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Copyright © 2010 edition zweihorn GmbH & Co. KG, Neureichenau
Umschlaggestaltung und Vignette: Marina Krämer, Thann
Zeichnung Seite 7: Karin Reheis, Icking
ISBN: 978-3-935265-53-9
eISBN: 978-3-943199-88-8
Ein bisschen was vorneweg ...
Erstes Kapitel – in dem plötzlich ein Monstermädchen neben mir sitzt
Zweites Kapitel – in dem Mias halber Bruder angeblich nach Senf stinkt
Drittes Kapitel – in dem ich Harry Bo von schlechten Tagen erzähle und wir gemeinsam in Niingolius sind
Viertes Kapitel – in dem Kai knurrt und Mia mich eine Flohschleuder nennt
Fünftes Kapitel – in dem ich meine Ohren auf Durchzug stelle und Mia wie eine Rechtsanwältin spricht
Sechstes Kapitel – in dem ich unbedingt die Wahrheit sagen soll
Siebtes Kapitel – in dem ein greller Schrei die friedliche Morgenruhe durchbricht
Achtes Kapitel – in dem sich viele Leute Gedanken über Mias Haare machen
Neuntes Kapitel – in dem ich meinen Freund Harry Bo komisch finde
Zehntes Kapitel – in dem ich nichts begreife und mal wieder das Falsche sage
Elftes Kapitel – in dem Frau Goldschmied auf unserem Sofa sitzt
Zwölftes Kapitel – in dem ich einen Plan habe und dann doch kein Superheld bin
Dreizehntes Kapitel – in dem ich friedlich mit Mia unterm Baum hocke und ihr nicht über den Weg traue
Vierzehntes Kapitel – in dem ich ein cooler Typ bin
Fünfzehntes Kapitel – in dem ich bei einer unfassbaren 10 ankomme
Am Ende …
Für meine Kinder
Das ist die Maiglöckchen-Allee.
Ich wohne in der linken Hälfte des einzigen Doppelhauses in der Maiglöckchen-Allee, der Nummer 13. Auf der anderen Seite, der Nummer 13a, wohnt Mia. Sie lebt dort mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem kleinen Bruder. Lukas ist aber nur Mias halber Bruder.
Ich habe keine Geschwister. Auch keine halben.
Früher wohnten Frau und Herr Donnermann mit ihrem Pudel Oscar in der 13a. Ich mag Hunde. Ganz besonders ihre kalten Schnüffelnasen, die wedelnden Schwänze und die weichen Ohren.
Dann ist Herr Donnermann eines Tages gestorben. Nun leben Frau Donnermann und Oscar im Heim: Frau Donnermann im Altenheim und Oscar im Tierheim.
In der Maiglöckchen-Allee gibt es zwei Geschäfte. Allerdings sind es keine richtigen Geschäfte. An der Ecke ist der Kiosk „Bei Kalle“. Kalle ist mindestens siebzig Jahre alt. Auf seiner Halbglatze thront ewig eine dunkelblaue Kapitänsmütze. Dabei war er bestimmt noch nie auf einem Schiff.
Der Woll-Laden von Frau Meise befindet sich mitten in der Maiglöckchen-Allee. Frau Meise trägt von Kopf bis Fuß Selbstgestricktes. An ihrem Kinn wachsen so viele Haare, dass sie sich daraus glatt einen Zopf flechten könnte.
Die Maiglöckchen-Allee ist eine ziemlich kurze Straße mit den Hausnummern 1 bis 20. Die geraden Nummern auf der einen Straßenseite, die ungeraden auf der anderen.
Um die Ecke herum ist die Mörikestraße. Eine Straße mit ganz vielen Mehrfamilienhäusern. Dort befindet sich auch die Eichenhof-Grundschule. Geschäfte gibt es hier keine. Aber ein paar Straßen weiter fängt die Stadt an und dort gibt es fast alles. Und noch ein Stückchen weiter, in einem großen, gelben Haus wohnt Darleen.
Ich heiße übrigens Henry Dackel.
Weshalb ich mir ständig blöde Sprüche anhören darf. Aber wenn man mit Nachnamen Dackel heißt, dann ist das eben so.
Doch zum Glück kenne ich jemanden, der noch einen viel dooferen Namen hat: Harry Bo. Und der ist trotzdem ein echter Superheld.
Die Klassentür ging auf. Frau Knüller, die Schulsekretärin, kam herein. Aber nicht allein. Sie hatte ein Mädchen bei sich.
„Guten Morgen, Frau Goldschmied. Ich bringe Ihnen die neue Schülerin für Ihre Klasse“, sagte sie.
Mir stockte der Atem. Mia. Das Monstermädchen Mia, das vor drei Wochen, also mitten in den Sommerferien, nebenan in die 13a eingezogen war.
„Ihr Name ist Mia Branco!“, sagte Frau Knüller und schob sie dabei ein Stückchen in das Klassenzimmer. Wieso Branco? Ich dachte, die heißt Freitag mit Nachnamen. – Das war der letzte vernünftige Satz, den ich in dieser Schulstunde denken konnte.
Hinter mir hörte ich Nina leise zu Hanna sagen: „Die ist aber wirklich hübsch. Und wie schön sie angezogen ist.“ Und Hanna flüsterte zurück: „So tolle lange Locken hätte ich auch richtig gerne.“
Frau Goldschmied bat um vollständige Stille. Dann gab sie Mia die Hand.
„Herzlich willkommen in der 4c“, sagte sie freundlich. „Wo setzen wir dich denn am besten hin?“
Bloß nicht zu mir!, wollte ich laut rufen. Aber noch lieber wäre ich in diesem Moment ganz woanders gewesen. Beim Zahnarzt. Mit Windpocken im Bett. Bei Tante Ella in Buxtehude. Irgendwo, Hauptsache nicht hier.
Unterm Tisch drückte ich ganz fest beide Daumen. Aber es nützte nichts. Ich hockte weiter auf meinem Stuhl und nicht ein Fitzchen von mir wollte sich in Luft auflösen.
Frau Goldschmied schaute sich suchend im Klassenzimmer um. Sie sah dabei aus, als ob sie gründlich überlegen würde. Dabei gab es da überhaupt nichts zu überlegen. Es gab nur zwei freie Plätze in der Klasse. Neben Jana und neben mir. Ganz logisch, dass die Neue neben Jana sitzen würde.
„Mia wird neben Henry sitzen“, verkündete Frau Goldschmied strahlend.
Hallo?
Sie zeigte auf meinen Tisch. Die meinte das wirklich ernst.
Frau Goldschmied begleitete Mia, rückte den Stuhl für sie zurecht und sie setzte sich.
Auf den Platz neben mir!
Warum nicht neben Jana? Die wollte das doch unbedingt. Jetzt verzog sie sogar schmollend den Mund.
Ich klammerte mich an der Tischkante fest, denn plötzlich schien sich die Welt um mich zu drehen. Aber es war wohl nicht die Welt. Ich war das. Es war das Blut in meinem Kopf. Es blubberte und kochte. Es rauschte durch meine Ohren. Völlig klar, dass mir davon schwindelig wurde.
Dann wurde mir auch noch übel, denn mir ging auf, dass gerade das Schlimmste geschehen war, was geschehen konnte. Ich starrte auf meine Finger, die die Tischkante umklammerten. Um die Nägel herum und auf den Fingerspitzen waren sie schneeweiß. Meine Knie unterm Tisch zitterten. Kein Wunder, denn ich kannte Mia. Ich wusste ganz genau Bescheid über sie. Mir konnte sie nichts vormachen. Ich hatte sie längst durchschaut.
Wieder flüsterte es hinter mir. „Hi Mia, ich heiße Hanna.“ Und sogleich hinterher: „Und ich bin Nina.“
Mia säuselte zuckersüß zurück und drehte sich dabei nur leicht zur hinteren Bankreihe: „Hi, ihr beiden.“
Pah, wie nett sie tat. Doch Mia war nicht nett. Sie war ein Monster.
„Henry!“ Ich schreckte hoch. Frau Goldschmied war das gewesen. Was wollte die bloß von mir? Ich hatte keinen blassen Schimmer, was sie mich gerade gefragt hatte.
„Junger Mann, hörst du mir nicht zu?“
Ich fand es wirklich nicht weiter verwunderlich, dass ich ihr nicht zugehört hatte. Wie sollte man denn auch aufpassen, wenn neben einem ein Monster hockte und einen mit seinen kochend heißen Feuerstrahlenblicken durchbohrte?
„Geht es dir nicht gut?“
Hatte sie mich damit gemeint? Ja, sie hatte offenbar mich gemeint, denn plötzlich stand sie direkt vor mir und schaute mich besorgt an. Sicherlich hatte sie mir angesehen, wie schrecklich es mir ging. So grässlich, dass ich am besten sofort nach Hause gehen sollte.
Aber nein. Ihr war überhaupt nichts aufgefallen. Ganz im Gegenteil.
„Henry, ich habe dich darum gebeten, Mia mit in dein Deutschbuch reinschauen zu lassen.“
Nein!, schrie alles in mir.
„Warum?“, krächzte ich.
Frau Goldschmied hob erstaunt die Augenbrauen. „Ist das etwa ein Problem für dich, Henry?“
Ich wollte laut „Ja, das ist sogar ein großes Problem für mich!“ schreien, aber stattdessen schüttelte ich nur schwach den Kopf.
„Na also“, meinte Frau Goldschmied leicht schnippisch.
Dann wandte sie sich mit wesentlich freundlicherer Stimme an Mia: „In der Pause kannst du dir die Schulbücher im Sekretariat abholen. Dann hat Frau Knüller sicherlich alles zusammengestellt.“
„Danke, Frau Goldschmied. Das ist sehr nett von Ihnen“, schleimte Mia sich ein. Dermaßen schleimig süß, dass einem davon ganz übel werden konnte. Aber schlecht war mir ja sowieso schon.
Als es endlich zur Pause klingelte, sprang ich so ruckartig auf, dass der Stuhl kippte und fast auch der Tisch.
„Idiot“, zischte Mia mir gehässig zu.
Ich reagierte gar nicht. Bahnte mir stolpernd einen Weg durch die Ranzen und Turnbeutel, die am Boden neben den Tischen lagen. In einem der Turnbeutel blieb ich mit dem linken Fuß hängen. Zappelnd versuchte ich mich wieder zu befreien. Aber es ging nicht. Mein Fuß hatte sich hoffnungslos in der dunkelgrünen Schnur verheddert.
„Nimm gefälligst deinen Fuß von meinem Turnbeutel, sonst verpasse ich dir einen Maulkorb“, regte sich Heiko auf.
„Das versuche ich ja“, murmelte ich verzweifelt.
„Wenn du meine neuen Nikes kaputt machst, setzt es was“, drohte er und ballte zur Sicherheit schon mal seine Hände zu Fäusten.
Wie immer ersparte ich mir eine Antwort.
Als nächstes war Mia neben mir. Ich wollte es noch verhindern, aber da war es schon zu spät.
„Ich helfe dir“, säuselte sie scheinheilig. Und schon ging Mia in die Hocke und machte sich daran, meinen Fuß von der Turnbeutelschnur zu befreien.
„Geht doch ganz einfach“, erklärte sie heuchlerisch. „Deshalb musst du doch nicht gucken wie ein Dackel, der die Jagd verpasst hat.“ Und ganz leise, wirklich so leise, dass nur ich es hören konnte, fügte sie hinzu: „Was dir ziemlich schwerfallen sollte.“
Aber Mia hätte ruhig lauter sprechen können. Gehört hätte es sowieso keiner. Meine Klassenkameraden waren längst in lautes Gejohle ausgebrochen. Heiko schlug sich vor Vergnügen auf die Knie. Und Nina und Hanna wieherten wie zwei wild gewordene Shetlandponys um die Wette.
„Das ist mal wieder typisch für den Dackel“, grunzte Jonas.
Und Kai sagte seinen Lieblingsspruch wie ein meckernder Ziegenbock auf. „Bello, sei artig und hol Herrchen die Zeitung.“
Idioten!
Alles nur Idioten!
Ich war mal wieder komplett von Idioten umzingelt.
Doch mit einem Mal teilte sich die Menge und ein Raunen ging durchs Klassenzimmer. Mit geschmeidigen Bewegungen schritt er durch das Spalier der staunenden Kinder hindurch. Sie standen da, mit offen stehenden Mündern und glotzten, wie die Kühe auf der Weide.
„Henry“, sagte er mit fester Stimme. „Gibt es irgendein Problem?“
Seine stahlblauen Augen blickten mich fragend an. Eine kräftige Hand legte sich freundschaftlich auf meine Schulter.