1
Bienvenue in der Fremdenlegion

Shave

Das Taxi fuhr langsam davon. Es war Montag, der 6. April 2009, vor einer halben Stunde war ich in Straßburg angekommen. Da stand ich nun mit meiner gelben Reisetasche – in einem Land, dessen Sprache ich nicht einmal ansatzweise beherrschte. Ich ließ meinen Blick schweifen: Einige Männer lungerten auf dem Bürgersteig herum. Was waren das denn für Gestalten? Die sahen aus wie Penner. Bei einem ragte ein angebissenes Stück Baguette aus der Jackentasche. Der Typ war unrasiert und schmutzig. Ein anderer hatte eine vergammelte Baseballkappe mit einem großen Loch darin auf dem Kopf. Ein Dritter trug kaputte weiße Turnschuhe ohne Schnürsenkel und hatte keine Jacke bei sich. Auf seinem T-Shirt stand »Mockba« – also Moskau. War wohl entweder Russe oder Russlandfan. Oder ihm war egal, was er trug. Dass es Anfang April und noch kühl war, schien ihm jedenfalls nichts auszumachen.

Die übrigen fünf oder sechs Typen, die hier herumstanden, sahen auch nicht viel besser aus. Im Vergleich zu denen wirkte ich in meinem weißen Sweatshirt wie geschleckt. Lediglich ein Farbiger schien mehr auf sein Äußeres zu achten, trug zumindest saubere und vorzeigbare Klamotten. Er war sportlich und muskulös. Die anderen sahen nicht so aus, als würden sie regelmäßig Sport treiben. Eher unfit. Ich schätzte, alle waren im Alter zwischen zwanzig und dreißig.

Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich hier richtig war – doch im Grunde bestand kein Zweifel: »Légion étrangère« stand in Großbuchstaben auf einer Mauer, die oben zusätzlich mit Stacheldraht gesichert war. Dahinter waren ein paar Gebäude zu sehen und ein Fahnenmast mit französischer Flagge. Die Fremdenlegion. Genau da wollte ich hin, deshalb war ich nach Straßburg gekommen. Mehrere Monate lang hatte ich mich intensiv vorbereitet, um alle physischen und psychischen Aufnahmetests zu bestehen und mein erstes Etappenziel zu erreichen: die Grundausbildung der Fremdenlegion. Das war mein Plan, mein einziger Plan. In Deutschland hielt mich jedenfalls nichts mehr.

Doch beim Anblick dieser Typen, die vor dem Eingang der Kaserne herumgammelten, war ich mir nun nicht mehr sicher, ob ich wirklich an der richtigen Adresse war. Die passten meiner Meinung nach eher in ein Obdachlosenasyl. Aber das ließ sich ja hoffentlich schnell klären.

Ich überlegte, ob ich etwas zu den Wartenden sagen sollte, aber so schlecht gelaunt, wie sie aussahen, ließ ich es bleiben. Ich trat näher an sie heran. Mockba spuckte auf den Bürgersteig. Der Farbige nickte mir wortlos zu. Die anderen starrten vor sich hin. Keiner machte Anstalten, mit mir ins Gespräch zu kommen. Dann eben nicht. Ich setzte eine unbeteiligte Miene auf – die konnten mich mal! –, stellte meine gelbe Reisetasche auf den Boden und schwieg.

Doch schon nach ein paar Minuten wurde ich unruhig. Ich fragte mich, ob ich an der weißen Tür, die der Eingang zu sein schien, klingeln oder klopfen sollte. Vielleicht musste man sich ja irgendwo anmelden? Ich wollte nichts falsch machen und mir am Ende sinnlos vor dem Stützpunkt die Beine in den Bauch stehen.

Das wurde mir jetzt echt zu blöd. »Légion?«, fragte ich in die Runde. Ich sprach kein Französisch. Légion kriegte ich aber hin. Ein Typ mit strähnigen, dunklen Haaren sagte: »Warte, Deutsch«, und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle an seinem nackten Handgelenk. Damit wollte er wohl eine Uhr andeuten. Irgendwie ging er davon aus, dass ich Deutscher war. Wahrscheinlich, weil Adidas auf meiner Tasche stand und weil Straßburg nicht weit von der deutschen Grenze entfernt ist. Keine Ahnung …

Na gut.

Also nicht klingeln oder klopfen, sondern abwarten. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte wieder schweigend vor mich hin.

Bevor ich nach Straßburg gekommen war, hatte ich mich im Internet über die Fremdenlegion informiert. Daher wusste ich nicht viel mehr, als Google ausgespuckt hatte: Die Fremdenlegion ist eine Armee aus Freiwilligen, die für Frankreich kämpft. Das Besondere an ihr ist, dass sie aus Nicht-Franzosen besteht. Zumindest die Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgrade; die Offiziere stammen hauptsächlich aus der französischen Armee. Nur etwa jeder Zwanzigste hat selbst als Legionär angefangen und sich durch viele Tests hochgedient. Andere kommen schon als Sous-Lieutenant und tun einige Zeit in der Fremdenlegion ihren Dienst, nachdem sie die Akademie in St. Cyr durchlaufen haben. Als ich mich bei der Legion bewarb, waren 136 Nationen vertreten, vor allem aus Asien, Osteuropa und Afrika. Die Fremdenlegion ist ausschließlich den Männern vorbehalten, es gibt keine »Legionärinnen«.

Man kann sich, so erfuhr ich im Internet, nur in Frankreich selbst – nicht in den französischen Überseedepartements oder den Botschaften im Ausland – als Freiwilliger melden. Die sogenannten postes de recrutement befinden sich unter anderem in Straßburg, Paris, Perpignan und Aubagne.

In einigen Blogs wurde behauptet, im Kriegsfall kämen die Fremdenlegionäre als Erste zum Einsatz und bekämen stets die gefährlichsten Aufgaben zugeteilt. Die französische Regierung wolle auf diese Weise den Verlust eigener Staatsbürger vermeiden. Wahrscheinlich, so dachte ich, tun sich Politiker damit leichter, Menschen in den Krieg zu schicken, die nicht zu ihren potentiellen Wählern zählen.

Das war übrigens schon 1831 so. Damals war die Fremdenlegion vom französischen König Louis Philippe gegründet worden, der eine Armee haben wollte, die er auch ohne die Zustimmung der Nationalversammlung einsetzen konnte.

Ich persönlich hoffte auf einen schnellen Kriegseinsatz nach meiner Aufnahme in die Legion. Im Jahr 2009 wollte ich nach Afghanistan. Ich hatte gehört, dass die Fremdenlegion dort kämpfte. Ich wollte dabei sein, an der Front, mitten im Gefecht, Mann gegen Mann, auf Leben und Tod.

Aber erst einmal musste ich die Tests schaffen – und die würden kein Zuckerschlecken werden, wie ich gelesen hatte, trotz der Übung im Vorfeld. Die Ausbildung in der Legion gilt, verglichen mit der in anderen Armeen, als extrem hart. Manche Quellen im Internet behaupten sogar: brutal. Ich ließ mich davon aber nicht abschrecken. Es motivierte mich eher, denn ich suchte eine echte Herausforderung und freute mich schon darauf, mein Können unter Beweis zu stellen. Die Grundausbildung bei der Bundeswehr hatte ich mit Leichtigkeit hinter mich gebracht. Und diesmal war ich sogar noch besser vorbereitet. Ich hatte trainiert. Ich war in Top-Form.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich endlich die Tür zur Kaserne hinter mir. Jemand trat auf den Bürgersteig. Ich drehte mich um und sah zum ersten Mal in meinem Leben einen echten Fremdenlegionär hautnah. Ich kannte bisher ja nur Bilder aus dem Internet oder aus dem Fernsehen. Der Typ war groß, breitschultrig und aus seinem vernarbten Gesicht ragte eine Hakennase. Irgendwie erinnerte er mich an den Schauspieler Jean Reno. Der Legionär trug eine grüngefleckte Tarnuniform. Auf seinem Kopf saß ein grünes Barett.

Alle Augen richteten sich erwartungsvoll auf ihn. Doch er sah gleichgültig über uns hinweg, fixierte einen Punkt irgendwo auf der anderen Straßenseite und schwieg erst einmal. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte. Ich wusste aber nicht was – Französisch gleich null – und ließ es bleiben.

Dann fragte der Legionär mit lauter Stimme: »Shave?«

Dazu machte er mit der Hand in Höhe seiner Wange eine kreisende Bewegung. Ich wunderte mich, dass wir in Frankreich auf Englisch angesprochen wurden. Konnte mir aber nur recht sein, denn Englisch verstand ich gut. Ziemlich schräg fand ich allerdings, dass wir ausgerechnet nach Rasierzeug gefragt wurden.

»Towel?«, lautete die nächste merkwürdige Frage. Immerhin wusste ich – dank Internet – dass man zur Bewerbung unter anderem Wasch- und Rasierzeug mitbringen sollte. Hatte ich also in meiner Reisetasche.

Aber trotzdem: Niemals hätte ich erwartet, dass es so wichtig war, als dass man hier als Allererstes danach gefragt würde.

»Was wollen Sie hier?«, wäre naheliegender gewesen. Oder: »Möchten Sie zur Légion étrangère?« Aber der Legionär ging offensichtlich davon aus, dass jeder, der vor ihm stand, zur Fremdenlegion wollte.

Der Jean-Reno-Verschnitt blickte ausdruckslos von einem zum anderen: »Towel?«

Ich nickte, als er mich fragend ansah. Die Hälfte der Gruppe hatte die Sachen nicht dabei. Diejenigen wurden – »Go!« – kurzerhand weggeschickt. Für jemanden, der aus dem tiefsten Russland angereist war, wie wahrscheinlich der Typ mit dem Mockba-T-Shirt, musste das eine ziemlich herbe Enttäuschung sein. Heute weiß ich, dass es sich bei der Sache mit dem Rasierzeug um so etwas wie einen ersten Test handelt. Die Fremdenlegion will nur Leute, die auf ihren Körper achten. Und mal ehrlich: Warum sollte die Legion schon bei der Erstaufnahme jedem Rasierer und Handtücher schenken? Mich und noch einen anderen winkte der Legionär zu sich: »Come in!«

Der Rest der Gruppe blieb auf dem Bürgersteig stehen und wartete weiter. Damals hatte ich keinen blassen Schimmer, warum nur wir beide hinein durften – die anderen hatten schließlich auch Wasch- und Rasierzeug dabei. War mir aber in dem Moment scheißegal. Hauptsache, ich war drin. Viel später erst wurde mir klar: Das war nichts weiter als Schikane, eine Zermürbungstaktik. Die Fremdenlegion will eben Kämpfernaturen, die sich nicht vom ersten Rückschlag ins Bockshorn jagen lassen und aufgeben.

Im Inneren sah die Kaserne unerwartet alt und abgenutzt aus. Farbe bröckelte von den Wänden. Es roch nach Linoleum und Putzmitteln. Der Legionär machte keinen Versuch, sich mit mir zu unterhalten. Der andere Freiwillige – es war der Typ mit der kaputten Baseballkappe – schwieg ebenfalls und trottete hinter uns her. Ich war gespannt, wie es weitergehen würde. Sozusagen meine ersten Schritte auf dem Territorium der berühmten Fremdenlegion.

Ich wurde in ein Büro gerufen. Dort saß ein Legionär hinter seinem Schreibtisch.

»Passport«, er klappte mit einer Geste alle Finger der rechten Hand auf und zu. Ich gab ihm meinen Ausweis und – die hatte ich vorsichtshalber auch mitgebracht – meine Geburtsurkunde. Der Legionär warf einen kurzen Blick darauf und ließ beides in einem großen braunen Briefumschlag verschwinden. Außerdem nahm er mir Führerschein und Bargeld ab.

Alles geschah beinahe automatisch, ohne weitere Fragen oder Erläuterungen. Stattdessen drückte er mir einen mehrsprachigen Zettel mit ein paar Fragen in die Hand.

»Wie du heißt?«, lautete die erste Frage. Das Deutsch hörte sich wie der Google-Übersetzer an.

»Beruf?«

Diese Frage beantwortete ich nicht. Nach meinem Fachabitur hatte ich eine Festanstellung in einem Betrieb für Sanitärtechnik bekommen. Nach der Wirtschaftskrise im Herbst 2008 stand mein Job auf der Kippe. In dieser Zeit begann ich, mich für die Fremdenlegion zu interessieren. Den Job ließ ich sausen. Als ich das Blatt zurückgab, sah ich, dass der Legionär kurzerhand »méchanicien automobile«, was ich als Automechaniker deutete, dort eintrug. Ich protestierte, aber er reagierte nicht darauf und schob den Zettel zu Ausweis, Bargeld und Führerschein in den Umschlag.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir mit anderen Freiwilligen in einem Warteraum irgendwelche Propagandavideos, die ich schon aus dem Internet kannte, anzusehen. Alle schwiegen und taten so, als wäre der Fernseher das einzig Interessante im Raum. Ich fand es ziemlich eintönig. Der Jean-Reno-Legionär hatte uns hingebracht und uns gesagt – »Pscht!« –, dass wir nicht miteinander reden sollten. Jeder hielt sich daran. Es konnte ja sein, dass wir heimlich beobachtet wurden und das wieder eine Art Test war. Ich wollte keine Fehler machen und tat, was man mir befahl.

Am Abend führte man uns in einen Schlafsaal. Dort standen etwa zwanzig Betten, knapp die Hälfte davon war belegt. Große Fenster gingen zur Straße hinaus. Unter der Decke hingen Neonröhren. Ein grauer Linoleum-Fußboden verlieh dem Raum – zusätzlich zum Neonlicht – eine extrem ungemütliche Atmosphäre. Nachdem die Neonbeleuchtung ausgeschaltet worden war, schien das orangefarbene Licht einer Straßenlaterne zum Fenster herein. Ich holte mein kleines Notizbuch aus meiner Reisetasche und schrieb auf, was heute geschehen war. Ich hatte beschlossen, wann immer es in nächster Zeit möglich war, meine Eindrücke über die Fremdenlegion festzuhalten. Wer weiß, wofür es eines Tages mal gut sein würde …

Bonne chance

»Du, du und du: Paris«, sagte der Fremdenlegionär, der aussah wie Jean Reno, und zeigte dabei mit dem Finger auf mich und zwei weitere Bewerber. Wir standen früh am Morgen im Hof der Kaserne in Straßburg. Ich war gestern dort angekommen und hatte eine unruhige Nacht hinter mir. Ich war aufgeregt und fragte mich, wie es wohl weitergehen würde.

»Paris«, sagte der Fremdenlegionär noch einmal und hob seine Hand, in der er drei braune Umschläge hielt. Sie sahen so aus wie der, in dem meine Papiere verschwunden waren.

»TGV. Paris. Légion à Fort de Nogent.«

Ich vermutete, dass er mich und die beiden anderen zu einem Standort der Fremdenlegion nach Paris schicken wollte. Wir folgten ihm zu einem weißen Renault-Transporter, der vor dem Gebäude stand. Der Fremdenlegionär setzte sich ans Steuer, ich stieg hinten ein. Als wir durch das Tor der Kaserne fuhren, schaltete er das Radio an.

Ein Sprecher verlas Nachrichten – natürlich auf Französisch. Obwohl ich so gut wie nichts verstand, hörte ich trotzdem zu. Ich wollte ein Gefühl für die Sprache bekommen. Auf einmal hörte ich im Auf und Ab der Sätze einen Begriff, den ich kannte: »Légion étrangère«.

Ich drehte mich zur Seite und schaute meinen Nebenmann, einen Typen mit einer runden Brille auf der Nase, mit fragendem Blick an. Vielleicht verstand er ja, was gerade gesagt wurde.

»Oh là là«, pfiff er durch die Zähne. Der Legionär stellte das Radio lauter. Die Stimme des Nachrichtensprechers kam krachend dumpf aus dem Lautsprecher und hallte dröhnend durch das Innere des Fahrzeugs. Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Unser Fahrer hörte konzentriert zu – ich sah seine zusammengezogenen Augenbrauen im Rückspiegel – und drehte an einem der Regler des Radios. Plötzlich wich das Dröhnen einem unnatürlich hohen, kreischenden Ton. Autsch, das tat weh!

Ich konnte »Chad« und »morts« heraushören. Es gab also irgendwelche Tote im Tschad. Bislang hatte ich gar nicht gewusst, dass dort überhaupt Kämpfe stattfanden. Weitere Sätze schrillten durch das Auto. Ich beugte mich vor zum Fahrersitz und schrie: »Pardon. What happened?«

»Ratatatatatata!«, ahmte der Legionär lautstark das Geräusch einer Maschinenpistole nach. »Ratatatatatata!«

Gleichzeitig hob er drei Finger und hielt sie mir dicht vors Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, was er mir damit genau sagen wollte. Die Lautsprecher klangen, als würden sie gleich explodieren. Ich schrie gegen den Lärm an und fragte meinen Nebenmann, was los sei.

»Ein Fremdenlegionär ist im Tschad durchgedreht«, brüllte der mir auf Englisch ins Ohr.

»Und wer ist tot?«, schrie ich.

Im Radio wurde offenbar gerade jemand über eine grauenhaft schlechte Telefonverbindung interviewt. Es hörte sich an wie ein Spaceshuttle beim Start. Mein Sitznachbar rückte seine Brille zurecht, holte tief Luft und kämpfte mit seiner Stimme gegen das Getöse an: »Er hat zwei Legionäre und einen togolesischen Soldaten erschossen. Er ist desertiert.«

Ich verstand ihn kaum. Auch er hielt drei Finger zur Bestätigung in die Höhe. Langsam begriff ich, was er meinte.

Wahnsinn, dachte ich. Ich war gerade mal einen Tag dabei, und schon gab es die ersten Toten – und das noch nicht einmal bei einem echten Einsatz. Das war ja wirklich eine harte Truppe. Auf was für Menschen würde ich in der Fremdenlegion wohl noch stoßen?

»Ratatatatata!«, machte der Legionär wieder.

Wir standen an einer Ampel, und der Lärm musste wohl auch außerhalb des Fahrzeugs zu hören sein. Ich sah, wie die Leute auf dem Zebrastreifen stehen blieben und versuchten, durch die getönten Scheiben in den Wagen zu blicken. Ein sandfarbener Hund, der aussah wie ein Kojote, stand bellend vor der Kühlerhaube des Renaults.

»Ratatatatatata!«, blaffte unser Fahrer zurück.

Grün. Mit einem Ruck fuhren wir weiter. Einige Fußgänger mussten sich mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen. Mir fiel ein, dass an der Heckklappe des Wagens ein großer Aufkleber angebracht war, auf dem »Légion étrangère« stand. Ich musste lachen, als ich daran dachte, was die erschreckten Passanten wohl denken mochten, wenn sie den sahen. Das Fahrzeug schoss davon.

Mein Sitznachbar hielt sich die Ohren zu. Den Dritten im Bunde hatte ich ganz vergessen, weil er eine Reihe hinter uns saß. Als ich mich zu ihm umdrehte, staunte ich nicht schlecht: Der Typ hatte sich seine schmierige Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen – und schlief seelenruhig. Durch das Loch in seiner Kappe konnte ich ein geschlossenes Auge sehen.

Plötzlich wurde ich ruckartig nach vorn geschleudert, als der Fahrer eine Vollbremsung hinlegte. Ich rieb mir die Schulter an der Stelle, wo der Sicherheitsgurt eingeschnitten hatte. Der Legionär hieb fluchend und stinksauer mit einem gewaltigen Faustschlag auf die Hupe. Ich verrenkte mich, um nach draußen zu sehen. Ich war neugierig und wollte wissen, was da los war.

Vor uns versuchte ein Fahrradkurier, die Straße zu überqueren. Er war ebenfalls wütend und fluchte. Wild gestikulierend machte er einen Schritt in Richtung Auto. Der Legionär löste seinen Sicherheitsgurt. Oh, oh. Der Motor lief im Leerlauf. Hinter uns staute sich der Verkehr. Das Radio dröhnte immer noch. Der Fahrradkurier hob den Stinkefinger in unsere Richtung.

Wenn der wüsste, wer im Wagen sitzt, dachte ich, würde er sicher ganz fix abhauen. Vor meinem geistigen Auge sah ich ihn schon eine ordentliche Tracht Prügel beziehen. Doch der Legionär blieb im Wagen sitzen und hieb erneut auf die Hupe. Diesmal ließ er seine Faust lange darauf liegen. Ich beugte mich hinunter, denn ein Duftbäumchen in Form einer Windmühle, das am Rückspiegel befestigt war, baumelte in meinem Blickfeld. Ich wollte sehen, was der Fahrradkurier machte.

Das anhaltende Hupen und die laute Stimme des Nachrichtensprechers, die immer noch aus dem Auto drang, schienen ihn misstrauisch zu machen. Er zögerte und schob eine orangefarbene Gummitasche auf seinem Rücken zurecht. Dann entschied er sich dafür, sich wieder auf sein Mountainbike zu setzen. Der Legionär ließ die Hupe los – aber nur, um im nächsten Moment mit aller Kraft noch einmal draufzuhauen. Die Stimme des Nachrichtensprechers hackte weiterhin wild durchs Fahrzeug. Der Fahrradkurier drehte sich noch einmal kurz um und hob trotzig den Arm in Richtung Auto. Dann fuhr er davon.

Der Nachrichtensprecher verstummte – und im nächsten Moment explodierte »Pokerface« von Lady Gaga lautstark in meinem Kopf. Es schmerzte höllisch. Ich spürte die Vibration in sämtlichen Nervenenden. Wutschnaubend riss der Legionär am Lautstärkeregler des Radios.

Plötzlich war es totenstill. Alles, was ich noch hörte, war ein pfeifendes Ohrgeräusch, das ich vorher nicht gehabt hatte. Ich wollte unbedingt mehr über den Vorfall im Tschad in Erfahrung bringen und sprach den Fahrer an: »Ratatatata? Tschad?« Der Legionär schaute mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf.

Das Klingeln in meinen Ohren ließ langsam nach. »Tschad?«, fragte ich noch einmal.

»Ach«, der Legionär machte eine wegwerfende Handbewegung über die Schulter. »C’est la vie.«

Ich war baff. Er klang so, als sei es nichts Besonderes, dass zwei seiner Kameraden von einem der ihren ermordet worden waren. In diesem Moment bestätigte die Realität alle Gerüchte, die ich bislang über die Härte und Extreme der Truppe gehört hatte.

Ich kannte Geschichten von Kriminellen, die in die Reihen der Fremdenlegion geflüchtet waren, und von sadistischen Vorgesetzten, welche die Legionäre schikanierten. Und ich kannte Geschichten von einem neuen Leben: Wenn man sich als Legionär verpflichtet, bekommt man einen neuen Namen und eine andere Identität. Die Praxis der Namensänderung, das sogenannte Anonymat, besteht seit der Anfangszeit der Légion étrangère. Damals wollte man vermeiden, dass Legionäre nach der Rückkehr in ihr Heimatland wegen des Diensts für Frankreich bestraft wurden. In der Schweiz und in Österreich beispielsweise ist Militärdienst für einen anderen Staat auch heute noch illegal.

Das Anonymat macht den Dienst in der Fremdenlegion aber auch für Menschen interessant, die mit einer neuen Identität abtauchen wollen. Oder solche, die alles hinter sich lassen, weil sie nichts mehr zu verlieren haben. Auf jeden Fall extreme Typen, die sich nicht vor dem Tod fürchten und bereit sind, Risiken einzugehen. So sagt man jedenfalls. Ich hatte ja bereits festgestellt, dass niemand viel – genauer gesagt: so gut wie nichts – von sich erzählte. Man hielt sich bedeckt. Irgendwie geheimnisvoll. All das fand ich extrem interessant.

Nach den Nachrichten im Radio hatte ich zum ersten Mal wirklich das Gefühl, dass ich mich auf ein Abenteuer einließ. Und ich konnte es kaum noch erwarten.

Kurze Zeit später hielten wir am Bahnhof. Aha, stellte ich erleichtert fest, wir würden also nicht mit dem Auto nach Paris fahren, sondern mit dem Zug. Hatte ich bis dahin gar nicht gecheckt. Gut, sonst hätte ich wahrscheinlich bei der Ankunft bereits aus den Ohren geblutet – ein leises Klingeln hatte ich immer noch. Na toll, hoffentlich geht das schnell weg, dachte ich. Tinnitus konnte ich ja nun gar nicht gebrauchen.

Der Legionär stieg aus, nahm die braunen Umschläge und setzte eine weiße Kappe auf. Ich kannte das Képi blanc aus dem Internet: die traditionelle Kopfbedeckung der Fremdenlegionäre.

Als wir zum Bahnsteig gingen, bemerkte ich, dass viele Leute uns hinterherschauten. Der Legionär gab jedem von uns einen Umschlag, die Adresse der Fremdenlegion in Paris und eine Fahrkarte. Zum Abschied wünschte er uns: »Bonne chance« – viel Glück.

Na, vielen Dank auch, aber wofür eigentlich? Ich hatte keinen blassen Schimmer, warum wir nach Paris fuhren und was als Nächstes passieren würde. Eine Reise ins Ungewisse. Konnte mir nur recht sein. Und in ein paar Stunden würde ich mehr wissen. Hoffentlich.

Identität

Als wir in Paris ankamen, fuhren wir mit der U-Bahn weiter zum Stützpunkt der Fremdenlegion. Das Fort de Nogent ist eine alte Festungsanlage, die von niedrigen, grasbewachsenen Wällen umgeben ist. Alles wirkt sehr gepflegt. Blumenbeete säumen die Wege, die die einzelnen Gebäude miteinander verbinden.

Bei meiner Ankunft wurde ich von meinen beiden Reisegefährten getrennt. Ich sah sie nie wieder.

Meine erste Station im Fort de Nogent war ein großes Büro in einem der vielen Gebäude. Ich wurde vor einem leeren Schreibtisch geparkt und musste erst einmal warten. Diese Zeit nutzte ich, um mich umzusehen. Es gab viele solcher Schreibtische, an denen Legionäre und Freiwillige saßen, und auf jedem lag ein dicker Wälzer. Was das wohl sein mochte? Am Tisch neben mir sprach ein Fremdenlegionär mit einem asiatisch aussehenden Bewerber. Vor ihnen lag ein großer Papierstapel. Der Legionär sagte etwas, der Asiate verstand ihn offenbar nicht und grinste nur.

Ohne Vorwarnung gab ihm der Fremdenlegionär einen Schlag in den Nacken.

Scheiße, dachte ich, was ist denn hier los? Ich schaute weiter verwundert zu. Der Asiate grinste komischerweise immer noch. Ich überlegte, ob er vielleicht auf Drogen war.

Patsch! Etwas klatschte laut auf den Tisch vor mir, und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Als ich hinschaute, sah ich, dass es der Umschlag war, den ich aus Straßburg mitgebracht hatte – den hatte ich bei meiner Ankunft im Fort de Nogent abgeben müssen.

Ein Legionär ließ sich schwerfällig auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Er schniefte mit der Nase und wischte sich mit einer schweißglänzenden Hand übers Gesicht. Der Mann sah richtig krank aus. Er schien Fieber zu haben und seine Augen waren blutunterlaufen.

»Warum du hier?«, fragte er mich ruppig. Es klang, als habe er diese Frage in deutscher Sprache auswendig gelernt. Immerhin war er aber der Erste seit zwei Tagen, der mich überhaupt fragte, was ich hier wollte.

»Ich möchte Fremdenlegionär werden«, antwortete ich ihm.

Er nickte und wischte sich mit der Hand über die feuchte Stirn.

Dann öffnete er den braunen Umschlag und holte meine Unterlagen heraus.

Ich hörte ein Fluchen am Nebentisch und konnte nicht anders: Ich musste einfach wieder hinschauen. Der Asiate bekam einen Faustschlag vor die Brust. Was geht denn ab, wunderte ich mich.

»Du sprechen Ruski?«, fragte mich der krank aussehende Legionär. Wahrscheinlich hatte er in meinem Ausweis gelesen, dass ich in Russland geboren bin.

»Ja.«

»Guttt«, meinte er und zog lautstark die Nase hoch. »Dann, wir sprechen Ruski. Ich aus Polen.«

Er sagte etwas. Da ich als Kind in Sibirien gelebt habe, verstehe ich es ganz gut. Von dem, was der Pole sagte, kapierte ich allerdings kein Wort. Er sprach einfach kein Russisch, sondern – schätzte ich – Polnisch.

»Kurwa, du. Du nix sprechen Ruski«, fluchte er und schüttelte einige Schweißtropfen von seiner Hand.

Kurwa ist ein polnisches Schimpfwort und wird wegen des hohen Anteils an Osteuropäern in der Legion oft gebraucht. Mongol ist ebenfalls beliebt – kommt direkt hinter Kurwa.

»Ich verstehe einfach kein Polnisch«, gab ich zurück.

»Ich sehen, du méchanicien automobile.«

»Eigentlich nicht.«

»Kurwa. Du nix verstehen, was ich sagen?«, fuhr er mich ungeduldig an.

»Doch, doch.«

Ich gab es auf. Dann war ich eben Kfz-Mechaniker. War auch egal …

Der Pole begann in dem mysteriösen dicken Buch zu blättern, das mir schon auf den anderen Schreibtischen aufgefallen war, und schrieb etwas auf einen Zettel. Schniefend schob er mir den Zettel über den Tisch: »Mahler, Karl. 10. Septembre 1985, geboren in Berlin, Allemagne«, stand darauf.

»Moment mal, da stimmt was nicht. Ich bin Stefan Müller«, protestierte ich.

Der Pole schaute mich gelangweilt an und machte eine Geste mit der Hand. Ich solle den Kopf senken. Ich schaute nach unten. Ich sah Staubflusen um die Füße des Schreibtischs herumwirbeln. Da traf mich – wamm! – ein Schlag in den Nacken.

»Fuck!«, schrie ich ihn an. »Was soll das denn?«

Ich funkelte den Polen wütend an. Der jedoch blieb völlig gelassen und unbeeindruckt.

»Karl Mahler«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf mich.

Kurwa, dachte ich. Dieser verschnupfte Vollidiot ließ sich erst nicht davon überzeugen, dass ich kein Automechaniker war, und nun verwechselte er mich auch noch mit jemandem! Ich hatte echt keinen Bock, für diesen blöden Karl Mahler die Aufnahmetests zu bestehen und am Ende als Stefan Müller dann nicht in die Legion aufgenommen zu werden!

Ich war sprachlos und schaute den Polen an. Vielleicht kapierte er von selbst, dass hier ein Fehler vorlag.

Der Pole hustete, fluchte und stand auf. Etwas tropfte aus seiner Nase auf meinen Fragebogen. Igitt … Ich schaute angeekelt zur Seite. Der Asiate war mittlerweile weg, ich hatte gar nicht mehr auf ihn geachtet. Da traf mich – wamm! – ein Schlag auf die Brust. Darauf war ich nicht vorbereitet und wäre beinahe nach hinten umgekippt. Es tat verdammt weh. Ich sagte mir, dass ich das aushalten musste. Wenn ich mich jetzt mit ihm anlegte, würde ich niemals in die Legion aufgenommen werden. Trotzdem, was fiel diesem kranken Mistkerl eigentlich ein?

»Kurwa«, fluchte er. »Neuer Name deins!«

Jetzt begriff ich erst, was er meinte. Ich hatte soeben meinen neuen Namen bekommen: Karl Mahler. Ich wusste ja, dass man in der Legion die Identität wechselt, aber ich hatte nicht geahnt, dass dies bereits zu einem so frühen Zeitpunkt geschehen würde. Schließlich musste ich erst noch eine Reihe von Aufnahmetests absolvieren und bestehen. Ich war davon ausgegangen, dass ich meinen Legionsnamen erst bekäme, wenn ich mich endgültig als Fremdenlegionär verpflichtete. Doch schon hier, im Fort de Nogent, wurde meine bisherige Identität komplett gelöscht. Es war ein kleiner Schock für mich. Irgendwie hatte ich erwartet, dass ich einen coolen französischen Namen bekommen würde. Vincent Vega oder Jean Luc … irgendwas in der Richtung. Was soll’s. Ab jetzt war ich also Karl Mahler.

»Ah, Karl Mahler«, bestätigte ich und nickte. Der Pole nickte ebenfalls.

Na ja, Karl Mahler klang auch nicht schlechter als Stefan Müller. Damit konnte ich leben. Heute weiß ich, dass in dem dicken Buch, das der Pole auf seinem Schreibtisch liegen hatte, Hunderte fiktiver Namen aus allen Gegenden Deutschlands stehen. Das Ding sieht aus wie ein übergroßes Telefonbuch. Die Fremdenlegion hat diese Verzeichnisse für beinahe jedes Land der Erde. Keine Ahnung, woher sie all die falschen Namen bekommen. Wahrscheinlich denkt sie sich der französische Geheimdienst aus.

Die Auswahl der neuen Identität findet jedoch nicht willkürlich statt, es gibt gewisse Regeln. So bleibt beispielsweise der erste Buchstabe des Legionsnamens der gleiche wie beim bisherigen Nachnamen. Das fiktive Geburtsdatum weicht nicht sehr vom realen ab. So kann man sich alles besser merken. Der Geburtsort ist immer die Hauptstadt des jeweiligen Landes, aus dem der Bewerber kommt. Da ich Deutscher bin, war es natürlich Berlin. Zu meiner neuen Identität gehörte logischerweise auch, dass ich fiktive Eltern mit ebenfalls neuen Namen verpasst bekam.

Meine Vergangenheit zählte ab jetzt nicht mehr.

Présélection

Im Fort de Nogent findet die Vorauswahl statt, présélection nennt sich das auf Französisch. Das war eines der ersten Worte, die ich lernte. Die présélection ist das grobe Sieb, mit dem die vollkommen ungeeigneten Bewerber ausgesondert werden.

Unmittelbar nachdem ich in Karl Mahler umbenannt worden war, fand schon der erste Test statt. Ich wurde in einen Raum geführt, in dem vier Tische standen. In einer Ecke stand ein Fernseher, auf dem MTV France lief. Ich erkannte das Lied »Rue des étoiles« von Gregoire. An den Wänden hingen Plakate mit Buchstaben und Zahlen. Dazwischen hing auch ein Poster, das einen Fremdenlegionär im Dschungel zeigte. Unangenehme Erinnerungen an meine Teenagerjahre kamen bei diesem Klassenzimmer-Ambiente auf – nur dass ich zu meiner Schulzeit nie so viele Farbige auf einem Haufen gesehen hatte. Ungefähr zwei Drittel der Bewerber hatten eine dunkle Hautfarbe. Ich setzte mich neben einen von ihnen. Ein Fremdenlegionär verteilte Blätter und Stifte. Dabei sagte er irgendetwas von wegen »Test«.

Auf dem Zettel standen einfache mathematische Aufgaben wie »2 + 4 = ?« oder »4 + 5 × 3 = ?«. Absolutes Grundschulniveau, fand ich. Außerdem gab es Buchstabenfolgen, die ergänzt werden mussten: »A – B – C – ? – E – F – G.« Ich war nach drei Minuten damit fertig und schrieb zum Abschluss meinen neuen Namen rechts oben in die Ecke des Blattes. Das war für mich das Schwierigste, da ich noch keine Zeit gehabt hatte, mich an ihn zu gewöhnen. Andere saßen nach einer Viertelstunde immer noch mit gerunzelter Stirn über den Aufgaben. Am Ende wurden alle Blätter eingesammelt.

Der Fremdenlegionär sah sich die Ergebnisse an und schmiss augenblicklich etwa ein Drittel der Leute raus. Für sie war das Abenteuer Fremdenlegion zu Ende, bevor es richtig angefangen hatte – sie mussten das Fort sofort verlassen.

Dabei darf man nicht annehmen, dass es sich bei allen, die bei diesem Test durchgerasselt sind, um Schwachsinnige oder Analphabeten handelte.

Fakt ist: Um in die Fremdenlegion aufgenommen zu werden, muss man nicht zwingend Französisch können – sonst hätte ich es ja auch nicht geschafft. Die Sprache erlernt man während der Grundausbildung und in den fünf Jahren Dienstzeit. So lange muss man sich nämlich verpflichten. Die Schriftsprache ist aber eine ganz andere Nummer, das bringt einem die Fremdenlegion nämlich nicht bei. Wer Lesen und Schreiben nicht draufhat, wird nicht einmal zu den weiteren Tests zugelassen – eine Hürde, die manche nicht schaffen.

Während der nächsten Tage, die ich im Fort de Nogent verbrachte, fanden oberflächliche medizinische Untersuchungen statt: Zähne, Augen, Ohren. Ein Arzt schaute mir kurz in den Mund und sagte: »Okay.« Ein zweiter Arzt ließ mich Buchstaben von einer Tafel ablesen und sagte: »Okay.« Ein dritter Arzt setzte mir Kopfhörer auf, spielte mit der Lautstärke des Tons herum und testete, ob ich gut genug hören konnte. Dann sagte er: »Okay.« Am wichtigsten war die Kontrolle der Füße. Wenn die nicht in Ordnung waren – zum Beispiel bei Plattfüßen –, wurde derjenige sofort weggeschickt.

Keine der Untersuchungen dauerte länger als fünf Minuten. Auch hier wurden Bewerber abgewiesen, allerdings längst nicht mehr so viele wie am ersten Tag. Anders als in Straßburg war im Fort de Nogent eine große Zahl Rekruten versammelt. Wir waren immer zwischen fünfzig und einhundert Mann. Hier sagte uns auch niemand: »Pscht! Nicht reden!« Um die Wartezeit zwischen den einzelnen Tests totzuschlagen – ich habe keine Ahnung, warum das alles so lange dauerte –, unterhielt ich mich mit den anderen.

Ich stand mit einem Afrikaner in der Sonne vor dem Gebäude, in dem wir untergebracht waren. Er sprach ganz gut Englisch und hatte superweiße Zähne.

»Und«, fragte ich, »wie läuft es bei dir?«

Er zuckte die Schultern.

»Bis jetzt ganz gut. Muss es aber auch. Ich schulde meiner Familie eine Menge Geld.«

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Sie haben zusammengelegt, damit ich nach Europa gehen konnte. Alle Verwandten aus meinem Dorf.«

»War es teuer?«, fragte ich neugierig nach.

»Na ja«, er sah mich misstrauisch an – zögerte kurz –, sprach dann aber weiter. »Der falsche Pass hat allein 3000 Euro gekostet. Der Schlepper noch mehr.«

Ich war baff. Für mich war es schwer zu verstehen, warum jemand so viel Geld zusammenkratzte, um sich nach Europa schleusen zu lassen. Ich hatte zwar in den Nachrichten davon gehört, aber bislang noch nie mit einem Flüchtling persönlich gesprochen.

»Warum hast du das denn gemacht?«, wollte ich wissen.

»In meinem Land gibt es einfach keine Jobs. Wer jung genug ist, geht nach Europa, um zu arbeiten und der Familie Geld zu schicken. Davon leben dann Dutzende zu Hause.«

Seine Geschichte war kein Einzelfall in der Fremdenlegion. Die Freiwilligen, die aus Afrika oder Asien nach Frankreich kamen, hatten andere Motive als ich, Legionär zu werden. Mir ging es ums Abenteuer und um die persönliche Herausforderung – ihnen um eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis in Frankreich. Die Fremdenlegion kann einem zu beidem verhelfen. Nach drei Jahren Dienstzeit kann man die französische Staatsbürgerschaft beantragen. Später habe ich aber mitbekommen, dass einem solchen Antrag in den meisten Fällen erst nach sechs bis zehn Dienstjahren stattgegeben wird. Manchmal wird sie auch in Verbindung mit einer Tapferkeitsauszeichnung oder aufgrund einer schweren Verwundung als Belohnung verliehen. Wenn ein Legionär französischer Staatsbürger wird, kann er sich übrigens auch aussuchen, ob er seinen Legionsnamen behält oder seinen ursprünglichen Namen wieder annimmt.

Die Fremdenlegion schätzt Bewerber aus Dritte-Welt-Ländern. Für sie ist die Legion keine zweite Chance wie für viele Europäer, die im Zivilleben nicht zurechtkommen, sondern sprichwörtlich die einzige, die letzte Chance. Sie müssen es einfach in die Legion schaffen. Falls nicht, stehen sie mittellos in Frankreich auf der Straße – oftmals ohne legale Papiere und mit einem Haufen Schulden in ihrem Heimatland.

Bei diesem Gespräch wurde mir klar, dass ich im Auswahlverfahren auf extrem motivierte Konkurrenten treffen würde.

Bereits zu Beginn der présélection hatte man uns gesagt, dass die Fremdenlegion mit einer Gesamtstärke von rund 7700 Mann aus einem Überangebot an Bewerbern schöpfen könne. Von denen, die es ins endgültige Auswahlverfahren schafften, würde nur etwa jeder Achte angenommen werden.

Mama, Papa, PlayStation

Der Bus hielt auf dem Kasernengelände vor einem eigens umzäunten Areal. Drei Legionäre standen davor und sahen zu, wie wir ausstiegen. Sie hatten die Arme hinter dem Rücken verschränkt und hielten sich kerzengerade.

Als ich hinaustrat, ließ ich den Blick schweifen. Hinter dem 3 Meter hohen Maschendrahtzaun sah ich einen Sportplatz und ein mehrstöckiges Gebäude. Das war es also: das Hauptquartier der Fremdenlegion. Es liegt im Süden von Frankreich, in Aubagne, in der Nähe von Marseille. Hier würde die endgültige Auswahl stattfinden. Und ab dem ersten Tag hier in Aubagne bekam ich als Bewerber sogar Sold: 20 Euro irgendwas pro Tag, hatte ich gehört. Na, immerhin!

Ich blieb mit den anderen neben dem Bus stehen, stellte meine gelbe Reisetasche auf den Boden und wartete. Die drei Legionäre standen immer noch an ihrem Platz und beobachteten uns.

Der in der Mitte war groß und muskulös, hatte dunkle Haare und einen dunklen Teint. Sein glattrasiertes Kinn schimmerte in der Sonne.

»Ich bin Caporal-Chef der Fremdenlegion«, stellte er sich vor.

»El Demonio«, flüsterte jemand hinter mir. »Von dem hab’ ich schon gehört. Ein Freund von mir ist Legionär und hat ihn beschrieben. Der Typ ist eine Legende.« Ich hatte keine Ahnung, was ein Caporal-Chef sein sollte. Was Demonio hieß, verstand ich aber auf Anhieb. Na toll, dachte ich, hoffentlich wird der seinem Namen nicht gerecht.

»Ihr seid jetzt im Hauptquartier in Aubagne«, fuhr der Caporal-Chef in einer Mischung aus Französisch und Englisch fort. »Hier könnt ihr euch beweisen und uns zeigen, dass ihr es wert seid, in der Fremdenlegion zu dienen!«

»Dawai! Dawai!«, riefen die beiden Legionäre, die links und rechts von ihm standen, auf Russisch. Wir folgten ihnen in das Gebäude neben dem Sportplatz. Wir betraten einen leeren Raum, der etwas größer als ein Klassenzimmer war.

»Ausziehen!«, befahl der Caporal-Chef. »Alles!«

Ich zog mein weißes Sweatshirt aus und knöpfte meine Jeans auf. Als ich die Turnschuhe und Socken ablegte, spürte ich die Kälte des Fliesenbodens unter meinen Füßen.

»Stellt euch in Dreierreihe nebeneinander auf.«

Ich zog auch meine Unterhose aus und stand jetzt vollkommen nackt da. Ich fühlte mich schutzlos. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit dreißig unbekleideten Männern in einem Raum zu sein. Eigentlich wollte ich niemanden direkt anschauen, doch ein Blick auf meine unmittelbaren Vorder- und Nebenmänner ließ sich nicht vermeiden.

Ein Windzug fuhr durch die offene Tür. Ich spürte die kühle Luft auf meiner Haut.

Ein Farbiger stand vor mir. Sein Rücken war voller Narben. Er trat von einem Fuß auf den anderen, als wäre ihm kalt.

Neben mir stand ein hochgewachsener Weißer, der gerade die Arme ausstreckte und sein T-Shirt über den Kopf zog. Ich sah kurz einen blauschwarzen Balken auf seinem Oberkörper. Er nahm die Arme wieder herunter und stemmte sie in die Seiten. Er war ein rothaariger Redneck, ein Bauer aus den USA.

Ich trat einen halben Schritt vor und tat so, als wollte ich meine Kleidung, die auf dem Boden lag, zusammenfalten. In Wahrheit war ich einfach nur neugierig und wollte wissen, was es mit dem blauschwarzen Balken auf sich hatte. Ich warf schnell einen Blick nach links. Der Kerl hatte in großen Runen »Arian White Power« auf seiner Brust tätowiert. Ach du Scheiße! Leichter konnte man wohl keinen Ärger provozieren. Als ob er es geahnt hätte, drehte der Farbige sich um und starrte erst das Tattoo und dann den Typen an.

»Wir sehen uns noch«, schien sein versteinerter Gesichtsausdruck zu sagen. Der White-Power-Typ glotzte ohne mit der Wimper zu zucken zurück. Der Hass und die Aggression zwischen den beiden waren regelrecht spürbar, keiner wich dem Blick des anderen aus. Der Redneck fuhr sich lässig mit der Hand über den Schädel.

Mittlerweile waren auch andere Bewerber auf die beiden aufmerksam geworden. Ich glaube, jeder im Raum wartete nur darauf, dass etwas geschah und die Situation eskalierte.

Zum Glück – »Dawai, Mongol!« – verhinderte Caporal-Chef Demonio einen Showdown zwischen den beiden, und einer der Legionäre begann, neue Kleidung auszuteilen: Unterwäsche, schwarze T-Shirts und blaue Sportanzüge. Ich zog mir, so schnell es ging, etwas an.


Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.