Forschung sucht dabei nach den Ursachen dieser psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter, nach den auslösenden Faktoren im biologischen, sozialen, lebensgeschichtlich-biographischen Bereich, nach Möglichkeiten der Therapie, der primären Prävention sowie der sekundär- und tertiärpräventiven Erkrankungs- und Wiedererkrankungsverhütung.

Schwerpunkt aller präventiven sowie therapeutisch-pflegerischen und -rehabilitativen Bemühungen müssen dabei die Gemeindenähe und der möglichst lange Erhalt der häuslichen Umgebung, ein weitgehend selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung und die gegebenenfalls in der eigenen Familie gesicherte Lebensqualität des alten Menschen sein. Hierzu bedarf es der engen Zusammenarbeit aller Beteiligten wie Hausarzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie/Nervenarzt, Sozialstation sowie Gemeindeschwester, ambulanter psychiatrischer bzw. gerontopsychiatrischer Pflege, des Sozialpsychiatrischen Dienstes, der Gerontopsychiatrischen Institutsambulanzen der Fachkrankenhäuser und Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie, der Gesundheitsämter, sowie teilstationärer und stationärer Angebote in Form gerontopsychiatrisch-psychotherapeutischer Tagesstätten, Tageskliniken, Abteilungen und Stationen in Klink für Psychiatrie und Psychotherapie. Auch in der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie gelten die Grundprinzipien der Psychiatrie-Enquete sowie der Psychiatrie-Landespläne „ambulant vor stationär“ sowie „Gemeindenähe“.

Innerhalb des vollstationären gerontopsychiatrischen und -psychotherapeutischen Feldes zeichnet sich heute eine Tendenz zu differenzierten Behandlungsangeboten ab, die störungsspezifisch ausgerichtet sind. So weisen größere Abteilungen für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie zunehmend Diagnostik- und Behandlungsschwerpunkte, auch als stationäre Struktur angelegt, z. B. im Bereich der depressiven Erkrankungen des höheren Lebensalters (s. später Darstellung eines stationären Behandlungskonzeptes für alte depressiv kranke Menschen) mit ihrer spezifischen Problemstellung auf. Sodann entstehen (bzw. sind entstanden) beschützende Stationen für die Diagnostik und Differentialdiagnostik und vor allem für die Behandlung von Menschen mit mittelgradigen und schweren dementiellen Störungen, wobei hier z. B. eine entsprechende Gerontopsychiatrische Ambulanz (Gedächtnisambulanz, sog. Memory-Clinic) oder auch tagesklinische Angebote vorgestellt werden. Weitere neuere Entwicklungen in der klinischen Gerontopsychiatrie und -psychotherapie sind suchtspezifische Ansätze für alte Menschen. Voraussetzung für solche „innere Differenzierung“, wie sie von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde oder auch von der Bundesdirektorenkonferenz seit Jahren besprochen und in vielen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Deutschlands umgesetzt wird, sind eine ausreichende räumliche und personelle Ausstattung sowie eine entsprechend hohe Einweisungsrate alter psychisch kranker Menschen. Des Weiteren sollten solche differentiellen Angebote neben dem hochspezialisierten stationären Konzept immer auch teilstationäre und ambulante Angebote vorhalten sowie eine enge Verzahnung mit den Einrichtungen der Altenfürsorge der jeweiligen Gemeinde. Voraussetzungen hierfür müssen im Rahmen der Weiterbildung in der Allgemeinmedizin und der Inneren Medizin, in der Psychiatrie und Psychotherapie geschaffen werden, ähnlich der Qualifikation „psychosomatische Grundversorgung“ oder auch als Bestandteil der Psychotherapie-Fort- und -Weiterbildung in Psychiatrie und Psychotherapeutischer Medizin.

Absicht dieser bewusst breiter gehaltenen Einführung zum Thema psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter ist es, über die nachfolgend zu diskutierende depressive Störung im höheren Alter hinaus für Fragen der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie zu sensibilisieren, zu motivieren und auch über aktuelle klinische Entwicklungen zu informieren.

2 Gedanken zum Altern – Was bedeutet „höheres Alter“?

Der überwiegende Teil der Gesellschaft definiert Jugendlichkeit als erklärtes Ideal. So scheint es angebracht, einem Buch über „Depressionen im Alter“ einige Anmerkungen zum höheren Lebensalter selbst voranzustellen.

Das „Altern“ ist ein individueller Prozess, bei dem es ausgeprägte interindividuelle Unterschiede gibt. Altern ist nicht nur ein persönliches, individuell unterscheidbares, sondern auch ein durch die Gesellschaft bestimmtes Geschehen. Die Gesellschaft definiert, willkürlich durch die Beendigung der Berufstätigkeit, bestimmte Altersgrenzen, und sie präsentiert Bilder vom Alter, die auf das Selbstbild alternder Menschen Einfluss ausüben, auch die Einstellung jüngerer Menschen gegenüber älteren und gegenüber dem Alter selbst mitbestimmen. Die Gesellschaft ordnet demnach älteren Menschen und „dem Alter“ bestimmte Rollen und soziale Funktionen zu, und sie definiert auch die Leitbilder eines „guten Lebens im Alter“ und eines „erfolgreichen Alterns“.

In Deutschland gilt das Ausscheiden aus dem Berufsleben als die Grenze, ab der „das Alter“ eines Menschen beginnt. Für Männer ist diese soziale Definition des Alters relativ eindeutig, für Frauen weitaus weniger. Biologisch wie psychologisch gesehen ist eine solche Festlegung problematisch, da zahlreiche soziokulturelle und politisch-ökonomische Faktoren Einfluss nehmen: So liegt derzeit das Renteneintrittsalter in Japan bei 55 Jahren, in Norwegen bei 68 Jahren. Damit ist ein großer Graubereich eröffnet.

Dennoch hat sich für den Begriff des „dritten Lebensalters“ ein Zeitraum zwischen 65 und 79 Jahren („die jungen Alten“) eingebürgert, das „4. Lebensalter“ umschreibt dann die Altersspanne der hochbetagten Menschen jenseits des 80. Lebensjahres („die Alten“).

Über die gesamte Lebenszeit gilt aber, dass Alter immer eine Relation zu einer anderen Person bedeutet: zwischen 5- und 12-Jährigen genauso wie zwischen 75- und 90-Jährigen, wobei typischerweise der 5-Jährige sich als „schon 5 Jahre alt“ betrachtet, der 75-Jährige sich als „erst 75“. Damit werden dem jeweiligen Alter zunehmend positive oder negative Wertigkeiten beigemessen, wie sie in dem Begriff „alt“ an sich schon immer steckten, im gegensätzlichen Sinne von „kostbar“ einerseits und „Wrack“ andererseits.

So gibt es den hochangesehenen Senator oder „Old Shatterhand“ als Helden, auf der anderen Seite sieht man „alt aus“ oder ist ein „alter Hut“. Viele Menschen freuen sich an „Oldtimern“, aber kaum jemand möchte ständig mit einem alten Auto herumfahren. Früher waren alte Menschen selten, einzigartig wie eine Antiquität: Im Dorf gab es einen Alten, nicht 50. So mag die in den letzten 100 Jahren nahezu verdoppelte Lebenserwartung mit dazu beigetragen haben, dass sich die Sichtweise vom Alter immer weiter verdüstert hat und der Jugend kulthaft gehuldigt wird: „Als ich jung war, dachte ich, es gibt nur wenige Alte, Weise; heute weiß ich, es gibt sehr viele Senioren“ (Radebold 1992).

Diese Aussage steht stellvertretend für die tiefgreifenden Strukturveränderungen, die allgemein als „demographischer Wandel“ bezeichnet werden:

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich in Deutschland die Lebenserwartung fast verdoppelt. Im Jahr 1900 waren weniger als 5 % aller Menschen in Deutschland über 65 Jahre alt, heute sind es 20 % und im Jahr 2030 werden es ca. 35 % sein. Der Altersaufbau der Bevölkerung verändert sich strukturell erheblich. Die ältere Bevölkerung wächst schneller als die Gesamtbevölkerung, die Zahl junger Menschen nimmt relativ gesehen immer weiter ab, während die Zahl der alten Menschen relativ und absolut stetig zunimmt. Die Wachstumsrate der über 65-jährigen Menschen liegt pro Jahr bei 2,2 %. Insbesondere der Anteil der hoch- und höchstbetagten Menschen nimmt überproportional zu: Während 1970 nur 1,53 Millionen Menschen 80 Jahre und älter waren, beträgt diese Bevölkerungsgruppe 1997 bereits 3,1 Millionen Menschen; im Jahre 1987 gab es 2107 über 100-Jährige, 1994 waren es bereits 4605 Menschen in Deutschland.

Vor allem aufgrund der Männerverluste in den Weltkriegen ist in Deutschland der Anteil der Frauen unter den alten Menschen mit 63 % besonders hoch („Feminisierung der alten Bevölkerung“). Bei den über 65-Jährigen beträgt das Verhältnis Frauen zu Männern 200 zu 100, bei den über 80-Jährigen kommen auf 100 Männer dann 300 Frauen.

Von den Frauen über 70 Jahre ist fast die Hälfte verwitwet („Singularisierung“). Bei den Männern dieser Altersgruppe liegt der Anteil der Witwer mit 15 % erheblich niedriger und der Anteil der noch Verheirateten mit 80 % sehr hoch.

Der zwar schwankende, aber insgesamt zunehmende Rückgang der Kinderzahlen seit über 100 Jahren weist auf grundlegende soziale und familiäre Veränderungen hin, die mit „familiärer Strukturwandel“ sowie „Singularisierung“ beschrieben werden. Die Geburtenrate ist in den letzten 50 Jahren stetig gesunken: Während 1950 eine Frau im Durchschnitt 2,25 Kinder gebar, lag diese Zahl 1995 bei 1,42 (Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ Bonn 1994).

Wenn man berücksichtigt, dass die Bevölkerung erst ab einer Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Familie konstant bleibt, führt diese Entwicklung zu einem kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang.

„Alle Menschen wollen immer älter werden, aber niemand möchte wirklich alt sein“ und „Älter werden nur die anderen“: „Alter“ ist trotz (oder wegen?) der immer länger werdenden Lebenserwartung etwas geworden, das die Menschen gerne vor sich herschieben und viel eher an anderen beobachten, für sich selber aber „vorläufig noch nicht“ wünschen. Die genannten Zitate aus dem Volksmund sprechen für sich. Das eigene Altern wird von vielen abgewehrt, auf später verschoben und verdrängt. Es gibt wohl kaum einen der klassischen Abwehrmechanismen, der nicht mehr oder weniger erfolgreich auf die Erkenntnis bzw. die Vermeidung der Erkenntnis des persönlichen Alterns angewendet wird.

Das lange Zeit vorherrschende Defizitmodell des Alterns tat ein Übriges, es sah überwiegend Abbau und Involution und setzte den Alterungsprozess gleich mit Verlust, Leid und Regression. Dies rief in der Gesellschaft vielfach Gefühle von Verleugnung, Hilflosigkeit, Angst vor Passivität, vor Verlust von Autonomie, vor Erkrankung und Siechtum sowie Todesfurcht hervor. Prof. Gruhle, Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Heidelberg bis 1952 und Schüler des Altmeisters Kraepelin, bezeichnete das psychische Altern als „eine pathologische Variante der Norm menschlichen Verhaltens“ (Gruhle 1938), als einen Prozess des Abstiegs und des Verlustes der Fähigkeit zu sozialen Kontakten. Er zeichnete das Bild des hilflosen, vergesslichen und einsamen alten Menschen. Demnach wäre der Mensch schicksalhaft in allen Bereichen einer nachlassenden Funktionsfähigkeit ausgeliefert. Die Möglichkeit bzw. Fähigkeit zu einer Weiterentwicklung wurde damals (noch) nicht gesehen.

Erst die Einführung des Kompetenzmodells des Alterns durch Altersforscher wie Baltes (1989), Kruse (1990) oder Frau Lehr und Mitarbeiter (1987) sowie die Weiterentwicklung dieses Modells konnten deutlich machen, dass das menschliche Altern nicht primär Abbau, sondern Umbau darstellt mit intensiven psychischen, somatischen und sozialen Wechselwirkungen. Dies scheint anzuknüpfen an eine Äußerung der Gebrüder Grimm, die schon 1866 unter Hinweis auf die vielen vollendeten Spätwerke von Künstlern und Gelehrten mitgeteilt hatten, dass das Alter „nicht bloß ein Niederfall der Virilität, sondern eine ganz eigene Macht“ sei (Gebrüder Grimm 1866).

So kann Altern heute in Anlehnung an ein Leitlinienpapier der „Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (DGGPP 1996) als Schicksal betrachtet werden, dem sich kein Mensch entziehen kann. Dieses Schicksal vollzieht sich individuell vor einem biographischen Hintergrund auf biologischem, sozialem, ökonomischem wie geschichtlichem Gebiet. Alter bzw. Altern bedeutet nichts Statisches, es ist ein mehrdimensionaler dynamischer Prozess in der Zeit, wobei sich wiederum (siehe oben) mehrere voneinander abgrenzbare Lebensphasen beobachten lassen. In jedem dieser Abschnitte stehen jeweils sehr unterschiedliche Aufgaben für den einzelnen Menschen zur Bewältigung an. Die somatischen, psychischen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten schwanken zwischen den einzelnen alten Menschen, insbesondere wenn mit Sterben und Tod konfrontiert wird und hierauf jeder seine eigene Antwort finden muss.

In der Konsequenz gelten auch für einen alten Menschen die gleichen psychodynamischen Gesetzmäßigkeiten, Triebbedürfnisse und innerseelischen Konflikte wie für einen jüngeren Menschen. Gleichzeitig ist er ein von seiner körperlichen, psychischen und sozialen Vergangenheit, seiner biographischen Gewordenheit und seiner spirituellen Einbettung sowie seiner kulturellen Umwelt geprägter Mensch, der nun mit seiner eigenen Endgültigkeit konfrontiert wird und die damit einhergehenden neuen Fragestellungen, Anforderungen und auch Belastungen bewältigen muss.

Bezogen auf die Thematik dieses Buches „Depression im Alter“ lassen sich vor dem Hintergrund obiger Überlegungen folgende Thesen aufstellen:

  1. Jeder Mensch altert anders.
  2. Es gibt nicht „das höhere Alter“.
  3. Altsein bedeutet nicht Kranksein.
  4. Kein Alter prädisponiert für Depressionen.

3 Depressionen im Alter

Nach diesem Exkurs zur Frage, was denn „höheres Alter“ für das Individuum bedeutet, soll nun nachfolgend auf epidemiologische Aspekte, das klinische Bild sowie auf psychologische und soziokulturelle Aspekte der Depression eingegangen werden.

3.1 Zur Epidemiologie depressiver Störungen im Alter

Neben einer dementiellen Erkrankung sind depressive Störungen die häufigsten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter. Sie stellen ernst zu nehmende Zustandsbilder dar und werden sowohl von der Diagnostik als auch von der Tragweite her, z. B. hinsichtlich Komplizierung medizinischer Erkrankungen oder auch hinsichtlich Suizidmortalität, häufig nicht richtig erkannt (Kasper 1995).

Die amerikanischen ECA-Studien (Regier et al. 1993, Spar and LaRue 1997) zeigen eine 1-Monatsprävalenz von 2,5 % bei den befragten 65 Jahre alten und älteren Menschen, dagegen von 6,4 % bei den Personen mittleren Lebensalters. Die von Nelson (2001) zitierten Daten zur Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen bei älteren Menschen auf der Basis der ECA-Studien sind in Tabelle 6 zusammengefasst. Überraschenderweise finden sich hier niedrigere Angaben als bei Menschen im mittleren Lebensalter mit einer Prävalenz von 1–2 % (Kasper 1995). Depressive Symptome jedoch, ohne Erfüllung der Kriterien einer typischen depressiven Episode nach ICD-10 oder DSM-IV, werden mit 8–15 % bei den über 65-Jährigen sehr viel häufiger angegeben (Kasper 1995). Dabei soll die Prävalenzrate von depressiven Syndromen bei älteren Patienten, die wegen einer medizinischen Erkrankung hospitalisiert sind, bis zu 40 % der untersuchten Populationen reichen.

Tabelle 6: Lebenszeitprävalenz affektiver Störungen bei älteren Menschen nach ECA-Studien

gesamt

ältere Menschen

  • typische depressive Episode (major depression)

5,3 %

1,35 %

  • Dysthymia

3,9 %

1,56 %

  • Manie

0,9 %

0,03 %

nach Robins et al. (1984) und zitiert nach Nelson JC: Diagnosis and treatment of depression in the older patient. APA 154th Annual Meeting, 06. Mai 2001 New Orleans, USA

Tabelle 7: Psychische Erkrankungen im Alter: ausgewählte Ergebnisse der Berliner Altersstudie (BASE, Helmchen et al. 1996) bei den 70-jährigen und älteren Berlinern (1990–93)

Bezeichnung (nach DSM-III-R)

Häufigkeit Diagnosen

subdiagnostisch (n) % NNB

Symptomebene % (n)

%

(n)

Depressive Symptomatik

gesamt

9,1

(48)

17,8 (85)

5,2 (24)

Major Depression

4,8

(23)

Dysthymie

2,0

(11)

Anpassungsstörung

0,7

(5)

Demenz mit Depression

1,0

(6)

Angstsymptomatik
gesamt

1,9

(8)

2,5 (9)

6,0 (17)

Organisch bedingte psychische Symptomatik, kognitiv

Demenz

13,9

(109)

nicht def.

2,8 (20)

Psychische Symptomatik durch psychotrope Substanzen

gesamt

2,0 (9)

Alkohol

1,1

(9)

Medikamente

0,7

(3)

Schizophrenie und paranoide Symptomatik

Schizophrenie,

0,2

(1)

residual, chronisch

wahnhafte Störung

0,5

(2)

gesamt

mindestens 1

mindestens

Symptome

spezifizierte

eine NNB-

Diagnose

Diagnose

23,5

(166)

16,9 (72)

16,0 (74)

Die Diskussion, ob es sich bei den niedrigen ECA-Daten um eine Unterschätzung handle, wurde ausführlich in der Literatur geführt (z. B. Blazer 1991, Baldwin 1997, Gurland und Cross 1982, Henderson et al. 1993, Henderson 1995, Kanowski 1994, Welz 1994, Weyerer et al. 1995, Wolfersdorf 1997, 1999, Wolfersdorf et al. 2001). Die in der BASE-Studie gefundenen Ergebnisse (Tabelle 7) erreichen bei der Häufigkeit einer typischen Depression einschließlich einer Dysthymie insgesamt 6,8 %, ohne Hinzurechnung der depressiven Anpassungsstörung, was im Bereich der behandlungsbedürftigen depressiven Erkrankungen im mittleren Lebensalters liegt (Maier et al. 1996, Wittchen et al. 2000). Hinzu kommt der hohe Anteil von subsyndromaler, nicht näher benennbarer depressiver Symptomatik von insgesamt 17,8 % bei den über 70-jährigen und älteren Berlinern (Helmchen et al. 1996).

Einige Studien zur Prävalenz von Depressionen im Alter seien noch kurz angeführt. Aus dem amerikanischen Raum stammt die Studie von Steffens et al. (2000) im Cache County Utah, USA, in der 4559 Personen, nicht dement, 65–100 Jahre alt, mit Hilfe des Diagnostic Interview Schedule 1995/96 untersucht wurden: Die Punktprävalenz für eine Major Depression bei den Männern lag bei 2,7 %, bei den Frauen bei 4,4 % und war über sämtliche untersuchten Jahrgänge in gleicher Höhe unverändert. Alle anderen depressiven Syndrome (Dysthymia, subklinische depressive Syndrome) erreichten eine kombinierte Punktprävalenz von 1,6 %. Die Lebenszeitprävalenz für die Major Depression lag bei den Männern bei 9,6 % und bei den Frauen bei 20,4 % und nahm mit dem Alter ab. Nur 37,5 % nahmen bei vorliegender Major Depression Antidepressiva, meist SSRI, ein; 27,4 % erhielten Sedativa bzw. Hypnotika.

In der Duderstadt-Studie von Welz (1994) fand sich bei den alten Menschen ein Anteil von 27,4 % mit der Diagnose einer Depression.

Schulze-Mönking und Hornung (1998) untersuchten depressive Störungen bei Altenheimbewohnern, ausgehend von Daten von Philipps und Henderson (1991) bzw. Weyerer et al. (1995), die von 34–38 % sprachen. 185 Altenheimbewohner, ausgesucht nach einer Zufallsauswahl aus 16 Altenheimen, wurden untersucht: 56 % zeigten dementielle Syndrome, 26 % waren depressiv erkrankt. In der Altersgruppe 65–79 Jahre lag der Anteil depressiver Störungen bei 24 %, bei den über 80-Jährigen bei 37 %. Altenheimbewohner mit einer Wohndauer im Heim unter 2 Jahren waren zu 30 % depressiv, von der Gruppe mit Wohndauer im Altenheim 2 Jahre und länger waren 36 % depressiv. Der Anteil bei den Frauen betrug 35 %, bei den Männern 27 %. Nur ca. 20 % aller depressiv Kranken waren jemals von einem Psychiater gesehen worden. Von den depressiven Patienten erhielten 19 % Neuroleptika, 11 % Antidepressiva, 17 % Tranquilizer, weitere 17 % Hypnotika.

Wancata et al. (2000) untersuchten die Prävalenz seelischer Erkrankungen unter älteren Patienten auf internistischen und chirurgischen Stationen von Allgemeinkrankenhäusern und fanden insgesamt 2,9 % mit der Diagnose einer Major Depression, 7,0 % mit einer Minor Depression und 2,0 % mit Angststörungen.

Tabelle 8: Prävalenz depressiver Episoden (major depression) bei alten Menschen nach Umfeld

Prävalenz

  • in der Gemeinde

< 3 %

  • in Pflegeheimen

9 – 38 %

  • in ambulanten und stationären medizinischen Behandlungssettings

10 – 42 %

nach Nelson JC: Treatment of major depression. In: Nelson JC (ed): Geriatric Psychopharmacology. Marcel Dekker, New York 1998

Vor diesem Hintergrund sind die von Nelson (1998) angegebenen Zahlen zur Punktprävalenz depressiver Episoden bei alten Menschen nach Umfeld (Tabelle 8) zumindest bzgl. der Angabe von bis zu 3 % in der Gemeinde kritisch zu betrachten, und es treffen eher die von Adam (1998) errechneten durchschnittlichen Punktprävalenzen (Tabelle 9) zu.

Tabelle 9: Depression bei älteren Menschen (> 60 Jahre und älter) berechnete durchschnittliche Punktprävalenz nach Adam, 1998 auf der Basis vorliegender Studien seit ca. 1950

Punktprävalenz %

gesamt

Männer

Frauen

  • depressive Störung

16,0

17,5

9,5

  • affektive Psychosen

5,7

3,7

1,7

  • Major depression

1,6

2,2

1,3

  • Depression bei bipolarer Störung

1,6

4,1

1,0

  • Neurotische Depression

7,6

8,0

3,8

  • Persönlichkeitsstörungen (zyklothym, depressiv)

3,2

4,9

6,8

aus Adam Chr.: Depressive Störungen im Alter. Epidemiologie und soziale Bedingungen. Juventa, Weinheim München 1998, S. 76, 68

Ernst und Angst (1995) haben auf das Phänomen der Unterschätzung mit dem provokanten Titel „Depression in old age. Is there a real decrease in prevalence?“ hingewiesen: unzureichende Berücksichtigung altersspezifischer Varianten des Krankheitsbildes; größere Häufigkeit „Minor Depression“ bzw.10 % an einer depressiven Störung leidenden Menschen in der älteren Allgemeinbevölkerung