Wolfgang Hering

Der Himmel reißt auf

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliert Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© by Verlag Kern, Bayreuth

Autor: Wolfgang Hering

Layout/​Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Lektorat: Manfred Enderle

1. Auflage / ​2014

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

Sprache: deutsch,

Coverfoto: Insel Jan Mayen, aus dem Besitz des Autoren

ISBN: 9783957160126

ISBN E-Book: 9783957160522

www.verlag-kern.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Ausgeliefert

Eine denkwürdige Begegnung

Noch immer „ausgeliefert“

Graues Zwischenspiel

Hoffnung keimt auf

Schwarze Schafe gibt es überall

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Ein jähes Ende

Rache!

In der Gewalt von Erpressern

Nachtgedanken

Flucht

„Wasser!“

In der Gewalt von Organräubern

Der Kampf ist vorbei

Gerettet

Im Kloster

Nach Hause

Entscheidungen

Nachklang

Zum Autor

Ich kannte dich nur

vom Hörensagen.

Nun aber hat mein Auge

dich geschaut.

Hiob

Ausgeliefert

Mein Kopf dröhnt. Einzelne Bildfetzen fliegen an meinen inneren Augen vorbei: Ein großes Zelt. Krankenbetten. Ein Afrikaner, der fürchterlich schreit. Peitschen. Ein widerlich saufender Kerl. Sue, wie sie auf mich losgeht.

Langsam, ganz langsam werde ich wach und versuche die Augen zu öffnen. Es geht nicht. Sie sind zugebunden. Ich will den Mund öffnen, um zu schreien und nach Sue zu rufen. Es geht nicht. Er ist zugeklebt. Ich merke, meine Hände sind auf den Rücken gefesselt, auch meine Beine an den Knöcheln zusammengebunden. Ich liege auf der Erde. Steine bohren sich in meinen Rücken und mein Körper brennt fürchterlich. Ich habe kein Gefühl mehr in den Händen. Durch meine unnatürliche Lage ist der Blutkreislauf in den Armen offenbar zum Erliegen gekommen. Ich versuche, mich etwas zu bewegen, um die eine oder andere Druckstelle los zu werden und den Blutkreislauf wieder zu aktivieren. Es gelingt nur mühsam. Und dann bin ich völlig erschöpft.

Ich fühle mich so ohnmächtig und ausgeliefert wie noch nie in meinem Leben. Ausgeliefert an die Wüste. Ausgeliefert an dunkle Mächte. Ausgeliefert an den Tod. Wie hatte der Kerl gesagt? „Inschallah. So Allah will, werdet ihr überleben. Wenn nicht, werdet ihr sterben.“ Allah? „Allah, Gott, Christus, wie auch immer du genannt wirst. Wenn es dich gibt, dann hilf mir!“

Nichts geschieht. Ich liege ganz still. Hundert Gedanken und Fragen drehen sich in meinem Kopf: „Wo bin ich? Wahrscheinlich irgendwo in der Wüste des Sinai?“ „Wo ist Sue? Hatte sie auch die Spritze bekommen. Lebt sie noch?“

Ich versuche, bei verschlossenem Mund wenigstens ein Brummen von mir zu geben. Stille. Keine Antwort. Nichts rührt sich. „Gott, gibt es dich auch in der Wüste? Sorry, ich habe mich nie um dich gekümmert. Warum solltest du dich jetzt um mich kümmern? Aber vielleicht …

Vielleicht werde ich auch sterben. Wahrscheinlich sogar. Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?“

Eine denkwürdige Begegnung

Die Reise hatte gut angefangen. In Bremerhaven waren wir bei herrlichem Wetter an Bord der „Eddy“ gegangen, hatten unsere Kabine bezogen und beschlossen, als Erstes das Schiff zu erkunden. Es war noch fast zwei Stunden Zeit bis zur Abfahrt. Und es war alles so wahnsinnig neu und aufregend. Schließlich war es unsere erste gemeinsame Reise überhaupt und dann gleich auf einem Kreuzfahrer. Sue hatte durch den Tod ihrer schottischen Großmutter etwas Geld geerbt und mich eingeladen zu dieser Fahrt.

„Ich bezahle“, hatte sie einfach gesagt, als ich zunächst ungläubig den Kopf schüttelte. Wir kannten uns nun fast zwei Jahre und ihre Großzügigkeit in Geldsachen faszinierte mich immer wieder aufs Neue. Sie war ja wirklich nicht reich. Was verdient schon eine Arzthelferin? Sie sagte immer: „Geld macht nicht glücklich, aber mit Geld kann man jemand glücklich machen.“ Ob das mit ihren religiösen Wurzeln zusammenhing oder war es einfach ihre Veranlagung? Jedenfalls war es eine schöne Eigenschaft und diesmal hatte sie mit dem kleinen Erbe nicht nur mich, sondern uns beide glücklich gemacht.

Glücklich streiften wir durch das Schiff, besahen uns die Boutiquen, studierten den Schiffsplan, fuhren mit dem Fahrstuhl so hoch es ging, dann noch eine Treppe hoch bis zum Sonnendeck und erfreuten uns an Schiff und Stadt von ganz oben. Herrlich! Immer wieder drückten wir uns und strahlten uns an. Anderen schien es genau so zu gehen. Wir waren ja nicht die Einzigen an Bord. So an die achthundert Passagiere sollten es sein. Und viele waren ganz offensichtlich auch zum ersten Mal auf den Planken, die nun für die nächsten zwanzig Tage unsere Welt waren. Die meisten waren ältere Semester, wahrscheinlich schon Rentner, aber genau so aufgeregt wie wir, was aus ihren Gesten und Wortfetzen zu entnehmen war. Erst später bemerkten wir auch diejenigen Passagiere, die das alles scheinbar gar nicht berührte, die es sich im Liegestuhl genau an der Stelle bequem machten, wo sie in den nächsten Tagen immer zu finden sein würden und wo sie auch auf der vorigen und vorvorigen Reise schon ihren Platz eingenommen hatten. Das gab es auch.

Wir aber stiegen von Deck zu Deck wieder abwärts, bestaunten das Pooldeck, wo sich die meisten Menschen drängelten und sich schon je nach Geschmack Kaffee oder Bier bestellt hatten. Sue hätte sich wohl auch ganz gern da niedergelassen. Aber ich zog sie hinter mir her: „Lass uns noch schauen, wo der Speisesaal ist, damit wir abends wissen, wo es etwas zu essen gibt!“

Ich muss immer erst einen Überblick gewinnen über jede neue Umgebung. Vorher habe ich keine Ruhe. Also weiter! Wir kamen durch die Karibikbar – „ganz gemütlich“ – schlenderten an der Bibliothek vorbei – „wenn wir uns mal langweilen“ – und landeten schließlich in der großen Showlounge – „Wow!“ Hier checkten wir abends ein – bis wir endlich im Oberdeck den Speisesaal „Orion“ fanden und am Eingang den diskreten Hinweis, dass der Speisesaal „Pegasus“ ein Deck tiefer sei. Also zwei Speisesäle.

„Du speist oben und ich unten, mal sehen, wer die nettere Tischgemeinschaft findet.“

Lachend wollten wir uns auf den Weg zu unserer Kabine machen, als die Ansage kam: “Um 18 Uhr legen wir ab und ab 19 Uhr sind die Speisesäle für Sie geöffnet, Gruß von der Brücke, vom Kapitän und Kreuzfahrtdirektor usw.“

Wir sahen auf unsere Uhren. In zehn Minuten geht’s los, nichts wie raus an die Reling.

Da drängelten sich schon die Massen und es war gar nicht einfach, noch einen einigermaßen guten Platz zum Fotografieren zu erwischen. Unten am Kai wurden eben die Leinen los gemacht, die Schiffssirene grüßte noch einmal lautstark rüber zum Festland und dann ertönte die Auslaufmelodie „Junge, komm bald wieder …“ Ich kann nicht leugnen, dass mich hinfort bei jeder Hafenausfahrt diese Melodie irgendwie sehr wehmütig stimmte und alle Kindheitsträume und -romane in Sachen christlicher Seefahrt mir wieder vor Augen traten. Ich bin eben doch ein bisschen romantisch veranlagt.

„Nun heul man nicht gleich. Wir sind nicht auf einem Windjammer, sondern auf einem hochmodern ausgerüsteten Kreuzfahrtschiff und in 22 Tagen sitzt du schon wieder hinter deinen Büchern.“

Sue hatte ja recht. Sie war so unglaublich nüchtern und realitätsbezogen. Manchmal beneidete ich sie darum. Ziehen Gegensätze sich an? Scheint so.

Jedenfalls war es jetzt höchste Zeit, unsere Kabine aufzusuchen, uns frisch und kundig zu machen, wo wir denn speisen sollten. Wir eilten also die Treppen hinunter, bis wir das Deck mit den 700er-Nummern fanden. Wir hatten die 721. Aber wo war die? Bei der Ankunft hatte uns ein freundlicher Boy zur Kabine gebracht, aber jetzt ohne Wegweiser irrten wir ziemlich dumm durch die Gänge. Dabei hatten wir schon in der Grundschule das Zählen gelernt! „760 - 740“, nein, da sind wir nicht. Also weiter zurück, nach achtern. „720 - 740“, ja, hier muss es sein. Aber es kam keine 721. Die Zeit bis zum Dinner wurde immer enger und wir wurden immer schneller und ungeduldiger. Als wir um die nächste Ecke sausten, stießen wir mit einem Paar zusammen, das offenbar in ähnlicher Panik war und seine Kabinenkarte in der Luft schwenkte: „Sorry, können Sie uns sagen, wo wir die Kabine 720 finden?“

Ja, das konnten wir, denn vor der hatten wir gerade gestanden und: „Können Sie uns vielleicht sagen, wo die 721 ist?“ Ja, das konnten sie auch: „Genau auf der anderen Seite, also hier durch das Foyer und dann links.“

Da begriffen wir alle vier, wie auf Kommando: Die eine Seite hatte die geraden Kabinenzahlen und die andere die ungeraden. Das musste doch einem dummen Menschen gesagt werden! Unter allgemeiner Heiterkeit wünschten wir uns noch einen „angenehmen Abend“ und strebten jeweils unseren Kabinen zu. Wir hatten keine Ahnung, was sich aus dieser Zufallsbegegnung noch alles entwickeln sollte.

Sue und ich waren uns einig, dass die beiden wohl aus südlichen Gegenden stammten: schwarze Haare, leichter Akzent, flammende, dunkle Augen bei ihr (meinte ich gesehen zu haben), eine tiefe Glut bei ihm (meinte Sue gesehen zu haben). Türken oder Araber? Na, abgehakt. Die Info-Mappe in unserer Kabine sagte uns: Dinner mit fester Sitzordnung im „Orion“. Also, fertig machen.

Wir waren offenbar die Letzten, die an einen großen Achtertisch gewiesen wurden, denn es waren dort nur noch zwei freie Stühle. Wir nickten freundlich nach allen Seiten und blickten dabei überrascht, aber unter fröhlichem „Hallo“, auch in die „flammenden“ bzw. „tiefen“ Augen unserer Südländer. Wir erzählten den anderen Tischnachbarn von unserer Kabinen-Suchaktion und wie wir uns gegenseitig gewissermaßen „die Tür gewiesen“ hatten. Daraus entwickelte sich am Tisch ein lebhafter Small Talk, wie man mit Sue sagt und es stellte sich heraus, dass wir nicht die Einzigen waren, die etwas angestrengt nach ihrer Kabine gesucht hatten.

Nebenbei: Noch nach Tagen begegnete mir eine ältere Dame, offenbar Single, die mich händeringend bat, sie doch zu ihrer Kabine zu bringen. Sie wäre schon dreimal „um das ganze Schiff gelaufen“, aber die Kabine hätte sie nicht gefunden. Ich musste grinsen. Wie sollte man auch drinnen eine Kabine finden, wenn man draußen „um“ das Schiff läuft? Natürlich brachte ich sie zu ihrer Tür, erklärte auch ihr die Geheimnisse der geraden und ungeraden Zahlen, aber als sie anfing, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, verabschiedete ich mich unter dem dringenden Vorwand, den Lektor über Island hören zu wollen.

Zum nächsten Dinner nahmen wir uns vor, eine kleine Vorstellungsrunde anzuregen, nicht nur aus Neugier wegen unserer „Südländer“, sondern überhaupt. Man kann doch nicht 20 Tage lang beim großen Abendessen – mit sieben Gängen, aber bitte in Auswahl, wegen der Konfektionsgröße – nebeneinander sitzen und smalltalken, ohne ungefähr zu wissen, wo die anderen herkommen. Die übrigen Mahlzeiten waren ja an keine Tischordnung gebunden, aber beim Dinner galt eben diese Regel. Da schaute man immer in dieselben Gesichter und wüsste doch gern, in welcher Landschaft sie sonst aus dem Fenster guckten. Wie sich schnell zeigte, wüssten die anderen es auch gern. Und da wir alle schon am ersten Abend gemerkt hatten, dass wir für diese Reise eine gute Tischgemeinschaft sein würden, wurde auch der Vorschlag gern angenommen, sich mit Vornamen anzureden, „das merkt man sich besser“, aber natürlich mit „Sie“, jedenfalls bis auf Weiteres. Sue mit ihren englischen Wurzeln hätte natürlich mit dem „Du“ keine Probleme gehabt, aber auf diesem Schiff und an diesem Tisch herrschten mehrheitlich deutsche Sitten, jedenfalls bis auf Weiteres.

Also gingen wir mit gutem Beispiel voran: „Ich bin der Paul und komme aus Frankfurt“, „und ich bin die Sue und gehöre zu ihm und komme auch aus Frankfurt.“

„Da sind wir ja Nachbarn“, warf einer ein, „wir sind aus Hanau, aber ich hätte gewettet, dass Sie aus Berlin stammen, ich meine, manchmal bei Ihrer Aussprache und so.“

„Die Wette hätten Sie auch fast gewonnen, denn ich stamme aus Frankfurt an der Oder, bin sozusagen ein geborener Ossi und nach der Wende von Berufs wegen ins andere Frankfurt verschlagen worden. Sie wissen ja: „Weil Frankfurt so groß ist, da teilt man es ein in Frankfurt an der Oder und in Frankfurt am Main.“

„Und meine Wiege stand in Schottland, in der Nähe von Glasgow“, fügte Sue hinzu.

„Das ist ja interessant“, meldete sich ein Tischnachbar zu Wort, aus dem bayrischen Wald, wie sich später herausstellte. „Ist Frankfurt an der Oder nun deutsch oder polnisch? Oder schon mehr schwedisch?“ Er sprach einen ausgesprochen bayrischen Dialekt, den zu verstehen oder gar zu wiederholen mir ausgesprochen schwerfällt und den ich deshalb lieber auf Hochdeutsch wiedergebe.

Doch sollte ich nun zornig oder spöttisch reagieren? Sue blieb ganz gelassen und klärte den Bayern über die Frankfurter Situation diesseits und jenseits der Oder auf. Ich hatte sie in meiner Heimatstadt schon rumgeführt, anlässlich eines Besuches bei meiner Mutter. Der Bayer war zufrieden.

Der Getränkekellner kam und unterbrach unser Gespräch. Er stammte ganz sicher weder aus dem einen noch aus dem anderen Frankfurt. Seine Wiege stand vermutlich in der Ukraine, wo ein Großteil des Schiffspersonals herstammte und der Name an seinem Revers lautete „Dimitrij“. Er kannte kaum mehr deutsche Wörter außer „Bier“, „Wein“, „Wasser“ und die Zahlen von eins bis drei. Aber er war ein lustiger Kerl und offenbar immer für einen Spaß bereit, über den er selbst am meisten lachte. Wir lachten aus Freude an ihm mit, denn verstanden haben wir natürlich nichts, nicht einmal ich als geborener Ossi mit meinem einstigen Russischunterricht. Leider hatten wir die Sprache nie für voll genommen – sage ich heute. Leider.

Auf Dimitrij folgte die Speisekellnerin Galina. Sie musste ein paar mehr deutsche Worte können. Schließlich war die Speisekarte recht lang. „Sie bitte mir sagen!“

„Suppe mit …, Fisch als Hauptgericht … und Obstschale als Nachspeise.“

„Mehr nicht? Das zu wenig essen“. Galina sah mich eindringlich von oben an und ich war versucht, aufzuspringen und Haltung anzunehmen, um mich für mein „wenig essen“ zu entschuldigen. Sie hätte einen guten Major bei der Roten Armee abgegeben. Ich beließ es bei einer Handbewegung und einem klaren „njet“.

Nach der Bestellung und nachdem wir alle mit Getränken versorgt waren, nahmen wir unseren Gesprächsfaden wieder auf. Das Ehepaar aus dem bayrischen Wald stellte sich mit Hoans und Eva vor, neben ihnen dann die Hanauer mit Wolf und Annegret und schließlich unsere Südländer.

„Ich bin Achmed aus Berlin und meine Wiege stand in Bethlehem.“

„Was? In Palästina? Wo auch Jesus geboren wurde?“ „Ja, wo auch Isa ibn Maryam geboren wurde, wie er im Koran genannt wird. Meine Eltern schickten mich hierher nach Deutschland zum Studium und ich bin hier hängen geblieben, auch weil ich meine spätere Frau hier kennengelernt habe.“

„Ja, ich bin Djamila und stamme aus dem Libanon, bin aber schon als Kleinkind mit meinen Eltern nach Süddeutschland gekommen, als im Libanon der Bürgerkrieg tobte.“

„Da san Sie wohl olle zwoa Islamisten?“ Einen Augenblick erstarrten alle, doch Achmed erwiderte ganz ruhig: „Wir sind Muslime, aber keine Islamisten. Das ist zweierlei. Wir können darüber aber gerne noch ausführlicher reden.“

Zum Glück jetzt und heute Abend nicht. Denn das Essen kam und uns wurde damit vorerst der Mund gestopft. Nachher plätscherte das Gespräch nur noch so dahin, wie dies und jenes geschmeckt hatte, dass man ab morgen sehr viel weniger essen wolle und „einen guten Abend noch“.

Nach der Abendshow saß ich mit Sue bei einem Glas Wein in der Karibikbar, wo wir den Tag reflektierten. Im Blick auf unsere Tischnachbarn kamen wir zu dem Schluss, dass wir es ganz gut getroffen hatten. Die Bayern und die Hanauer waren uns zwar um Jahrzehnte voraus, schon lange Rentner, aber keine Besserwisser, sondern ganz umgänglich und Achmed und Djamila mussten etwa unser Alter haben. Das passte. Da musste man doch noch mehr ins Gespräch kommen.

Man kam. Zunächst aber kam Island mit Stopp in Reykjavik. Der Tagesausflug mit dem Bus war wunderbar. Die Sonne strahlte von einem blauen Himmel, wie man ihn hier nicht vermutete und die Lufttemperatur von 22° stand im krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass wir uns kurz vor dem nördlichen Polarkreis befanden. „Es lebe der Golfstrom!“ Der berühmte Geysir spuckte sein heißes Wasser zwar nur noch halb so hoch wie in früheren Zeiten – eine unterirdische Verschiebung hatte seinen Hals etwas abgeschnürt – aber dafür waren die vielen gluckernden, kochenden, sprühenden und dampfenden Wasserlöcher doch sehr interessant. Wer an kalten Füßen litt, dem konnte hier schnell geholfen werden. Und dann der Gulfoss, der größte Wasserfall Europas, der in zwei Stufen sein Gletscherwasser in eine tiefe Schlucht ergießt. Sue und ich standen eng umschlungen auf der felsigen Plattform, die in den Wasserfall hineinreicht, hingerissen von diesem gewaltigen Naturschauspiel und dem ohrenbetäubenden Lärm des „goldenen Falles“. Hier verstand man die Rede von den Wassermassen, die ins Tal hinunter „donnern“. Wir fühlten uns wie alleine auf der Welt, obwohl um uns herum die anderen Teilnehmer des Ausflugs und fremde Touristen mit ihren Fotoapparaten hin und her liefen, um ja alles festzuhalten. Unsere Tischnachbarn waren nicht dabei.

Die sahen wir erst wieder zum Dinner. Da wurden die Erlebnisse des Tages ausgetauscht und besondere Blickwinkel offenbarten sich.

„Halt arg wenig Wald“, meinte Hoans.

„Aber so viel ungenutztes Wasser“, schwärmte Achmed.

„Da könnte man mehr draus machen“, warf Wolf ein, „das sind ungenutzte Ressourcen.“

Die Damen am Tisch waren damit beschäftigt, von ihren Souvenirs zu berichten.

„Morgen kriegen wir noch ein anderes Stück Island zu sehen“.

„Wo geht’s eigentlich hin über Nacht?“

„Zum Grundafjord, eine Gegend zum Wandern.“

„Nur ein Ausflugsangebot.“

„Wird voll sein.“

„Da werden wir mal tüchtig laufen und uns die Beine vertreten“, blinzelte Sue mir neckisch zu.

„Könnte das auch was für uns sein?“, fragte Djamila ihren Mann.

„Na, das ist nichts für mich“, meinte Hoans. Er wolle es sich auf dem Schiff gemütlich machen. Eva schwieg, wie immer. Wolf und Annegret hatten sich schon für den Ausflug entschieden. Die Einfahrt in den Grundafjord war malerisch. Die Sonne schien wieder von einem makellosen Himmel, der das Meer blau färbte und die Bergketten rechts und links in vielerlei Farben tauchte. Am Fuße der Berge drängten sich dicht ans Meer einige farbenfrohe Häuser, als wollten sie zur Not aufs Meer ausweichen, falls die Berge auf sie herunterstürzen sollten. Besonders die rot angestrichenen Häuser leuchteten in der Sommersonne. Wie uns später Einheimische erklärten, war rot die Farbe der armen Leute, die die Farbe aus dem Blut der Tiere mischten. Früher konnten sich nur die Wohlhabenden die grünen oder weißen Importfarben leisten. Heute aber war rot schon wieder etwas Besonderes, weil es die Touristen so fotogen fanden.

Unser Schiff hielt auf eine größere Ansammlung von Häusern zu, aus denen deutlich ein Kirchturm hervorstach, flankiert von einem Berg, der seinerseits einem Kirchendach ähnlich sah und folgerichtig der Kirchberg genannt wurde.

Mein Interesse aber galt einer bestimmten Bergformation, in deren Mitte ich einen Wasserfall herunterstürzen sah. Kein Vergleich mit dem Gulfoss, nicht im entferntesten. Deshalb schien es mir auch möglich, seitlich des Wasserfalls auf die Höhe zu steigen und gewissermaßen oberhalb des Wasserfalls zu einer wunderbaren Aussicht zu gelangen. Ich studierte also die Gegend durch meinen Fernstecher und prägte mir die einzelnen Formationen genau ein. Sue war mit meinem Vorschlag sofort einverstanden. In solchen Dingen verließ sie sich meistens auf mich – um meckern zu können, wenn etwas nicht klappte. Also feste Schuhe anziehen und los.

Unser Schiff lag auf Reede und zwei Boote wurden zum Tendern heruntergelassen. Als wir mit der Gruppe der Landgänger das Boot bestiegen, winkten uns da schon Achmed und Djamila zu und als wir an Land gingen, kamen wir ins Gespräch über die Möglichkeiten dieses Nachmittags. Als wir ihnen unseren Plan erläuterten, waren sie ganz begeistert und fragten, ob wir sie mitnehmen würden.

„Na klar!“

Beide waren sportlich gekleidet, er mit festen Schuhen, sie mit Sportschuhen, vielleicht ein bisschen dünn, falls es irgendwo nass war.

„Na ja, wird schon gehen.“

Unterwegs zum Wasserfall begegneten uns ein paar Reiter, offenbar Touristen, die sich in irgendeinem Ort auf Snaefellnes die kleinen Island-Pferde ausgeliehen hatten und den schönen Tag auf diese Weise ausfüllten. Auch schön, aber wir waren auf „Schusters Rappen“ unterwegs, ein Ausdruck, den wir unseren Südländern erklären mussten. Sie wohnten ja schon ein paar Jahre in Deutschland, aber alle Redewendungen waren ihnen doch noch nicht vertraut, auch nicht Djamila, die doch von klein auf mit unserer Sprache aufgewachsen war, jedenfalls von der Schule her.

Als wir uns dem Fuß des Wasserfalls näherten, sahen wir, dass seine Wasser nach rechts wegflossen und uns den Weg versperrten. Links waren die Felswände zu steil, wir konnten nur rechts des Wasserfalles aufsteigen, aber dazwischen floss das wenigstens knietiefe, kalte Gletscherwasser, schätzungsweise drei Meter breit. Rüberspringen? Das war zu riskant, selbst für mich sportlich Begabten, zumal das gegenüberliegende Ufer nicht vertrauenerweckend aussah. Es schien sehr durchsumpft. Also gingen wir ein Stück am Wasser entlang in der Hoffnung auf große Steine. Sie kamen. Wenigstens einer. Er lag ziemlich in der Mitte des Baches und wurde nur leicht überspült, war aber groß genug, um mit beiden Beinen darauf zu stehen zu kommen. Etwas schwieriger war dann der nächste Sprung ans Ufer, wo man nicht so recht wusste, ob man festen Boden gewinnen oder wieder rückwärts ins Wasser fallen würde. Ich wagte es als Erster und als ich einigermaßen Stand gefunden hatte, ermunterte ich die anderen, es mir nachzumachen. Ich würde zur Not behilflich sein. Achmed schaffte es mit einem großen Sprung vom Stein aus und er nutzte den Schwung gleich, um die nächste Anhöhe zu bewältigen. Auch für Sue war es kein Problem. Nur Djamila rutschte auf dem Stein beim Absprung fast aus, sodass ich ihr schnell die Hand reichen musste, damit sie sicher unser Ufer erreichte. „Ein fremder Mann darf einer Muslima doch nicht die Hand reichen“, schoss es mir durch den Kopf. Und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Achmed etwas befremdet dreinsah.

„Sorry“, sagte ich deshalb beiden zugewandt, „ich habe neulich im Fernsehen mitgekriegt, dass ein fremder Mann einer Muslima nicht die Hand reichen darf. Aber gilt das auch für den Notfall?“

Djamila lachte und ihre Augen blitzten dabei wie Sterne: „Natürlich darf man nicht nur, sondern muss man auch einer Muslima in der Not die Hand reichen. Im Übrigen sehe ich das sowieso nicht so verbissen. Ich trage ja auch kein Kopftuch und halte mich, wie ich denke, recht europäisch. Mein Mann sieht das viel strenger, aber er ist mir gegenüber sehr tolerant, nicht wahr, Achmed?“

Sie ergriff seine Hand und schmiegte sich leicht an ihn, sodass auch er lächeln musste.

Der Aufstieg über vielleicht hundert Meter war kein Problem und die Aussicht von oben traumhaft. Unter uns lag der Fjord und unser Schiff wie ein Spielzeug mittendrin. Hinter uns sahen wir schneebedeckte Gipfel und in der Ferne einen Gletscher, weiter links ragte der Kirchberg aus dem Wasser, in dessen Schutz sich die Häuser einer kleinen Ortschaft aneinander drängten. Etwas oberhalb stand deutlich sichtbar eine weiß getünchte Kirche.

„Gehen wir in dieser Richtung?“

„Dürfen Muslime eine christliche Kirche betreten?“

„Wir schon!“

„Na, dann los!“

Der Abstieg war nicht ohne. Die mehr oder weniger eben und zunächst nur leicht abfallende Fläche war so feucht, dass wir den Eindruck hatten, über ein Sumpfgebiet zu laufen. Dazu passend stand ein wadenhohes, dichtes Wollgras, das sich hier scheinbar außerordentlich wohlfühlte. Die weißen Fruchtständer bildeten einen samtenen Teppich, unter dem es wie Pudding war.

„Kommen wir da unbeschadet durch?“

„Wenn nun plötzlich Löcher, Risse oder Wassergräben da sind, die wir wegen des hohen Grases gar nicht sehen?“

Wassergräben waren in der Tat da und man sah sie wegen des hohen Grases erst im letzten Augenblick. Da sie bisher aber nicht sehr breit waren, kamen wir mit einem großen Schritt drüber weg. Ich erbot mich, voranzugehen und die Sicherheit des Geländes zu testen. Schließlich hatte ich diese Route vorgeschlagen und fühlte mich nun auch für den guten Ab- und Ausgang verantwortlich. Und einer musste ja auch so tun, als hätte er überhaupt keine Angst und wäre seiner Sache vollkommen sicher.

Nach etwa einer halben Stunde wurden die Gräben breiter. Man sah sie jetzt schon von weiter her. Es gab Zusammenflüsse und wir hatten bald den Eindruck, von allen Seiten umzingelt zu sein.

„Wären wir doch bloß unten geblieben“, klagte Sue, „du immer mit deinen wilden Wegen.“ Das musste ja kommen. Darauf hatte ich schon gewartet. Mich hier vor den anderen angreifen.

„Nicht verzweifeln“, rief Achmed herüber, „er wird Sie und uns schon heil nach unten bringen.“

„Meine Schuhe sind übrigens schon völlig nass bis auf die Haut“, kicherte Djamila, „ich könnte jetzt glatt überall durchwaten. Soll ich euch alle rübertragen?“

Lautes Gelächter, das über den Ernst der Situation etwas hinweg half.

Ich ging suchend an dem Graben entlang, der uns den weiteren Abstieg versperrte, bis ich an eine Stelle kam, die mir zum Übergang bzw. Übersprung geeignet schien. Hier war das Wasser etwa einen Meter breit, also an sich kein Problem. Nur wusste wieder niemand, wie fest das gegenüberliegende Ufer war. Würde man zu stehen kommen oder versinken? Was half es. „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, wie Erich Honecker schon richtig gesagt hatte.

Das dichte, hohe Gras reichte drüben bis ins Wasser hinein und wiegte sich mit ihm im Takt seines Flusses. Ich musste es versuchen. Ich sprang und landete auf Pudding, aus dem zwar das Wasser hochspritzte, der mich aber dank des dichten, niedergetretenen Grases trug. Ich winkte den anderen, die nun meinem Trampelpfad folgten und versicherte ihnen, dass sie dank meiner Hilfe wohlbehalten herüberkommen würden. Zuerst sprang Sue und landete sicher an meiner Hand.

„Wehe, du hättest mich fallen lassen!“

Dann Djamila. Ich zog sie mehr herüber, als dass sie sprang. Hatte sie mit Absicht gleich nach meiner Hand gegriffen? Hielt sie meine Hand länger als nötig? Ihre Augen jedenfalls blitzten mich fröhlich an. Mein Herz schlug einen Augenblick höher. Dann kam Achmed, kein Problem. Gott sei Dank schien niemand etwas gemerkt zu haben. Alle waren erleichtert, nun das Schlimmste hinter sich zu haben. In der Tat, der Berg neigte sich jetzt mit einem sehr viel größeren Gefälle der Küste entgegen und wasserführende Querrinnen würde es hier nicht mehr geben. Die Wasser, die uns eben noch das Leben schwer gemacht hatten, stürzten sich rechts und links von uns, unsichtbar durch das dichte hohe Gras, dem Fjord entgegen. Erleichtert setzten wir unter fröhlichem Geplauder unseren Weg fort. Meine Augen aber wanderten verstohlen immer wieder nach Djamila. Sie hatte und machte eine gute Figur, war aber sonst keine besondere Schönheit. Doch diese blitzenden Augen. Diese Augen! Paul, reiß dich zusammen. Du liebst Sue und Djamila ist verheiratet und ist Muslima und du willst weder Sue noch Achmed unglücklich machen und überhaupt. Trottel! Aus! Schluss! Vorbei! Doch diese Augen 

Als wir durch den bunten Ort schlenderten, waren wir entzückt über die Fülle der Blütenpracht. Hier blühte alles auf einmal: Tulpen und Rosen, Flieder und Phlox, Lupinen und Löwenzahn. Es war Mittsommer im hohen Norden und die Nächte waren hell, sodass die Pflanzen alles im Eiltempo nachholen konnten, was ihnen in den kalten Monaten zuvor verwehrt war. Wir waren fasziniert. Und das dicht am Polarkreis. An einem Zaun pflückten Sue und Djamila je ein kleines Sträußchen für unsere Kabinen. Es würde mich daran erinnern, dass auch in der Kabine auf der anderen Seite des Schiffes, bei den geraden Zahlen (720!) solch ein Sträußchen stand. „Paul!“

Die Kirche war offen und wir traten ein. Sue verneigte sich kurz zum Altar hin und schlug das Kreuzzeichen. Es war dies zwar, wie auf Island zu erwarten, eine lutherische Kirche, aber Sue tat das trotz ihrer katholischen Bindung in allen Gotteshäusern. „Es ist überall derselbe Gott.“ Ob sie das auch in einer Moschee machen würde? Ob sie das dort überhaupt dürfte? Ich verstand von Religion nichts, war aber, seit ich Sue kannte, doch etwas neugierig geworden. Und manchmal beneidete ich sie um ihren festen Standpunkt und hatte ihr auch erlaubt, für mich zu beten. Es konnte ja nichts schaden.

In der Kirche trafen wir noch andere Passagiere von der „Eddy“. Was schauen sich Touristen an in den großen und kleinen Orten der Welt? Schlösser, Burgen und Kirchen oder eben Moscheen oder Tempel. Religiöse Gebäude gibt es überall und auf jeden Fall sind sie wichtige Denkmäler der jeweiligen Kultur. Schlösser und Burgen gab es hier nicht, nur eben diese schmucke Kirche. Viel war nicht zu sehen, wahrscheinlich, weil die Leute hier arm waren und Protestanten sind. Aber ein modernes Glasfenster erregte unsere Aufmerksamkeit. Eine Reihe weißer, wie erfrorener Gestalten, eingeschlossen von weißen Wellen aus Eis, reckte sich Hilfe suchend nach oben und von oben breitete eine kraftvolle, blau gewandete und von Lichtstrahlen umgebene Gestalt ihre Arme um die Unglücklichen.

„Sue, du bist religiöse Fachfrau, erklär uns mal das Bild“, bat ich.

„Nun, ich denke, das Bild ist geprägt von den langen Wintermonaten hier vor Ort und von der Erfahrung, dass sich die Menschen oft wie hilflos von einem Eismeer eingeschlossen fühlen. Da beten sie zu Gott und vertrauen darauf, dass Christus seine Arme schützend um sie legt, so wie es hier dargestellt ist. Bei Christus ist auch die Wärme und das Licht und die Farbe, die sie so sehr ersehnen. Ja, ich denke, dass das Jesus Christus sein soll, denn Gott wird in der Regel nicht dargestellt. Also ein Bild, das gleichzeitig die menschliche Hilflosigkeit und die göttliche Kraft zeigt, an die die Menschen glauben.“

„Wenn sie gläubig sind“, murmelte ich.

Achmed schaltete sich ein: „Wie Sie wissen, gibt es in der Kultur des Islam keine bildlichen Darstellungen. Niemand hat Allah gesehen. Er will geglaubt, aber nicht gemalt sein. Und soviel ich weiß steht das Bilderverbot auch in ihrer Bibel. Entschuldigung, ich habe mich damit befasst und verstehe immer nicht, warum Christen nicht tun, was Allah bzw. Gott gebietet.“

Jetzt war es an uns, die Luft anzuhalten. Wollte Achmed einen religiösen Streit vom Zaun brechen? Er war ja offensichtlich ein Eiferer, wenn vielleicht auch kein Islamist. Ich sah, wie Sue die Stirn in Falten legte und grübelte, was sie Achmed antworten sollte.

Ich kam ihr zuvor: „Ich schlage vor, dass wir hier keinen religiösen Streit anfangen. Wie der Alte Fritz, ehemals König von Preußen, sagte, soll „jeder nach seiner Facon selig werden“, Sie ohne Bilder und Sue mit Bildern. Aus religiösem Streit ist schon viel Böses erwachsen und das wollen wir doch nicht oder?“

Achmed lenkte ein: „Natürlich nicht, Entschuldigung, ich habe kein Recht, Sie hier zu provozieren, Entschuldigung.“

„Nun“, meinte ich lachend, „mich können Sie gar nicht provozieren, höchstens Sue und die Christen. Ich bin nicht getauft und glaube nicht, dass ein höheres Wesen in unser Leben eingreift. Ich bin im Osten Deutschlands geboren, also Ossi und auch ohne Glauben glücklich. Aber ich achte es, wenn Sie auf die eine und Sue auf die andere Weise an Gott glauben. So weit ich bisher beobachten konnte, kommt aus dem Glauben an sich viel Gutes, nur aus dem Streit der Gläubigen kommt viel Böses. Das hat mir schon mein Vater erklärt. Der war Geschichtslehrer und hat da bis heute einen ziemlich guten Überblick. Aber lassen wir das jetzt und machen uns lieber auf den Rückweg, bevor uns die Schiffssirene rufen muss.“

Auf dem Weg zum Schiff ergriff Djamila das Wort. Sie hatte während des ganzen Gespräches geschwiegen. Nun aber wandte sie sich an mich mit entwaffnender Offenheit: „Entschuldigen Sie, Paul, wenn ich noch einmal nachhake. Aber wie ist das gekommen, dass Sie so ganz ohne Religion leben. Diese Frage bewegt nicht nur mich, sondern viele Muslime, die hier leben. Wir wundern uns darüber. Gibt es dafür einen besonderen Grund?“

Ich war verblüfft. Noch nie im Leben hatte ich über diese Frage nachgedacht. Noch nie hatte ich über diese Frage ein Gespräch geführt, nicht zu Hause, nicht in der Schule, nicht mit Freunden oder Kollegen, nicht einmal mit Sue. Und jetzt kommen da zwei Muslime und verwickeln mich in ein religiöses Gespräch.

„Es war halt immer so“, antwortete ich etwas lapidar. „Einen besonderen Grund gibt es dafür nicht. In meiner Familie und in meinem Freundeskreis interessiert sich niemand für Religion. Ich auch nicht. Nur Sue. Und ich denke nicht, dass ich deswegen ein schlechterer Mensch bin oder dass mir irgendetwas fehlt. Im Gegenteil, ich bin sehr zufrieden, dass es so ist, wie es ist. Ein möglicher Streitpunkt weniger in meinem Leben. Ist doch gut oder …?“

„Wie kann man zufrieden sein ohne Religion?“, wandte Achmed ein.

Doch Djamila schnitt ihm das Wort ab, wohl eine neue Provokation und Missstimmung befürchtend, nahm aber seine Anfrage in ihrer freundlich charmanten Art auf und meinte: „Das ist uns in Deutschland schon seit Langem aufgefallen, dass die Menge der Menschen hier ohne Religion lebt und im Berliner Raum ganz besonders. Das gibt es bei uns zu Hause, ich meine in Nahost und in unserem Bekanntenkreis, nicht. Auch die Muslime in unseren Heimatländern praktizieren nicht alle ihre Religion so streng wie mein lieber Mann, aber alle wissen, dass Allah regiert und sie respektieren ihn, jeder auf seine Weise. Ich auch. Und manchmal frage ich mich schon: Wie kann man leben ohne Religion? Wie kann man leben ohne Gott?“

„Ich frage mich das auch“, antworte Sue, „aber er ist ganz glücklich dabei. Doch lassen wir das Thema. Wir sind da.“ Bloß gut, dachte ich, und gut, dass Sue überhaupt nicht religiös aufdringlich ist. Diese Djamila hat ja Feuer, das muss man ihr lassen. Und dieses Feuer in ihren Augen!

Wir waren inzwischen an dem kleinen Hafen angekommen, wo ein Tenderboot schon an der Mole schaukelte, um uns an Bord zu bringen. Mit einigen anderen waren wir offenbar die letzten Passagiere, die wieder heimkehrten. Das Tenderboot wurde hochgehievt und die „Eddy“ legte ab. „Junge komm bald wieder.“ Nicht wehmütig werden! Es war ein wunderschöner Nachmittag gewesen. Auch der Abend und die Nacht mit Sue wurden sehr schön. Davon, dass wir gerade den nördlichen Polarkreis überquerten, merkten wir in dieser Nacht nichts. Kein Rumpeln, keine Eiseskälte, ganz im Gegenteil. Noch im Einschlafen meinte ich ein Paar dunkel blitzender Augen zu sehen.

Am nächsten Tag wurden wir daran erinnert, in welchen Breitengraden wir uns befanden. Es war eine dicke, feuchtkalte, graue Suppe um uns. Kein blauer Himmel mehr, keine Kurzärmligkeit mehr. Dick vermummt begaben wir uns ans Pooldeck, um Neptun zu empfangen, der sich für heute zwecks Äquator, sorry Polartaufe, angesagt hatte. Er nutzte offenbar auch jede Gelegenheit, um die Passagiere zu unterhalten. „Brot und Spiele“. Ein Teil machte den Spaß mit, ein anderer Teil schaute, in warme Decken gehüllt, zu.

Neptun saß, in ein großes, buntes Gewand gekleidet und mit einer gewaltigen Pappkrone auf dem Haupt, umgeben von einem „Eisbär“, einem „Harlekin“ und einer „Nonne“ auf einem „Thron“ und forderte den Käpt´n auf, ihm jetzt die Herrschaft zu übergeben. Gehorsam übergab der einen gewaltigen Pappschlüssel an den Herrscher der nördlichen Meere. Dann durften die Passagiere bei Neptun vorbei defilieren und wurden noch allerlei Proben unterzogen, um ihre Würdigkeit für die Reise ins Eismeer unter Beweis zu stellen. Sie mussten einen toten Fisch küssen, sich irgendeinen Schlagschaum ins Gesicht klatschen lassen und sich schließlich mit einer (sauberen!) Klobürste Wasser über den Kopf spritzen lassen. Damit war die Polartaufe vollzogen und wurde abschließend mit einem Glas Wodka besiegelt. Sto gramm!

Am Nachmittag konnten sich die Passagiere überall an Deck weiter vergnügen. Es wurden mancherlei dem Wetter und dem Breitengrad angemessene Spiele angeboten, z. B. Eisstock-Schießen, wobei immer ein Ziel getroffen werden musste. Als Belohnung gab es für jeden Treffer „sto gramm“. Man kann sich leicht vorstellen, wie der Pegel der allgemeinen Heiterkeit mit jedem Glas Wodka weiter anstieg und wir bekamen einen Begriff davon, wie ganze Völkerschaften mit Wodka die Winterkälte besiegen.