ANDREAS ESCHBACH

DER
JESUS-DEAL

Thriller

Wenn Sie mit einer Zeitmaschine zur Kreuzigung Jesu reisen könnten – würden Sie versuchen, ihn zu retten?

BASTEI ENTERTAINMENT

Fundstück 1

Im Jahr 1969 verhaftete das FBI einen Hilfskurator des State Museum in Harrisburg, Pennsylvania. Der 37-jährige Mann, dessen Name nur als Wassili R. überliefert ist, war aufgefallen, weil er immer wieder Ausstellungsstücke über Nacht mit nach Hause genommen hatte. Als die Beamten seine Wohnung durchsuchten, fanden sie dort zu ihrer Verblüffung ein Labor vor, das einzig dazu diente, Gegenstände auf das Vorhandensein von Osmium zu untersuchen, ohne sie zu beschädigen.

Die Verhaftung erfolgte am 22. Juli. Da am Tag zuvor amerikanische Astronauten zum ersten Mal auf dem Mond gelandet waren, schaffte es die entsprechende Pressenotiz nur in ein paar lokale Zeitungen.

Wassili R. wurde unter dem Vorwurf der Spionage für die Sowjetunion in Untersuchungshaft genommen. Es kam jedoch nie zu einem Prozess. Nach allem, was man weiß, ist Wassili R. im Jahr darauf gegen einen amerikanischen Agenten ausgetauscht worden.

Fundstück 2

Im Februar 1970 nahm die französische Polizei einen Mitarbeiter des Musée Historique de Haguenau fest, der sich, wie der Polizeisprecher in der Pressekonferenz erklärte, »auffällig benommen« habe: Er habe mehrfach Objekte aus dem Museum mit nach Hause genommen, angeblich, um sie zu reparieren, und dieses Verhalten auch nach ausdrücklichen Anweisungen, es zu unterlassen, fortgesetzt. Tatsächlich habe sich in der Wohnung des Mannes eine Werkstatt befunden, die allerdings einzig darauf ausgerichtet gewesen sei, festzustellen, ob die entliehenen Gegenstände das Element Osmium enthielten.

Der 40-jährige Mann, der erst seit Kurzem bei dem Museum angestellt gewesen war, hatte davor schon in mehreren anderen französischen Museen dasselbe eigentümliche Verhalten an den Tag gelegt. Das hatte aber jeweils nur zu seiner Kündigung geführt.

Auf die Frage eines Reporters, ob Osmium denn so wertvoll sei, erklärte der Commissaire, Osmium sei ein relativ seltenes Metall und demzufolge nicht gerade billig, dennoch sei es weit weniger wertvoll als Edelmetalle wie etwa Gold oder Platin, die in einigen der Exponate durchaus zu finden gewesen wären. Er fuhr fort: »Das Rätselhafte ist, dass Osmium erstmals im Jahr 1804 entdeckt worden ist; vorher war dieses Element völlig unbekannt. Von den Ausstellungsstücken, die der Verdächtige untersucht hat – und das gilt für alle Museen, in denen er angestellt war –, war jedoch keines jünger als zweihundertfünfzig Jahre.«

Der Mann, fügte er hinzu, werde psychiatrisch begutachtet. Man vermute, dass er an Wahnvorstellungen leide, könne aber noch nicht sagen, inwieweit ihn das gefährlich für die Allgemeinheit mache.

Fundstück 3

Am Sonntag, dem 2. Oktober 1994, verschwand den Berichten mehrerer schwedischer Zeitungen zufolge in der Nähe von Göteborg eine Frau unter rätselhaften Umständen und vor Zeugen spurlos aus einem Auto.

Liv B. und ihr Mann Sture waren an dem Tag bei ihren Eltern zu Gast gewesen. Es regnete unerwartet heftig, als sie gegen 14 Uhr aufbrechen wollten. Eine Weile stand die ganze Familie unschlüssig unter dem Vordach und wartete darauf, dass der Regen nachließ. Schließlich drängte Liv B. zum Aufbruch. Ihr Gatte spannte daraufhin seinen etwas zu kleinen Regenschirm auf, begleitete sie damit zum Wagen und hielt ihn über sie, während sie auf der Beifahrerseite einstieg. Ihr Bruder hat diesen Moment fotografiert: Auf dem Foto, das von mehreren Zeitungen veröffentlicht wurde, sieht man einen blonden Kopf hinter dem Wagendach eines roten Volvo und einen Mann, der einen Schirmgriff hält, ferner im Hintergrund dunkle Wolken, Regen und eine grüne, weitläufige Landschaft. Aufgenommen wurde es mit einer Kamera, die Datum und Uhrzeit in die Bilder einblendet; ihr zufolge war es in diesem Augenblick genau 14:05 Uhr.

Sture wartete, bis Liv die Tür zugezogen hatte, ging dann um den Wagen herum, winkte den Wartenden noch einmal zu, rief ein paar Worte zum Abschied und öffnete seinerseits die Tür auf der Fahrerseite. Nach übereinstimmender Meinung der Zeugen – den Eltern von Liv B. und ihrem Bruder – hatte das alles höchstens eine halbe Minute gedauert, eher weniger.

Doch als Sture B. in den Wagen stieg, war dieser zu seiner Verblüffung leer.

Kapitel 1

Er wusste, dass die anderen ihn als Last betrachteten. Er war nur dabei, weil sein Vater, sein mächtiger Vater, darauf bestanden hatte, dass ein Barron an der Aktion teilnahm. Und wer sonst hätte das sein sollen als er, Isaak, der Erstgeborene und designierte Erbe?

Deshalb hatten die Männer ihn auf diesen Posten hier gestellt: um unter sich zu sein. Deshalb stand er sich seit zwei Stunden an der einzigen Bushaltestelle Barnfords die Beine in den Bauch und hielt Ausschau nach einem Auto, das einfach nicht kommen wollte. Er fror. Nur noch ein paar Tage bis Weihnachten: Das merkte man. Der Himmel war eine graue Suppe, aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchfäden empor, und es roch klamm, feucht, kalt.

Ein fernes Brummen, das ein sich näherndes Fahrzeug verriet. Etwa das zehnte oder zwölfte, seit er hier ausharrte, und wahrscheinlich würde es wieder einfach an der Ortschaft vorbeituckern. Trotzdem trat Isaak aus dem Schutz des hölzernen Wartehäuschens und reckte den Hals. Seine Aufgabe mochte überflüssig sein, er würde sie gleichwohl erfüllen, so gut er konnte.

Oh. Ein weißer Toyota. Isaak spürte sein Herz schlagen. Das stimmte schon mal. Zwei Personen darin. Auch das stimmte.

Er duckte sich zurück in den dunklen Unterstand, wartete, bis die Autonummer zu erkennen war. Tatsächlich. Die Nummer, die Whitewaters Leute aus Heathrow durchgegeben hatten.

Isaak zog das kleine Sprechfunkgerät aus der Tasche, drückte die Sprechtaste. »Posten eins«, sagte er leise. »Sie kommen.«

Der Toyota bremste ab, bog nach Barnford ein.

»Verstanden, Posten eins«, kam es krachend aus dem Funkgerät.

Isaak steckte es wieder weg, verfolgte aus der Deckung des Wartehäuschens, was weiter geschah. Das Auto parkte vor dem bewussten Haus. Die Insassen stiegen aus. Der Jüngere der beiden, der am Steuer gesessen hatte, eine Brille trug und sich auffallend gerade hielt, wohl um seine geringe Körpergröße wettzumachen, musste Stephen Foxx sein. Den Namen des Älteren, der sich eben in eine graugrüne Jacke und einen karierten Schal wickelte, hatte Mister Whitewater ebenfalls erwähnt, aber Isaak hatte ihn wieder vergessen.

Sie schauten sich um. Isaak zog sich noch weiter ins Dunkel zurück. Es sah nicht so aus, als ahnten sie etwas. Die beiden traten auf das bewusste Haus zu, lasen das Namensschild auf dem Briefkasten, öffneten das niedrige Gartentürchen, gingen zur Haustüre, klingelten. Ein weißhaariger Mann machte auf, wirkte überrascht – anders als Mister Whitewater und seine Leute hatte er tatsächlich nicht geahnt, dass die beiden kommen würden –, bat sie herein. Die Türe schloss sich wieder.

Er sah auf die Uhr, zog noch einmal das Funkgerät heraus. »Posten eins. Zehn Uhr sieben. Sie sind drin.«

»Verstanden, Posten eins. Dann komm jetzt zurück. Aber unauffällig.«

Na klar unauffällig. Hielten die ihn für blöd?

Wahrscheinlich.

Isaak steckte das Gerät ein und setzte sich in Bewegung. Er spielte den Spaziergänger, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, den Kopf eingezogen. Sah beim Überqueren der Straße erst nach rechts, dann nach links, wie es ihm sein Vater, Mister Whitewater und noch ein halbes Dutzend anderer Leute eingeschärft hatten. Weil sie in England waren, wo die Autos auf der falschen Straßenseite fuhren! Bloß war diese Vorsicht hier in Barnford überflüssig, denn sie befanden sich in einer der abgelegensten Gegenden Südenglands, mitten auf dem Land, und der Verkehr war äußerst überschaubar.

Während er die Straße entlangging, schaute er von den Häusern weg, als interessierten ihn die dunkelbraunen, frisch gepflügten Felder auf der anderen Seite viel mehr. Dann riskierte er aber doch einen Blick auf das Haus, in dem die beiden Männer verschwunden waren: ein kleines, altes Landhaus mit mächtigem Reetdach, halb versteckt hinter Büschen und Bäumen, umgeben von einem Garten, der sich offenbar selbst überlassen blieb, voller Unkraut und modrigem Laub.

Er achtete darauf, nicht langsamer zu werden, sich seine Neugier nicht anmerken zu lassen. Er bog um die Ecke. Da stand der graue Lieferwagen. War jemand zu sehen, der ihn beobachten konnte? Nein. Isaak klopfte kurz. Die Seitentür wurde aufgeschoben, und er stieg schnell ein.

Im Inneren des Wagens stank es nach Schweiß, Kaugummi und Ungeduld. Kein Wunder, die fünf Männer hockten seit heute Morgen hier drinnen, aßen nichts und tranken so wenig wie möglich, damit nicht ständig jemand zum Pinkeln hinausmusste. Das hätte auffallen können, und auffallen war genau das, was sie nicht wollten.

Mister Whitewater bedeutete Isaak, sich nach vorn auf den Beifahrersitz zu setzen, der einzige Platz, der frei war. »Kalt draußen, hm?«, meinte er knurrig. »Ich hoffe nur, der Schnee wartet noch ein paar Stunden. Sonst kriegen wir Probleme.«

»Ja, Sir«, sagte Isaak, der wie so oft nicht recht wusste, was er auf solche Äußerungen sagen sollte. Eric Whitewater war ein enger Freund seines Vaters, ein massiger, kantiger Mann, der einen aus seinen eisgrauen Augen auf eine Art anblicken konnte, dass man sich fühlte wie ein Insekt unter der Lupe.

Einer seiner Leute, Bob, saß mit Kopfhörern am Empfänger der Abhöranlage, die sie irgendwann, irgendwie in dem Haus des Professors installiert hatten. »Klingt, als ob er endlich fertig ist mit seinem verdammten Tee«, verkündete er. »Sie gehen jetzt alle ins Wohnzimmer.« Er drehte an einem Regler. »Ich glaube, es geht schon los. Foxx knallt ihm seine Theorie an den Kopf.«

Whitewater streckte die Hand aus. »Lass mich mithören.«

Bob reichte ihm einen zweiten Kopfhörer. Whitewater setzte ihn auf, dann lauschten beide andächtig. Nach einer Weile sagte er: »Okay. Zeit, dass wir uns bereit machen. Tim, sag Wagen 2 Bescheid.«

Isaak wusste nicht, was in dem Haus vorging und worauf Whitewater und seine Männer warteten. Sein Vater hatte gesagt, das brauche er nicht zu wissen; es komme nur darauf an, dass er dabei sei. Was er wusste, war, dass ihre Aktion eine lange Vorgeschichte hatte. Dass Whitewater und seine Leute diesen jungen Mann, Stephen Foxx, monatelang abgehört und beobachtet hatten. Dass sie gewusst hatten, wann und mit welchem Flug die beiden Männer heute früh in London Heathrow landen würden. Dass in einem zweiten, weißen, kleineren Lieferwagen in der Parallelstraße noch einmal vier Männer auf ihren Einsatz warteten.

Und dass das alles dazu diente, gegen das siebte Gebot zu verstoßen. Sie waren gekommen, um etwas zu stehlen.

Alle Männer bis auf Bob standen auf, überprüften ihre Waffen, steckten sich die Ohrstöpsel der Funkgeräte in die Ohren. Sie waren alle schwarz gekleidet: schwarze Hosen, schwarze Rollkragenpullover. Aber was sie wirklich gefährlich wirken ließ, war das Funkeln in ihren Augen.

Whitewater holte kleine goldene Kreuze aus einer Schachtel und verteilte sie an die Männer.

»Damit sehen wir aus wie Pfarrer«, meinte einer grinsend, während er es sich umhängte. »Die werden denken, der Vatikan schickt uns.«

»Gut«, sagte Whitewater mit einem so kalten Ton in der Stimme, dass den Männern das Grinsen in den Gesichtern gefror. »Genau das sollen sie nämlich auch denken.«

»Und dann?«

Michael sah durchaus, dass sein großer Bruder todmüde war von dem Flug und allem. Aber er musste das jetzt wissen! Er saß auf Isaaks Bett, die Arme um die aufgestellten Beine geschlungen, weil ihm kalt war, und wartete ungeduldig darauf, dass es weiterging.

Isaak gähnte, dass sein Kiefer knackte, und spähte dann nach der Uhr auf seinem Nachttisch. »Halb vier! Sag mal, wieso bist du überhaupt wach?«

»Mom hat mir verraten, dass du heute Nacht zurückkommst«, erklärte Michael. »Also hab ich mir den Wecker gestellt und bin früh ins Bett, ganz einfach.« Isaak brauchte nicht zu glauben, dass er als Einziger cool war.

Obwohl Isaak schon ziemlich cool war. Es verschlug Michael manchmal regelrecht den Atem, wenn er darüber nachdachte. Was er sich natürlich auf keinen Fall anmerken lassen durfte. Isaak war vier Jahre älter als er, schon achtzehn und … nun, einfach vollkommen. Hatte in der Schule in den meisten Fächern beste Noten. War groß, stark und sportlich. War fromm und gottesfürchtig wie kaum jemand, den Michael kannte. Hatte in all seinen Dingen makellose Ordnung, vergaß nie zu beten, wusste alles, konnte alles, hatte keinerlei Schwächen und bot allen Versuchungen Satans unanfechtbar die Stirn. Die Mädchen an der Schule schwärmten alle für ihn. Isaak war auch zu allen freundlich, aber er ließ sich auf nichts ein, obwohl er wirklich nur mit den Fingern hätte schnippen müssen.

Dass er selber jemals so tugendhaft sein würde, daran hegte Michael schmerzhafte Zweifel. Allein, was ihm manchmal an sündigen Gedanken durch den Kopf ging, wenn er an Jennifer dachte, das neue Mädchen an der Schule, die lange, blonde Haare hatte, einen Zopf bis zum Hintern –

»Jetzt erzähl schon!«, drängte er seinen Bruder.

Isaak seufzte, richtete sich auf und hob ein Stück seiner Bettdecke an. »Deck dich wenigstens zu. Ich frier ja, wenn ich sehe, wie du da sitzt und bibberst.«

Michael schlüpfte bereitwillig unter die warme Decke, streckte die kalten Zehen aus, bis sie Isaaks Schenkel berührten. Isaak zuckte zusammen, aber er beschwerte sich nicht. Typisch Isaak. Sein Bruder hatte sich schon immer für andere eingesetzt, fast so, wie die Helden und Heiligen in den Geschichten es taten. Vor einiger Zeit zum Beispiel für seinen Kunstlehrer, Mister Lofelmaker, der aus Gründen, über die man nichts Näheres erfahren hatte, mitten im Schuljahr entlassen worden war. Isaak war in einer Versammlung zu diesem Thema aufgestanden und hatte vor dem Rektor, den Eltern und den anderen Lehrern erklärt, wie ungerecht er das fände. Und dabei war es ihm bestimmt nicht um seine Noten gegangen, denn die waren ausgerechnet bei Mister Lofelmaker nicht besonders gut gewesen!

»Also?« Michael stupste seinen Bruder mit seinen kalten Zehen. Das hatte Isaak nun davon! »Mister Whitewater hat seinen Männer goldene Kreuze gegeben, und dann?«

»Dann sind sie los. Zackig. Tür auf, raus, Tür zu, über die Straße zu dem Grundstück, mit einem Schritt über den Zaun und rein ins Gebüsch. Und im nächsten Moment waren sie so gut wie unsichtbar.« Isaak klang jetzt so angespannt, als erlebe er alles in der Erinnerung noch einmal. »Die drei Männer aus Wagen 2 hatten den Befehl, von hinten durch die Kellertür ins Haus einzudringen und sich bereitzuhalten, um auf das Signal hin sämtliche Fluchtwege abzuschneiden. Sie hatten Nachschlüssel, mit denen das völlig lautlos gehen würde. Bob hat mich angegrinst und mir auch einen Kopfhörer gegeben, damit ich mithören konnte. Man hat sie nur atmen hören. Plötzlich sagt Whitewater: Mist. Was ist, fragt Bob. Darauf Whitewater: Matthew ist auf einen Ast getreten, das hat die Vögel von den Bäumen aufgescheucht. Gib ans Team 2 weiter, sie sollen im Keller warten.«

Michael presste die Lippen zusammen, schlotterte ein bisschen an den Schultern. Musste an der Kälte liegen. Er rutschte ein Stück tiefer unter die Decke. »Und dann?«

»Eine Weile ist alles still«, fuhr Isaak fort. »Bob hat immer zwischen zwei Hörern hin und hergewechselt, auf dem einen hat er belauscht, was die drinnen im Wohnzimmer geredet haben, auf dem anderen waren die Männer. Okay, sagt er schließlich, ich glaube, die haben nichts gemerkt. Sie gehen grade rüber ins Arbeitszimmer. Foxx hat dem Professor ganz schön zugesetzt. Nur noch eine Frage von Minuten, bis er das Zielobjekt herausholt, würde ich sagen. Gut, sagt Whitewater, sobald er das tut, schlagen wir zu.« Isaak atmete geräuschvoll aus. »In dem Moment dreh ich mich um und seh, dass gerade ein großer Lastwagen in die Straße einbiegt.«

»Puh!«, entfuhr es Michael. »Was für ein Lastwagen?«

»Riesig, weiß, mit ’nem Firmenlogo drauf. Da kommt was, sage ich zu Bob. Der guckt hoch und sagt: Mist.« Isaak grinste. »Also, in Wirklichkeit hat er natürlich nicht Mist gesagt, sondern richtiggehend geflucht.«

»Klar«, sagte Michael. Wer hätte das nicht in so einer Situation? Ihm flatterte vom bloßen Zuhören die Bauchdecke.

»Eric, sagt er, da kommt gerade ein Möbeltransporter, ihr müsst einen Moment warten. Darauf hat Mister Whitewater geflucht und gesagt, es wird doch nicht jemand umziehen. Dann hat er gemeint, okay, wir warten, bis sich die Lage klärt. Ich beobachte den Lastwagen, wie er drei, vier Häuser vor uns hält. Zwei Männer steigen aus, lassen die Klappe runter. Der Wagen steht mit dem Führerhaus zu uns, sodass wir nicht reinschauen können. Eine Frau kommt aus dem Haus, graue Haare, rosa Kittelschürze. Gleich darauf sehen wir, sie laden eine Waschmaschine aus und karren sie ins Haus. Es scheint nur eine Waschmaschine zu sein, gibt Bob durch. Okay, sagt Whitewater, wir warten noch. Wir haben Zeit, die schauen sich das Ding gerade an.«

»Was für ein Ding?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls, wir rühren uns nicht. Nach einer Weile kommt einer von den Männern raus, zum Rauchen. Steht rum, glotzt in die Luft, zieht die Schultern ein, weil er friert, geht wieder rein. Ich hab ständig die Uhr im Blick. Eine Viertelstunde, zwanzig Minuten. Dann kommen sie wieder zum Vorschein, eine andere, alte Waschmaschine auf der Trage, laden sie auf, steigen ein und fahren davon. Bob gibt durch, als sie außer Sicht sind, und Whitewater sagt sofort: Okay. Zugriff. Und im nächsten Moment klirrt es so laut, dass mir die Ohren wehtun.«

»Was ist passiert?«

»Sie haben zwei Glastüren zum Garten eingeschlagen und sind rein. Bob hört an der Abhöranlage mit, meint, super, genau der richtige Zeitpunkt. Sie haben alles unter Kontrolle, die drei leisten keinen Widerstand. Eric hat das Zielobjekt gesichert, nur der Junge mault ein bisschen rum, ansonsten alles unter Kontrolle. Dann sagt Bob: Okay, Abzug. Er verscheucht mich vom Beifahrersitz, meint, ich soll die Tür hinten aufmachen, setzt sich ans Steuer und lässt den Motor an. Whitewater und die anderen kommen angespurtet, springen auf, und los geht es. Wir haben vier verschiedene Fluchtwege vorbereitet, aber es verfolgt uns niemand, also bleiben wir beim ersten Plan. Wir biegen nach ein paar Meilen ab auf einen Feldweg in den Wald, auf eine Lichtung, wo der Hubschrauber steht. Wir alle rein bis auf zwei Männer, die zurückbleiben, um die beiden Autos fortzubringen und dann unterzutauchen. Der Hubschrauber hebt ab, bringt uns zu einem Flugplatz, wo ein Jet wartet, und ab geht es nach Hause.« Isaak, der zuletzt nahezu atemlos erzählt hatte, holte Luft. »Kommt mir ganz seltsam vor, dass es Nacht sein soll. Ich hab im Flugzeug geschlafen und bin jetzt irgendwie total durcheinander.«

Michael war ganz kribbelig, weil die brennendste Frage trotz allem unbeantwortet geblieben war. »Und was war das? Was war das für ein Ding, das ihr erbeutet habt?«

Sein großer Bruder schwieg in dem Dämmerlicht, das das Zimmer beherrschte.

»Ich weiß es nicht«, wisperte er schließlich kaum hörbar. »Dad hat gesagt, es sei der wichtigste Gegenstand der Welt. Sein oder Nichtsein hängt daran, hat er gesagt. Unser Seelenheil. Das Schicksal der gesamten Menschheit.«

Kapitel 2

Religion in Amerika ist eine gigantische Multi-Milliarden-Dollar-Industrie, die Tausenden von Männern und Frauen Arbeit gibt und Menschen mit viel Talent und Ehrgeiz anzieht. Die Einkommen von Männern wie Swaggart, Falwell, Robertson und Schuller gehen in die Millionen Dollar. Sie fliegen mit Privatjets in der Welt herum, frühstücken mit Präsidenten, plaudern mit Premierministern und sind der äußeren Erscheinung nach nicht von den Wirtschaftskapitänen und Firmenchefs zu unterscheiden, die andere, weltliche, multinationale Unternehmen leiten.

Malise Ruthven, »The Divine Supermarket«

Da Samuel Barron ein reicher Mann war, wunderte es niemanden, dass er ein beeindruckendes Anwesen auf Long Island besaß. Er wohnte in einem Abschnitt der Gold Coast, an dem sich noch keine neureichen Internet-Milliardäre oder gar durch unzüchtige Rap-Songs zu unverschämt viel Geld gekommenen Musiker breitgemacht hatten. Derlei würde auch niemals geschehen. Der stille, zwischen Glen Cove und der Oyster Bay gelegene Küstenabschnitt war ein Refugium, bewohnt von vorwiegend alteingesessenen, vor allem aber entschieden christlichen Familien und ihren Bediensteten. Man war hier nahe genug an New York, um nicht gänzlich von der Welt abgeschnitten zu sein, konnte seine Kinder aber auf private Schulen schicken, auf denen sie vor der andernorts üblich gewordenen Verkommenheit der Sitten so weit geschützt waren, wie es eben möglich war.

Samuel Barron und seine Familie galten allerdings, obwohl seit über dreißig Jahren ansässig, immer noch als Neuankömmlinge, denn er hatte sein Vermögen zu seinen eigenen Lebzeiten gemacht. Vom Sohn eines Bankangestellten aus Richmond, Virginia, hatte er es zum Multimilliardär gebracht, dank geschickter Investments und, wie er nie hinzuzufügen vergaß, mit Gottes Hilfe. Dass Samuel Barron einer der reichsten Männer der Welt war, wussten außer ihm nur wenige Vertraute – und die Steuerbehörde natürlich. Nicht, dass Samuel Barron gern Steuern gezahlt hätte, erst recht nicht heutzutage, wo man davon ausgehen musste, dass mit seinem Geld Abtreibungen bezahlt, gotteslästerliche Kunst gefördert und pseudowissenschaftliche Irrlehren wie die Evolutionstheorie propagiert wurden. Aber wie jedermann in der Bibel nachlesen konnte, hatte Jesus gesagt, »gebt des Kaisers, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«, also musste es eben sein. Worauf Samuel Barron allerdings keinerlei Wert legte, war, in irgendwelchen dummen Rankings irgendwelcher dummer Zeitschriften aufzutauchen. Er hatte es bis jetzt verstanden, diesbezüglicher Aufmerksamkeit zu entgehen. Sollten die Leute diesen bebrillten Computerfreak von der Westküste für den reichsten Mann der Welt halten, das war Samuel Barron gleichgültig.

The Barron’s entsprach der Verschwiegenheit seines Besitzers vollkommen: Von der Straße aus sah man nur eine durch ein schlichtes, weißes Gitter versperrte Zufahrt, hinter der eine schmale Asphaltstraße einen bewaldeten Hügel hinaufführte, ein Anblick, der so uninteressant war, dass zufällige Passanten keinen weiteren Gedanken daran verschwendeten. Erst wenn man den Hügel passierte, öffnete sich das Gelände, boten sich gepflegte Hecken und üppige Bäume dem Blick dar, und man sah, dass die Zufahrt vor einem prächtigen, mehrflügeligen Haus im klassischen Stil endete. Ein Netz weitläufiger Wege führte zu Gästehäusern, überdachten Stellplätzen, einem Hubschrauber-Landeplatz, einem Pferdestall, einer stattlichen Schwimmhalle mit Außen-Pool und schließlich zum Privatstrand am Long Island Sound. Dass abseits und hinter Büschen und Bäumen versteckt noch Wohnhäuser für die Hausangestellten standen, blieb Gästen für gewöhnlich verborgen.

Und Gäste gab es häufig auf The Barron’s. Immer wieder sprachen hochrangige Vertreter der World Evangelical Alliance vor, eines weltweiten Netzwerks von Kirchen in 128 Nationen und von über hundert internationalen Organisationen. Sie kamen, um mit Michaels und Isaaks Vater die aktuelle Lage der Mission zu besprechen und, nun ja, um mehr Geld dafür zu bitten, eine Bitte, der sich Samuel Barron nie widersetzte. Ab und an trafen sich Arbeitskreise, um hinter den verschlossenen Türen des Großen Salons und unter dem Vorsitz von Samuel Barron zu beraten, wie sich das Wort Gottes noch besser, noch wirkungsvoller, noch effizienter verkünden ließ. Und viermal im Jahr kamen führende Vertreter der wichtigsten evangelikalen Organisationen zusammen, der Southern Baptist Convention etwa oder der Cornerstone Church, der christlichen Entwicklungshilfeorganisation World Vision International, den Gemeinden Christi, der Pfingstbewegung, der Mega-Churches, der Amerikanischen Missionsgesellschaft, der North American Christian Convention und so weiter, um gemeinsam zu beten, einander im Glauben zu stärken und Erfahrungen auszutauschen. Seit sich ihr Vater aus dem aktiven Geschäftsleben zurückgezogen hatte, widmete er all seine Zeit und Energie dem Wort Gottes und seiner Erfüllung.

Ein Treffen so kurz vor Weihnachten, und noch dazu ein so großes – das hatte es allerdings noch nie gegeben.

Das, dessen war sich Michael Barron sicher, konnte nur mit diesem geheimnisvollen Ding aus England zu tun haben!

Er beobachtete das Eintreffen der Gäste von dem runden Fenster des grauen Salons aus. Das war ein kleiner, direkt über dem Haupteingang gelegener Raum, in dem Isaak und er sich oft aufhielten, um Hausaufgaben zu machen oder die Bibel zu studieren. Er sah zu, wie schwere, schwarze Limousinen vorfuhren, wie Leute in dunklen Anzügen und Wintermänteln ausstiegen, von Vater begrüßt und von den Hausangestellten zu ihren Zimmern gebracht wurden. Er wusste, dass viele der hochrangigen Kirchenleute mit eigenen Business-Jets kamen, vor allem die aus den Südstaaten. Sie landeten für gewöhnlich auf dem Long Island MacArthur Airport, wo Vaters Chauffeur sie mit dem Lincoln abholte.

Die Männer – es waren nur Männer – wirkten noch ernster als sonst. Aber vielleicht lag das auch nur an dem trüben Wetter. Die Rasenflächen waren von Reif bedeckt oder einem Hauch Schnee, der Himmel war so grau wie das Meer, konturlos, unbestimmt, bedrückend. Wenn man den Kopf hinausstreckte, roch es ganz unmerklich nach Rauch, auf eine unheilvoll wirkende Weise – so, als stamme der Rauch nicht aus den Kaminen von Glen Cove oder Bayville, sondern von einem fernen Unglücksort.

Als kein weiteres schwarzes Auto mehr kam und das, das zuletzt angekommen war, gerade zu den Stellplätzen rollte, kam Isaak herein. Er trug Anzug, Hemd und Krawatte, sah einfach umwerfend aus.

Mit anderen Worten, er würde an der Besprechung teilnehmen.

Natürlich. Er war ja der Erbe. Er musste über alles Bescheid wissen.

»Erzählst du mir danach, was das für ein Ding war?«, bat Michael.

Isaak trat neben ihn ans Fenster, blickte hinab auf den Vorplatz, wo nichts mehr zu sehen war. Eines der Zimmermädchen, eine ältere, ziemlich hässliche Frau aus New Jersey, ging in Richtung der Gästehäuser, eine hellbraune Decke über dem Arm. »Ich werde dir erzählen, was ich dir erzählen darf«, sagte Isaak sanft.

Michael nickte nur. Er wurde auf ein Geräusch aufmerksam, das schon seit einer ganze Weile da war. »Der Hubschrauber!«, meinte er verwundert.

Isaak spähte zum Himmel. »Das wird Mister Graham sein.«

»Der kommt auch?«

»Natürlich.«

Michael erschauderte unwillkürlich. In Vaters Arbeitszimmer hing eine Reihe von gerahmten Fotos, die Mister Graham betend an der Seite fast aller US-Präsidenten seit Eisenhower zeigten. Der Reverend war nicht nur der berühmteste und erfolgreichste Erweckungsprediger der Welt, sondern hatte auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die verschiedenen christlichen Kirchen und Gruppierungen ihre unterschiedlichen Auffassungen im Einzelnen beiseitegelassen hatten, um die grundlegendste Aufgabe gemeinsam anzupacken, nämlich das Evangelium zu den Menschen hinauszutragen.

»Vier Tage vor Heiligabend?«, flüsterte Michael, während sie zusahen, wie sich der Hubschrauber von Westen kommend näherte. »Es muss wirklich wichtig sein.«

Isaak sagte nichts, spannte nur den Unterkiefer an.

Die Maschine war laut, aber nicht laut genug, um das charakteristische Tock-Tock-Tock von Vaters Gehstock völlig zu übertönen, das dessen Kommen stets vorausging. Sie fuhren herum, doch da öffnete sich schon die Tür, und er kam herein. Wie immer, wenn er einen Raum betrat, war es, als fülle er ihn vollständig aus, jede Ecke und jeden Winkel und jeden Spalt darin.

»Hier seid ihr«, stellte er fest. In dem Anzug, der von genau dem gleichen hellen Grau war wie seine Haare, sah er noch breitschultriger und kantiger aus als sonst. »Michael«, sagte er. »Ich will, dass du heute auch dabei bist. Geh und zieh dich um.« Er musterte Isaak kurz, nickte zufrieden. »Gut so. Mein Sohn.«

Ja! Endlich! Michael hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Du meinst … bei der Besprechung? Ich soll bei der Besprechung dabei sein?«

Vater musterte ihn eindringlich. Er konnte sehr eindringlich schauen mit seinen leuchtend blauen Augen. »Du bist alt genug, um dich benehmen zu können, und du musst Bescheid wissen. Also beeil dich. Du auch, Isaak. Macht euch darauf gefasst, dass heute wahrscheinlich der wichtigste Tag eures bisherigen Lebens ist.«

Mutter half ihm. Ein Glück, denn er war auf einmal so aufgeregt, dass er nie im Leben eine Krawatte gebunden gekriegt hätte! Die Neugier, die er bis jetzt schon kaum hatte bezähmen können, hatte durch die Ankündigung seines Vaters eine Intensität angenommen, die sich geradezu sündhaft anfühlte.

»Das hätte er mir auch früher sagen können, oder?«, meinte er, während seine Mutter ihm geduldig das Hemd zurechtzog. »Weißt du eigentlich, was da los ist?«

»Ach, dein Vater«, sagte sie nachsichtig. Sie war fünfzehn Jahre jünger als sein Vater, war immer noch eine schöne Frau. »Er will euch einfach seinen Freunden vorstellen, denke ich. Und ihr seid beide alt genug, um an den Gesprächen der Männer teilzunehmen. Ihr müsst es ja lernen.«

Michael betrachtete sich im Spiegel. Die Krawatte saß perfekter als sonntags zur Kirche. »Aber die kommen nicht deswegen, oder?«

»Bestimmt nicht«, meinte Mutter schmunzelnd und griff nach der Bürste, um sein Jackett noch einmal zu bearbeiten.

»Weswegen dann?«

»Das weiß ich auch nicht. Dein Vater macht ein großes Geheimnis darum. Aber du wirst es ja hören.« Sie hielt ihm das Jackett hin.

Michael schlüpfte hinein. »Und du?«

»Das ist Männersache.« Sie drehte ihn zu sich her, betrachtete ihn prüfend und schien zufrieden zu sein. »Begrüß alle mit Namen, hörst du?«, ermahnte sie ihn und zupfte ihm ein paar Stäubchen vom Revers, wo gar keine waren. »Gib jedem die Hand. In der Besprechung bist du am besten still, solange du nichts gefragt wirst, hörst du?«

»Schon klar«, meinte Michael.

»Mach einfach einen guten Eindruck. Das ist deinem Vater das Wichtigste.« Mit diesem wenig hilfreichen Rat schob sie ihn zur Tür seines Ankleidezimmers hinaus.

Am unteren Ende der Treppe stand ausgerechnet Reverend Graham und sagte gerade zu jemandem, der ihm kaum bis ans Kinn reichte: »… echter Anlass zur Hoffnung, dass der Präsident ein gottesfürchtiger –«

Dann unterbrach sich der große, greise Mann mit der hohen Stirn, wandte sich ihm zu und meinte: »Na, wenn mich nicht alles täuscht, bist du der junge Michael Barron?«

»Ja, Sir«, brachte Michael mühsam heraus und schüttelte ehrfürchtig die dargebotene Hand.

»Wie groß du geworden bist«, sagte der Reverend. »Das letzte Mal habe ich dich gesehen, als du noch so klein warst« – er deutete eine Höhe an, die Michaels Größe entsprach, als er etwa sieben gewesen war, was erstaunlich gut hinkam –, »und das kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen!«

»An den Kindern merkt man, wie die Zeit vergeht«, meinte der untersetzte Mann, in dem Michael Jim Nelson vom Wheaton College erkannte. Er begrüßte auch ihn höflich, anschließend Richard Miller von World Vision, Andrew Merritt von der North Creek Community Church, Tim Stone von der New Birth Missionary Cathedral, Howard Block von der Crossroads Missionary Church, Lawrence Pierce von der East Angeles Church, und dann setzte sich schon alles in Bewegung in Richtung Großer Salon.

Stockungen an der Tür. Männer, die den Tisch abschritten, nach ihrem Namenskärtchen suchten. Mobiltelefone, die aus Taschen gezogen und abgeschaltet wurden. Stühle, die verschoben wurden, Gelächter, das von der holzgetäfelten Decke widerhallte. Ein Geruch von Aftershave lag in der Luft. Der Große Salon war das Herzstück des Hauses und der Raum, der am ehesten den Eindruck erweckte, als lebten sie in einem Schloss: mit all den goldgerahmten Ölgemälden, die biblische Szenen zeigten, den Kronleuchtern und den gewaltigen Samtvorhängen vor den Fenstern, die hinaus auf den Park mit dem Springbrunnen gingen.

Isaak winkte ihn her, hatte ihre Plätze ausgemacht: ganz am Ende der Tafel, mit dem Rücken zu den Fenstern. Gut. Dort würden sie nicht groß auffallen.

Wie ruhig und gelassen Isaak wirkte! Michael setzte sich beklommen. Er spürte einen regelrechten Krampf im Bauch, war aber entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. Er hoffte nur, dass er nicht zwischendrin aufs Klo musste!

Jetzt erst sah er, dass sogar Mister DenHaag gekommen war, der Gouverneur von North Carolina, von dem es hieß, er habe Chancen, in ein paar Jahren Präsident zu werden. Er war ein alter Freund ihres Vaters – sie redeten einander mit »Sam« und »Gerald« an – und hatte einen der Ehrenplätze direkt neben Reverend Graham.

»Reverend, wenn Sie vielleicht ein Gebet sprechen würden, ehe wir anfangen?«, bat Vater, der am Kopfende des Tisches saß, direkt unter einem Bild, das die Auferstehung Jesu zeigte: der beiseitegerollte Fels, ein gewaltiger Engel, halb schwebend, und Jesus, der verklärt aus dem Grab stieg.

Der Reverend nickte. »Gern.« Er faltete die Hände, schloss die Augen, senkte den Kopf, und alle taten es ihm gleich.

Alle bis auf Michael. Er faltete zwar die Hände, konnte sich aber nicht von diesem Anblick losreißen: Wie all diese mächtigen, eindrucksvollen Männer mit demütig gesenktem Haupt dasaßen und sich betend verneigten vor Jesus Christus, dem Sohn Gottes.

»Herr Jesus«, sprach der greise Reverend mit seiner immer noch kraftvollen Stimme, mit der Stimme eines Propheten, »aus tiefstem Herzen danke ich dir für dein Opfer am Kreuz. Dein Blut hat mich von der Sünde gereinigt und mich der Vergebung teilhaftig werden lassen. Mag die Welt ringsum auch in Aufruhr sein, dein Frieden lebt in meinem Herzen, weil ich in der Hoffnung auf deine triumphierende Rückkehr leben darf. Amen.«

»Amen«, wiederholten die Männer ringsum im Chor, auch Isaak. Michael dagegen brachte kein Wort heraus. Aber es achtete ohnehin niemand auf sie, oder? Alle blickten nur gespannt auf Vater, warteten, was er ihnen zu sagen haben würde.

»Sie fragen sich alle, warum ich Sie hergebeten habe und warum so dringend«, begann Vater ernst, die Hände immer noch gefaltet. Wie er in die Runde sah! Als wären seine Augen Radargeräte. »Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen als unbedingt nötig, aber es ist schwierig, den Sachverhalt angemessen zu erklären. Lassen Sie mich beginnen, indem ich Ihnen von einer Zeit erzähle, in der ich – ich bekenne es – an Gottes Weisheit und an seinem Plan für mich gezweifelt habe.«

Michael hielt den Atem an. Vater? Unmöglich.

»Und wie Gott mich dann«, fuhr Vater fort, »eines Besseren belehrt hat.«

Es bedurfte nur einiger Tastendrücke auf einer Fernbedienung: Eine Leinwand glitt vor dem Gemälde aus der Decke herab, die Verdunkelung der Fenster schloss sich, und ein bis dahin verborgener Projektor schaltete sich ein. Das Bild, das er auf die Leinwand warf, zeigte das Cover einer alten Ausgabe einer Business-Zeitschrift. Hinter der Überschrift John Kaun – Manager des Jahres war ein Mann in einem dunkelblauen Anzug abgebildet, ein Mann mit dem arrogant-aggressiven Blick eines typischen Top-Managers.

»Ich habe«, begann Samuel Barron, »vor Jahren eine beträchtliche Summe in Kaun Enterprises investiert, einen Konzern, dessen bekannteste Marke der Fernsehsender N.E.W. – News and Entertainment Worldwide – gewesen ist. Mein Beweggrund war jedoch, anders als wohl bei den meisten Investoren, nicht die Hoffnung auf exorbitante Profite. Im Gegenteil, die habe ich gar nicht erwartet. Mein Grund war vielmehr ein ganz bestimmtes Projekt dieses Herrn hier.« Er wies auf das projizierte Bild. »Sie werden sich vielleicht noch an John Kaun erinnern. Er war eine Weile einigermaßen prominent, trat in Talkshows auf, in Werbespots für seinen Sender, war Dauerthema in den Klatschspalten. Ein Emporkömmling, den ich offen gestanden lange Zeit überhaupt nicht beachtet hatte. Doch eines Tages erfuhr ich, dass Kaun umfangreiche archäologische Ausgrabungen in Palästina finanzierte, und das gab mir zu denken. Sie wissen alle, wie sensibel solche Ausgrabungen sein können, vor allem, wenn historisch relevante Dinge gefunden werden – denken Sie an die Schriftrollen von Qumran!«

Allgemeines Nicken in der Runde. Alle hörten gespannt zu. Niemand beachtete die Wasserflaschen und die chromglänzenden Kaffeekannen.

Ein Tastendruck, ein neues Bild: ein siebzigjähriger Mann in staubig-weißer, verknitterter Arbeitskleidung, der einen breitkrempigen Sonnenhut trug und verkniffen in die Kamera lächelte. »Geleitet wurden die Ausgrabungen damals von einem gewissen Charles Wilford-Smith. Als ich mich näher erkundigte, erfuhr ich, dass es sich dabei um einen Professor für Geschichte handelte, der an einem eher dubiosen Institut lehrte, nämlich der Universität von Barnford.«

»Barnford!«, stieß jemand hervor.

»Das ist diese Sekte, oder?«, fragte ein anderer. »Die sich frech True Church nennt?«

Einige nickten bestätigend, darunter auch Reverend Graham, der spitzlippig hinzufügte: »Dreist.«

»Genau so ist es«, bestätigte Samuel Barron. »Angesichts dieser Kombination – ein Vertreter einer pseudochristlichen Sekte und ein Tycoon, dessen Gott Mammon hieß – hielt ich es für ratsam, dass jemand mit biblischem Hintergrund zumindest ein Auge auf diese Sache hatte. Ich habe gebetet und Gottes Willen erforscht und war überzeugt, richtig gehandelt zu haben.« Er ließ das nächste Bild aufleuchten, das Plakat einer Ausstellung von Funden aus der Zeit König Salomos, die vor Jahren in New York stattgefunden haben musste. »Eine direkte Beteiligung an dem Projekt war aufgrund der Konstruktion des Konzerns nicht möglich, also habe ich Anteile an der Holding erworben. Damit war zwar keinerlei Einfluss auf die Ausgrabungen verbunden, aber zumindest wurde man auf dem Laufenden gehalten, sodass ich, so meine Überlegung, gegebenenfalls auf anderem Wege hätte reagieren können.«

Michael Barron beobachtete die Männer entlang des Tisches, die ihrerseits seinen Vater beobachteten, die meisten mit gerunzelter Stirn. Sie fragten sich, worauf das hinauslaufen würde.

Das fragte er sich allerdings auch.

»Eines Tages, vor etwa drei Jahren, geschah etwas. Was genau, das wusste niemand. John Kaun stand damals gerade mitten in Übernahmeverhandlungen für eine australische Zeitung. Eine große, riskante Sache – aber statt nach Melbourne zu fliegen, flog er nach Israel und kümmerte sich nicht mehr um die Vertragsverhandlungen. Der Deal platzte, doch Kaun blieb in Israel auf Tauchstation.«

Jetzt kam Aufregung in die Anwesenden. »Sie hatten etwas gefunden!«, mutmaßte einer.

Michaels Vater hob die Arme in einer Geste des Nichtwissens. »So sah es aus. Wobei die wenigsten Menschen von diesen Ausgrabungsarbeiten gehört hatten. Wie auch immer, das Nächste, was man erfuhr, war, dass es in Israel zu irgendwelchen Schießereien gekommen war und John Kaun dort vor Gericht stand. Er entging nur um Haaresbreite einer Gefängnisstrafe, kehrte in die USA zurück – und tat etwas, womit niemand gerechnet hatte: Er zerschlug seinen eigenen Konzern, ließ sich von seiner Frau scheiden und wandte sich vom Geschäftsleben ab. Nicht ganz – er leitet heute, soweit man weiß, eine unbedeutende Fabrik für Kartoffelchips in Oklahoma. Aber was das Parkett der Hochfinanz und des Big Business anbelangt, hat John Kaun aufgehört zu existieren.«

Hier und da Kopfnicken. Gouverneur DenHaag sagte: »Ich erinnere mich. Das hat einiges Aufsehen erregt. Ein paar Wochen lang zumindest.«

»Für die Anteilseigner war die Auflösung von Kaun Enterprises ein Schock. Nach allerlei juristischem Hickhack entschädigte man uns mit Anteilspaketen an unverkäuflich gebliebenen Subunternehmen. So fand ich mich eines Tages im Teilbesitz eines New Yorker Verlages, der nicht einfach nur weltliche, sondern, um es geradeheraus zu sagen, unchristliche, verderbliche Schundliteratur publizierte!« Er wechselte das Bild. Die Fotografie eines Verlagsprospektes, der blutbespritzte und anzügliche Buchumschläge nebeneinander präsentierte. »Hier. Und das ist noch das, was vorzeigbar ist. Ich war wider Willen Verleger geworden von sogenannten Liebesromanen, die Ehebruch propagierten, von angeblichen Sachbüchern, die Sodomie verherrlichten, für unbiblische Gleichheit der Geschlechter eintraten oder spiritistische Irrlehren verbreiteten, von Kriminalromanen, die an primitivste Instinkte appellierten, ja, sogar von regelrecht pornografischen Werken!«

Michael starrte gebannt auf das Bild. Auf einem der Cover waren umrisshaft ein Rippenbogen und der Ansatz einer weiblichen Brust zu sehen, ein Anblick, der ihm durch und durch ging und übrigens wunderschön vorkam. Hatte Gott nicht auch diese Gestalt geschaffen? Wie konnte sie dann verderblich sein? Das waren alles Zusammenhänge, die er noch nicht verstand, doch nach denen er aus einem Grund, den er nicht hätte nennen können, nicht zu fragen wagte.

Er betrachtete seinen Vater, der sich die geballten Fäuste vor die Brust schlug und rief: »Ich bekenne, ich habe gezweifelt! Was war es, das Gott von mir wollte? War ich einen ganz falschen Weg gegangen? Ich wusste es nicht. Ich wusste es – wirklich – nicht.«

Die letzten Worte unterstrich er mit Faustschlägen gegen seine eigene Brust. Dann griff er nach der Fernbedienung, ließ den Projektor erlöschen und schaltete gedämpftes Licht im Saal ein.

»Wollte Gott, dass ich dieses sündhafte Schriftgut ausmerzte? Dieses Ansinnen scheiterte am Widerstand der übrigen Anteilseigner; ich besaß nicht genügend Anteile, um mich durchzusetzen. Außerdem: Diese Art Schund ist es, was sich tatsächlich verkauft. Was viele Leute lesen wollen. Würde dieser Verlag aufhören, diese Art Bücher zu produzieren, würden andere Verlage bereitwillig in die Bresche springen, sodass nichts gewonnen wäre.« Er sah in die Runde, ließ das wirken.

Einige nickten. »So ist die Welt«, meinte jemand.

»Schließlich«, fuhr ihr Vater fort, »wies ich Clark Thomas, den Cheflektor, an, mir jedes Manuskript vorzulegen, in dem es um christliche Themen oder allgemein um Religion ging. Ansonsten habe ich die Dinge laufen lassen.«

Er senkte die Hände, bot ein Bild der Erschütterung. »Sie machen sich keine Vorstellung davon, was alles unter diesen Etiketten angeboten wird. Handbücher für angewandtes Heidentum, für Hexerei und Magie jeglicher Art sind, das musste ich lernen, im heutigen Amerika garantierte Verkaufserfolge. Leute, die mit Gott geredet, telefoniert, gepicknickt und was weiß ich noch alles haben wollen, verkaufen ihre Elaborate millionenfach. Und offenbar werden es die Leute nie müde, immer neue Bücher voller Gemeinplätze zu lesen, wenn es nur der Dalai Lama ist, der sie angeblich von sich gegeben hat. Ich war schon drauf und dran, meine Anweisung zu widerrufen und nach einem Weg zu suchen, meine Anteile loszuwerden, sie notfalls zu verschenken – da schickte mir Mister Thomas dieses Manuskript.«

Er legte einen Stapel zerlesenen Papiers vor sich auf den Tisch.

»Geschrieben hatte es ein Journalist namens Uri Liebermann, der, wie mir Mister Thomas erklärte, seit Monaten vergeblich einen Verlag dafür suchte. Es trug den Titel ›High Noon im Negev‹ und war nichts anderes als ein minutiöser Tatsachenbericht über John Kauns Aktivitäten damals in Israel.«

Jetzt stießen etliche Männer Laute der Verblüffung aus. Einer rief: »Was für eine Fügung!«

Samuel Barron wartete, bis sich die Aufregung gelegt hatte, und fuhr fort: »Sie können sich vorstellen, mit welchem Interesse ich dieses Manuskript gelesen habe. Was Sie sich aber nicht vorstellen können, ist meine Überraschung, als ich erfuhr, worum es bei der ganzen Sache gegangen war.«

Jetzt erstarrten wieder alle. Auch Michael. Jetzt, dachte er. Jetzt geht es um das Ding aus England. Aus Barnford.

Vater schichtete die Blätter des Manuskripts sorgfältig aufeinander, legte die Hand darauf und erklärte: »Damals, im Juni vor drei Jahren, wurde bei den Ausgrabungen dieses Professors Wilford-Smith in einem zweitausend Jahre alten Grab die Bedienungsanleitung einer Kamera gefunden – einer Kamera, die erst Anfang dieses Monats auf den Markt gekommen ist. John Kaun hat daraus messerscharf den kühnen, aber, wie ich zugeben muss, einzig logischen Schluss gezogen, dass es sich um das Grab eines Zeitreisenden handeln musste.«

Er hob die Hand, ließ sie schwer zurück auf das Manuskript fallen.

»Eines Zeitreisenden, der, so war er überzeugt, Aufnahmen von Jesus Christus gemacht hat.«