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LEKTÜRESCHLÜSSEL
FÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER

Amélie Nothomb

Antéchrista

Von Pia Keßler und Karsten Steinwachs

Reclam

Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe in der Originalsprache: Amélie Nothomb: Antéchrista. Hrsg. von Helmut Keil. Stuttgart: Reclam, 2008. (Universal-Bibliothek. 19739.)

Alle Rechte vorbehalten
© 2010, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2013
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960228-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015423-6

Inhalt

1. Erstinformation zum Werk

2. Inhalt

3. Personen

4. Struktur und Erzähltechnik

5. Interpretation

6. Autorin und Zeit

7. Rezeption

8. Dossier pédagogique

9. Lektüretipps / Medienempfehlungen

Anmerkungen

1. Erstinformation zum Werk

»Mais les dangers en amitié sont au moins aussi grands que les dangers en amour et en plus on ne nous a pas averti de cela, […] Donc, c’est un peu le sens de ce livre: attention, l’amitié c’est terriblement dangereux.«1

Freundschaft kann gefährlich sein, muss als Thema genauso ernst genommen werden wie Liebe, so umreißt Amélie Nothomb das Sujet ihres Romans Antéchrista. Die Geschichte von der unscheinbaren, unsicheren Blanche, die sich die hübsche, temperamentvolle Christa zur Freundin wünscht, zeigt die möglichen Abgründe einer Freundschaft auf. Die Bedeutung von Freundschaft vor allem für Jugendliche macht das Thema ihrer Perversion besonders interessant. Das Motiv des schüchternen Mauerblümchens, das sich eine schillernde Persönlichkeit zur Freundin wünscht, ist sicher ein zentrales Thema bei jungen Mädchen bzw. bei jungen Menschen im Allgemeinen. Christa nutzt Blanches Unsicherheit und Einsamkeit aus für ihr sadistisches Vergnügen an der Erniedrigung anderer. Eine Frage, die im Roman nicht beantwortet wird und viel Anlass für Diskussionen geben kann, ist die nach Christas Motiven für ihr Verhalten. Warum hat sich Christa ausgerechnet diese Freundin, diese Familie herausgesucht für ihre Lügen und Intrigen? Wie sich herausstellt, können finanzielle Aspekte keine Rolle gespielt haben, da sie aus einer reichen bürgerlichen Familie stammt. Welchen Grund hat die Bosheit, die Unverschämtheit, mit der sie die Familie Hast belügt und Blanche das Leben schwer macht?

Die jugendlichen Protagonistinnen durchleben eine wichtige Etappe der Adoleszenz, mit all ihren typischen Wirren, Höhen und Tiefen. Ein zentraler Aspekt ist hierbei die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, die Befürchtung, gewissen Idealen, Maßen, Vorgaben nicht zu genügen, anders zu sein, Normen nicht zu entsprechen, sich selbst hässlich und unzulänglich zu finden im Vergleich zu Gleichaltrigen. Blanche hat so wenig Selbstvertrauen, dass sie überrascht ist, überhaupt von einem Jungen angesprochen zu werden. Dieser Aspekt ermöglicht Überlegungen zur Definition von Schönheit. Was ist schön? Wer bestimmt die Regeln und Normen für diesen Begriff? Kann man sich gegen diese Regeln durchsetzen? Wer kann sich durchsetzen? Interessant ist an dieser Stelle auch die Rolle, die das eigene Zimmer für Blanche spielt, der Rückzugsort, das Refugium, in dem man ungestört ist und sich der Lektüre hingeben kann. Umso brutaler wirkt Christas Eindringen in diesen heiligen Ort. Ein weiterer wichtiger Themenkomplex ist Blanches Verhältnis zu ihren Eltern. Die Hasts geben ihrer Tochter wenig Bestätigung und Sicherheit; im Gegenteil: Sie lassen sie spüren, dass ihnen eine Tochter wie Christa lieber wäre. Das brave Mädchen, das gern liest, die meiste Zeit in seinem Zimmer verbringt und so gut wie keine Kontakte zu Gleichaltrigen hat, entspricht nicht dem Bild, das sie sich von einer Tochter machen. Sie bewundern vielmehr Christa dafür, dass sie viele Freunde hat, für ihren Lebensunterhalt arbeitet, viel ausgeht, offen und aufgeschlossen ist. Blanche hat permanent das Gefühl, mit ihr verglichen zu werden und bei diesem Vergleich schlechter dazustehen als ihre Freundin. Das Familienleben der Hasts scheint sich nur noch über Christa zu definieren. Blanche leidet darunter, dass sie nicht nur von Christa dauernd erniedrigt wird, sondern sich auch von den Eltern unfair behandelt und zurückgesetzt fühlt. Dabei muss stets beachtet werden, dass die Geschichte aus Blanches Perspektive erzählt wird. Als Leser(in) hat man zuweilen den Eindruck, dass Blanche sich vieles nur einbildet, dass sie bestimmte Situationen eventuell gar nicht real erlebt hat. Die typischen inneren Dialoge der Protagonistin, in denen sie Christas Verhaltensweisen abwägt, geben einen guten Einblick ins Innenleben Blanches. Wie in den meisten Werken Amélie Nothombs handelt es sich bei Antéchrista um einen autobiographischen Roman: »À quelques détails près, j’ai été Blanche. J’ai été cette jeune fille totalement dévorée par une autre«, wobei man sich davor hüten muss, Autobiographie und Roman gleichzusetzen: »C’est un récit de fiction, c’est un roman«.2 Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen Autorin und Erzählerin bzw. der Erzählperspektive der Protagonistin zu machen. Eine in Antéchrista recht augenscheinliche Vorliebe der Autorin ist es, sprechende Namen zu verwenden, was schon der Titel verdeutlicht: die Analogie Christ[a] – Antéchrist[a] ist programmatisch für Christas Wesen. Die Protagonistin heißt Blanche, ›die Reine‹, ›die Weiße‹, ›die Jungfrau‹; das Adjektiv wird im Französischen aber auch in der Verbindung mit arme (›Waffe‹) gebraucht. Ihr Nachname »Hast« spielt ebenfalls auf diese Bedeutung an, ist es doch der japanische Begriff für das Messer, mit dem sich Samuraikämpfer traditionell den Leib aufgeschlitzt haben. Christas Nachname ist »Bildung« in Anspielung nicht nur auf das Milieu, aus dem sie stammt, sondern auch auf den Bildungsroman, in dessen Verlauf der Protagonist eine Entwicklung durchlebt. Des Weiteren fällt in diesem Roman, wie übrigens häufig im Nothomb’schen Werk, eine Affinität zum exzessiven Gebrauch von Bibelzitaten und religiöser Symbolik auf. Beim Essen am Dreikönigstag fühlt sich Blanche als der schwarze König, der Außenseiter. Christa bezeichnet sie als Erlöserin, es ist die Rede von der nahenden Apokalypse. Als Christa aus den Weihnachtsferien zurückkommt, wird sie erwartet wie der verlorene Sohn. Der Kuss, den Blanche Christa aus Rache gibt, kann mühelos als Judaskuss erkannt werden und die letzte Szene ist eine sehr deutliche Anspielung auf die Kreuzigung Christi. Nicht zuletzt ist auch die Beschreibung des universitären Lebens, des Anspruchs an Leistung, des Konkurrenzkampfes unter den Studenten und des Umgangs mit der Leistung anderer ein interessanter Aspekt dieses Romans.

unscheinbar: insignifiant(e)

Abgrund: l’abîme (m.)

Mauerblümchen sein: faire tapisserie (f.)

schillernd, strahlend: rayonnant(e)

Unsicherheit: le manque d’assurance (f.)

sadistisches Vergnügen: le plaisir sadique

Erniedrigung: l’humiliation (f.)

Unverschämtheit: l’insolence (f.)

Protagonist/Protagonistin: le/la protagoniste

Adoleszenz, Jugendalter: l’adolescence (f.)

Unzufriedenheit: le mécontentement

der Norm (nicht) entsprechen: (ne pas) correspondre à la norme

gleichaltrig: du même âge (m.)

Schönheit: la beauté

Rückzugsort: le refuge

Heiliger Ort: le sanctuaire

brav: sage

ausgehen: sortir

aufgeschlossen: communicatif(-ive)

unter etw. leiden: souffrir de qc

aus der Perspektive von: du point de vue de / de la perspective de

innerer Dialog: le dialogue intérieur

Erzähler/Erzählerin: le narrateur / la narratrice

auf etw. anspielen: faire allusion (f.) à qc

sich den Leib aufschlitzen: s’éventrer

Bildungsroman: le roman d’apprentissage (m.)

Bibelzitat: la citation biblique

religiöse Symbolik: la symbolique religieuse

schwarzer König: le Roi noir (Balthazar)

Erlöser/Erlöserin: le rédempteur / la rédemptrice

Apokalypse: l’apocalypse (f.)

verlorener Sohn: l’enfant (m.) prodigue

Rache: la vengeance

Kreuzigung: la crucifixion

Leistung: hier: les résultats (m.)

2. Inhalt

Erste Begegnung

Die 16-jährige Studentin und schüchterne Außenseiterin Blanche Hast lernt die von allen bewunderte und sehr gut in die verschiedenen universitären Gruppen integrierte Christa Bildung kennen. Christa spricht sie an und Blanche erfährt von ihr, dass sie nicht in Brüssel, in der Nähe der Universität wohnt, sondern in Malmédy, einer kleinen Stadt im Osten Belgiens, von wo aus sie täglich zur Universität fahren muss.

Christas erster Besuch im Hause Hast

Blanches Eltern sind damit einverstanden, dass Christa wegen der langen Zugfahrt einmal in der Woche bei ihnen wohnt. Sie soll in Blanches Zimmer schlafen. Bei ihrem ersten Besuch ergreift sie umgehend Besitz von Blanches Zimmer, bestimmt, dass sie in Blanches Bett schläft und lässt ihr das Klappbett. In gewisser Hinsicht ergreift sie auch von Blanche Besitz: Sie zwingt sie, sich auszuziehen, ihre beiden Körper zu vergleichen und demütigt sie damit zutiefst.

Christa gewinnt Blanches Eltern für sich

Es gelingt Christa, Blanches Eltern für sich zu gewinnen: Sie sind sehr schnell von ihr eingenommen und zeigen ihr, dass sie sie mögen. Außerdem geben sie Blanche zunehmend das Gefühl, dass sie Christa ihr vorziehen. Blanche leidet unter der »Verschwörung« der drei gegen sie. Mehr und mehr nutzt Christa ihren Einfluss auf Blanches Eltern aus, der nach Blanches Empfinden einzig und allein ihrer Demütigung dient. Bald sind die Eltern damit einverstanden, dass Christa die ganze Woche über bei ihnen wohnt.

Soziales Leben von Blanche und Christa

Christa stellt Blanche ihrer Clique vor. Blanche fühlt sich nicht wirklich wahrgenommen, sie fühlt sich »unsichtbar« (44,25) und unwohl in der Gruppe. Sie hat das Gefühl, dass Christa sie nur vorstellt, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen. Blanche interessiert sich für Christas Freund, will etwas über ihre Beziehung erfahren. Sie hat ein hehres Ideal von der Liebe. Christa beschreibt ihren Freund Detlev als groß, blond, »cool«, gut aussehend und an David Bowie erinnernd. Ein Gespräch über die sexuellen Erfahrungen der beiden Mädchen schließt sich an. Christa macht sich darüber lustig, dass Blanche noch Jungfrau ist.

Die Rolle der Literatur

Blanches Refugium