Vorwort

„I want to sell neuroanatomy as a kind of psychology –
as its most concrete and ultimative form.“

(Valentin Braitenberg, vergleichender Anatom und
biologischer Kybernetiker, 1977, S. 1)

Die Anatomie ist zunächst die Kunst des Aufschneidens und Zergliederns. Der Zweck der Anatomie liegt jedoch darin, zu einem vertieften Verständnis über Bau und Funktion eines Organsystems zu gelangen. Insofern ist die Anatomie auch die Lehre von der Architektur und vom (evolutionstheoretisch rekonstruierten) Bauplan eines Organsystems.

Das Nervensystem des Menschen, vor allem das Gehirn, dient der Informationsverarbeitung. Die Psychologie geht davon aus, dass die Verhaltensäußerungen und das Erleben Resultate dieser Informationsverarbeitung sind. Insofern beruht auch die Architektur des Denkens auf der Architektur des Gehirns. Wenn wir das Denken verstehen und verbessern wollen, müssen wir mehr über die Architektur des Gehirns lernen. Angewandte Psychologie muss ebenso wie jede technische Entwicklung auf Verträglichkeit und Ergonomie achten. In diesem Buch wurden daher auch Kapitel eingefügt, die die Verbindung zu anderen Perspektiven der Beschreibung (z.B. von Netzwerkmechanismen) oder der möglichen Anwendung (z.B. im Hinblick auf Sozialverhalten) herstellen sollen. Diese Kapitel sind als Überblickskapitel so abgefasst, dass sie den Zugang zu den basalen Mechanismen der Informationsverarbeitung auch Studienanfängern und interessierten Laien ermöglichen.

Die Beschreibung der funktionellen Architektur des Gehirns wird allerdings rasch zum Problem, wenn die passenden Beschreibungskonzepte fehlen. Die Qualität der im Gehirn transportierten Informationen und deren Veränderung im Zuge der biologischen Netzwerkverarbeitung kann ja nicht direkt sinnlich erfasst werden. Manchmal stehen nur Metaphern zur Verfügung, um solche Prozesse nachvollziehbar zu machen. Möglicherweise gibt es aber auch ein grundsätzliches Problem, weil die Beschreibungsmethoden letztlich durch das Untersuchungsobjekt selbst zur Verfügung gestellt werden. Kann sich das Gehirn überhaupt selbst verstehen? Es gibt berechtigte Hoffnung dafür. Die Art des Verständnisses wird nämlich stets vom Verstehenszweck her bestimmt. Auch ungefähre Zusammenhänge zwischen Hirnfunktionen und Verhalten können für konsiliarische oder therapeutische Zwecke bereits hilfreich sein. Unabhängig vom unterschiedlichen, individuellen Erfahrungshintergrund folgen die Grundprinzipien des Verstehens, Handelns und Lernens stets den gleichen Gesetzen. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist die Wirklichkeit, die unser Gehirn aufgrund von Evolution und biologisch verankerter Lernfähigkeit konstruiert. Eine solche Konstruktionsleistung liegt auch dann vor, wenn wir versuchen, ein Verständnis von Hirnfunktionen jenseits von missverständlichen Metaphern aufzubauen.

Allerdings gibt es bei der wissenschaftlichen Beschreibung von Hirnfunktionen sehr hohe Vorerwartungen an die Ergebnisse, teils aufgrund bestimmter erkenntnistheoretischer Herangehensweisen, teils aufgrund spezieller Moralvorstellungen. Viele Menschen sind zum Beispiel überzeugt, dass das menschliche Gehirn mit seinem Wissen und Können versucht, sich ein möglichst zutreffendes Bild von der Welt zu konstruieren. Dies ist offenbar weder möglich, noch im Sinne der Biologie. Aus neuropsychologischer Sicht leistet das Gehirn lediglich die Rekonstruktion und Nutzung einer Wirklichkeit, in der eine Person so weit handlungsfähig ist, als es die Selbstorganisationskräfte der Lebensfunktionen vorantreibt, die letztlich dem Schutz, dem Informationsaustausch und der Ausbreitung dienen. Wir würden z.B. auf Probleme stoßen, wenn wir etwa spezielle Hirnfunktionen beim Autofahren beschreiben wollten, da diese Funktionen bisher bei der Evolution keine Rolle gespielt haben. Sie werden – wegen ständiger Änderungen in der Mobilitätstechnologie – auch in Zukunft keine evolutionswirksame Rolle spielen. Ähnliches trifft für andere Funktionen zu, die nur aufgrund individueller Lern- oder Anpassungsprozesse bei hoher Variabilität im Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Hirnfunktionen ermöglicht werden.

Dennoch wäre gerade bei der Beschreibung von Hirnfunktionen eine gemeinsame Sprache von Natur- und Kulturwissenschaften wünschenswert. Dies geht freilich nur über einen interdisziplinären Diskurs, in dem nicht nur über die verschiedenen Ebenen und Perspektiven des wissenschaftlichen Herangehens, sondern auch über deren wechselseitige Beziehungen verhandelt wird. Als Ort dieses Diskurses bietet sich vor allem die Disziplin an, die von ihren Kernfragestellungen her subjektive und objektive Urteile ins Verhältnis setzt, nämlich die psychologische Grundlagenforschung. Sie wurde als experimentelle Psychologie entwickelt und findet gegenwärtig mit ihren Ausprägungen in den Cognitive and Brain Sciences, in der kognitiven Neuropsychologie oder in der Neurokognition zunehmend starke Bedeutung. Nicht zuletzt indem sie Verhalten und Erleben in gleichem Maße berücksichtigt, eignet sie sich besonders als humanwissenschaftliche Leitdisziplin an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaften.

Die psychologische Grundlagenforschung besitzt – und das macht sie so interessant – den Vorzug, über zahlreiche, sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden zu verfügen. Auch für die funktionelle Hirnanatomie ist es erforderlich, sich mit anatomischen und vergleichend-anatomischen Befunden zu beschäftigen, mit Kernspin- und topographischen EEG-Daten, mit experimenteller Stimulation und den Folgen von Hirnverletzungen, mit biochemischen Befunden und mit Befunden zu Erlebens- bzw. systematischen Selbstberichtsdaten. In der psychologischen Grundlagenforschung gibt es mittlerweile eine brauchbare Erfahrungsgrundlage dazu, welche Kovariationen zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Messebenen üblicherweise unter bestimmten Bedingungen zu erwarten sind. Dies ermöglicht es in hohem Maße, die Gültigkeit einer psychologischen Aussage zu überprüfen.

Beim Gegenstand des vorliegenden Buches, der funktionellen Hirnanatomie, sind die Beziehungen zwischen biologischem Organ und den zu beobachtenden Wirkungen keineswegs immer evident. Die einschlägigen Befunde bestehen aus Kovariationen zwischen Daten, deren Zusammenhang oft noch unzureichend geklärt ist oder nur mit komplizierten und noch nicht allgemein akzeptierten Modellvorstellungen deutlich gemacht werden kann. Insofern ist das Buch im Grunde kein Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Arbeitsbuch, das die gegenwärtige Befundlage für das Studium handhabbar machen möchte. Vielleicht regt es auch dazu an, das Verständnis für den Zusammenhang zwischen den uns mitgegebenen Gehirnfunktionen und dem Empfinden, Urteilen und Zielsetzen von einzelnen Personen und Gemeinschaften weiter zu vertiefen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass es zu einer zweckmäßigen und nachhaltigen Nutzung dieser einmaligen Ressourcen beiträgt.

Die in diesem Buch verwendete anatomische Terminologie orientiert sich weitgehend an den Empfehlungen des Federative Committee on Anatomical Terminology (FCAT, 1998). Bei den deutschen und englischen Bezeichnungen wurde auf den üblichen Gebrauch in Lehrbüchern bzw. in den zitierten Einzelveröffentlichungen Rücksicht genommen. Allerdings ist im Hinblick auf die Terminologie zu berücksichtigen, worauf der vergleichende Anatom und evolutionäre Erkenntnistheoretiker Rupert Riedl hingewiesen hat: „Beständige Namen sammeln zu wollen, ist die trügerische Hoffnung des Laien, die Ordnung selbst zu erfahren, das lohnende Streben des Könners“ (leicht verändert nach Riedl, 1963, Vorwort). Die funktionellen Angaben orientieren sich am gegenwärtigen Stand, das gesamte Gebiet befindet sich jedoch in einer stürmischen Entwicklung. Es war das Ziel dieses Buches, eine repräsentative und übersichtliche Auswahl zu treffen. Um jederzeit den Anschluss an die aktuelle Literatur zu ermöglichen, gibt es Angaben zu Talairach-Koordinaten in den Fußnoten. Damit sollte das Buch die Voraussetzungen erfüllen, um als Orientierungshilfe in der Lehre zu den Modulen über Gehirn und Verhalten und in der psychologischen Grundlagenforschung verwendet werden zu können.

Das Buch entstand durch die Mithilfe zahlreicher Personen. An erster Stelle möchte ich mich bei allen Studierenden bedanken, die in den einschlägigen Lehrveranstaltungen durch Fragen und Diskussionen dazu beigetragen haben, dass der Stoff den Bedürfnissen des Studiums entsprechend angepasst und aufbereitet wurde. Danken möchte ich ferner allen Personen, die mich bei der Sammlung von Materialien unterstützt haben. Frau Professor Renate Graf und Evelyn Heuckendorf (Institut für Anatomie der Charité Berlin) ermöglichten mir mehrmals die Anfertigung von anatomischen Fotos. Ai-Leen Saw und Sascha Tamm haben mir dabei geholfen. Bei der Literaturrecherche und bei der Lektorierung der Texte hat sich Claudia Männel tatkräftig beteiligt. Bei Lore Naumann bedanke ich mich für die Anfertigung von neun Zeichnungen (Abb. 4.2 a und b, 5.3 b, 5.5 b, 6.5, 7.1 a und b, 10.2, 13.4). Meinem Freund Professor Fritz Wysotzki (Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz am Institut für Theoretische Informatik, Technische Universität Berlin) verdanke ich manche Anregungen, nicht zuletzt für das Kapitel Nervennetzwerke. Bei meiner Frau und vielen Personen meiner persönlichen Umgebung bedanke ich mich dafür, dass sie mich auch dann ertragen haben, wenn ich mit der Arbeit an diesem Buch beschäftigt war.

Berlin, im Frühjahr 2006

Rainer M. Bösel

7 Lernen und Rehabilitation

Klassische Konditionierung (Signallernen) und operante Konditionierung (Lernen am Erfolg) sind basale Mechanismen, die eine überdauernde Anpassung der cerebralen Informationsverarbeitung erlauben. Komplexere Lernformen bestehen aus multiplen Konditionierungsprozessen. Als physiologische Grundlagen dafür kennen wir die Langzeitpotenzierung und -depression. Sie sind an das Vorhandensein von NMDH-Rezeptoren im glutamatergen System gebunden, die im Cortex, in den Kleinhirnkernen, im Striatum, im Thalamus und in der Amygdala nachgewiesen wurden. Die erwähnten physiologischen Prozesse gelten als Voraussetzung für Anpassungsvorgänge an nachgeschalteten Synapsen. Nach einer Verletzung bilden Faserwucherungen und Prozesse des Neulernens die wichtigste Grundlage für die Rehabilitation.

7.1 Arten des Lernens

Eine grundlegende Eigenschaft der Input-Output-Beziehung im Nervensystem ist, dass eine synchrone Reizung an zwei Inputstellen längerfristig zu einer Fusion der Repräsentation führt; subjektiv kann der Eindruck von Gemeinsamkeit entstehen. Auf einer synchronen Reizung beruht das Prinzip der Konditionierung (s. Abb. 7.1). Eine asynchrone Reizung resultiert hingegen in einer Differenzierung der Repräsentation; subjektiv kann der Eindruck von Verschiedenheit entstehen.

Von klassischer Konditionierung (Signallernen) spricht man, wenn der zu einer gemeinsamen Repräsentation führende Effekt durch das kontingente (d.h. zeitlich und/oder räumlich nahe) Auftreten zweier Reize verursacht wird. Bei der klassischen Konditionierung wird ein Reiz („unbedingter Reiz“, unconditioned stimulus, UCS), der zu einer unbedingten Reaktion führt, mit einem neuen Reiz („zu konditionierender Reiz“, conditioned stimulus, CS) gepaart und wiederholt dargeboten (ca. 30-mal). In der Folge tritt die unbedingte Reaktion auch allein nach dem CS auf. Beispiele für die anatomischen Voraussetzungen einzelner Konditionierungseffekte werden in den Kapiteln „Hirnstamm und Cerebellum“ (Lidschlagreflex) bzw. „ACh-System und Thalamus“ (generalisierte Aversionsreaktionen) besprochen.

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Abb. 7.1: Neuronale Korrelate der Konditionierung. Links: Prinzip der klassischen Konditionierung am Beispiel von Sensibilisierungsprozessen in der Kleinhirnrinde. Der zu konditionierende neue Reiz bewirkt über die Parallelfasern eine breite, unspezifische Erregung. Eine Sensibilisierung der motorischen Synapsen der Purkinje-Zellen findet statt, wenn gleichzeitig spezifische Erregungen des unkonditionierten (biologischen) Reizes über Kletterfasern ankommen. Rechts: Das Prinzip der operanten Konditionierung wird hier in strenger Analogie zur linken Abbildung veranschaulicht. Die Wahrnehmung von Verhaltenskonsequenzen wird in verschiedenen Bahnen verarbeitet. Eine Sensibilisierung in bestimmten motorischen Synapsen des Striatum findet statt, wenn dort gleichzeitig noch nicht gelöschte Resterregungen von den Planungszentren ankommen. – Detailangaben s. Abb. 8.7 und 12.4.

Viele für den Menschen bedeutsame Lernprozesse haben zur Folge, dass Verhaltensweisen nicht erst aufgrund instinktiv auslösender Signale, sondern bereits aufgrund individuell gelernter Vorsignale auftreten. Man spricht von operanter Konditionierung (Lernen am Erfolg), wenn eine Verhaltensweise aufgrund von Erfolg, Nichterfolg oder Ausbleiben eines Misserfolges verstärkt bzw. vermindert gezeigt wird. Verstärkung (durch Erfolg oder Ausbleiben eines Misserfolges) resultiert in einer Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit einer Verhaltensweise. Wenn bereits ein Mindestmaß an Wissen erworben wurde, kann auch am Misserfolg gelernt werden. Erfolg/Nichterfolg einer Verhaltensweise registriert ein ein neurales Feedback-System, dessen zentrale anatomische Grundlage ein dopaminerges System bildet (s. das entsprechende Kapitel). Dieses System besitzt eine hemmende Wirkung auf die augenblickliche Verhaltenskontrolle und verringert die Erregungsschwelle der ursprünglichen Verhaltenstendenzen. Die Verhaltensverstärkung bei der operanten Konditionierung kann dadurch erklärt werden, dass Residuen des Bewegungsplanes im exekutiven Speicher noch bis zu dem Zeitpunkt vorhanden sind, zu dem das Feedback-Signal den Verhaltenserfolg rückmeldet; die Motorik kann somit gebahnt werden. Insofern kann hier ein ähnlicher neuraler Mechanismus postuliert werden wie bei der klassischen Konditionierung (s. Abb. 7.1).

Ergänzend zu den erwähnten Grundprinzipien des Lernens am Erfolg muss erwähnt werden, dass die Verstärkungsmechanismen ursprünglich als ein „Law of effect“ formuliert wurden, insbesondere dass „responses ... followed by satisfaction ... will ... be more firmly connected with the situation, so that ... they will be more likely to recur“ (Thorndike, 1911). Diese Formulierung weist darauf hin, dass das entscheidende, verhaltensverstärkende Feedback selbstgeneriert im Zuge der Verarbeitung entsteht (vgl. auch Wittmann u.a., 2005). Außerdem verweist Thorndikes Beschreibung auf eine Entspannungsreaktion infolge der Passung mit der ursprünglichen Absicht (vgl. „intention to trust“, s. Kapitel Basalkerne).

Viele Psychologen sehen relationales („kognitives“) Lernen und Beobachtungslernen als besondere Lernformen an (vgl. z.B. Zimbardo & Gerrig, 2004). Allerdings kann man relationales Lernen in einer frühen Phase als hippocampus-unterstütztes Konzeptlernen ansehen (s. Kapitel Archicortex) und die unwillkürliche Nachahmung beobachteter Verhaltensweisen erfolgt für den unbedingten Reiz durch Spiegelneurone (gegenüber den zu konditionierenden Kontextreizen). Auch Makaken können Sequenzen von Zielbewegungen lernen, und zwar umso besser, wenn die Bewegungen vorgemacht werden. Dabei ist die wahrgenommene Motorik offenbar weniger bedeutsam als die Wahrnehmung des Bewegungszwecks, da das Lernen auch gelingt, wenn eine Reihenfolge der zu beantwortenden Zielobjekte gemerkt werden muss und die Zielorte der zu lernenden Zielbewegungen wechseln (Subiaul u.a., 2004). Ein präfrontal-striatales System unterstützt Regellernen in einer späteren Lernphase (Doeller u.a., 2004). Die umfangreiche Lernfähigkeit des Menschen und die Unterstützung des Lernens durch kommunikationsgelenkte Aufmerksamkeit machte den Homo sapiens in den letzten Jahrzehntausenden schließlich zum Universalisten.

Konsolidierung ist vor allem als gewollter Effekt von Lernprozessen bekannt. Gemeint ist damit der Prozess der Verankerung der beim Lernen erworbenen Verknüpfungen. Dieser kann sich auch unbemerkt vollziehen. Beim Lernen geht es in der Regel darum, dass bestimmte Verhaltensweisen als Folge bislang ungewohnter Auslöser gezeigt werden. Dazu werden meist zwei Arten von Lernsituationen unterschieden. Beim klassischen Konditionieren wird in der Lernphase unmittelbar vor dem erwünschten Auftreten der Verhaltensweise ein vertrauter Auslöser als Lernhilfe zusammen mit dem neuen Hinweisreiz dargeboten. Findet erfolgreiches Lernen statt, kann der neue Hinweisreiz das gewünschte Verhalten ohne die Lernhilfe auslösen. Lernen am Erfolg (operantes Konditionieren) findet statt, wenn – z.B. als Folge vorangegangener Erfolgserlebnisse – vor dem Auftreten der gewünschten Verhaltensweise eine als erfolgreich eingeschätzte innere Absicht existiert. Diese Absicht unterstützt als Lernhilfe die Wirkung der neuen Hinweisreize. Die Prozesse der Automatisierung, im Sinne von flüssiger Durchführbarkeit und der Verankerung im Sinne von leichter Abrufbarkeit, können insofern auch als zwei Seiten einer Medaille aufgefasst werden. So kann es durchaus sein, dass eine direkte assoziative Verbindung wegen individuell auftretender Interferenzen nur verzögert gebahnt wird, während ein strategisch gebahnter Umweg rasch aktiviert wird. Unter diesen Bedingungen kann ein Übungseffekt durchaus mit der Herstellung leicht gangbarer Umwege erklärt werden. Übung bedeutet stets einen wiederholten Abruf, verbunden mit erneutem Einspeichern.

7.2 Kurzzeitspeicherung und Lernen

Es treten im Kurzzeitgedächtnis mitunter minimale Aktivierungen auf, die sehr lange anhalten können (bis zu mehreren Stunden). Diese speziellen Prozesse werden üblicherweise als „strategisch“ bezeichnet, ohne deren neuralen Grundlagen zu kennen. Denkbar ist, dass Erregungsprozesse in Schleifenbahnen (Kreisprozesse, reverberatorische Prozesse) zu länger andauernden Aktivierungen beitragen (Hebb, 1949). Inneres Wiederholen (Rehearsal), wie es aus der Selbstbeobachtung bekannt ist, könnte ein Beispiel dafür sein.

Ergebnisse neurobiologischer Forschung zeigen, dass länger andauernde Erregungsprozesse im Nervensystem unter Umständen zu Anpassungsprozessen an den Nervenzellmembranen und insbesondere an den Synapsen führen. Diese Membranveränderungen erhöhen oder erniedrigen überdauernd die Fähigkeit zur Übertragung und Verzweigung von Erregung. Unter diesen Umständen spricht man von einer Übertragung von Informationen vom Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher. Dieser Vorgang wird auch Konsolidierung genannt.

Die neurophysiologische Grundlage von Konditionierung bildet eine sogenannte Langzeitpotenzierung (bzw. -depression). Bei diesem Prozess produziert eine mit einem bestimmten Synapsentyp (glutamaterge N-Methyl-D-Aspartat-Synapse, NMDA) ausgestattete und über eine weitere Synapse kontingent gereizte Nervenzelle verstärkte Outputs. Die Fähigkeit einer solchen Nervenzelle zur Langzeitpotenzierung untersucht man mit Hilfe hochfrequenter Reizung. Danach verstärkt sich die Zellantwort in der Regel für einige Stunden. Erfolgt die hochfrequente Anregung jedoch mehrmals, kommt es auf Grund von speziellen Proteinsynthesen sogar zu dauerhafter Potenzierung. Die Outputs dieser Zellen sind wahrscheinlich auch für die Zielzellen der NMDA-Zellen ein Anreiz, mit Hilfe vermehrter Proteinbiosynthese Membraneigenschaften und damit Übertragungseigenschaften überdauernd zu verändern.

NMDA-Synapsen findet man in vielen Bereichen des Cortex, wo sie z.B. beim Generalisierungslernen die Größe rezeptiver Felder verändern (vgl. Kapitel „ACh-System und Thalamus“). Langzeitpotenzierung wurde insbesondere im Hippocampus gefunden (bei der Bildung des deklarativen Gedächtnisses für Fakten und Episoden, vgl. das entsprechende Kapitel), aber auch in der Amygdala (Nucleus lateralis; für emotional-affektive Reaktionen) und in den Basalganglien (Striatum; für motorisches Lernen); außerdem im Thalamus, visuellen Cortex, entorhinalen Cortex bzw. Cortex piriformis, präfrontalen und motorischen Cortex. Im temporalen Cortex, im Striatum und in der Amygdala sind NMDA-Rezeptoren beteiligt, im visuellen Cortex erfolgt die Langzeitpotenzierung offenbar auch ohne NMDA-Rezeptoren. Die klassische Konditionierung im Cerebellum (vgl. Kapitel „Hirnstamm und Cerebellum“) beruht auf einer Langzeitdepression. Viele Lernvorgänge beim Menschen bestehen aus einem Regelerwerb, der letztlich als eine Kombination aus Verkettungslernen (Kleinhirnkerne), motorischem Lernen (Basalganglien) sowie dem Lernen von Regelwissen (Kontingenz- bzw. Faktenwissen; v.a. linke Cortexhemisphäre) und Prototypwissen (Episodenwissen; v.a. rechte Cortexhemisphäre) gesehen werden kann. Bereits einfachste Lernprozesse erfolgen beim Menschen oft durch mehrere, gleichzeitig stattfindende Konditionierungen. So entstehen beim Kontingenzlernen nicht nur Assoziationen mit dem unbedingten Reiz, sondern es wird auch Wissen über die auftretenden Kontingenzen beim Lernen erworben. Das Kontingenzwissen stammt aus den episodischen Informationen über die Lernsituation und wird im Verlauf der Konditionierung – unabhängig von dieser – mit Hilfe des Hippocampus erworben (Thompson & Berger, 1984; Bechara u.a., 1995). Konditionierungen dürften stets an überdauernde Nervenzell-Sensibilisierungen gebunden sein, unabhängig davon, ob es sich um die klassische oder operante Konditionierung handelt.

7.3 Rehabilitation

Wenn neurale Substanz durch eine Läsion zerstört wird, kommt es in der Regel zu anatomischen Veränderungen in der neuralen Verschaltung. Diese Umbildungen besitzen folgende Charakteristika:

  1. Lädierte Fasern wachsen erneut zu den ursprünglichen Zielorten aus (Regeneration). Eine Regeneration kann mitunter im peripheren Nervensystem beobachtet werden, wo das Wachstum durch vorhandene Gewebsspalten gelenkt wird.
  2. Lädierte Fasern suchen sich, sofern sie wachstumsfähig bleiben, nahe liegende und somit oft neue Zielorte (proximales Aussprossen und Rerouting). Dadurch ändert sich zwar die Verschaltung, die ursprünglichen Verbindungen werden jedoch vielfach indirekt wieder hergestellt.
  3. Gesunde, benachbarte Fasern wachsen verstärkt in die ursprünglichen Zielorte degenerierter Fasern ein (Aussprossen von Kollateralen). Die Sensibilität der Zielorte steigt für Erregungen, die eigentlich aus Nachbargebieten stammen; daher kommt es mitunter zu paradoxen Reaktionen (z.B. Phantomschmerz).

Für das Zentralnervensystem ist keine substantielle Wiederherstellung geschädigter neuraler Substanz bekannt, da im adulten Gehirn – mit Ausnahme des Hippocampus – keine Nervenzellteilung erfolgt und eine bahnspezifische Regeneration von Fasern offenbar nur im peripheren Nervensystem vorkommt. Auch steht in der Regel keine Hirnregionen zur Verfügung, die bislang wenig aktiv war und somit eine ausgefallene Funktion „übernehmen“ könnte. Allerdings verarbeiten Nervennetzwerke Informationen unabhängig von deren Qualität, so dass z.B. Nervenzellen des auditiven Systems grundsätzlich auch visuelle Impulse verarbeiten können. Insoweit ist das Nervensystem zu weitreichenden Kompensationsleistungen imstande, so dass angestrebte Ziele zwar nicht auf gewohnte Weise, aber – unterstützt durch entsprechende Lernprozesse – mit Hilfe neuer Strategien erreicht werden können. Der fokale Ausfall einer Funktion wird nach erfolgreicher Rehabilitation in der Regel durch die Aktivitäten einer größeren Anzahl verstreut lokalisierter Cortexregionen kompensiert.

Für eine erfolgreiche Kompensation ist ein hohes Lernvermögen erforderlich. Deshalb ist die Prognose bei jungen Patienten mit Hirnverletzungen (< 20 Jahre) deutlich besser als bei älteren (> 40 Jahre; Teuber, 1975). Außerdem gibt der Grad der Vernetztheit einer Funktion Auskunft über die Kompensationsprognose. Stark vernetzte Funktionen (z.B. Gedächtnisabruf) sind durch eine Läsion vergleichsweise geringer betroffen und daher eher wiederherstellbar als gering vernetzte Funktionen (z.B. bestimmte Sprachstörungen). Unabhängig von der jeweils gestörten Funktion gelten weibliches Geschlecht und höhere Intelligenz der Patienten als a priori Indikatoren für eine stärkere Vernetztheit.

Wichtige psychologische und neuropsychologische Fachbegriffe

Beobachtungslernen

Lernen durch Nachahmung.

Klassische Konditionierung

Eine von Ivan Petrovich Pavlov (1849–1936) entdeckte Lernform, bei der mehrfach wahrgenommene Vorsignale ausreichen, um das Auftreten einer Verhaltensweise zu begünstigen (auch: Signallernen).

Konditionierter Reiz

Vorsignal, das bereits das Auftreten einer Verhaltensweise begünstigt.

Konsolidierung

Übergang vom Kurzzeitgedächtnis in das Langzeitgedächtnis, meist unterstützt durch Wiederholung.

Operante Konditionierung

Eine von Edward Lee Thorndike (1874–1949) entdeckte Lernform, bei der die Auftretenshäufigkeit von Verhaltensweisen durch Belohnung oder Bestrafung verändert wird (auch: Lernen am Erfolg).

Unkonditionierter Reiz

Reiz, der üblicherweise eine Verhaltensweise veranlasst.

Verstärkung

Erhöhung der Auftretenshäufigkeit von Annäherungsverhalten durch Anreize („positive Verstärkung“, z.B. durch Beifall) oder Aversionsminderung („negative Verstärkung“, z.B. nach Benutzung eines Schirms) oder von passiver Vermeidung durch Aversionsminderung („Angst“). Erhöhung der Auftretenshäufigkeit von aktivem Vermeidungsverhalten durch Strafreize („Furcht“) oder Verringerung von Annäherungsverhalten durch Belohnungsminderung („Extinktion“, z.B. durch Enttäuschung).

12 Basalkerne und Nucleus basalis Meynert

Unterhalb der Großhirnrinde (s. Abb. 12.1) und seitlich von Thalamus und Hypothalamus liegen der Nucleus caudatus (Schweifkern), das Putamen1 und der Globus pallidus (Pallidum). Das Claustrum, ein dünner, außen gelegener Zellstreifen in enger Nachbarschaft zum Putamen, wird im Zusammenhang mit dem Paläocortex besprochen. Für die genannten Kerngebiete hat sich die Sammelbezeichnung Basalkerne (Nuclei basales) eingebürgert. Es gibt jedoch gute Gründe, die genannten Kerngebiete in anatomischer und funktioneller Hinsicht anders zusammenzufassen.

In entwicklungsgeschichtlicher und funktioneller Hinsicht gehören vor allem der Nucleus caudatus und das Putamen zusammen und werden gemeinsam als Corpus striatum (Striatum2, Streifenkörper) bezeichnet. Diese Bezeichnung stammt von dem streifenförmigen Aussehen der weißen Faserbündel, die Nucleus caudatus und Putamen voneinander trennen (der sog. Capsula interna), und den grauen Streifen, die quer dazu Nucleus caudatus und Putamen verbinden. Aufgrund ihrer anatomischen Nachbarschaft wurden Putamen und Pallidum früher zusammen auch als „Linsenkern“ (Nucleus lentiformis) bezeichnet, obwohl sie weder anatomisch noch funktionell eine Einheit bilden. Das Pallidum wird hier wegen der anatomischen Lage zu den Basalkernen (Telencephalon) gerechnet (vgl. auch FCAT, 1998), entwicklungsgeschichtlich gehört es jedoch zum Subthalamus (Diencephalon).

12.1 Corpus striatum (Striatum, Streifenkörper)

Das Striatum besteht zu etwa gleichen Volumenanteilen (je ca. 5 cm3 und 108 Nervenzellen) aus dem Nucleus caudatus und dem Putamen (s. Abb. 12.2). Beide Teile gehören zum ventralen Telencephalon. Sie sind an ihren Vorderenden über eine ventral gelegene Brücke miteinander verbunden (Nucleus accumbens) und werden weiter hinten durch einzelne Faserstränge der Capsula interna auseinander gedrängt. Den zentralen Teil der Capsula interna bilden der Tractus corticospinalis (die motorische Pyramidenbahn) und die thalamo-corticalen Bahnen zu den motorischen Rindenfeldern.

95 % der Striatum-Neuronen besitzen Dendriten mit Spines, an denen es bevorzugt zur Bildung von Synapsen kommt. Die Dendritenbäume können einen Durchmesser von bis zu 1 mm erreichen. Die meisten der hier eintreffenden Afferenzen stammen vom Cortex, und zwar aus nahezu allen cortikalen Arealen, allerdings nur wenige aus okzipitalen Gebieten (s. Abb. 12.3). Orbitofrontale, cinguläre und dorsal-temporale Afferenzen versorgen den ventromedialen Teil des Striatums und den Nucleus accumbens. Bewegungsimpulse können somit von sehr verschiedenen Bereichen der Informationsverarbeitung stammen. Temporale Afferenzen bewirken, obwohl exzitatorisch, möglicherweise eher ein Verharren der Motorik (v.a. beim wachsamen Wahrnehmen).

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Abb. 12.1: Lagebeziehungen der Basalkerne zu Hirnstamm und Cortex (vgl. auch Abb. 9.3 und 12.2; modifiziert nach Bösel, 2000b)
Oben: Schemabild zur Lokalisation der Basalkerne seitlich vom Zwischenhirn.
Unten: Coronarschnitt in Höhe der im linken Bild eingezeichneten Schnittebene.

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Neben den erwähnten exzitatorischen, glutamatergen corticostriatalen Fasern endigen hier auch inhibitorische, glutamaterge Fasern aus subcortikalen Gebieten, z.B. dem Thalamus. An vielen Striatum-Neuronen konvergieren mehrere unterschiedliche subcortikale Afferenzen, die ebenfalls zur Modulierung bestimmter Bewegungsfolgen beitragen, außerdem aber zu Lernimpulsen im Sinne einer Langzeitpotenzierung fähig sind (s. Abb. 12.4). Werden die für die Langzeitpotenzierung verantwortlichen glutamatergen NMDA-Rezeptoren im Striatum blockiert, so wird dadurch das Erlernen eines visuellen Hinweisreizes verhindert (Packard & Teather, 1997). Zahlreiche Fasern ziehen von der Substantia nigra (Pars compacta) zum Striatum und bilden dopaminerge Synapsen. Diese tragen zur Bewegungsinitiierung bei, indem sie die inhibitorische Funktion des Striatums hemmen. Innerhalb des Striatums gibt es zahlreiche cholinerge Verbindungen. Das Caput nuclei caudati reagiert auf die Vertrauenswürdigkeit einer Situation („intention to trust“). Dies wurde in einer Anordnung gezeigt, in der Personen darauf vertrauen sollten, von anderen gesponsert zu werden (King-Casas u.a., 2005). In dieser Untersuchung kommen die Afferenzen offenbar vom anterioren Cingulum und die Caudatus-Aktivierung geht mit der Einschätzung eines „benevolenten“ Gegenübers einher. Es ist zurzeit noch nicht geklärt, ob diese Aktivierung letztlich tatsächlich für Entspannung sorgt und in welcher Beziehung sie zum Dopamin-Input und den ähnlich gelagerten Oxytocin-Befunden steht (vgl. Kapitel Hypothalamus). Die Caudatus-Aktivierung erfolgt zeitlich früh, wenn nach mehrmaliger einschlägiger Erfahrung ein hohes Maß an Vorhersehbarkeit erreicht wurde.

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Abb. 12.2:
Corpus striatum.
Oben: Nucleus caudatus, Medianansicht nach Entfernung des Balkens; ventral bleiben Fornix und Thalamus sichtbar.
Links: Lateralansicht des Striatums (das medial gelegene Pallidum wird vom Putamen verdeckt).

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Abb. 12.3: Die Rolle der Basalkerne bei der Vorbereitung einer Bewegung

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Abb. 12.4: Regellernen. Jedes Striatum-Neuron erhält annähernd 10.000 Inputs vom Cortex und 1.000 dopaminerge Inputs. Nach einem möglichen Funktionsmodell dienen letztere der breit gestreuten Erfolgsrückmeldung und interagieren dort mit noch aktiven corticostriatalen Synapsen (vgl. Abb. 7.1; nach Schultz, 1998).

Der Nucleus accumbens liegt rostral im ventralen Striatum dicht an der basalen Oberfläche des Gehirns, etwa seitlich der vom Trigonum olfactorium abzweigenden, lateralen Riechfasern (s. Abb. 12.1). Gray (1995) entwirft die Idee, dass der Nucleus accumbens über die Informationen zur Sequentierung einzelner motorischer Subroutinen verfügt, die schrittweise abgearbeitet werden. Hier wäre auch die Zielstruktur für eine umweltangepasste Unterbrechung laufenden Verhaltens zu suchen (s. Kapitel „Dopaminerge Systeme“).

Efferenzen aus dem Striatum, dem vor allem eine motorisch-integrative Funktion zuzuschreiben ist, ziehen hauptsächlich zum Pallidum, das Einzelbewegungen koordiniert. Viele Efferenzen des Striatums weisen schleifenförmige Rückführungen auf (manche noch innerhalb des Striatums), die zum Teil mit dem hemmenden Neurotransmitter GABA ausgestattet sind. Bei einer Störung dieser hemmenden Rückkopplungen (z.B. aufgrund einer genetischen Anomalie oder eines Schlaganfalls) kommt es zur Chorea Huntington („Veitstanz“) mit regellos einschießenden, unwillkürlichen Bewegungen.

12.2 Globus pallidus (Pallidum3)

Im Gegensatz zum Striatum gehört das Pallidum (s. Abb. 12.5), wie erwähnt, entwicklungsgeschichtlich zum Diencephalon. Im vorderen Bereich wird durch die Commissura anterior ein ventraler Teil des Pallidums abgetrennt, der als ventrales Pallidum bezeichnet wird. Das Pallidum veranlasst als motorisches Organ koordinierte Einzelbewegungen.
Die Afferenzen des Pallidums kommen hauptsächlich vom Striatum, sind inhibitorisch und werden mit Afferenzen aus verschiedenen Sinnesgebieten verknüpft. Die Efferenzen ziehen im Wesentlichen über die sogenannte Ansa lenticularis (Linsenkernschlinge) zum ventrooralen und latero-polaren Thalamus und von dort zum Motorcortex.

12.3 Nucleus basalis Meynert

Der Nucleus basalis Meynert liegt etwa seitlich vom Nucleus suprachiasmaticus und reicht nahezu bis zum Medialkern der Amygdala (s. Abb. 12.1). Er wird durch eine auffällige Ansammlung großer Zellen an der Vorderhirnbasis gebildet und kann als Vorderhirnanteil des cholinergen, aufsteigenden retikulären Aktivierungssystems (ARAS) angesehen werden (s. Kapitel „ACh-System und Thalamus“). Er ist der Hauptkern des ventralen Pallidums (Substantia innominata). Die Synapsen des ARAS enden im Nucleus basalis an Nikotin- bzw. Muscarin-Rezeptoren. Diese Synapsen werden durch zahlreiche pharmakologisch wirksame Substanzen beeinflusst. Amphetamine erhöhen die ACh-Wirksamkeit (v.a. durch Erhöhung der ACh-Produktion). Nikotin wirkt, daher deren Name, direkt an den Nikotin-Rezeptoren.

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Abb. 12.5: Globus pallidus – Horizontalschnitt durch den vorderen Teil des Balkens und die vorderen Zweihügel (nach Clara, 1959)

Vom Nucleus basalis Meynert ziehen cholinerge Fasern in geordnetem Muster in den gesamten Cortex und sorgen dort für einen unspezifisch stimulierenden Input, der letztlich Erregungsschwellen unabhängig von einem sensorischen Input verändert. Fehlt der Input aus dem Nucleus basalis Meynert im Cortex, kommt es zu dementiellen Veränderungen (vgl. Kapitel „Entwicklung des Gehirns und Geschlechtsunterschiede“), die mit Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses und der verbalen und räumlichen Merkfähigkeit einhergehen. Außerdem ist die Regulation der Erregungsschwellen durch den cholinergen Input für den Traumschlaf von Bedeutung. Der Nucleus basalis Meynert erhält übrigens auch direkte Zuflüsse vom Nucleus suprachiasmaticus, der die Schlafperiodik beeinflusst.

Corticales Arousal – im Sinne von erhöhter Wachheit infolge affektiver Aktivierung – wird ebenfalls über den Nucleus basalis Meynert moduliert. Stimuliert durch direkte Zuflüsse von der Amygdala, veranlasst der Nucleus basalis Meynert die Erregung von muscarinischen Rezeptoren in der Hirnrinde (nachgewiesen für den auditiven Cortex der Ratte bei aktivem Vermeidungslernen; Weinberger, 1995; vgl. dazu auch Kapitel „ACh-System und Thalamus“). Das so erzeugte corticale Arousal trägt zu einer geringfügigen Vergrößerung von rezeptiven Feldern bei. Damit kann der Effekt der Reizgeneralisierung beim Vermeidungslernen erklärt werden. Unter solchen Voraussetzungen treten Vermeidungsreaktionen z.B. bei der Wahrnehmung eines Objektes auf, wenn dieses dem aversiven Objekt nur ähnlich ist.

Wichtige psychologische und neuropsychologische Fachbegriffe

Arousal

Generelle Aktivierung im Sinne von Wachheit (im Gegensatz zu Dösen und Schlaf), Vigilanz (Daueraufmerksamkeit) und Erregung (z.B. bei triebgebundenen, emotionalen oder süchtigen Verhaltensweisen).

Chorea Huntington

Syndrom aus geringer Muskelspannung (Hypotonie) mit einschießenden, regellosen Bewegungen (Hyperkinesen), vor allem der Extremitäten-Enden und der Mimik. Es gibt erbliche, infektiöse und altersbedingte Formen.

Reizgeneralisierung

Erweiterung der Reaktivität konditionierter Reaktionen auf Reize, die dem konditionierten Reiz ähnlich sind.

Vertrauen

Nach Erik Erikson (1902–1994) ist Vertrauen zunächst eine Annahme über die grundsätzliche Vorhersagbarkeit von Reaktionen einer Person und überhaupt von Ereignissen in der Welt (Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit). In der Folge können Personen oder Ereignissen wohlwollende Eigenschaften zugeschrieben werden.

1 das Putamen, lat. für Schale

2 das Striatum, von lat. striae für Streifen

3 das Pallidum, lat. für das Blasse, da der Globus pallidus im Gegensatz zum braun gefärbten Putamen faserreicher und damit heller gefärbt ist; der Globus, lat. für Klumpen

21 Archicortex (Regio entorhinalis, Hippocampus, Indusium griseum, Gyrus cinguli)

Die Hippocampus-Formation (mit Subiculum, Ammonshorn und Gyrus dendatus) befindet sich an der Innenseite des Schläfenlappens und unterstützt funktionell vor allem die Abruf-Enkodier-Zyklen. Inputinformation kommt von der Regio entorhinalis, Outputinformation erreicht über mehrere Stationen den hinteren Gyrus cinguli. Das Ammonshorn besitzt lebenslang teilungsfähige Zellen und außerdem die Fähigkeit zur Langzeitpotenzierung, wodurch Konsolidierungsprozesse an den jeweiligen Zielorten unterstützt werden können. Der vordere Teil des Gyrus cinguli reagiert unter Interferenzbedingungen und dient offenbar der Mobilisierung von energetischen und Verarbeitungs-Ressourcen.

21.1 Regio entorhinalis (Area entorhinalis/Area 28 und Gyrus ambiens/Area 34)

Die Regio entorhinalis liegt im vorderen Teil der medialen Temporallappenbasis. Sie wird vor allem durch die Area 28 (Area entorhinalis) repräsentiert (s. Abb. 21.1). Ein kleiner Wulst vor dem Uncus (s. später) enthält die Area 34 (Gyrus ambiens). Im allometrischen Vergleich zur Körpergröße ist die Regio entorhinalis beim Menschen 5½mal größer als bei niederen Säugetieren. Sie dient bei den niederen Säugetieren in erster Linie dem Riechsinn, der in frühen Zeiten der Evolution hauptsächlich Orientierungsfunktionen in Bezug auf das Biotop, die Nahrung und die Sozialpartner besaß. Beim Menschen dient die Regio entorhinalis dem Erwerb und der Nutzung von Objektwissen.

In der obersten Schicht der Area entorhinalis enden über horizontale Fasern Zuflüsse aus benachbarten Teilen des Temporalcortex. Außerdem besitzt sie Afferenzen aus dem Corpus amygdaloideum. In der vierten, magnozellularen Schicht enden Fasern aus dem Gyrus cinguli.

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Abb. 21.1: Medialer Temporallappen mit den Arealen 28 und 34

Die Regio entorhinalis besitzt eine funktionelle Bedeutung vor allem als Bindeglied zwischen der Verarbeitung aktueller Informationen im Temporallappen und den hippocampalen Gedächtnisfunktionen, die die langfristige Speicherung und den Abruf von Informationen unterstützen. Bei niederen Säugetieren stellt die Regio entorhinalis die Verbindung zwischen Riechhirn und dem Gedächtnis über mögliche Duft abgebende Orte her1. Es gibt Evidenz dafür, dass eine erfolgreiche deklarative (d.h. kommunikationsrelevante) Gedächtnisbildung beim Menschen von einer Synchronisation der Nervenzellaktivitäten von rhinalem und hippocampalem Cortex im Gamma-Bereich (d.h. bei 32 bis 48 Hz) begleitet ist (Fell u.a., 2001). Der rhinale Cortex kann als minutenlanger, episodischer Kurzzeitspeicher aufgefasst werden. Die dort hoch abstrahiert vorliegenden Repräsentationen verbindet der Hippocampus mit anderen Orten des Langzeitgedächtnisses (Eichenbaum, 2002).

21.2 Hippocampus (Hippocampus retrocommissuralis)

Der Hippocampus2 liegt medial im Temporallappen und bildet im Boden des Seitenventrikels eine deutliche Vorwölbung. An das vordere, untere Ende des Hippocampus schließt das Corpus amygdaloideum an (s. Abb. 21.2). Das hintere, obere Ende befindet sich unter dem Splenium des Corpus callosum. An dieser Stelle beginnt ein überwiegend efferentes Faserbündel, der Fornix3, der in der Medianebene in einem hoch gewölbten Bogen wieder nach vorn zieht. An der medianen Oberfläche des Hippocampus bilden die basalen Strukturen des Temporallappens einen Halbkreis in Höhe des hinteren Thalamus bzw. des Mittelhirns. Der Hippocampus ist also gewissermaßen in die Basis des Temporallappens eingebettet. Die temporale Rinde direkt unterhalb des Hippocampus wird von der Regio entorhinalis (Areale 28 und 34) gebildet. Von hier stammen die wichtigsten Afferenzen des Hippocampus.

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Abb. 21.2: Lagebeziehungen des Hippocampus (zur Orientierung am Medianschnitt vgl. Abb. 14.6; modifiziert nach Bösel, 2000b)

Man unterschiedet drei Teile des Hippocampus (daher auch oft Hippocampus-Formation genannt): das Subiculum4, das Cornu ammonis5 und den Gyrus dentatus6. Das Subiculum ist der direkt über der Regio entorhinalis liegende Teil des Hippocampus. Im Frontalschnitt zeigt sich die Hauptportion des Hippocampus als eingerolltes Rindenareal, das Cornu ammonis (s. Abb. 21.3). In seiner Längserstreckung erinnert der Hippocampus entfernt an ein Seepferdchen, im Querschnitt an ein Widderhorn. Das Cornu ammonis umschließt im vorderen Teil ein dunkles Zellband, die Fascia dentata. Diese ist am hinteren Ende der medianen Oberfläche als Gyrus dentatus sichtbar. Ansonsten ist der Hippocampus in der Median-Ansicht nicht zu erkennen, da er nach medial vom breiten Gyrus parahippocampalis des Temporallappens und vorn vom lappenartigen Uncus7 (Gyrus uncinatus, vgl. Abb. 17.6) verdeckt wird. Der anteriore Teil des Uncus (Gyrus ambiens, vgl. Abb. 21.1), bzw. nach oben gelegen der kleine Gyrus semilunaris, bedeckt die Amygdala.

Die Blutversorgung des Hippocampus erfolgt über mehrfach verzweigte Äste der Arteria cerebri posterior, deren letzte Äste den Hauptteil des Cornu ammonis versorgen. Bei Sauerstoffmangel entstehen hier leicht Versorgungsstörungen, z.B. bei CO-Vergiftungen oder epileptischen Anfällen.

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Abb. 21.3: Die Hippocampusformation – Coronarschnitt durch den Temporallappen

Die Afferenzen des Hippocampus aus der Regio entorhinalis kommen im Subiculum an und ziehen über den Tractus perforans zum Cornu ammonis, wo sie an überwiegend glutamatergen Synapsen endigen. Am Subiculum endigen auch die Fasern aus dem Cingulum. Damit hat das Subiculum Informationen über die aktuelle Reizverarbeitung (Regio entorhinalis) und über bestehende Voraktivierungen (Cingulum). Wahrscheinlich werden im Subiculum aufgrund eines Vergleichs beider Informationsarten Entscheidungen über die Erfordernis zusätzlicher Gedächtnisaktivierungen getroffen.

Die Efferenzen des Hippocampus ziehen über den Fornix vor allem zum Corpus mamillare (Nucleus medialis) und laufen von dort über den Fasciculus mamillothalamicus Vicq d’Azyr zum Nucleus anterior thalami (s. Abb. 21.4). Dieser projiziert in die hinteren, granulären Teile des Gyrus cinguli (Areale 23 und 29). Weitere efferente Verbindungen des Hippocampus zum Neocortex existieren aufgrund von rückläufigen Verbindungen zum Gyrus cinguli und zur Regio entorhinalis.

Auch wenn die rückläufigen Verbindungen zwischen Hippocampus und Neocortex über verschiedene Umwege laufen, so lassen sie doch erkennen, dass der Hippocampus bei Gedächtnisprozessen eine wichtige Rolle spielt. Der Hippocampus erhält seine besondere funktionelle Bedeutung insbesondere dadurch, dass er bei bestimmten Formen des Gedächtnisabrufs (nämlich beim verbalisierbaren, sog. deklarativen Gedächtnis) und der Gedächtnisbildung (sog. explizites Lernen) aktiv wird. Zahlreiche Autoren schreiben dem „hippocampo-neocorticalen Dialog“ zentrale Funktionen bei der Konsolidierung deklarativer Gedächtnisinhalte zu, auch während des Schlafs (vgl. z.B. Buzsàki, 1996; Stickgold, 1998). Da jeder Speicherungsprozess gleichzeitig mit einem Zugriff auf den jeweiligen Gedächtnisort verbunden ist, stehen zwei funktionelle Fragen im Vordergrund: Unter welchen Abrufbedingungen wird der Hippocampus angesprochen (modulierende Afferenzen)? Wie greift der Hippocampus verändernd auf Gedächtnisorte zu (hippocampales Lernen)?

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Abb. 21.4: Hippocampus, Fornix und Amygdala. Ansicht der rechtshemisphärischen Lagebeziehungen von oben unter Weglassung des Corpus callosum (modifiziert nach Bösel, 1986)

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Abb. 21.5: Schema der Faserverbindungen im Hippocampus (nach Bösel, 2000b). Afferente Fasern erreichen das Cornu ammonis über den Tractus perforans, efferente ziehen über die Fimbria hippocampi zum Fornix (und zu den Mamillarkörpern). Weitere Afferenzen kommen aus dem Sub- und Präfrontalcortex, treten in den Gyrus dentatus ein und erreichen die Segmente CA2 und 3 über Moosfasern. Von hier wirken Schaffer-Kollateralen sensibilisierend auf CA1 zurück und begünstigen dort Langzeitpotenzierung.

Die Verschaltung innerhalb des Hippocampus (s. Abb. 21.5) vollzieht sich vor allem im Hauptsegment des Cornu ammonis CA1. Die Pyramidenzellen dieses Segments erhalten über den Tractus perforans ihre wichtigsten Afferenzen aus der Regio entorhinalis.

Der Fornix führt nicht nur efferente Hippocampus-Fasern, sondern enthält auch Afferenzen aus dem Paläocortex, insbesondere aus dem Medialkern des Septums und dem Diagonalen Band. Über diesen Umweg wirken Informationen, die letztlich aus dem medialen Vorderhirnbündel und dem Frontalcortex stammen, auf den Hippocampus als wichtige modulierende Afferenzen. Sie erreichen das Cornu ammonis hauptsächlich cholinerg über die Fascia dentata. Modulierende Afferenzen treten also über die Fascia dentata ein und erreichen über Körnerzellen im Gyrus dentatus und sogenannte Moosfasern zunächst die nachgeschalteten Segmente CA3 und CA4. Von dort gibt es über die Schaffer-Kollateralen rückläufige Verbindungen zu den CA1-Pyramidenzellen. Durch den modulierenden Einfluss der Schaffer-Kollateralen kann an den CA1-Pyramidenzellen eine Langzeitpotenzierung entstehen.

Die Langzeitpotenzierung im Hippocampus ist vielfach untersucht worden. Sie kann schon – hier allerdings nicht assoziativ – durch die modulierenden Afferenzen der Körnerzellen und Moosfasern an den CA3-Pyramidenzellen erfolgen. Nichtassoziatives Lernen bedeutet Lernen durch sensible Anpassung. Nichtassoziative Langzeitpotenzierung beinhaltet, dass eine hochfrequente Reizung der afferenten Fasern (ca. 100 Hz) zu einem sensibilisierten und somit überdauernd verstärkten Input an die Körnerzellen im Gyrus dentatus (Bliss & Lømo, 1973) und letztlich an die CA3-Zellen führt. Diese Zellen besitzen große Dendritenbäume mit ca. 30.000 Spines. Besondere Aufmerksamkeit hat jedoch die Langzeitpotenzierung in den CA1–Neuronen erfahren, da hier assoziatives Lernen durch das Zusammenschalten der (zu konditionierenden) entorhinalen Afferenzen mit den (als unkonditioniert angenommenen) modulierenden Zuflüssen erfolgt (Kelso u.a., 1986). Sie erfolgt durch glutamaterge NMDA-Rezeptoren, die letztlich die Erregungsübertragung an benachbarten, ebenfalls glutamatergen AMPA-Rezeptoren fördert. Die NMDA-Rezeptoren steuern den Einstrom von Ca2+, die AMPA-Rezeptoren steuern die für die Erregungsübertragung wichtigen Na+-Kanäle. Die CA1-Neurone werden durch die Langzeitpotenzierung gewissermaßen sensibilisiert, was offenbar durch das Einfügen neuer AMPA-Rezeptoren erfolgt (Shi u.a., 1999). Durch niederfrequente Reizung (ca. 1 Hz) findet eine Langzeitdepression statt, was offenbar mit einem Abtransport von AMPA-Rezeptoren einhergeht (Lüscher u.a., 1999).

Ein Beispiel zum Erscheinungsbild gestörter Funktionen des medialen Temporalcortex

Der Patient H.M. litt an schweren epileptischen Anfällen und wurde 1953 als 27-Jähriger einer Operation unterzogen, bei der die medialen Temporallappen beidseitig entfernt wurden. Nach der Operation hatte H.M. einen großen Teil seines Gedächtnisses retrograd verloren und wies vor allem anterograd eine schwere Amnesie auf. Sein Kurzzeitgedächtnis behielt eine Spanne von einigen Sekunden, so dass er einem anspruchslosen Gespräch folgen oder eine einfache Instruktion verstehen konnte. H.M. konnte motorische Fertigkeiten erwerben (Spiegelzeichnen) und konnte früher dargebotene und später nur unvollständig gezeigte Bilder wiedererkennen (Milner u.a., 1968). Auf den Hippocampus-Verlust ist zurückzuführen, dass bei H.M. die Konsolidierung von Inhalten, die später deklarativ wiedergegeben werden sollten, beeinträchtigt war.

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